Harry Potter und die Schatten der Vergangenheit - BEENDET
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Rest von Kapitel 193
Es klang wie eine Drohung, die jedoch nicht besonders ernst gemeint war. Mr. Granger hatte offensichtlich einen schrägen Sinn für Humor. Die beiden Damen waren still, nachdem das kleine Geheimnis gelüftet war. Hermine musste geahnt haben, dass ihr Vater auf den Namen Snape allergisch reagieren könnte. Mit ihrer Taktik bei der Begrüßung wäre es ihr beinahe gelungen, seine Identität zu wahren.
An Severus gerichtet fragte Mr. Granger mit seinem aufgesetzten Lächeln: „Würden Sie mir helfen, in der Küche für die Damen einen Aperitif zuzubereiten?“
„Ich kann dir hel…“ Hermines Versuch, ihre Hilfe anzubieten, wurde mit erhobener Hand seitens ihres Vaters im Keim erstickt.
„Severus wird sicherlich so freundlich sein. Dann können wir mal ein wenig“, sein Lächeln wurde breiter und dämonischer, „offener reden.“
Angst hatte Severus keine, ein wenig unangenehm war ihm die Situation dennoch. Das hielt ihn aber nicht davon ab, ihrem Vater über den Rasen bis zum Vordereingang zu folgen. Hermine und ihre Mutter blickten mit weit aufgerissenen Augen hinterher.
„Hermine, das hättest du uns sagen müssen.“
„Mum …“ Sie seufzte. Jetzt war es eh zu spät, um es wieder geradezubiegen.
In der Küche angelangt bot Mr. Granger Severus einen Platz an, doch er zog es vor zu stehen. Wenn jetzt das folgen würde, womit er rechnete, wollte er nicht gemütlich auf einer Eckbank sitzen.
„Professor Snape.“ Mr. Granger kniff seine Augen zusammen. „Severus, nehmen Sie mir bitte nicht übel, wenn ich diese Gelegenheit ergreife, um Ihnen etwas zu sagen, was ich vor Jahren schon hätte sagen sollen.“
„Tun Sie sich keinen Zwang an“, erwiderte Severus trocken.
Mr. Granger hatte arge Mühe, bei seinen Worten freundlich zu bleiben, womit er bei Severus ungewollt eine Assoziation zu Lucius schuf, denn auch der konnte einen gründlich zusammenstauchen und dabei die nettesten Worte verwenden.
„Es ist mir unbegreiflich, wie ein Mann wie Sie so viele Jahre mit Kindern arbeiten konnte, wo sich doch von Anfang an herauskristallisiert hat, dass Sie über keine nennenswerten pädagogischen Fähigkeiten verfügen und darüber hinaus …“
Ein Geräusch ließ Severus sowie Mr. Granger zum offenen Küchenfenster hinüberblicken. Mit zwei Schritten war Hermines Vater am Fenster und schaute hinunter, bevor er zu jemandem sprach.
„Hermine.“
Auch wenn Severus nichts sehen konnte, hatte er doch ein klares Bild vor Augen. Er hatte Hermine schon einmal beim Lauschen erwischt.
Ihre Stimme war von draußen zu hören. „Ich habe nur gesehen, dass der Putz hier abbröckelt.“
„Ich habe die Wand erst letztes Jahr runderneuern lassen. Jetzt sei so lieb und geh mit den Kaninchen spielen.“
„Ich bin keine fünf mehr!“, sagte sie bockig.
„Nein, bist du nicht“, bestätigte ihr Vater mit freundlicher Stimme. „Du bist 24 und vertreibst dir noch immer gern die Zeit mit flauschig kuschligen Hoppelhäschen oder etwa nicht?“
„Doch“, hörte Severus sie leise sagen.
Vor seinem inneren Auge konnte Severus sehr lebhaft sehen, wie sie einen Schmollmund machte und beleidigt davontrottete. Von dem kleinen Zwischenfall schien Mr. Granger wieder milde gestimmt. Er sah noch einen Moment aus dem Fenster, schaute sehr wahrscheinlich Hermine hinterher.
„Wie es aussieht, möchte meine Tochter unbedingt verhindern, dass ich meine Chance wahrnehme, Ihnen endlich mal die Meinung zu sagen.“ Er seufzte, bevor er sich zu seinem Gast umdrehte. „Ich gebe zu, dass ich überreagiert habe. Es ist viel Zeit vergangen. Über alles, was in der magischen Welt geschehen ist, bin ich nicht informiert, aber ich habe durchaus mitbekommen, dass“, er blickte Severus an, „Professor Snape einen Merlinorden erhalten hat. Meine Tochter hat uns von der Verleihung erzählt und auch von seinen“, er verbesserte, „von Ihren Taten.“ Mit sich selbst uneins, ob er zetern oder Gnade walten lassen sollte, schüttelte Mr. Granger langsam den Kopf. „Trotzdem fand ich Ihr damaliges Verhalten als Lehrer unverzeihlich, Severus, besonders was die Angelegenheit mit dem zahnmedizinischen Unfall betrifft. Ein Lehrer muss für seine Schüler da sein und darf sie keinesfalls verspotten, wenn sie in eine prekäre Situation geraten sind.“
Für wenige Sekunden erinnerte Severus sich an das, was er an dem Tag in Hermines Gedankenwelt gesehen hatte, an dem er ungefragt Legilimentik bei ihr angewandt hatte. Sie war am Boden zerstört gewesen, hatte sich bei ihrem Vater ausgeweint.
„Ich kann Ihre Aufregung nachvollziehen, aber zu meiner Verteidigung kann ich nur anbringen, dass ich in diese Rolle gedrängt wurde. Hätte ich die Wahl gehabt, wäre ich nach ein oder zwei Jahren vom Dienst ausgeschieden, denn ich war mir schnell darüber klar geworden, wie unbefriedigend dieser Beruf für mich ist.“ Nachdenklich schaute Severus sein Gegenüber an. „Wenn ich mir eine Frage erlauben darf?“
„Sicher.“
„Hat Ihre Tochter Ihnen nie gesagt, bei wem sie ihre Ausbildung zur Tränkemeisterin absolviert?“
„Natürlich hat sie das! Sie hat immer nur von ‘Severus‘ gesprochen. Ich vermute, sie wollte von Anfang an verhindern, dass ich …“ Wieder seufzte Mr. Granger. „Na, Sie wissen schon. Wenn ich meine Tochter so betrachte, dann weiß ich, dass sie längst über einige Differenzen hinweg ist, die sie einmal mit Ihnen hatte. Wir haben ihr immer beigebracht, sich nirgends reinreden zu lassen. Sie soll das tun, was sie für richtig hält und immer ihrem Herzen folgen. Ich wusste, dass die Apotheke einer ihrer innigsten Wünsche ist und ich habe ihn wahr werden lassen, weil ihr die Mittel fehlten.“ Mr. Granger warf Severus einen warnenden Blick zu. „Ich würde es begrüßen, wenn dieser Wunsch nicht mit Füßen getreten werden würde.“
Severus verschränkte seine Arme hinter dem Rücken. „Es wäre reichlich unproduktiv, gegen meinen eigenen Wunsch vorzugehen, Mr. Granger.“
Draußen an den Kaninchenställen hatte Hermine sich ein weißes Tierchen mit schwarzen Punkten herausgenommen, das nun neugierig ihre Brust hinaufkletterte, um mit der ständig schnuppernden Nase ihren Hals zu erobern. Es kitzelte. Nach einer Weile hatte ihre Mutter ihr Gesellschaft geleistet, nahm sich aber keines der Kaninchen, sondern betrachtete sie stattdessen.
Die Stimme ihrer Mutter war sanft und ohne tatsächlichen Vorwurf, als sie sagte: „Du hättest nicht lauschen dürfen. Dein Vater wird ihm schon nichts tun.“
„Hah“, entwich es Hermine, „ich mache mir wirklich keine Sorgen um Severus! Eher um Dad.“
Die Sorge blieb zum Glück unbegründet. Mr. Granger oder Joshua, wie Severus ihn nennen sollte, hatte den Anflug von Rachegelüsten unter Kontrolle bekommen. Hier und da ließ er noch eine kaustische Bemerkung fallen, von der sich selbst Severus‘ ausgewachsener Sarkasmus noch eine Scheibe abschneiden konnte. Severus verbuchte diese Anmerkungen unter „unbedeutende Zänkerei“. Immerhin wollte er noch etwas von diesem Mann.
„Mr. Granger …“
„Joshua“, verbesserte Hermines Vater.
Unhörbar stöhnte Severus, bevor er sich dazu entschloss, die Anrede ganz wegfallen zu lassen. „Gern würde ich Ihnen die Hälfte des Kaufpreises für die Apotheke erstatten. Wenn Sie so freundlich wären, mir eine Bankverbindung zu nennen.“
„Geht denn das? Ich meine, in die Muggelwelt zu überweisen?“
„Natürlich, Gringotts erledigt alles Mögliche“, bestätigte Severus selbstsicher, denn er hatte sich im Vorfeld erkundigt. Wie das möglich war, wollte er gar nicht so genau wissen.
„Nun gut, ich werde Ihnen schreiben und Ihnen alles Nötige nennen, aber jetzt erst einmal die Frage, ob Sie Lust auf ein Spiel haben.“
Skeptisch beäugte Severus den Karton, den Mr. Granger auspackte. Darin war ein Brett mit vielen Feldern, von denen einige rot waren.
„Natürlich nur, wenn Sie möchten“, sagte Joshua, breitete das Spiel aber längst auf dem Tisch aus. „Es macht zu viert am meisten Spaß.“
„Was ist das?“ Unsicher blickte Hermine zu Severus hinüber.
„Das ist Scrabble und ich liebe es. Könnte dir auch gefallen.“
Der Tag, den sie bei den Grangers verbrachten, war unerwartet kurzweilig gewesen. Gegen 19 Uhr apparierten er und Hermine zurück in die Apotheke. So schlimm, wie er diesen Besuch bei ihren Eltern im Vorfeld eingeschätzt hatte, war es gar nicht gewesen. Mit ihrem Vater hatte er eine Rückzahlung vereinbart, damit zumindest ihm die Hälfte der Apotheke tatsächlich gehören würde. Trotzdem es Samstagabend war, blieb Severus nicht bei ihr, was Hermine im ersten Moment traurig stimmte. Andererseits wollte sie ihm eine kleine Verschnaufpause gönnen. Es war schon unangenehm genug gewesen, dass ihre Eltern am Ende doch erfahren haben, dass ihr Lehrmeister und jetziger Geschäftspartner Severus und der damalige fiese Lehrer für Zaubertränke Professor Snape ein und dieselbe Person war. Sie konnte von Glück reden, dass es in Hogwarts nie Elternabende gegeben hat, sonst hätte es sicherlich schon viel früher zwischen den beiden gekracht. Solange es sich nicht um eine große Auseinandersetzung, sondern nur einen lapidaren Zoff handelte, war Hermine erleichtert.
In Hogwarts angekommen machte sich Severus auf den Weg zu Minerva. Auch wenn er ihr gestern abgesagt hatte, war es jetzt noch früh am Abend, weswegen er auf eine kleine Lektion hoffte. Über seine unerwartete Anwesenheit war Minerva im ersten Moment erstaunt, bat ihn jedoch zu sich hinein.
„Doch kein Besuch bei den Grangers?“
„Ich komme gerade von ihnen und dachte, es wäre noch genug Zeit, um dich aufzusuchen.“
Minerva spitzte den Mund. „Hast du die Kapitel gelesen?“
„Natürlich! Ich wäre kaum hier, hätte ich nicht meine ‘Hausaufgaben‘ gemacht!“, zischelte er.
Ein kurzes Nicken zeigte ihre Bereitschaft, sich noch heute dem Wunsch nach der Suche seiner Animagusgestalt zu widmen. Sie ließ ihn eintreten.
„Also gut, Severus. Dann wirst du jetzt unter meiner Aufsicht deine Konzentrationsübungen machen. Du wirst auch gleich mit der Suche nach der tierischen Gestalt beginnen. Solltest du sie, was ich für sehr unwahrscheinlich halte, sogar finden, wirst du sie nicht einnehmen, hörst du?“
„Mit meinem Gehör hatte ich nie Probleme.“
„Du weißt, was ich meine! Dreh mir nicht jedes Wort im Mund um. Du wirst dich nicht verwandeln, verstanden? Betaste die Form, mach dich mit ihr vertraut, aber nur im Geiste.“
Minerva führte ihn zu einem gut gepolsterten Stuhl mit hoher Rückenlehne, auf dem er Platz nahm. Sie selbst setzte sich an ihren Schreibtisch, auf dem eine Menge Pergamente von den Schülern auf Korrektur wartete, aber es schien nicht so, als würde sie sich die Zeit mit etwas anderem vertreiben. Er hoffte innig, sie würde ihn nicht die ganze Zeit über beobachten.
„Da du die Kapitel gelesen hast, bist du mit dem Wichtigsten vertraut. Während deiner Suche nach dem Tier kannst du in deinem Innern auch auf Dinge stoßen, die dich abzulenken vermögen – Dinge, die dich in Erstaunen und Verzückung oder auch in Angst und Schrecken versetzen können. Halte dich nicht daran auf, sondern setze die Aufgabe fort.“
Severus atmete tief durch. „Ich werde mich schon nicht ablenken lassen.“
„Dann beginne mit der Konzentrationsübung.“
Die Übungen, die sie meinte, beherrschte er im Schlaf. Albus hatte ihm damals beigebracht, den eigenen Geist vor Angriffen zu schützen, nachdem er ohnmächtig erleben musste, wie leicht ein mächtiger Zauberer sich Zutritt zu Gedanken verschaffen konnte. Es glich einer imaginären Mauer, die Severus in Windeseile mental um seinen Verstand herum aufbaute. Eine Mauer, die allen Einwirkungen von außen standhalten konnte. Dieser Schutzwall schützte bereits seinen Geist. Noch immer hörte er das Rascheln von Minervas Kleid, wenn sie sich unmerklich bewegte, nahm sogar ihre Atmung war. Diese geistige Verschanzung war höchstens mit emotionaler Bestürzung zu durchbrechen, doch dank des Ewigen Sees war er gegen sämtliche Einflüsse dieser Art gefeit. Voldemorts Gräueltaten oder die der Todesser hatten ihn stets kalt gelassen. Schon damals war nichts in der Lage gewesen, ihn so sehr zu berühren, dass dieser Schutzwall in sich hätte zusammenfallen können.
Sollte Severus sich jetzt entschließen, die Mauer zu verlassen, könnte er einfach die Augen öffnen und sich seiner normalen Tätigkeiten widmen. Er könnte spazieren gehen, die Schüler unterrichten oder ein Buch lesen und hätte während der ganzen Zeit diesen Schutzwall um seinen Geist. Diesmal blieb er mit seinen Gedanken innerhalb des Schutzwalles. Was Severus bisher nie gewagt hatte, war die Erforschung dieses nun eingezäunten Territoriums.
In Gedanken manifestierte sich die Umgebung seines Geistes. Es lag in der Natur des Menschen, Assoziationen zu ziehen; Gefühle mit Farben, Gerüchen oder Bildern zu verknüpfen. Ein Tagtraumzauber von den Weasleys basierte indirekt auf diesen Vorstellungsverknüpfungen. Dieses Weasley-Produkt sprach tiefste Sehnsüchte an, die jeder Mensch für sich selbst in ein gedankliches Spektakel umwandelte, sei es durch das Ausleben der Abenteuerlust auf einem Piratenschiff oder dem Wunsch, die schönsten Momente der Kindheit aus heutiger Sicht noch einmal zu erleben. Jeder Mensch stellte sich etwas, das er nie zu Gesicht bekommen hatte, anders vor. Die Beschreibung einer Sache oder Person konnte die Vorstellung zwar genauer werden lassen, aber dennoch hatte jeder Mensch ein anderes Bild davon.
Severus‘ Bild von seinem Innern war dunkel.
In der Düsternis seiner Geisteswelt nahmen einige Eindrücke eine dämmrige Form an. Schatten huschten umher, doch Furcht verspürte er keine. Severus konzentrierte sich noch etwas mehr, damit diese unerforschte Umgebung Gestalt annehmen würde. Wie sonst, fragte er sich, sollte er in dieser Dunkelheit etwas finden können? Mit viel Geduld entfaltete sich sein Geist und stellte den Ort, an dem er sich gerade befand, als kaum erhellten Raum dar, der von kalten Steinwänden umgeben war. Er fühlte sich ganz wie Zuhause.
In dem Wissen, sich nicht in Wirklichkeit, sondern nur in seinem Kopf zu bewegen, ging er die Steinwand ab, bis er auf eine Tür stieß, die er öffnete. Vor ihm erstreckte sich ein Korridor, dessen Ende man nicht einmal erahnen konnte, weil er im Dunkel seiner Welt verschwand. Unzählige Türen hatten sich materialisiert, was seinem Sinn für Ordnung entsprungen sein musste. Es würde ihn nicht wundern, sollte er hinter den Türen auf hohe Bücherregale mit Themen seines Lebens stoßen oder auf ein Labor, in welchem Zutaten zu finden waren, die seinen Eigenschaften entsprachen, denn so stellte er sich sein Innerstes vor. Wissen war in Büchern zu finden, also sollten sich auch seine Gedanken und Erinnerungen als Bücher darstellen.
Irgendwo hinter einer der vielen Türen musste sich ein Tier aufhalten, das er zu finden bereit war.
Wie er es geahnt hatte, fand er im ersten Raum eine Art unüberblickbare Bibliothek. Auffällig waren die ersten Regale, die sich sichtlich von den anderen abhoben. Die Bücher, die ihn ihnen verstaut waren, besaßen bunten Rücken mit allen möglichen Farben. Die Mehrzahl der anderen Bücherregale wie auch der dort enthaltenen Bücher war von dunkelgrauer Farbe. Anziehend waren für Severus vorerst die Farben.
Als er vor einem der schmalen Regale stand, zog er wahllos eines der farbigen Bücher heraus. Es trug den Titel „Erstes Jahr in Hogwarts – Band 10“. Aus Neugierde schlug er das Inhaltsverzeichnis auf und stellte fest, dass dieses Buch den gesamten Monat Juni seines ersten Schuljahres beinhaltete. Zum Vergleich nahm er Band 1 aus der gleichen Reihe zur Hand, was dem September des Vorjahres entsprach. Das Buch strahlte die freudige Aufregung aus, die er als Erstklässler verspürt hatte. Auch wenn die Versuchung groß war, in diese Erinnerungen abzutauchen, stellte er beide Bücher wieder zurück.
Stichprobenartig nahm er im Vorübergehen immer wieder eines der bunten Bücher, die Erinnerungen seines Lebens beinhalteten und ihn mit jenen schönen Gefühlen streichelten, die er damals schon empfunden hatte.
Nach kurzer Zeit stieß er bereits auf die grauen Exemplare, die diese Bibliothek dominierten. Das Erste dieser rauchfarbenen Bücher zog er heraus. Es trug keinen Titel, auch keine Nummerierung. Der Einband war nicht so liebevoll gestaltet wie die der bunten Ausgaben. Als er das Buch öffnete, schlug ihm ein modriger Geruch entgegen. Ohne Inhaltsverzeichnis oder Einleitung begann das Buch sofort mit dem Text. Weil Severus sich in seinem eigenen Kopf befand, tönten die still in Gedanken gelesenen Worte laut von den steinernen Wänden wieder.
„Die kalte Gleichgültigkeit legte sich wie ein Leichentuch um den Rest Menschlichkeit und trachtete danach, auch diesen Teil zu vernichten und wenn nicht vernichten, dann zumindest so im Zaume zu halten, dass ein Antasten unmöglich sein sollte.“
Zeitlich begann das Erste dieser grauen Bücher sofort nach der Einnahme des Ewigen Sees. Angewidert stopfte er den Band zurück in die Lücke, bevor er seinen Weg fortsetzte. Es war erleichternd zu wissen, dass niemand außer ihm die lauten Worte vernommen hatte, denn er war allein; allein in den Tiefen seines Innern.
Ihm fielen nach etlichen Metern wenige Bücher auf, die vereinzelt einen sehr hellen Grauton innehatten und sich somit von der Masse abhoben. In das erste hellgraue Buch wollte er einen Blick wagen, doch es blieb nicht allein bei einem Blick, denn seine innere Stimme las für ihn laut schallend vor.
„Mit dem Jungen fällt das helle Licht der Erinnerung wieder ein. Ihn zu sehen bedeutet Schmerz und Hoffnung zugleich, denn er kann Berühren, was unantastbar bleiben sollte.“
Harrys erstes Schuljahr. Severus erinnerte sich noch sehr gut daran, wie ohnmächtig er den Gefühlen ausgeliefert war, die Harrys Anwesenheit in ihm ausgelöst hatten. Erinnerungen an Lily waren durch den Jungen so lebendig geworden, dass sie genauso stark schmerzten wie am Tag ihres Todes. Auch dieses Buch legte Severus zurück, jedoch nicht ohne sich des Hoffnungsschimmer gewahr zu sein, den Harry damals schon in ihm erweckt hatte. Harry war ein Schlüssel, doch das dazugehörige Schloss musste noch gefunden werden.
Nach diesem hellgrauen Buch blieben auch die anderen nicht mehr so düster. Immer wieder fanden sich einzelne Exemplare, die so hell waren wie das von Harrys erstem Schultag. Severus kontrollierte, ob die Bücher Titel besaßen, wurde aber nie fündig. Die Bücher seines Lebens waren nach Einnahme des Ewigen Sees genauso belanglos wie sein Leben selbst.
Schnellen Schrittes ging er die Regale ab, überflog dabei lediglich mit den Augen die Farben der Bände, die stetig zwischen dunkel- und hellgrau wechselten. Zum Stehen kam er, als die Bücher überwiegend hell wurden. Eine Stichprobe bestätigte ihm, dass er bei der Zeit nach dem Krieg angekommen war. Das hellste von ihnen beinhaltete jenes ereignisvolle Zusammentreffen mit Harry, das den ganzen Stein überhaupt ins Rollen gebracht hatte. Der Tag, an dem Severus von einer unergründlichen Macht dazu bewegt worden war, dem jungen Kollegen dieses schwere Mysterium vor die Füße zu werfen, das ihn umgab. Harry war darüber nicht einmal ins Taumeln geraten, sondern hatte den Hinweis aufgegriffen und seit diesem Augenblick nicht mehr davon abgelassen.
Mit einer Mischung aus Erleichterung und Dankbarkeit stellte Severus das Buch zurück. Viele Regale kamen nicht mehr. Den einen silbrigen Band, den er im letzten Bücherregal bemerkte, wagte er nicht zu berühren. Es würde Passagen über Hermine beinhalten. Er musste es nicht aufschlagen, um sich davon zu überzeugen, denn er befand sich in seinem eigenen Geist und vor sich selbst konnte er nichts verbergen.
Das allerletzte Buch war unvollständig. Die letzten Seiten waren leer, weil der Inhalt noch nicht erlebt wurde.
Ganz am Ende des riesigen Raumes fiel sein Augenmerk auf eine Vitrine, die ein Buch wie ein Heiligtum unter samtenen Stoff vor Staub und Blicken zu schützen versuchte. Kaum hatte er sich der Vitrine genäherte, verschwand das Glas, so dass er das Tuch aus Samt entfernen konnte. Ein beigefarbenes Buch kam zum Vorschein, das nicht sonderlich dick war. Ein Buch, dessen Wichtigkeit so enorm zu sein schien, dass es von den anderen getrennt sorgfältig unter einer Glaskuppel aufbewahrt wurde, bis er darin lesen wollte. Als er es berührte, fühlte er die angenehme Wärme, die von dem Buch ausging und fast im gleichen Moment, als seine Fingerspitzen über das Leder strichen, schnitzte sich wie von Geisterhand nach rechts geneigt in wunderschönen goldenen Lettern das Wort „Freunde“.
So vorsichtig, als würde er eine Antiquität berühren, öffnete er den Buchdeckel und blätterte bis zum ersten Kapitel vor. Es trug den Titel „Lily“. Die dort geschilderten Erlebnisse stellten die Grundlage dafür dar, sie als Freund bezeichnet zu haben. Trotz ihres Todes tat er das noch heute. Aufgrund seiner Empfindungen ihr gegenüber hatte sie einen Eintrag in dieses edle Buch bekommen.
Es wunderte Severus nicht, dass das zweite Kapitel von Albus handelte. Die Schriftart war eine ganz andere als die, die für Lilys Kapitel verwendet worden war. Dass er Albus als Freund bezeichnete, war nicht überraschend. Narzissas Kapitel war nicht allzu kurz, da er auch sie schon seit der Schulzeit kannte. Das in ihrem Kapitel enthaltene Teilstück über Regulus war zwar bescheiden, aber sehr intensiv zu lesen. Wäre der Jüngste der Blacks nicht so früh verstorben, hätte der ein wahrer Freund werden können. Wie die Redewendung es so schön ausdrückte, lagen er und Regulus auf gleicher Wellenlänge. Selbst dem guten Lucius hatte das Buch ein Kapitel gewidmet. Wenn er es sich recht überlegte, musste Severus zugeben, dass er mit ihm nicht nur negative Erfahrungen gemacht hatte. Der Sohn des blonden Reinblüters war ebenfalls mit einem Kapitel vertreten, welches sich besonders intensiv der fünf Jahre widmete, in denen er mit dem damals 16jährigen Jungen auf der Flucht gewesen war.
Zu seinem Erstaunen waren auch Menschen in diesem Buch bedacht, die er nicht bewusst mit so einem bedeutungsvollen Wort wie „Freund“ bezeichnen würde. Er las von Poppy, die als Freundin seiner Mutter schon immer Anteil an seinem Leben genommen hatte. Der Name von Minerva ließ ihn stutzen. Sie hatte er stets als Kollegin gesehen, aber anscheinend hatte seine Gefühlskälte es nur nicht zugelassen, mehr in ihr zu erkennen. Vielleicht standen sie in diesem Buch, weil er sich darüber bewusst war, dass sie ihn nie hintergehen würden?
Ein langes Kapitel über Harry folgte, mit all den Höhen und Tiefen, die eine gute Geschichte ausmachte, nur dass es sich hierbei um seine Lebensgeschichte handelte. Die Seiten über Harry waren angenehm warm, als er sie berührte. Etwas später Remus‘ Namen zu lesen verblüffte ihn. Bei ihm war er ebenfalls der Meinung, dass er ihn aus den gleichen Gründen wie auch Poppy und Minerva unterbewusst zu seinen Freunden zählte – sie waren ihm wohlgesinnt, waren freundlich und ließen sich nicht durch seine Boshaftigkeiten aus der Ruhe bringen.
Es gab ein Kapitel, das mehrere Personen auf einmal behandelte. Eine Zusammenfassung von Menschen, die sich in Zukunft möglicherweise ein eigenes Kapitel erkämpfen könnten, je nachdem, wie sehr er mit ihnen zu tun haben würde. Dort waren Menschen aufgelistet wie Septina Vektor, Georgi Popovich, Eldred Worple, Kôji Takeda und sogar Neville Longbottom. Kollegen und Bekannte, mit denen er durch mehr als nur gemeinsame Interessen eine Verbundenheit verspürte; Menschen, die er mit seinem verkümmerten Ich zu mögen begann.
Das letzte Kapitel in diesem Buch handelte von Hermine. Es war die wärmste Stelle. Liebevoll strichen seine Finger über die Buchstaben. Jedes der Kapitel war in einer anderen Schriftart verfasst, so auch dieser Text. Bei dem Buchstaben „g“ musste er kräftig schlucken, denn dessen kleine Variante wies die bauchig weiche Form auf, die er von Hermines Handschrift kannte. Ihr Kapitel war ebenfalls nicht beendet. Etliche weiße Seiten wollten in Zukunft beschrieben werden.
Ehrfürchtig schloss er das Buch und legte es zurück an seinen Platz, bevor er es mit dem Samttuch bedeckte. Kaum hatte er sich einen Schritt davon entfernt, legte sich wieder der gläserne Schutzkörper über das Buch der Freunde; dem wertvollsten Band in der Bibliothek seines Lebens.
Severus trat wieder hinaus auf den Korridor, dessen unzählige Türen ihn entmutigten. Es stellte sich ihm die Frage, wie er das Tier finden sollte. Zudem wusste er nicht, ob es sich hier frei bewegen konnte, vielleicht sogar vor ihm floh. Möglicherweise hielt es sich jetzt in der Bibliothek auf, in dem Wissen, dass er dort nicht ein zweites Mal suchen würde. Vielleicht konnte es aber nicht denken, weil es nur ein Tier war, dessen Handeln durch Instinkte geleitet wurde? Verzweifelt stieß er nach und nach die vielen Türen auf und traf auf Landschaften, Gebäude und andere Orte, die er bestens kannte. Das Haus seiner Eltern, Malfoy Manor, Hermines Apotheke, Hogwarts. In einigen hielten sich Personen auf, die wie in Erinnerungen üblich nicht mit ihm interagierten, sondern längst vergangene Momente nachspielten. Manchmal sah er Tiere wie Krummbein, Fawkes, Harry oder Fellini, doch sie waren nicht greifbar; sie waren nur Erinnerungen.
Systematisch stieß er nacheinander Türen auf und warf einen Blick in den Raum dahinter, ohne sich von dem, was er sah, berühren zu lassen. Nur wenn er Lily sah, verweilte er einen kurzen Augenblick länger, um sie zu betrachten, doch von seiner Suche hielt ihr gedankliches Bildnis ihn nicht ab.
Als er den Augenblick fand, in dem Hermine und er Magie ausgetauscht hatten, näherte er sich dem Spektakel mit Bewunderung. Er betrachtete diese Erinnerung aus anderer Perspektive, denn er konnte sich selbst sehen und die Farbe, die ihre Hände an seiner Brust zum Vorschein brachten.
Von diesem eben neu erlebten Gedanken wieder motiviert setzte er seine Suche fort. Keine Tür war vor seinem Blick sicher, selbst wenn sich dahinter unangenehme Erinnerungen befanden wie die mit Potter und Black, als sie ihm vor versammelter Schülerschaft die Unterhose ausgezogen hatten.
Nachdem er diese letzte Tür peinlich berührt wieder geschlossen hatte, atmete er tief durch. Er ahnte, dass er auf der falschen Spur war; dass er die Suche falsch anpackte. In diesem Korridor befanden sich nur Momente, an die er sich lebhaft erinnern konnte, ohne sie auffrischen zu müssen. Er musste ganz woanders suchen – in Gegenden, die ihm selbst fremd waren.
Den anderen Türen schenkte er keine Aufmerksamkeit mehr, als er schnellen Schrittes den Korridor entlangmarschierte. In dieser Zeit wurde er sich darüber klar, dass er sich nun – so seltsam sich das auch anhören mochte – bewusst in seinem Bewusstsein befand. Man könnte es mit Legilimentik am eigenen Geist beschreiben, mit der man an der Oberfläche kratzte. Er wurde das Gefühl nicht los, dass sich Narzissa auf genau diese Art und Weise in ihren eigenen Erinnerungen befunden haben musste, als sie von der Einsamkeit dazu getrieben worden war, sich mit sich selbst zu befassen. Die Erinnerungen, die nicht mehr in ihre neue Welt passten, hatte sie aus dem Bewusstsein verdrängt und woanders abgelegt.
Der Korridor wollte gar kein Ende nehmen. So hatte Severus Zeit, sich ein paar Gedanken zu machen.
Erinnerungen von anderen Menschen konnte man leicht ausspähen, indem man einfach eine dieser Türen öffnete und sich an fremden Rückblicken vergriff. Ein Vergissmich würde den Inhalt des Raums hinter einer solchen Tür gnadenlos löschen oder mit einem Zauber schützen, so dass auf diese Erinnerung nicht mehr zugegriffen werden konnte. Der Unterschied war nur, dass nicht jeder seine Gedanken so wie Severus abgelegt hatte. Manch einer stellte sich die eigenen Erinnerungen wie unzählige Seifenblasen vor, die besonders bei unordentlich veranlagten Menschen wild durcheinander schwirrten und manchmal nicht einmal einem Lebensabschnitt zugeordnet werden konnten. Als er damals in die Gedanken von Blacks jetziger Ehefrau eingedrungen war, fand er ein sich unglaublich schnell drehendes Karussell vor, das er nur mit Hilfe von Narzissa zu betreten imstande war. Hier in seinem Korridor wurden jene Erinnerungen aufbewahrt, die immer wieder abgerufen werden konnten – sogar aus dem Kopf hinausgenommen werden konnten, um sie in einem Denkarium abzulegen. Er hielt sich momentan in seinem ungetrübten Bewusstsein auf und musste unbedingt einen Weg finden, um ins eigene Unterbewusstsein zu gelangen. Nur dort konnte sich das Tier aufhalten, das er suchte. Das Tier, das er nicht kannte.
Myriaden von Türen später stand Severus vor einem unscheinbaren Loch im Boden, durch das ein erwachsener Mann geradeso hindurchpassen könnte. Die Ungewissheit, die ihn dort unten erwartete, ließ ihn unbeweglich verharren. Nicht einmal er selbst wusste, mit welchen Abgründen er zu rechnen hatte. Dort unten in der Lichtlosigkeit würden abscheuliche Dinge auf ihn warten. Erinnerungen, die er eines Tages aus gutem Grund verdrängt hatte. Gebilde und Gestalten aus nicht nur vergangenen, sondern aus vergessenen Tagen und selbst seine Alpträume und übelste Fantasien würden dort in diesem Loch, als wären sie darin wie in einem Müllschlucker entsorgt worden, auf ihn warten. Es war ihm unheimlich zumute, an dieser Schwelle zu stehen, die ihn von manifestierten Kindheitsängsten und urgeschichtlichen Trieben vom klaren Bewusstsein trennte.
„Reiß dich zusammen!“, fluchte er in Gedanken. Er durfte keine Angst vor sich selbst haben, denn auch dieser Teil seines Erinnerungsvermögens war ein Teil von ihm. Trotzdem fürchtete er sich.
Jedes Gefühl von Unbehagen schüttelte er so gut es ging von sich, bevor er sich niederkniete und die Beine in das Loch steckte. Vorsichtig ließ er sich in die Dunkelheit hinab, doch er fühlte keinen Boden unter den Füßen. Ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, ob er sich verletzten könnte, ließ er los.
Er fiel und fiel. Das Gefälle seiner verderblichen Seite führte sehr steil hinab.
Zu seinem Erstaunen landete er lautlos und unverletzt auf einem Boden, der mit einer matschigen Substanz überzogen war, die er nicht genauer in Augenschein nehmen wollte. Hier unten gab es keine sichtbaren Türen. An diesem Ort war nichts methodisch angeordnet, es gab nicht einmal genügend Licht, um die Umgebung erkennen zu können. Nur manchmal, in weiter Ferne, flackerte etwas Unheilvolles auf und verschwand sofort wieder. Behutsam setzte er einen Fuß vor den anderen, als er hinter sich ein animalisches Röcheln hörte – wie von einem Tier, das große Schmerzen erlitt. Angsterfüllt drehte sich Severus um. Eines dieser Lichter flackerte in diesem Moment auf.
Er sah sich selbst, gekleidet in der Schuluniform. Der Magen drehte sich ihm um, als er das unten am Boden liegende Stück Fleisch sah, das den sandigen Grund unter sich aufweichte, weil es aus allen Poren zu bluten schien, doch beim näheren Hinsehen stellte sich heraus, dass es gar keine Poren mehr haben konnte. Severus erinnerte sich erst jetzt, als er dieses Szenario sehen musste, an seine Rachegelüste, die er sich als verängstigter Jugendlicher in übertrieben endgültiger Art in seiner Fantasie ausgemalt hatte. Wie oft hatte er sich nach dem Vorfall mit dem Werwolf vorgestellt, Lupin zu häuten? Hier sah er eine der unzähligen Varianten. Der junge Severus hatte dem Werwolf im wahrsten Sinne des Wortes das Fell über die Ohren gezogen, das er nun triumphierend in die Höhe hielt, während die am Boden liegende Bestie langsam erstarb. Das war damals seine Art gewesen, den durch Black inszenierten Vorfall, den er um Haaresbreite mit dem Leben bezahlt hätte und die darauf resultierende Angst vor dem Werwolf zu verarbeiten und zu bekämpfen, gleichzeitig auch Rache zu üben, wenn diese auch nur erdacht war. Hauptsache ein kleines bisschen Genugtuung für die ganzen Ungerechtigkeiten, die ihm die Rumtreiber zuteilkommen ließen. Ein wenig Mord und Totschlag in Gedanken.
Ein Schuldgefühl übermannte Severus, als er sich ins Gedächtnis zurückrief, dass er erst noch vor einigen Minuten von Remus als Freund gelesen hatte. Der Schauplatz des imaginären Mordes verschwand und Severus tappte erneut im Dunkeln. Über unebenen Boden staksend versuchte er die Bilder zu ignorieren, die neben ihm dämmrig an Gestalt annahmen. Da waren Fantasien von ihm und Narzissa, wie sie in fleischlicher Lust aneinander hielten. Auch wenn er diese Art von pubertären Gedanken wahrscheinlich mit jedem seiner damaligen männlichen Mitschüler teilen konnte, schämte er sich jetzt für sie. Als Schüler hatte er sie nicht einmal geliebt, sondern nach dem Erwachen der eigenen Männlichkeit lediglich körperlich begehrt. Jeder Heiler würde das als eine gesunde Entwicklung eines Heranwachsenden abtun, doch ihm waren diese Gedanken im Nachhinein trotzdem peinlich.
Zu gut wusste er noch, dass sich Albus ebenfalls in seinem Unterbewusstsein umgeschaut hatte, um seine Loyalität zu prüfen. Severus hatte damals gar nicht erst versucht ihn aufzuhalten. Der Direktor war allein in Severus‘ seelischen Abgründen umhergewandelt.
An die Dinge, die er hier in seinem Unterbewusstsein fand, konnte er sich erst wieder erinnern, nachdem er einen Blick auf sie geworfen hatte. Eine seiner damaligen Fantasien ließ ihn innehalten. Neugierig betrachtete er eine seiner ehemaligen Überlegungen, wie der Sectumsempra-Fluch wirken könnte. Als imaginäre Versuchskaninchen mussten damals natürlich Potter und Black herhalten. Den Fluch hatte er nie selbst an einer Person ausprobiert, konnte aber das erste Mal dessen Auswirkungen mit eigenen Augen sehen, als Harry so frei gewesen war, Draco damit zu malträtieren.
Die längst verdrängten Alpträume über Voldemorts Herrschaft ignorierte Severus. Trotzdem konnte er nicht anders als sich umzudrehen, wenn er einen Schrei vernahm. Auch den lustbetonten Traum mit Bellatrix, den er einmal als junger Mann gehabt hatte, strafte er mit Nichtachtung.
Aufmerksam wurde er erst bei einer Erinnerung seines Elternhauses in Spinner’s End. Er sah sich selbst als Jungen – schon damals ganz in Schwarz gekleidet –, der dem Vater mit betretener Miene ins Wohnzimmer folgte. Tobias Snape stellte eine Flasche Whisky auf dem Tisch ab und setzte sich, winkte dann den jungen Severus zu sich heran, weil er neben ihm Platz nehmen sollte.
Da sich Severus an dieses Szenario nicht mehr entsinnen konnte, beobachtete er es sehr genau. Sein Vater trug ebenfalls schwarze Kleidung und da fiel es Severus wie Schuppen von den Augen. Es war der Tag, an dem seine Mutter beerdigt worden war. Severus sah den Schmerz in den Augen seines Vaters, der nun einen Arm um den Jungen legte und ermutigend zudrückte. Severus war damals erst zwölf oder dreizehn Jahre alt gewesen.
„Jetzt sind nur noch wir beide übrig“, murmelte sein Vater monoton und entkräftet. „Wir werden das Kind schon schaukeln, Severus. Wirst schon sehen, es wird alles gut.“
An seinen Vater hatte er nur schlechte Erinnerungen und zudem sehr vage; diese zählte nicht zu ihnen, was kein Wunder war, denn sie befand sich in seinem Unterbewusstsein. Offensichtlich war sein Vater nicht immer schlecht zu ihm gewesen, doch die negativen Erinnerungen überwogen.
Severus beobachtete, wie sein Vater nach der Flasche griff und sein junges Ich sie ihm entriss. Erstaunt blickte Tobias Snape neben sich, begann kurz darauf langsam zu nicken.
„Vielleicht hast du Recht, ich sollte damit aufhören.“
Sein Vater hatte nie Versprechungen gemacht, demzufolge auch keine gehalten, das wusste Severus. Keine Woche war nach dem Tod seiner Mutter vergangen, da hatte Tobias Snape wieder Trost im Alkohol gesucht. Von seinem Vater angewidert wandte sich Severus ab, um weiter durch das Dunkel seines seelischen Kellers zu wandeln.
Von angsteinflössenden Alpträumen, brutalen Rachevorstellungen und wollüstigen Fantasien ließ er sich nicht mehr ablenken, so wie es Minerva ihm geraten hatte. Sein Ziel war das Tier, das sich hier aufhalten musste. Langsam kamen ihm Zweifel, ob es überhaupt ein Tier gab. Möglicherweise war es doch nicht jedem Zauberer und jeder Hexe vergönnt, zu einem Animagus zu werden. Die Gestalt des Tieres war Severus egal. Er wollte Hermine nicht enttäuschen, selbst wenn er es nur zu einer Schnecke bringen würde.
Als Severus an seiner Mutter vorbeikam, die ein vielleicht zweijähriges Kind – ihn – in den Armen hielt und den kleinen Kopf mit den schwarzen Haaren mit Küssen bedachte, konnte er seinen Blick von all der Liebe nicht mehr abwenden. Er hatte sich immer danach gesehnt, sich an solche Momente erinnern zu können, aber es hieß, dass Kinder erst ab dem dritten Lebensjahr dazu in der Lage wären. Hier in seinem Unterbewusstsein war das Andenken an seine liebevolle Mutter lebendig und fand zudem einen Weg in sein Bewusstsein. Es störte ihn auch nicht, dass sein Vater die Szenerie betrat und unverhofft genauso fürsorglich mit ihm umging. Wie paralysiert nahm er die Eindrücke in sich auf, bis er seltsame Geräusche hörte.
Knurrende und krächzende Laute waren zu vernehmen. Das Geräusch war nahe; direkt hinter ihm. Es konnte sich nur um das Tier handeln, das ihn gefunden hatte.
Langsam, damit er es nicht erschrecken würde, drehte er sich um. Ein eineinhalb Meter großes Tier schaute ihn mit durchdringendem Blick an. Die nackte Haut um die Augenpartie war rötlich umrandet, das Haupt von grauer Farbe und die Brust etwas heller. Erst zum Rumpffortsatz hin wurden die Farben merklich dunkler, bis sie sich im Schwarz der Umgebung verloren. Das Tier wirkte durch die natürliche Form der Mundpartie sehr gestreng, geradezu ernst und durch den festen Blick sehr wachsam. Auf zwei langen kräftigen Beinen, deren obere Hälfte dunkel umkleidet war, stand es vor ihm und blickte neugierig und furchtlos zu ihm auf.
Severus hatte seine Animagusgestalt gefunden und sie war in seinen Augen von majestätischer Anmut.
Es klang wie eine Drohung, die jedoch nicht besonders ernst gemeint war. Mr. Granger hatte offensichtlich einen schrägen Sinn für Humor. Die beiden Damen waren still, nachdem das kleine Geheimnis gelüftet war. Hermine musste geahnt haben, dass ihr Vater auf den Namen Snape allergisch reagieren könnte. Mit ihrer Taktik bei der Begrüßung wäre es ihr beinahe gelungen, seine Identität zu wahren.
An Severus gerichtet fragte Mr. Granger mit seinem aufgesetzten Lächeln: „Würden Sie mir helfen, in der Küche für die Damen einen Aperitif zuzubereiten?“
„Ich kann dir hel…“ Hermines Versuch, ihre Hilfe anzubieten, wurde mit erhobener Hand seitens ihres Vaters im Keim erstickt.
„Severus wird sicherlich so freundlich sein. Dann können wir mal ein wenig“, sein Lächeln wurde breiter und dämonischer, „offener reden.“
Angst hatte Severus keine, ein wenig unangenehm war ihm die Situation dennoch. Das hielt ihn aber nicht davon ab, ihrem Vater über den Rasen bis zum Vordereingang zu folgen. Hermine und ihre Mutter blickten mit weit aufgerissenen Augen hinterher.
„Hermine, das hättest du uns sagen müssen.“
„Mum …“ Sie seufzte. Jetzt war es eh zu spät, um es wieder geradezubiegen.
In der Küche angelangt bot Mr. Granger Severus einen Platz an, doch er zog es vor zu stehen. Wenn jetzt das folgen würde, womit er rechnete, wollte er nicht gemütlich auf einer Eckbank sitzen.
„Professor Snape.“ Mr. Granger kniff seine Augen zusammen. „Severus, nehmen Sie mir bitte nicht übel, wenn ich diese Gelegenheit ergreife, um Ihnen etwas zu sagen, was ich vor Jahren schon hätte sagen sollen.“
„Tun Sie sich keinen Zwang an“, erwiderte Severus trocken.
Mr. Granger hatte arge Mühe, bei seinen Worten freundlich zu bleiben, womit er bei Severus ungewollt eine Assoziation zu Lucius schuf, denn auch der konnte einen gründlich zusammenstauchen und dabei die nettesten Worte verwenden.
„Es ist mir unbegreiflich, wie ein Mann wie Sie so viele Jahre mit Kindern arbeiten konnte, wo sich doch von Anfang an herauskristallisiert hat, dass Sie über keine nennenswerten pädagogischen Fähigkeiten verfügen und darüber hinaus …“
Ein Geräusch ließ Severus sowie Mr. Granger zum offenen Küchenfenster hinüberblicken. Mit zwei Schritten war Hermines Vater am Fenster und schaute hinunter, bevor er zu jemandem sprach.
„Hermine.“
Auch wenn Severus nichts sehen konnte, hatte er doch ein klares Bild vor Augen. Er hatte Hermine schon einmal beim Lauschen erwischt.
Ihre Stimme war von draußen zu hören. „Ich habe nur gesehen, dass der Putz hier abbröckelt.“
„Ich habe die Wand erst letztes Jahr runderneuern lassen. Jetzt sei so lieb und geh mit den Kaninchen spielen.“
„Ich bin keine fünf mehr!“, sagte sie bockig.
„Nein, bist du nicht“, bestätigte ihr Vater mit freundlicher Stimme. „Du bist 24 und vertreibst dir noch immer gern die Zeit mit flauschig kuschligen Hoppelhäschen oder etwa nicht?“
„Doch“, hörte Severus sie leise sagen.
Vor seinem inneren Auge konnte Severus sehr lebhaft sehen, wie sie einen Schmollmund machte und beleidigt davontrottete. Von dem kleinen Zwischenfall schien Mr. Granger wieder milde gestimmt. Er sah noch einen Moment aus dem Fenster, schaute sehr wahrscheinlich Hermine hinterher.
„Wie es aussieht, möchte meine Tochter unbedingt verhindern, dass ich meine Chance wahrnehme, Ihnen endlich mal die Meinung zu sagen.“ Er seufzte, bevor er sich zu seinem Gast umdrehte. „Ich gebe zu, dass ich überreagiert habe. Es ist viel Zeit vergangen. Über alles, was in der magischen Welt geschehen ist, bin ich nicht informiert, aber ich habe durchaus mitbekommen, dass“, er blickte Severus an, „Professor Snape einen Merlinorden erhalten hat. Meine Tochter hat uns von der Verleihung erzählt und auch von seinen“, er verbesserte, „von Ihren Taten.“ Mit sich selbst uneins, ob er zetern oder Gnade walten lassen sollte, schüttelte Mr. Granger langsam den Kopf. „Trotzdem fand ich Ihr damaliges Verhalten als Lehrer unverzeihlich, Severus, besonders was die Angelegenheit mit dem zahnmedizinischen Unfall betrifft. Ein Lehrer muss für seine Schüler da sein und darf sie keinesfalls verspotten, wenn sie in eine prekäre Situation geraten sind.“
Für wenige Sekunden erinnerte Severus sich an das, was er an dem Tag in Hermines Gedankenwelt gesehen hatte, an dem er ungefragt Legilimentik bei ihr angewandt hatte. Sie war am Boden zerstört gewesen, hatte sich bei ihrem Vater ausgeweint.
„Ich kann Ihre Aufregung nachvollziehen, aber zu meiner Verteidigung kann ich nur anbringen, dass ich in diese Rolle gedrängt wurde. Hätte ich die Wahl gehabt, wäre ich nach ein oder zwei Jahren vom Dienst ausgeschieden, denn ich war mir schnell darüber klar geworden, wie unbefriedigend dieser Beruf für mich ist.“ Nachdenklich schaute Severus sein Gegenüber an. „Wenn ich mir eine Frage erlauben darf?“
„Sicher.“
„Hat Ihre Tochter Ihnen nie gesagt, bei wem sie ihre Ausbildung zur Tränkemeisterin absolviert?“
„Natürlich hat sie das! Sie hat immer nur von ‘Severus‘ gesprochen. Ich vermute, sie wollte von Anfang an verhindern, dass ich …“ Wieder seufzte Mr. Granger. „Na, Sie wissen schon. Wenn ich meine Tochter so betrachte, dann weiß ich, dass sie längst über einige Differenzen hinweg ist, die sie einmal mit Ihnen hatte. Wir haben ihr immer beigebracht, sich nirgends reinreden zu lassen. Sie soll das tun, was sie für richtig hält und immer ihrem Herzen folgen. Ich wusste, dass die Apotheke einer ihrer innigsten Wünsche ist und ich habe ihn wahr werden lassen, weil ihr die Mittel fehlten.“ Mr. Granger warf Severus einen warnenden Blick zu. „Ich würde es begrüßen, wenn dieser Wunsch nicht mit Füßen getreten werden würde.“
Severus verschränkte seine Arme hinter dem Rücken. „Es wäre reichlich unproduktiv, gegen meinen eigenen Wunsch vorzugehen, Mr. Granger.“
Draußen an den Kaninchenställen hatte Hermine sich ein weißes Tierchen mit schwarzen Punkten herausgenommen, das nun neugierig ihre Brust hinaufkletterte, um mit der ständig schnuppernden Nase ihren Hals zu erobern. Es kitzelte. Nach einer Weile hatte ihre Mutter ihr Gesellschaft geleistet, nahm sich aber keines der Kaninchen, sondern betrachtete sie stattdessen.
Die Stimme ihrer Mutter war sanft und ohne tatsächlichen Vorwurf, als sie sagte: „Du hättest nicht lauschen dürfen. Dein Vater wird ihm schon nichts tun.“
„Hah“, entwich es Hermine, „ich mache mir wirklich keine Sorgen um Severus! Eher um Dad.“
Die Sorge blieb zum Glück unbegründet. Mr. Granger oder Joshua, wie Severus ihn nennen sollte, hatte den Anflug von Rachegelüsten unter Kontrolle bekommen. Hier und da ließ er noch eine kaustische Bemerkung fallen, von der sich selbst Severus‘ ausgewachsener Sarkasmus noch eine Scheibe abschneiden konnte. Severus verbuchte diese Anmerkungen unter „unbedeutende Zänkerei“. Immerhin wollte er noch etwas von diesem Mann.
„Mr. Granger …“
„Joshua“, verbesserte Hermines Vater.
Unhörbar stöhnte Severus, bevor er sich dazu entschloss, die Anrede ganz wegfallen zu lassen. „Gern würde ich Ihnen die Hälfte des Kaufpreises für die Apotheke erstatten. Wenn Sie so freundlich wären, mir eine Bankverbindung zu nennen.“
„Geht denn das? Ich meine, in die Muggelwelt zu überweisen?“
„Natürlich, Gringotts erledigt alles Mögliche“, bestätigte Severus selbstsicher, denn er hatte sich im Vorfeld erkundigt. Wie das möglich war, wollte er gar nicht so genau wissen.
„Nun gut, ich werde Ihnen schreiben und Ihnen alles Nötige nennen, aber jetzt erst einmal die Frage, ob Sie Lust auf ein Spiel haben.“
Skeptisch beäugte Severus den Karton, den Mr. Granger auspackte. Darin war ein Brett mit vielen Feldern, von denen einige rot waren.
„Natürlich nur, wenn Sie möchten“, sagte Joshua, breitete das Spiel aber längst auf dem Tisch aus. „Es macht zu viert am meisten Spaß.“
„Was ist das?“ Unsicher blickte Hermine zu Severus hinüber.
„Das ist Scrabble und ich liebe es. Könnte dir auch gefallen.“
Der Tag, den sie bei den Grangers verbrachten, war unerwartet kurzweilig gewesen. Gegen 19 Uhr apparierten er und Hermine zurück in die Apotheke. So schlimm, wie er diesen Besuch bei ihren Eltern im Vorfeld eingeschätzt hatte, war es gar nicht gewesen. Mit ihrem Vater hatte er eine Rückzahlung vereinbart, damit zumindest ihm die Hälfte der Apotheke tatsächlich gehören würde. Trotzdem es Samstagabend war, blieb Severus nicht bei ihr, was Hermine im ersten Moment traurig stimmte. Andererseits wollte sie ihm eine kleine Verschnaufpause gönnen. Es war schon unangenehm genug gewesen, dass ihre Eltern am Ende doch erfahren haben, dass ihr Lehrmeister und jetziger Geschäftspartner Severus und der damalige fiese Lehrer für Zaubertränke Professor Snape ein und dieselbe Person war. Sie konnte von Glück reden, dass es in Hogwarts nie Elternabende gegeben hat, sonst hätte es sicherlich schon viel früher zwischen den beiden gekracht. Solange es sich nicht um eine große Auseinandersetzung, sondern nur einen lapidaren Zoff handelte, war Hermine erleichtert.
In Hogwarts angekommen machte sich Severus auf den Weg zu Minerva. Auch wenn er ihr gestern abgesagt hatte, war es jetzt noch früh am Abend, weswegen er auf eine kleine Lektion hoffte. Über seine unerwartete Anwesenheit war Minerva im ersten Moment erstaunt, bat ihn jedoch zu sich hinein.
„Doch kein Besuch bei den Grangers?“
„Ich komme gerade von ihnen und dachte, es wäre noch genug Zeit, um dich aufzusuchen.“
Minerva spitzte den Mund. „Hast du die Kapitel gelesen?“
„Natürlich! Ich wäre kaum hier, hätte ich nicht meine ‘Hausaufgaben‘ gemacht!“, zischelte er.
Ein kurzes Nicken zeigte ihre Bereitschaft, sich noch heute dem Wunsch nach der Suche seiner Animagusgestalt zu widmen. Sie ließ ihn eintreten.
„Also gut, Severus. Dann wirst du jetzt unter meiner Aufsicht deine Konzentrationsübungen machen. Du wirst auch gleich mit der Suche nach der tierischen Gestalt beginnen. Solltest du sie, was ich für sehr unwahrscheinlich halte, sogar finden, wirst du sie nicht einnehmen, hörst du?“
„Mit meinem Gehör hatte ich nie Probleme.“
„Du weißt, was ich meine! Dreh mir nicht jedes Wort im Mund um. Du wirst dich nicht verwandeln, verstanden? Betaste die Form, mach dich mit ihr vertraut, aber nur im Geiste.“
Minerva führte ihn zu einem gut gepolsterten Stuhl mit hoher Rückenlehne, auf dem er Platz nahm. Sie selbst setzte sich an ihren Schreibtisch, auf dem eine Menge Pergamente von den Schülern auf Korrektur wartete, aber es schien nicht so, als würde sie sich die Zeit mit etwas anderem vertreiben. Er hoffte innig, sie würde ihn nicht die ganze Zeit über beobachten.
„Da du die Kapitel gelesen hast, bist du mit dem Wichtigsten vertraut. Während deiner Suche nach dem Tier kannst du in deinem Innern auch auf Dinge stoßen, die dich abzulenken vermögen – Dinge, die dich in Erstaunen und Verzückung oder auch in Angst und Schrecken versetzen können. Halte dich nicht daran auf, sondern setze die Aufgabe fort.“
Severus atmete tief durch. „Ich werde mich schon nicht ablenken lassen.“
„Dann beginne mit der Konzentrationsübung.“
Die Übungen, die sie meinte, beherrschte er im Schlaf. Albus hatte ihm damals beigebracht, den eigenen Geist vor Angriffen zu schützen, nachdem er ohnmächtig erleben musste, wie leicht ein mächtiger Zauberer sich Zutritt zu Gedanken verschaffen konnte. Es glich einer imaginären Mauer, die Severus in Windeseile mental um seinen Verstand herum aufbaute. Eine Mauer, die allen Einwirkungen von außen standhalten konnte. Dieser Schutzwall schützte bereits seinen Geist. Noch immer hörte er das Rascheln von Minervas Kleid, wenn sie sich unmerklich bewegte, nahm sogar ihre Atmung war. Diese geistige Verschanzung war höchstens mit emotionaler Bestürzung zu durchbrechen, doch dank des Ewigen Sees war er gegen sämtliche Einflüsse dieser Art gefeit. Voldemorts Gräueltaten oder die der Todesser hatten ihn stets kalt gelassen. Schon damals war nichts in der Lage gewesen, ihn so sehr zu berühren, dass dieser Schutzwall in sich hätte zusammenfallen können.
Sollte Severus sich jetzt entschließen, die Mauer zu verlassen, könnte er einfach die Augen öffnen und sich seiner normalen Tätigkeiten widmen. Er könnte spazieren gehen, die Schüler unterrichten oder ein Buch lesen und hätte während der ganzen Zeit diesen Schutzwall um seinen Geist. Diesmal blieb er mit seinen Gedanken innerhalb des Schutzwalles. Was Severus bisher nie gewagt hatte, war die Erforschung dieses nun eingezäunten Territoriums.
In Gedanken manifestierte sich die Umgebung seines Geistes. Es lag in der Natur des Menschen, Assoziationen zu ziehen; Gefühle mit Farben, Gerüchen oder Bildern zu verknüpfen. Ein Tagtraumzauber von den Weasleys basierte indirekt auf diesen Vorstellungsverknüpfungen. Dieses Weasley-Produkt sprach tiefste Sehnsüchte an, die jeder Mensch für sich selbst in ein gedankliches Spektakel umwandelte, sei es durch das Ausleben der Abenteuerlust auf einem Piratenschiff oder dem Wunsch, die schönsten Momente der Kindheit aus heutiger Sicht noch einmal zu erleben. Jeder Mensch stellte sich etwas, das er nie zu Gesicht bekommen hatte, anders vor. Die Beschreibung einer Sache oder Person konnte die Vorstellung zwar genauer werden lassen, aber dennoch hatte jeder Mensch ein anderes Bild davon.
Severus‘ Bild von seinem Innern war dunkel.
In der Düsternis seiner Geisteswelt nahmen einige Eindrücke eine dämmrige Form an. Schatten huschten umher, doch Furcht verspürte er keine. Severus konzentrierte sich noch etwas mehr, damit diese unerforschte Umgebung Gestalt annehmen würde. Wie sonst, fragte er sich, sollte er in dieser Dunkelheit etwas finden können? Mit viel Geduld entfaltete sich sein Geist und stellte den Ort, an dem er sich gerade befand, als kaum erhellten Raum dar, der von kalten Steinwänden umgeben war. Er fühlte sich ganz wie Zuhause.
In dem Wissen, sich nicht in Wirklichkeit, sondern nur in seinem Kopf zu bewegen, ging er die Steinwand ab, bis er auf eine Tür stieß, die er öffnete. Vor ihm erstreckte sich ein Korridor, dessen Ende man nicht einmal erahnen konnte, weil er im Dunkel seiner Welt verschwand. Unzählige Türen hatten sich materialisiert, was seinem Sinn für Ordnung entsprungen sein musste. Es würde ihn nicht wundern, sollte er hinter den Türen auf hohe Bücherregale mit Themen seines Lebens stoßen oder auf ein Labor, in welchem Zutaten zu finden waren, die seinen Eigenschaften entsprachen, denn so stellte er sich sein Innerstes vor. Wissen war in Büchern zu finden, also sollten sich auch seine Gedanken und Erinnerungen als Bücher darstellen.
Irgendwo hinter einer der vielen Türen musste sich ein Tier aufhalten, das er zu finden bereit war.
Wie er es geahnt hatte, fand er im ersten Raum eine Art unüberblickbare Bibliothek. Auffällig waren die ersten Regale, die sich sichtlich von den anderen abhoben. Die Bücher, die ihn ihnen verstaut waren, besaßen bunten Rücken mit allen möglichen Farben. Die Mehrzahl der anderen Bücherregale wie auch der dort enthaltenen Bücher war von dunkelgrauer Farbe. Anziehend waren für Severus vorerst die Farben.
Als er vor einem der schmalen Regale stand, zog er wahllos eines der farbigen Bücher heraus. Es trug den Titel „Erstes Jahr in Hogwarts – Band 10“. Aus Neugierde schlug er das Inhaltsverzeichnis auf und stellte fest, dass dieses Buch den gesamten Monat Juni seines ersten Schuljahres beinhaltete. Zum Vergleich nahm er Band 1 aus der gleichen Reihe zur Hand, was dem September des Vorjahres entsprach. Das Buch strahlte die freudige Aufregung aus, die er als Erstklässler verspürt hatte. Auch wenn die Versuchung groß war, in diese Erinnerungen abzutauchen, stellte er beide Bücher wieder zurück.
Stichprobenartig nahm er im Vorübergehen immer wieder eines der bunten Bücher, die Erinnerungen seines Lebens beinhalteten und ihn mit jenen schönen Gefühlen streichelten, die er damals schon empfunden hatte.
Nach kurzer Zeit stieß er bereits auf die grauen Exemplare, die diese Bibliothek dominierten. Das Erste dieser rauchfarbenen Bücher zog er heraus. Es trug keinen Titel, auch keine Nummerierung. Der Einband war nicht so liebevoll gestaltet wie die der bunten Ausgaben. Als er das Buch öffnete, schlug ihm ein modriger Geruch entgegen. Ohne Inhaltsverzeichnis oder Einleitung begann das Buch sofort mit dem Text. Weil Severus sich in seinem eigenen Kopf befand, tönten die still in Gedanken gelesenen Worte laut von den steinernen Wänden wieder.
„Die kalte Gleichgültigkeit legte sich wie ein Leichentuch um den Rest Menschlichkeit und trachtete danach, auch diesen Teil zu vernichten und wenn nicht vernichten, dann zumindest so im Zaume zu halten, dass ein Antasten unmöglich sein sollte.“
Zeitlich begann das Erste dieser grauen Bücher sofort nach der Einnahme des Ewigen Sees. Angewidert stopfte er den Band zurück in die Lücke, bevor er seinen Weg fortsetzte. Es war erleichternd zu wissen, dass niemand außer ihm die lauten Worte vernommen hatte, denn er war allein; allein in den Tiefen seines Innern.
Ihm fielen nach etlichen Metern wenige Bücher auf, die vereinzelt einen sehr hellen Grauton innehatten und sich somit von der Masse abhoben. In das erste hellgraue Buch wollte er einen Blick wagen, doch es blieb nicht allein bei einem Blick, denn seine innere Stimme las für ihn laut schallend vor.
„Mit dem Jungen fällt das helle Licht der Erinnerung wieder ein. Ihn zu sehen bedeutet Schmerz und Hoffnung zugleich, denn er kann Berühren, was unantastbar bleiben sollte.“
Harrys erstes Schuljahr. Severus erinnerte sich noch sehr gut daran, wie ohnmächtig er den Gefühlen ausgeliefert war, die Harrys Anwesenheit in ihm ausgelöst hatten. Erinnerungen an Lily waren durch den Jungen so lebendig geworden, dass sie genauso stark schmerzten wie am Tag ihres Todes. Auch dieses Buch legte Severus zurück, jedoch nicht ohne sich des Hoffnungsschimmer gewahr zu sein, den Harry damals schon in ihm erweckt hatte. Harry war ein Schlüssel, doch das dazugehörige Schloss musste noch gefunden werden.
Nach diesem hellgrauen Buch blieben auch die anderen nicht mehr so düster. Immer wieder fanden sich einzelne Exemplare, die so hell waren wie das von Harrys erstem Schultag. Severus kontrollierte, ob die Bücher Titel besaßen, wurde aber nie fündig. Die Bücher seines Lebens waren nach Einnahme des Ewigen Sees genauso belanglos wie sein Leben selbst.
Schnellen Schrittes ging er die Regale ab, überflog dabei lediglich mit den Augen die Farben der Bände, die stetig zwischen dunkel- und hellgrau wechselten. Zum Stehen kam er, als die Bücher überwiegend hell wurden. Eine Stichprobe bestätigte ihm, dass er bei der Zeit nach dem Krieg angekommen war. Das hellste von ihnen beinhaltete jenes ereignisvolle Zusammentreffen mit Harry, das den ganzen Stein überhaupt ins Rollen gebracht hatte. Der Tag, an dem Severus von einer unergründlichen Macht dazu bewegt worden war, dem jungen Kollegen dieses schwere Mysterium vor die Füße zu werfen, das ihn umgab. Harry war darüber nicht einmal ins Taumeln geraten, sondern hatte den Hinweis aufgegriffen und seit diesem Augenblick nicht mehr davon abgelassen.
Mit einer Mischung aus Erleichterung und Dankbarkeit stellte Severus das Buch zurück. Viele Regale kamen nicht mehr. Den einen silbrigen Band, den er im letzten Bücherregal bemerkte, wagte er nicht zu berühren. Es würde Passagen über Hermine beinhalten. Er musste es nicht aufschlagen, um sich davon zu überzeugen, denn er befand sich in seinem eigenen Geist und vor sich selbst konnte er nichts verbergen.
Das allerletzte Buch war unvollständig. Die letzten Seiten waren leer, weil der Inhalt noch nicht erlebt wurde.
Ganz am Ende des riesigen Raumes fiel sein Augenmerk auf eine Vitrine, die ein Buch wie ein Heiligtum unter samtenen Stoff vor Staub und Blicken zu schützen versuchte. Kaum hatte er sich der Vitrine genäherte, verschwand das Glas, so dass er das Tuch aus Samt entfernen konnte. Ein beigefarbenes Buch kam zum Vorschein, das nicht sonderlich dick war. Ein Buch, dessen Wichtigkeit so enorm zu sein schien, dass es von den anderen getrennt sorgfältig unter einer Glaskuppel aufbewahrt wurde, bis er darin lesen wollte. Als er es berührte, fühlte er die angenehme Wärme, die von dem Buch ausging und fast im gleichen Moment, als seine Fingerspitzen über das Leder strichen, schnitzte sich wie von Geisterhand nach rechts geneigt in wunderschönen goldenen Lettern das Wort „Freunde“.
So vorsichtig, als würde er eine Antiquität berühren, öffnete er den Buchdeckel und blätterte bis zum ersten Kapitel vor. Es trug den Titel „Lily“. Die dort geschilderten Erlebnisse stellten die Grundlage dafür dar, sie als Freund bezeichnet zu haben. Trotz ihres Todes tat er das noch heute. Aufgrund seiner Empfindungen ihr gegenüber hatte sie einen Eintrag in dieses edle Buch bekommen.
Es wunderte Severus nicht, dass das zweite Kapitel von Albus handelte. Die Schriftart war eine ganz andere als die, die für Lilys Kapitel verwendet worden war. Dass er Albus als Freund bezeichnete, war nicht überraschend. Narzissas Kapitel war nicht allzu kurz, da er auch sie schon seit der Schulzeit kannte. Das in ihrem Kapitel enthaltene Teilstück über Regulus war zwar bescheiden, aber sehr intensiv zu lesen. Wäre der Jüngste der Blacks nicht so früh verstorben, hätte der ein wahrer Freund werden können. Wie die Redewendung es so schön ausdrückte, lagen er und Regulus auf gleicher Wellenlänge. Selbst dem guten Lucius hatte das Buch ein Kapitel gewidmet. Wenn er es sich recht überlegte, musste Severus zugeben, dass er mit ihm nicht nur negative Erfahrungen gemacht hatte. Der Sohn des blonden Reinblüters war ebenfalls mit einem Kapitel vertreten, welches sich besonders intensiv der fünf Jahre widmete, in denen er mit dem damals 16jährigen Jungen auf der Flucht gewesen war.
Zu seinem Erstaunen waren auch Menschen in diesem Buch bedacht, die er nicht bewusst mit so einem bedeutungsvollen Wort wie „Freund“ bezeichnen würde. Er las von Poppy, die als Freundin seiner Mutter schon immer Anteil an seinem Leben genommen hatte. Der Name von Minerva ließ ihn stutzen. Sie hatte er stets als Kollegin gesehen, aber anscheinend hatte seine Gefühlskälte es nur nicht zugelassen, mehr in ihr zu erkennen. Vielleicht standen sie in diesem Buch, weil er sich darüber bewusst war, dass sie ihn nie hintergehen würden?
Ein langes Kapitel über Harry folgte, mit all den Höhen und Tiefen, die eine gute Geschichte ausmachte, nur dass es sich hierbei um seine Lebensgeschichte handelte. Die Seiten über Harry waren angenehm warm, als er sie berührte. Etwas später Remus‘ Namen zu lesen verblüffte ihn. Bei ihm war er ebenfalls der Meinung, dass er ihn aus den gleichen Gründen wie auch Poppy und Minerva unterbewusst zu seinen Freunden zählte – sie waren ihm wohlgesinnt, waren freundlich und ließen sich nicht durch seine Boshaftigkeiten aus der Ruhe bringen.
Es gab ein Kapitel, das mehrere Personen auf einmal behandelte. Eine Zusammenfassung von Menschen, die sich in Zukunft möglicherweise ein eigenes Kapitel erkämpfen könnten, je nachdem, wie sehr er mit ihnen zu tun haben würde. Dort waren Menschen aufgelistet wie Septina Vektor, Georgi Popovich, Eldred Worple, Kôji Takeda und sogar Neville Longbottom. Kollegen und Bekannte, mit denen er durch mehr als nur gemeinsame Interessen eine Verbundenheit verspürte; Menschen, die er mit seinem verkümmerten Ich zu mögen begann.
Das letzte Kapitel in diesem Buch handelte von Hermine. Es war die wärmste Stelle. Liebevoll strichen seine Finger über die Buchstaben. Jedes der Kapitel war in einer anderen Schriftart verfasst, so auch dieser Text. Bei dem Buchstaben „g“ musste er kräftig schlucken, denn dessen kleine Variante wies die bauchig weiche Form auf, die er von Hermines Handschrift kannte. Ihr Kapitel war ebenfalls nicht beendet. Etliche weiße Seiten wollten in Zukunft beschrieben werden.
Ehrfürchtig schloss er das Buch und legte es zurück an seinen Platz, bevor er es mit dem Samttuch bedeckte. Kaum hatte er sich einen Schritt davon entfernt, legte sich wieder der gläserne Schutzkörper über das Buch der Freunde; dem wertvollsten Band in der Bibliothek seines Lebens.
Severus trat wieder hinaus auf den Korridor, dessen unzählige Türen ihn entmutigten. Es stellte sich ihm die Frage, wie er das Tier finden sollte. Zudem wusste er nicht, ob es sich hier frei bewegen konnte, vielleicht sogar vor ihm floh. Möglicherweise hielt es sich jetzt in der Bibliothek auf, in dem Wissen, dass er dort nicht ein zweites Mal suchen würde. Vielleicht konnte es aber nicht denken, weil es nur ein Tier war, dessen Handeln durch Instinkte geleitet wurde? Verzweifelt stieß er nach und nach die vielen Türen auf und traf auf Landschaften, Gebäude und andere Orte, die er bestens kannte. Das Haus seiner Eltern, Malfoy Manor, Hermines Apotheke, Hogwarts. In einigen hielten sich Personen auf, die wie in Erinnerungen üblich nicht mit ihm interagierten, sondern längst vergangene Momente nachspielten. Manchmal sah er Tiere wie Krummbein, Fawkes, Harry oder Fellini, doch sie waren nicht greifbar; sie waren nur Erinnerungen.
Systematisch stieß er nacheinander Türen auf und warf einen Blick in den Raum dahinter, ohne sich von dem, was er sah, berühren zu lassen. Nur wenn er Lily sah, verweilte er einen kurzen Augenblick länger, um sie zu betrachten, doch von seiner Suche hielt ihr gedankliches Bildnis ihn nicht ab.
Als er den Augenblick fand, in dem Hermine und er Magie ausgetauscht hatten, näherte er sich dem Spektakel mit Bewunderung. Er betrachtete diese Erinnerung aus anderer Perspektive, denn er konnte sich selbst sehen und die Farbe, die ihre Hände an seiner Brust zum Vorschein brachten.
Von diesem eben neu erlebten Gedanken wieder motiviert setzte er seine Suche fort. Keine Tür war vor seinem Blick sicher, selbst wenn sich dahinter unangenehme Erinnerungen befanden wie die mit Potter und Black, als sie ihm vor versammelter Schülerschaft die Unterhose ausgezogen hatten.
Nachdem er diese letzte Tür peinlich berührt wieder geschlossen hatte, atmete er tief durch. Er ahnte, dass er auf der falschen Spur war; dass er die Suche falsch anpackte. In diesem Korridor befanden sich nur Momente, an die er sich lebhaft erinnern konnte, ohne sie auffrischen zu müssen. Er musste ganz woanders suchen – in Gegenden, die ihm selbst fremd waren.
Den anderen Türen schenkte er keine Aufmerksamkeit mehr, als er schnellen Schrittes den Korridor entlangmarschierte. In dieser Zeit wurde er sich darüber klar, dass er sich nun – so seltsam sich das auch anhören mochte – bewusst in seinem Bewusstsein befand. Man könnte es mit Legilimentik am eigenen Geist beschreiben, mit der man an der Oberfläche kratzte. Er wurde das Gefühl nicht los, dass sich Narzissa auf genau diese Art und Weise in ihren eigenen Erinnerungen befunden haben musste, als sie von der Einsamkeit dazu getrieben worden war, sich mit sich selbst zu befassen. Die Erinnerungen, die nicht mehr in ihre neue Welt passten, hatte sie aus dem Bewusstsein verdrängt und woanders abgelegt.
Der Korridor wollte gar kein Ende nehmen. So hatte Severus Zeit, sich ein paar Gedanken zu machen.
Erinnerungen von anderen Menschen konnte man leicht ausspähen, indem man einfach eine dieser Türen öffnete und sich an fremden Rückblicken vergriff. Ein Vergissmich würde den Inhalt des Raums hinter einer solchen Tür gnadenlos löschen oder mit einem Zauber schützen, so dass auf diese Erinnerung nicht mehr zugegriffen werden konnte. Der Unterschied war nur, dass nicht jeder seine Gedanken so wie Severus abgelegt hatte. Manch einer stellte sich die eigenen Erinnerungen wie unzählige Seifenblasen vor, die besonders bei unordentlich veranlagten Menschen wild durcheinander schwirrten und manchmal nicht einmal einem Lebensabschnitt zugeordnet werden konnten. Als er damals in die Gedanken von Blacks jetziger Ehefrau eingedrungen war, fand er ein sich unglaublich schnell drehendes Karussell vor, das er nur mit Hilfe von Narzissa zu betreten imstande war. Hier in seinem Korridor wurden jene Erinnerungen aufbewahrt, die immer wieder abgerufen werden konnten – sogar aus dem Kopf hinausgenommen werden konnten, um sie in einem Denkarium abzulegen. Er hielt sich momentan in seinem ungetrübten Bewusstsein auf und musste unbedingt einen Weg finden, um ins eigene Unterbewusstsein zu gelangen. Nur dort konnte sich das Tier aufhalten, das er suchte. Das Tier, das er nicht kannte.
Myriaden von Türen später stand Severus vor einem unscheinbaren Loch im Boden, durch das ein erwachsener Mann geradeso hindurchpassen könnte. Die Ungewissheit, die ihn dort unten erwartete, ließ ihn unbeweglich verharren. Nicht einmal er selbst wusste, mit welchen Abgründen er zu rechnen hatte. Dort unten in der Lichtlosigkeit würden abscheuliche Dinge auf ihn warten. Erinnerungen, die er eines Tages aus gutem Grund verdrängt hatte. Gebilde und Gestalten aus nicht nur vergangenen, sondern aus vergessenen Tagen und selbst seine Alpträume und übelste Fantasien würden dort in diesem Loch, als wären sie darin wie in einem Müllschlucker entsorgt worden, auf ihn warten. Es war ihm unheimlich zumute, an dieser Schwelle zu stehen, die ihn von manifestierten Kindheitsängsten und urgeschichtlichen Trieben vom klaren Bewusstsein trennte.
„Reiß dich zusammen!“, fluchte er in Gedanken. Er durfte keine Angst vor sich selbst haben, denn auch dieser Teil seines Erinnerungsvermögens war ein Teil von ihm. Trotzdem fürchtete er sich.
Jedes Gefühl von Unbehagen schüttelte er so gut es ging von sich, bevor er sich niederkniete und die Beine in das Loch steckte. Vorsichtig ließ er sich in die Dunkelheit hinab, doch er fühlte keinen Boden unter den Füßen. Ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, ob er sich verletzten könnte, ließ er los.
Er fiel und fiel. Das Gefälle seiner verderblichen Seite führte sehr steil hinab.
Zu seinem Erstaunen landete er lautlos und unverletzt auf einem Boden, der mit einer matschigen Substanz überzogen war, die er nicht genauer in Augenschein nehmen wollte. Hier unten gab es keine sichtbaren Türen. An diesem Ort war nichts methodisch angeordnet, es gab nicht einmal genügend Licht, um die Umgebung erkennen zu können. Nur manchmal, in weiter Ferne, flackerte etwas Unheilvolles auf und verschwand sofort wieder. Behutsam setzte er einen Fuß vor den anderen, als er hinter sich ein animalisches Röcheln hörte – wie von einem Tier, das große Schmerzen erlitt. Angsterfüllt drehte sich Severus um. Eines dieser Lichter flackerte in diesem Moment auf.
Er sah sich selbst, gekleidet in der Schuluniform. Der Magen drehte sich ihm um, als er das unten am Boden liegende Stück Fleisch sah, das den sandigen Grund unter sich aufweichte, weil es aus allen Poren zu bluten schien, doch beim näheren Hinsehen stellte sich heraus, dass es gar keine Poren mehr haben konnte. Severus erinnerte sich erst jetzt, als er dieses Szenario sehen musste, an seine Rachegelüste, die er sich als verängstigter Jugendlicher in übertrieben endgültiger Art in seiner Fantasie ausgemalt hatte. Wie oft hatte er sich nach dem Vorfall mit dem Werwolf vorgestellt, Lupin zu häuten? Hier sah er eine der unzähligen Varianten. Der junge Severus hatte dem Werwolf im wahrsten Sinne des Wortes das Fell über die Ohren gezogen, das er nun triumphierend in die Höhe hielt, während die am Boden liegende Bestie langsam erstarb. Das war damals seine Art gewesen, den durch Black inszenierten Vorfall, den er um Haaresbreite mit dem Leben bezahlt hätte und die darauf resultierende Angst vor dem Werwolf zu verarbeiten und zu bekämpfen, gleichzeitig auch Rache zu üben, wenn diese auch nur erdacht war. Hauptsache ein kleines bisschen Genugtuung für die ganzen Ungerechtigkeiten, die ihm die Rumtreiber zuteilkommen ließen. Ein wenig Mord und Totschlag in Gedanken.
Ein Schuldgefühl übermannte Severus, als er sich ins Gedächtnis zurückrief, dass er erst noch vor einigen Minuten von Remus als Freund gelesen hatte. Der Schauplatz des imaginären Mordes verschwand und Severus tappte erneut im Dunkeln. Über unebenen Boden staksend versuchte er die Bilder zu ignorieren, die neben ihm dämmrig an Gestalt annahmen. Da waren Fantasien von ihm und Narzissa, wie sie in fleischlicher Lust aneinander hielten. Auch wenn er diese Art von pubertären Gedanken wahrscheinlich mit jedem seiner damaligen männlichen Mitschüler teilen konnte, schämte er sich jetzt für sie. Als Schüler hatte er sie nicht einmal geliebt, sondern nach dem Erwachen der eigenen Männlichkeit lediglich körperlich begehrt. Jeder Heiler würde das als eine gesunde Entwicklung eines Heranwachsenden abtun, doch ihm waren diese Gedanken im Nachhinein trotzdem peinlich.
Zu gut wusste er noch, dass sich Albus ebenfalls in seinem Unterbewusstsein umgeschaut hatte, um seine Loyalität zu prüfen. Severus hatte damals gar nicht erst versucht ihn aufzuhalten. Der Direktor war allein in Severus‘ seelischen Abgründen umhergewandelt.
An die Dinge, die er hier in seinem Unterbewusstsein fand, konnte er sich erst wieder erinnern, nachdem er einen Blick auf sie geworfen hatte. Eine seiner damaligen Fantasien ließ ihn innehalten. Neugierig betrachtete er eine seiner ehemaligen Überlegungen, wie der Sectumsempra-Fluch wirken könnte. Als imaginäre Versuchskaninchen mussten damals natürlich Potter und Black herhalten. Den Fluch hatte er nie selbst an einer Person ausprobiert, konnte aber das erste Mal dessen Auswirkungen mit eigenen Augen sehen, als Harry so frei gewesen war, Draco damit zu malträtieren.
Die längst verdrängten Alpträume über Voldemorts Herrschaft ignorierte Severus. Trotzdem konnte er nicht anders als sich umzudrehen, wenn er einen Schrei vernahm. Auch den lustbetonten Traum mit Bellatrix, den er einmal als junger Mann gehabt hatte, strafte er mit Nichtachtung.
Aufmerksam wurde er erst bei einer Erinnerung seines Elternhauses in Spinner’s End. Er sah sich selbst als Jungen – schon damals ganz in Schwarz gekleidet –, der dem Vater mit betretener Miene ins Wohnzimmer folgte. Tobias Snape stellte eine Flasche Whisky auf dem Tisch ab und setzte sich, winkte dann den jungen Severus zu sich heran, weil er neben ihm Platz nehmen sollte.
Da sich Severus an dieses Szenario nicht mehr entsinnen konnte, beobachtete er es sehr genau. Sein Vater trug ebenfalls schwarze Kleidung und da fiel es Severus wie Schuppen von den Augen. Es war der Tag, an dem seine Mutter beerdigt worden war. Severus sah den Schmerz in den Augen seines Vaters, der nun einen Arm um den Jungen legte und ermutigend zudrückte. Severus war damals erst zwölf oder dreizehn Jahre alt gewesen.
„Jetzt sind nur noch wir beide übrig“, murmelte sein Vater monoton und entkräftet. „Wir werden das Kind schon schaukeln, Severus. Wirst schon sehen, es wird alles gut.“
An seinen Vater hatte er nur schlechte Erinnerungen und zudem sehr vage; diese zählte nicht zu ihnen, was kein Wunder war, denn sie befand sich in seinem Unterbewusstsein. Offensichtlich war sein Vater nicht immer schlecht zu ihm gewesen, doch die negativen Erinnerungen überwogen.
Severus beobachtete, wie sein Vater nach der Flasche griff und sein junges Ich sie ihm entriss. Erstaunt blickte Tobias Snape neben sich, begann kurz darauf langsam zu nicken.
„Vielleicht hast du Recht, ich sollte damit aufhören.“
Sein Vater hatte nie Versprechungen gemacht, demzufolge auch keine gehalten, das wusste Severus. Keine Woche war nach dem Tod seiner Mutter vergangen, da hatte Tobias Snape wieder Trost im Alkohol gesucht. Von seinem Vater angewidert wandte sich Severus ab, um weiter durch das Dunkel seines seelischen Kellers zu wandeln.
Von angsteinflössenden Alpträumen, brutalen Rachevorstellungen und wollüstigen Fantasien ließ er sich nicht mehr ablenken, so wie es Minerva ihm geraten hatte. Sein Ziel war das Tier, das sich hier aufhalten musste. Langsam kamen ihm Zweifel, ob es überhaupt ein Tier gab. Möglicherweise war es doch nicht jedem Zauberer und jeder Hexe vergönnt, zu einem Animagus zu werden. Die Gestalt des Tieres war Severus egal. Er wollte Hermine nicht enttäuschen, selbst wenn er es nur zu einer Schnecke bringen würde.
Als Severus an seiner Mutter vorbeikam, die ein vielleicht zweijähriges Kind – ihn – in den Armen hielt und den kleinen Kopf mit den schwarzen Haaren mit Küssen bedachte, konnte er seinen Blick von all der Liebe nicht mehr abwenden. Er hatte sich immer danach gesehnt, sich an solche Momente erinnern zu können, aber es hieß, dass Kinder erst ab dem dritten Lebensjahr dazu in der Lage wären. Hier in seinem Unterbewusstsein war das Andenken an seine liebevolle Mutter lebendig und fand zudem einen Weg in sein Bewusstsein. Es störte ihn auch nicht, dass sein Vater die Szenerie betrat und unverhofft genauso fürsorglich mit ihm umging. Wie paralysiert nahm er die Eindrücke in sich auf, bis er seltsame Geräusche hörte.
Knurrende und krächzende Laute waren zu vernehmen. Das Geräusch war nahe; direkt hinter ihm. Es konnte sich nur um das Tier handeln, das ihn gefunden hatte.
Langsam, damit er es nicht erschrecken würde, drehte er sich um. Ein eineinhalb Meter großes Tier schaute ihn mit durchdringendem Blick an. Die nackte Haut um die Augenpartie war rötlich umrandet, das Haupt von grauer Farbe und die Brust etwas heller. Erst zum Rumpffortsatz hin wurden die Farben merklich dunkler, bis sie sich im Schwarz der Umgebung verloren. Das Tier wirkte durch die natürliche Form der Mundpartie sehr gestreng, geradezu ernst und durch den festen Blick sehr wachsam. Auf zwei langen kräftigen Beinen, deren obere Hälfte dunkel umkleidet war, stand es vor ihm und blickte neugierig und furchtlos zu ihm auf.
Severus hatte seine Animagusgestalt gefunden und sie war in seinen Augen von majestätischer Anmut.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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194 Freude trinken alle Wesen
Seine Animagusgestalt stand gelassen vor ihm. Severus rief sich ins Gedächtnis zurück, was Minerva ihm geraten hatte. Er sollte die Gestalt finden, sie beobachten und berühren, sich aber keinesfalls sofort in sie verwandeln. Die Suche hatte ihn müde gemacht. Er würde es nicht riskieren, die tierische Form anzunehmen und wegen seiner Unerfahrenheit möglicherweise nicht mehr dazu imstande zu sein, sich wieder in einen Menschen zurückzuverwandeln.
Der Vogel schaute noch immer wachsam zu ihm auf. Die stechenden Augen blinzelten nervös, aber es blieb furchtlos bei ihm stehen. Vorsichtig streckte Severus eine Hand aus, um damit die grauen Federn am Rücken zu berühren. Für einen Moment bedauerte er, Hermines Angebot nicht annehmen zu können, denn es wäre nicht möglich, dieses Tier wie einen Hund zu bürsten. Um was für einen Vogel es sich handelte, wusste Severus noch nicht, aber er hatte die vage Ahnung, damals bereits einen gesehen zu haben, als seine Eltern ihn in einen Muggelzoo mitgenommen hatten. Es war ein Greifvogel, so viel war sicher. Der Schnabel war wie bei einem Adler leicht nach unten gebogen, als wollte der Animagus damit eine Hakennase nachahmen.
„In deiner Form hätte ich nie meine Dienste für Albus verrichten können“, murmelte Severus. Der Vogel war zu groß und zu auffällig, als dass er diese Gestalt für seine Spionageaufgaben hätte verwenden können. Allerdings hatte jedes Tier besondere Fähigkeiten, aber die seines Vogels waren ihm fremd.
Mit einem Male materialisierte sich, weil er eben an seine Zeit als Spion hatte denken müssen, ein Todesser in seinem Unterbewusstsein. Rodolphus. Der in eine schwarze Kutte gehüllte Mann kam einen Schritt auf Severus zu. Als der Vogel sich umdrehte und den Feind erkannte, stellten sich vor Erregung die pechschwarzen Federn an Kopf und Nacken auf. Er spreizte die beeindruckend großen Flügel, die eine Spannweite von mindestens zwei Meter zwanzig haben mussten. Im Nu war das Tier in voller Kampfbereitschaft, auch wenn dieser Kampf zwischen Mensch und Vogel ungerecht ausfallen würde. Es war erneut Severus, dessen Gedankengänge aus Rodolphus das Wappentier Slytherins machte. Der Todesser verwandelte sich in eine Schlange, die nun bedrohlich zischelnd auf ihn zusteuerte. Seine Animagusgestalt näherte sich der Schlange unerschrocken und fixierte sie mit den wachen Augen. Völlig unerwartet trat der Vogel mit einem seiner starken Beine zu, hielt derweil mit den ausgestreckten Flügeln das Gleichgewicht für den schlanken Körper. Der Schlag war so wuchtig gewesen, dass er noch ein paar Sekunden nachhallte. Die Schlange holte zum Gegenangriff aus, aber der Vogel war viel zu wendig und geschickt, wich dem Opfer in Windeseile aus, bevor er das Kriechtier erneut attackierte. Er holte aus und trat zu. Wieder und wieder trafen die schlanken, aber kraftvollen Beine des Vogels das Reptil, und er zielte dabei auf den gefährlichsten Teil: den Kopf. Sehr bald hatte der Vogel der Schlange das Genick gebrochen.
An der erlegten Beute hielt sich der Vogel nicht lange auf. Er kam zu Severus zurück und der konnte nicht anders, als das Tier zu berühren. Am schwarzen Federkleid um den oberen Teil der Beine strich der Tränkemeister hinunter bis zu der rosafarbenen schuppenartigen Verhornung am unteren Teil, die den Vogel vor Schlangenbissen zu schützen vermochte. Eigentlich, dachte Severus, müsste er selbst auf der Hut sein. Dieses Tier war ein natürlicher Feind der Schlangen, vielleicht symbolisch sogar ein Feind der Slytherins, was ihn selbst in Gefahr bringen würde. Andererseits war dieses Tier ein Produkt seiner eigenen Persönlichkeit. Severus‘ damaligen Feinde stammten überwiegend aus dem Haus mit der grünen Farbe im Wappen. Es wäre möglich, dass er deshalb Angst vor sich selbst hatte, wie sein Irrwicht es deutlich gemacht hatte. Im Kampf für das Gute wäre Severus nicht einmal davor zurückgeschreckt, auch sich selbst aus dem Weg zu räumen, hätte Albus das von ihm verlangt. Natürlich waren nicht alle Slytherins schlechte Menschen; weder die von damals noch die heutigen Schüler. Trotzdem hatte sich bei Severus offenbar unbewusst eine Abneigung gegen das eigene Haus entwickelt, gerade weil die vielen Todesser ihm entsprungen waren.
Der Vogel ließ sich berühren, gestattete es sogar, dass Severus einen der dicht am Körper gefalteten Flügel vorsichtig spreizte, um ihn zu betrachten. Ob er auch fliegen könnte?
Den Körperbau hatte Severus eine Weile studiert, bevor er den Rückweg in die Realität antrat.
„Ich habe das Tier gefunden“, waren Severus‘ ersten Worte, nachdem er seinen Geist wieder verlassen hatte und sich Aug in Aug mit Minerva wiederfand.
„Schon? Das ist unerwartet.“ Mit skeptischem Blick musterte sie ihn. „Hat es dich denn gar nicht gerührt, was du in deinem Innern erfahren hast? Die Suche nach dem Tier dauert oftmals sehr lange, weil man sich an den ganzen Erinnerungen und Träumen aufhält.“
Zu solchen Reaktionen war er gar nicht fähig. Das erste Mal in seinem Leben hatte der Ewige See ihm tatsächlich einen Vorteil verschafft und ihm die notwendige Gleichgültigkeit gegeben, um zum Ziel zu gelangen.
„Ich habe mich nicht aufhalten lassen. Du selbst hast mir diese Anweisung gegeben, Minerva.“
Sie unterdrückte ein Schmunzeln, welches sich nur an den Augenwinkeln zeigte, als sie stichelte: „Und jetzt spielst du den Musterschüler?“ Seinen scharfen Blick übersah sie absichtlich, bevor sie wissen wollte: „Was war es?“
„Der Name ist mir nicht geläufig.“
„Ein Reptil, ein Insekt? Hatte es Haare oder Schuppen?“, zählte sie hilfreich auf.
„Federn.“
Sie stutzte. „Feder? Das hätte ich nicht gedacht.“ Minerva erhob sich von ihrem Stuhl und sagte, als sie zu einem der Bücherregale ging: „Dann lass uns mal nachschauen.“
Sie zog ein dickes Buch mit dem Titel „Der Animagus-Finder, Band 2 – Vögel“ heraus. Sie reichte es Severus, der es ohne Umschweife aufschlug. Das Buch hielt sich weder an eine alphabetisch Ordnung noch war es nach Gattungen sortiert. Es begann bei verschiedenen Kategorien, wie beispielsweise der Größe des Tieres oder seiner Farbe. Auf diese Weise konnte jeder mit wenigen Informationen seine Animagusform identifizieren, wenn man keine weiteren Anhaltspunkte hatte außer dem Aussehen. Eine getroffene Auswahl führte zu einer weiteren Aufzählung von Merkmalen, damit die Suche nach und nach eingeschränkt werden konnten.
„Damit findest du es bestimmt schnell. Die Arten sind nach ihren Merkmalen sortiert. Soll ich dir helfen?“
„Ich denke, ich komme mit der Anordnung des Buches selbst zurecht.“
Sofort begann Severus zu blättern. Albatros und Kondor hatten eine noch größere Flügelspannweite als seine Gestalt, also wählte in dieser Kategorie die Spalte „2,00 – 2,50 Meter“. Mit dieser Wahl wurde er auf eine andere Seite verwiesen. Dort las er weitere angegebene Merkmale, aus denen er wählen konnte und die ihm beim Fortsetzen der Suche helfen sollten. Er konzentrierte sich auf das sicherste aller Merkmale und sah deswegen vorerst von der Farbe des Gefieders ab. Stattdessen stürzte er sich auf das Kapitel „Nahrung“. Hier suchte er nach „Schlangen“ und blätterte zum Verweis, der dahinter stand.
Endlich waren einige Tiere aufgelistet, auf die all diese Merkmale zutrafen. Er fand den Steinadler, Aquila chrysaetos, der mit einer maximalen Flügelspannweite von etwas über zwei Metern mit einem bewegten Bild aufgelistet war. Auf der nächsten Seite erhielt Severus seinen persönlichen Treffer. Minerva musste an seiner Reaktion erkannt haben, dass er fündig geworden war.
„Etwas gefunden?“, fragte sie neugierig.
„Ja.“
„Darf ich mal sehen?“
„Darf ich erst einmal lesen?“, erwiderte er ablehnend.
„Da steht nicht viel, nur welcher Vogel es ist. Um Genaues über dieses Tier zu erfahren, solltest du in der Bibliothek die Abteilung für Ornithologie aufsuchen. Diese Bücher“, sie deutete auf das in seinen Händen, „helfen nur bei der Bestimmung deines Animagus. Es gibt Tiere, die man noch nie in seinem Leben gesehen hat und deren Definition daher sehr schwer für einen Laien ist.“
„Ich habe ihn schon einmal gesehen, ich wusste nur nicht mehr, wie er heißt“, offenbarte Severus, der sich jetzt wieder daran erinnerte, dass das Tier in Afrika heimisch war.
„Hast du ihn als Kind gesehen? Ich frage nur, weil eine Prägung in zartem Alter für die spätere Animagusform verantwortlich sein könnte.“
Severus nickte nur und merkte sich den lateinischen Namen seiner Animagusgestalt, damit er in der Bibliothek nachschlagen könnte. Seiner neugierigen Kollegin reichte er das aufgeschlagene Buch mit dem sich bewegenden Bild eines Sekretärs.
„Oh“, machte sie erstaunt, als sie das Foto betrachtete. „Eine imposante Gestalt, Severus. Vielleicht ein wenig aufsehenerregend, weil es nicht bei uns beheimatet ist, aber dennoch beeindruckend.“
„Und du wirst Stillschweigen bewahren, Minerva!“
Verärgert kniff sie die Lippen zusammen. Es kränkte sie, dass er ihre selbstverständliche Diskretion nicht zu schätzen wusste. „Natürlich werde ich! Allerdings werde ich dich bei erfolgreicher Verwandlung beim Ministerium anmelden.“ Bevor er dagegenhalten konnte, lenkte sie ab. „Hast du ihn nur gesehen oder bereits berührt?“
„Berührt.“
„Gut, dann lies so viel wie möglich über den Vogel. Das nächste Mal wirst du ihn schneller finden, denn er wird sich bereits im Bewusstsein aufhalten. Der nächste Schritt ist die Vereinigung, die Verwandlung in deine Animagusgestalt und natürlich auch die Rückverwandlung.“
„Und wann?“
Minerva zog beide Augenbrauen in die Höhe. „Wann immer du bereit bist. Das hängt nicht von mir ab.“
Er nickte. „Dann werde ich jetzt gehen.“
Höflich, wie sie war, begleitete sie ihn zur Tür. Bevor er jedoch außer Hörweite war, lobte sie ihn noch.
„Beachtlich, Severus, dass du ihn beim ersten Mal gefunden hast. Wahrlich eine Spitzenleistung.“
Severus drehte sich schnell um, so dass sein Umhang noch nachwehte. „Möchtest du mir etwa noch ein goldenes Sternchen ins Hausaufgabenheft zaubern?“
Mit ernster Miene erwiderte sie: „Wenn es dich glücklich macht?“
Er schnaufte herablassend, bevor der Drang nach Spott von ihm abfiel und er ihr höflich zum Abschied zunickte, bevor er seinen Weg in die Bibliothek fortsetzte. Minerva glaubte sogar, ein Lächeln gesehen zu haben.
Die Bibliothek war nicht verschlossen, aber menschenleer und dunkel, so dass er einen Lumos anwandte. Er hatte nicht einmal auf die Uhr gesehen und wusste nicht, wie viel Zeit bei Minerva vergangen war. Es war ihm letztendlich egal. Im Moment interessierte ihn nur sein Animagus, zu dem er jetzt schon eine unvorstellbar feste Bindung aufgebaut hatte, obwohl er ihm heute das erste Mal begegnet war. Er mochte das Tier und war fasziniert von seiner Schnelligkeit und der ungewöhnlichen Taktik, den Feind zu besiegen.
Er suchte die Abteilung der Naturwissenschaften auf, die mit großen Schildern über den Regalen in ihre vier klassischen Gebieten aufgeteilt waren: Physik, Chemie, Geologie und Biologie. In letzteren Gang bog Severus ein. Nach der Botanik traf er sofort auf die Zoologie, die nochmals in mehrere Sparten unterteilt war. Hier in der Abteilung Tierkunde war er nicht mehr weit entfernt von der Vogelkunde. Er ging an Büchern über Herpetologie, Ichthyologie und Malakologie vorbei und konnte sich des Gefühls nicht erwehren, sich wie vorhin schon in seinem eigenen Geist zu befinden, so ordentlich, wie Madam Pince hier alles sortiert hatte. Schon war er bei dem Buchstaben „O“ angelangt und stieß auch gleich auf Ornithologie.
Ein Buch über afrikanische Vögel erweckte seine Aufmerksamkeit. Er zog es hinaus, blätterte im Inhaltsverzeichnis und, als er ein langes Kapitel über den Sekretär fand, schlug es wieder zu, um es sich unter den Arm zu klemmen. Zusätzlich nahm er „Vögel und ihre magische Bedeutung“ mit sowie „Falconiformes – Greifvögel unserer Zeit“ und den Band „Der große Vogelführer“ aus der Reihe „Animagiwelten“.
Mit diesen vier Büchern machte er es sich an einem Tisch bequem. Mit in die Kerker könnte er sie nicht nehmen, wenn Madam Pince nicht vor Ort war, denn die Bücher würden einen Höllenlärm machen, sollte man sie unrechtmäßig entwenden. Die zwei kleinen Lampen auf dem Tisch waren mit Hilfe seines Zauberstabes schnell entzündet. Pergamente und Schreibfedern standen in der Bibliothek immer zur Verfügung, so dass er sich etwas zu schreiben an den Tisch zauberte.
Noch bevor er dazu kam, eines der Bücher aufzuschlagen, hörte er Schritte, dann die leise Stimme eines Kollegen, die ihn vorwarnte: „Erschreck dich nicht.“
„Lupin, was tun Sie um diese Zeit hier?“
Ein warmes Lächeln schlug sich auf dem Gesicht seines Kollegen nieder. „Die Frage kann ich gern zurückgeben. Ich konnte nicht schlafen und wollte die Zeit nutzen, für die Schüler ein Informationsblatt zusammenzustellen, damit sie für ihre Prüfungen alles Wichtige in Stichpunkten vor Augen haben.“ Remus war bei Severus am Tisch angekommen. Er selbst trug drei Bücher mit sich herum. „Darf ich mich zu dir setzen?“
„In der Bibliothek ist wohl Platz genug vorhanden, warum ausgerechnet hier?“
Severus‘ ablehnende Haltung trieb Remus nicht in die Flucht. „Weil es angenehmer ist, nicht allein zu sein.“ Nach einigem Zögern und weil Severus nichts mehr sagte, setzte sich Remus auf den Stuhl gegenüber. „Ich werde auch niemandem verraten, dass du wieder heimlich in schwarzen Büchern liest.“ Es war als Scherz gemeint, was Severus durchaus an der Mimik des Kollegen und dem spitzbübischen Lächeln erkennen konnte.
„Sie haben Vorurteile, Lupin. Ich beschäftige mich nicht mit den Dunklen Künsten.“
„Ach nein? Welchem Thema widmest du dich dann? Zaubertränke? Stellst du auch Material für deine Schüler zusammen?“
„Wie kann man nur so viele Fragen hintereinander stellen?“, spöttelte Severus freundlich.
„Was ist so interessant, dass du zu so später Stunde hier anzutreffen bist?“
„Ich, ähm …“
Um Worte war er normalerweise nie verlegen. Umso härter traf es Severus, dass er keine Antwort fand, mit der er zwar die Wahrheit sagen, aber dennoch nicht den tatsächlichen Grund nennen würde. Remus sollte nichts erfahren. Zu spät bemerkte er, dass sein Kollege sich mit weit aufgerissenen Augen nach vorn gebeugt hatte, um den Titel eines der Bücher zu erhaschen.
„Sie geben dem Begriff ‘Stielaugen‘ eine wahrlich lebhafte Bedeutung, Lupin.“
„Ich wollte doch nur sehen …“ Er hatte einen der Titel gelesen und wiederholte den ein wenig irritiert. „‘Der große Vogelführer‘? Suchst du nach neuen Trankzutaten oder hast du eine neue Vorliebe entdeckt?“
„Wie wäre es, wenn Sie einfach nur Ihre Aufgaben erledigen und ich die meinen?“
„Ich treibe nur Konversation …“
„An der ich nicht interessiert bin! Bitte …“ Severus seufzte. „Es war ein anstrengender Tag für mich. Ich sitze hier nur noch, weil auch ich mit Sicherheit wach im Bett liegen würde, sollte ich nicht einige Auskünfte erhalten.“
„Vielleicht kann ich dir ja helfen?“, bot Remus unbefangen an. „Ich kenne mich mit Tieren aus, hast du selbst einmal gesagt.“
Severus seufzte ein weiteres Mal, doch nicht mehr so genervt. „Also gut: Sagittarius serpentarius.“
Mit diesen beiden Worten war Remus einen Moment beschäftigt. Man konnte beinahe hören, wie sein Gehirn arbeitete. Während Severus längst mit dem Lesen begonnen hatte, weil es endlich ruhig war, übersetzte Remus die Worte nicht nur, sondern ergründete auch ihre Bedeutung.
„Ah“, machte Remus plötzlich. „Sagittarius ist der Bogenschütze! Ein Sternbild.“ Von Severus konfusem Gesichtsausdruck ließ er sich nicht ablenken. „Der Schütze liegt zwischen Skorpion und dem Steinbock! Und Serpentarius … Lass mich kurz überlegen.“ Gerade wollte Severus erwähnen, dass Remus falsch liegen würde, da sagte der: „Ja richtig, Serpentarius ist die alte Bezeichnung für ‘Ophiuchus‘, heißt aber das Gleiche und zwar ‘Schlangenträger‘. Das ist auch ein Sternbild und liegt zwischen Herkules und dem Skorpion.“ Ein selbstzufriedenes Lächeln zierte seine Lippen, während er überlegen nickte. „Ich habe ich Astronomie immer sehr gut aufgepasst!“
„Von was in Merlins Namen reden Sie da?“
„Ich bin mir sicher, dass ich es noch richtig in Erinnerung habe“, beteuerte Remus.
„Es geht aber nicht um Astronomie, sondern um …“ Wieder stoppte sich Severus.
„Um …?“ Plötzlich runzelte Remus die Stirn, als er sich an den Buchtitel erinnerte. „Es geht um Vögel, richtig“, rief er sich ins Gedächtnis.
Beide waren verwirrt. Severus wegen der Informationen über die Sternbilder und Remus darüber, dass er falsch gelegen haben sollte. Um nichts erklären zu müssen, schob Severus das aufgeschlagene Buch hinüber zu Remus und tippte auf die Kapitelüberschrift, die Remus leise vorlas.
„‘Der Sekretär (lat.: Sagittarius serpentarius)‘. Meine Güte, da lag ich ja Lichtjahre daneben“, nahm Remus sich mit seinen astrologischen Kenntnissen selbst auf den Arm. Interessiert betrachtete er das sich bewegende Bild von dem Vogel. „Er kommt im Wappen Südafrikas vor.“
„Tatsächlich?“ Severus hatte gar nicht vor nachzufragen. Es war einfach aus ihm herausgesprudelt.
Remus nickte. „Mit seinen ausgebreiteten Flügeln steht er symbolisch als Beschützer der Nation, über dessen Haupt eine goldene Sonne aufgeht.“
‘Eine goldene Sonne‘, wiederholte Severus in Gedanken, als er sich unerwartet an seinen Traum erinnerte, den Hermine damals für ihn entschlüsselt hatte.
„Der Vogel steht außerdem für die Überlegenheit gegenüber den Feinden.“ Endlich blickte Remus von dem Buch auf, weil er eine Feder kratzen hörte. Er konnte, wenn auch nur über Kopf, lesen, dass Severus die Information mit dem Wappen notierte wie auch die astrologischen Bedeutungen, die er vorhin genannt hatte. „Warum schreibst du das auf, wenn ich damit falsch gelegen habe?“
„Weil es …“ Er zuckte mit den Schultern. „Falls es wichtig sein sollte. Ich arbeite mit jemandem an …“
Severus schrieb und schrieb, vergaß dabei ganz, was er sagen wollte.
„Du arbeitest mit jemandem an was? An einem Trank, der Sirius zum Vollidioten werden lässt?“
Erstaunt blickte Severus auf, erwiderte dann trocken: „Dazu bedarf es keinerlei Tränke mehr.“
Remus musste laut auflachen, auch wenn dieser Scherz auf Kosten seines besten Freundes ging. Sirius würde es nie erfahren.
„Wenn ich dir irgendwie helfen kann, Severus, dann frag ruhig. Ich kenne mich in der Tierwelt aus – in der magischen wie auch der nicht magischen.“
„Und offensichtlich in Astrologie.“
„Astrologie hat viel mit Mythologie zu tun und das ist ein Thema, das mich schon immer interessiert hat.“
„Warum?“, wollte Severus wissen. Aus einer Vermutung heraus fragte er: „Weil in der Mythologie auch Werwölfe ihren festen Platz haben?“
Remus nickte. „Ich glaube, jeder Werwolf beschäftigt sich irgendwann einmal damit, in der Hoffnung, die Ursache für diesen Fluch zu begreifen.“
„Die Ursache lässt sich bestimmt nicht in der Mythologie finden.“
„Warum denn aber nicht? In jeder Überlieferung steckt ein Körnchen Wahrheit. Ich habe mir oft überlegt, ob der Fluch nicht auch gebrochen werden könnte.“
„Wenn es sich um einen Fluch handeln sollte.“
„Laut Mythologie ist es einer. Zeus hat König Lykaon zur Strafe verwandelt, weil der ihm Menschenfleisch vorgesetzt hatte.“
Severus verzog angewiderte das Gesicht. „Eine gerechte Strafe, wie ich finde.“
Von dieser Bemerkung fühlte sich Remus persönlich angegriffen. „Du findest es eine gerechte Strafe, einen Mörder in eine Bestie zu verwandeln, die ebenfalls Menschen tötet? Das war für Lykaon genauso wenig eine Strafe wie für Greyback! Beide haben es doch genossen!“
„Sie müssen deswegen nicht laut werden, Lupin. Ich meinte damit keinesfalls, dass Sie es in irgendeiner Weise verdient hätten, an diesem Fluch zu leiden. Das würde ich nicht einmal meinem ärgsten Feind wünschen.“
„Oh“, machte Remus, der sich schnell wieder beruhig hatte, „da wird sich Sirius aber freuen.“
„Seine flohverseuchte Animagusgestalt reicht vollkommen aus, da muss er nicht noch zu einem Wolf werden.“ Severus blickte Remus direkt in die Augen, bevor er fragte: „Haben Sie eigentlich eine Animagusgestalt?“
„Nein, mir genügt meine monatliche Zwangsverwandlung. Warum fragst du?“
Mit seinen Blicken weichte Severus ihm aus und mit einem Male fügte sich das Puzzle für Remus zusammen. Er machte ganze große Augen, als ihm eine Idee kam. Könnte es sein, fragte sich Remus selbst, dass Severus ein Animagus war?
„Nein, ist das wahr? Du?“ Remus blickte nochmals auf das Bild mit dem Vogel und tippte aufgeregt auf den Sekretär. „Du?“
„Hören Sie schon auf damit!“ Severus entriss ihm das Buch und widmete sich dem Kapitel.
„Severus?“ Der Angesprochene blickte nicht auf. „Severus, du machst das doch nicht allein, oder?“
„Was meinen Sie?“
„Ich meine die Tatsache, dass jedes Buch dazu ermahnt, bei der Verwandlung in einen Animagus nicht allein zu sein. Ich weiß das von James. Er hat mir erklärt, warum sie immer zu dritt waren, als sie geübt haben.“
Endlich blickte Severus auf. „Ich habe mich jemandem anvertraut, falls Sie das beruhigt.“
Remus atmete erleichtert aus. „Ja, das beruhigt mich.“
Einen Moment lang beobachtete Remus sein Gegenüber, als der wieder zu lesen begann.
„Wer?“
Wieder blickte Severus auf. „Was?“
„Ich meine, wer hilft dir? Hermine bestimmt nicht, sie kennt sich damit auch nicht aus.“
Tief durchatmend sammelte Severus alle Ruhe, die nötig war, um Remus eine Antwort zu geben, die jedoch anders ausfiel, als der gehofft hatte. „Es wäre besser gewesen, Sie hätten sich doch an einen anderen Tisch gesetzt, Lupin.“
„Tut mir leid, ich werde nicht mehr stören.“ Einen Augenblick später fragte er: „Kann ich dir bei den Büchern irgendwie helfen?“
Severus hätte nie gedacht, dass Remus so hartnäckig sein könnte. Wütend sah er seinem Kollegen ins Gesicht und wurde von dessen weichen Zügen gleich wieder milde gestimmt.
„Sie schauen genauso treudoof drein wie mein Hund, wenn der irgendwas will“, zog Severus als Vergleich.
„Ich möchte nur helfen …“
„Mein Hund!“ Severus sprang besorgt vom Stuhl auf. „Wie spät ist es?“
„Wieso?“ Remus blickte auf seine Taschenuhr. „Es ist zwanzig vor drei. Was ist passiert?“
„Ich habe meinen Hund bei Hermine gelassen. Es ist wohl ein wenig spät, ihn jetzt zu holen.“
„Ach, das wird ihr schon nichts ausmachen“, beruhigte Remus ihn, so dass Severus wieder Platz nahm.
Es machte Hermine tatsächlich nichts aus. Auch sie schlief noch nicht, sondern hatte es sich am Tisch in der Küche gemütlich gemacht und sich erneut den Berechnungen mit den Hundehaaren gewidmet. Natürlich war es eine Berechnung, mit deren Ergebnis sie nichts anfangen können würde, doch sie sah es als eine Art Testlauf. Eine Übung für die Rechnung mit der Zutat, die sie hoffentlich demnächst von Severus erhalten würde.
Plötzlich hörte sie ein fiependes Geräusch neben sich. Der Hund hatte sich bemerkbar gemacht und blickte sie mit treuen Augen an.
„Er hat dich nicht vergessen“, sprach sie leise und mit warmer Stimme. „Er hat dich bei mir gelassen, damit er einen Grund hat, wieder herzukommen.“ Über ihre eigenen Worte musste sie grinsen. Harry winselte nochmals und ging daraufhin demonstrativ zu Fellinis Fressnapf hinüber. „Ich habe nur Katzenfutter im Haus“, entschuldigte sie sich bei dem hungrigen Vierbeiner.
Trotzdem stand sie auf, um in den Schränken nach etwas zu suchen, dass sie ihm geben könnte. In der gekühlten Vorratskammer stieß sie auf das bereits gebratene Hähnchen, das sie von ihrer Mutter bekommen hatte und sich morgen warmmachen wollte. Mit einem Seufzer verabschiedete sie sich von dem Gedanken, morgen nicht selbst kochen zu müssen. Das Fleisch war per Zauber im Nu von den Knochen getrennt und in ein Schälchen gefüllt, dass sie Harry vor die Nase stellte. Fellini, der die Geräusche aus der Küche gehört hatte, kam übermütig angepest und stahl sich einige Happen von dem Geflügel, die Harry abzugeben bereit war.
Mit zwei schmatzenden Tieren in der Küche widmete sich Hermine wieder ihren Berechnungen, die sie durchging, nur um festzustellen, dass sie fertig waren. Das Problem war nur, dass Sirius nicht das Gleiche fehlte wie Severus und der Rechenweg vermutlich wesentlich einfacher war, als er bei Severus werden würde. Trotzdem wusste sie zumindest, wie sie rechnen musste und was es für Möglichkeiten gab. Um später korrekt errechnen zu können, wie man Severus‘ Seele retten könnte, müsste sie erst noch den Wert für die Seele bestimmen. Eine Seele war in der Zaubererwelt natürlich nichts Unbekanntes, aber man war sich in Arithmantik-Kreisen uneinig, was der richtige Wert wäre. Da gab es einen Wert, den man auch mit Horkruxen in Verbindung brachte, dann einen für die fehlende Seele bei den Opfern von Dementoren und auch einen Zahlenwert für den Thymus. Hermine wollte sich später auf den letzteren Wert konzentrieren, denn sie war der Überzeugung, dass Harrys Magie auf diese hinter dem Brustbein sitzende Drüse eingewirkt haben musste und dass das genau die Stelle war, die Severus manchmal wehtat: Die Drüse, die laut antiker Überlieferungen als Sitz der Seele bezeichnet wurde. Die Berechnung mit Severus‘ Zutat würde ihr nicht so leicht von der Hand gehen. Sie müsste alle Fakten als Zahlen verarbeiten und die Ergebnisse den Zutaten zuordnen, die höchstwahrscheinlich für einen Heiltrank infrage kommen würden. Es war ähnlich wie Dreisatz, nur wesentlich komplizierter. Sie hätte Zahlen und müsste errechnen, was sie benötigen würde, um auf das vorbestimmte Ergebnis zu kommen und dieses vorbestimmte Ergebnis war das Wachstum seiner Seele. Sie fragte sich, ob sie ihn irgendwie auf nette Weise dazu überreden könnte, sich seinem Animagus zu widmen.
Gegen vier ging Hermine ins Bett, gefolgt von den Haustieren, die sich im Schlafzimmer auf den Boden legten. Sie hoffte, dass Severus spätestens zum Mittag kommen würde und schlief mit dem Gedanken an ein gemeinsames Essen ein.
Trotz des wenigen Schlafs war sie bereits um neun Uhr wieder hellwach. Voller Freude, mit Severus den Tag verbringen zu können, kleidete sie sich an. Sie musste sowieso zu Severus, denn auf einen Sonntag würde sie kein Hundefutter besorgen können. Fellini wollte sie mit nach Hogwarts nehmen, damit der ein wenig Abwechslung bekam. Von einer Reise durch den Kamin nahm sie Abstand. Hätte sie nur Fellini, könnte sie mit ihm auf dem Arm durchs Flohnetzwerk reisen, doch zusätzlich mit dem Hund war das ein schwieriges Unterfangen, weshalb sie sich dazu entschloss, vor die Tore Hogwarts‘ zu apparieren.
Der Druck, als würde sie durch einen Schlauch gepresst werden, machte den Tieren nichts aus, denn sobald sie wieder festen Boden unter den Füßen hatten, erkundeten sie neugierig die Landschaft. Hermine trat an das Tor heran, das ihr gleich darauf geöffnet wurde. Ob Albus die Kontrolle darüber hatte, wer hier ein- und ausgehen konnte oder ob das Schloss mit all seinen unergründlichen magischen Fähigkeiten dafür verantwortlich war, war ihr ein Rätsel.
Hund und Kater folgten ihr über die große Wiese, die zum Schloss führte. Fellini hüpfte einem zitronengelben Falter hinterher, während Harry sein Geschäft an einem Gebüsch verrichtete.
In den Kerkern traf Hermine den Gesuchten nicht an. Sie versorgte zunächst Harry mit etwas Futter und frischem Wasser, bevor sie beide Tiere zurückließ, um zur großen Halle zu gehen. Vielleicht war Severus schon dort. Auf ihrem Weg traf sie auf Harry und Ginny, die die gleiche Richtung eingeschlagen hatten.
„Hermine, schön dich zu sehen.“ Ginny umarmte ihre Freundin und auch Harry ließ es sich nicht nehmen, sie innig zu begrüßen.
„Ich suche Severus.“
„Wenn er nicht in seinen Räumen ist, ist er bestimmt schon beim Frühstück. Sonntags ist er immer sehr früh dort, damit er fertig ist, bevor die Schüler kommen“, erklärte Harry auf dem Weg in die Halle.
Weit und breit war Severus nicht zu sehen. Remus winkte Harry und Hermine zu sich heran, während Ginny bei ihren Mitschülern am Gryffindortisch Platz nahm. Remus sah müde aus, was Harry gleich ansprach.
„Schlecht geschlafen?“
„Nein, Harry. Ich habe gut geschlafen, nur zu wenig. Ich war bis spät in die Nacht mit Severus in der Bibliothek.“
„Mit Severus? Wo ist er jetzt?“, wollte Hermine wissen, die von Remus dazu aufgefordert wurde, den Stuhl zwischen ihren beiden Freunden einzunehmen.
„Ist er nicht in den Kerkern?“ Weil Hermine verneinte, vermutete Remus: „Dann könnte er bei Minerva sein.“
Harry setzte sich neben Hermine. „Wieso bei Minerva?“
„Vielleicht, weil sie …“ Gerade noch rechtzeitig biss er sich auf die Zunge. „Ich weiß es nicht.“
Zwar hatte Remus nicht versprochen, den Mund zu halten, aber er hielt es für selbstverständlich. Es sollte Severus überlassen sein, die anderen über seine Animagusform zu unterrichten. Er bemerkte jedoch, dass Hermine einen glücklichen Eindruck machte. Sie freute sich, denn sie schien zu ahnen, mit was sich Severus beschäftigte.
Severus hielt sich nicht, wie man vermutete, bei Minerva auf, sondern in der Bibliothek, um das zu tun, wovon ihn Remus gestern die meiste Zeit abgehalten hatte. Auf einen Sonntag betrat kaum ein Schüler freiwillig den Wirkungsbereich von Madam Pince. Wenn sich doch ein Streber hierher verirrte und seinen Lehrer für Zaubertränke bemerkte, setzte er sich entweder ganz weit weg oder verließ den Raum auf der Stelle. So kam es, dass Severus sich die Bibliothek nur mit Gordian Foster teilte, der an der entgegengesetzten Ecke des Raumes an einem Tisch saß und vorbildlich für die ZAGs lernte. Von ihm wurde am meisten verlangt. Er hatte immerhin zwei Klassen übersprungen und wäre der jüngste Schulabgänger Hogwarts, sollte er die Prüfungen bestehen.
Mit den Büchern vom Vortag hatte Severus sich wieder auf seine Recherche über den Sekretär eingelassen und was er las gefiel ihm. Die Eigenschaften des Vogels entsprachen seinen eigenen, was kein Wunder war, denn darauf baute das ganze Konzept des Animagus-Zaubers auf. Es war dennoch interessant zu erfahren, welchen Instinkten das Tier in ihm nachging.
Am liebsten fraßen diese Vögel Schlangen, wie Severus es bereits in seinem Geiste gesehen hatte. Wahrscheinlich hatte er als Kind im Fernsehen oder im Zoo gesehen, wie so ein Sekretär auf Schlangen losging, um sie erst mit flotten Zickzackbewegungen zu verwirren, bevor er sie mit kräftigen Tritten tötete. Sekretäre hielten sich überwiegend am Boden auf, weil sie dort jagten. Mit ihren langen Stelzbeinen waren sie flink und gewandt, konnte am Tag bis zu dreißig Kilometer zurücklegen. Diese Vögel steckten sich kein Territorium ab, sondern zogen von Ort zu Ort durch die Savannenlandschaft. Nur zur Brutzeit ließen sie sich nieder und verteidigten ihr Nest, das sie in dem Wipfel eines kleinen Baumes oder auf einem dornigen Busch erbaut hatten, gegen Konkurrenten und Feinde. Die Vögel waren mutig und brachten sich auch vor Flächenbränden nicht in Sicherheit, warteten stattdessen am Rande des Feuers auf die fliehenden Tiere, die sie verspeisen oder ihren Jungen bringen wollten. Nur in tatsächlichen Notsituationen erhoben sie sich mit ihren großen Flügeln in die Lüfte oder aber auch, um während der Brutzeit über dem eigenen Nest zu kreisen, um den Nachwuchs vor Angreifern zu schützen.
„Sir, darf ich Ihnen eine Frage stellen?“
Severus schreckte von seinem Text hoch und blickte Gordian durch zusammengekniffene Augen an. „An einem Sonntag?“
„Ich entschuldige mich dafür, Ihre Erholungsphase zu stören.“
„Machen Sie sich über mich lustig?“, giftete Severus zurück, obwohl er wusste, dass er wegen des Schlafmangels wie ein lebender Toter aussehen musste.
„Keinesfalls, Professor Snape. Jeder muss mal ausspannen.“ Bevor er es schlimmer machte, als es war, fragte der Schüler einfach drauf los: „Der Unterschied der Wirkung zwischen Salamanderblut und Greifenklauenpulver ist mir nicht ganz klar. Beides sind Substanzen mit vitalisierenden Eigenschaften. Warum werden nicht beide Zutaten in einem Trank benutzt? Das würde einen Stärkungstrank doch um einiges aufbessern oder nicht?“
„Würde es nicht, Mr. Foster. Das Pulver würde durch die ergogenen Stoffe des Salamanderblutes verklumpen. Beide Zutaten heben sich gegenseitig in ihrer Wirkung auf. Heraus käme ein ineffizientes Gebräu, das nur noch scheußlich schmeckt.“
„Aber …“ Gordian hielt inne, weil er ahnte, dass jetzt nicht der richtige Augenblick war, seinen Lehrer mit Fragen zu löchern. Sein Blick fiel auf die aufgeklappten Bücher und das Tier, das auf zwei der Seiten abgebildet war, was Severus nicht entging.
„Ich rate Ihnen“, zischte Severus, „halten Sie sich aus Dingen heraus, die Sie nichts angehen!“ Es fehlte noch, dass Gordian sich etwas Haarsträubendes zusammenreimen und herumerzählen würde.
„Verzeihen Sie, ich störe Sie nicht weiter, Sir.“
Um von dem Schüler nicht ein weiteres Mal behelligt zu werden, verließ Severus die Bibliothek, nachdem er die Bücher wieder weggestellt hatte. Er hatte genug gelesen.
Minerva war sein nächstes Ziel. Sie war gerade fertig mit dem Frühstück und erwartete ihn.
„Warum überrascht es mich nicht, dass du dich jetzt schon bei mir einfindest? Hast du genügend Informationen gesammelt?“
„Ich wäre sonst nicht hier.“
„Deine Stimmung steht wie üblich mal wieder im Gegensatz zum strahlenden Sonnenschein draußen. Ich hätte gut Lust, ein wenig spazieren zu gehen.“
Sie hielt ihm vor Augen, dass sie freiwillig ihre Zeit opferte, obwohl sie diese sehr gut anders verbringen könnte. Weil er nicht antwortete, zeigte sie auf den Boden und erwartete offenbar, dass er dort Platz nehmen sollte.
„Muss ich zur Strafe jetzt neben dem Stuhl sitzen?“
„Es ist sicherer. Du könntest nach einer erfolgreichen Verwandlung für einen Moment verwirrt sein und fallen. Das möchte ich nicht riskieren, also setz dich bitte auf den Boden.“ Minerva nahm ihm gegenüber auf dem Stuhl Platz, der ihm verwehrt blieb. „Da du das Tier nun kennst, wirst es in deinem klaren Bewusstsein finden, wahrscheinlich sogar gleich, nachdem du dein Innerstes betreten hast. Die Verwandlung findet auf geistiger Ebene statt, also drück das arme Tier nicht verzweifelt an dich.“ Den bösen Blick, den er ihr zuwarf, ignorierte sie. „Es ist anfangs leichter, wenn man den Animagus berührt, um dann die Verwandlung herbeizurufen. Später reicht der pure Gedanke an die tierische Gestalt, ohne sich vorher darauf konzentrieren zu müssen. Es ist ähnlich wie beim Apparieren: Ziel, Wille, Bedacht. Das Ziel ist klar, der Wille ist die Bereitschaft zur Verwandlung. Es bedarf allerdings nicht allzu viel Bedacht, um das bewerkstelligen zu können. Du wirst dich in Zukunft selbst in stressvollen Situationen mit Leichtigkeit verwandeln können, wenn du es erst einmal beherrschst.“
Sie hob einen Zeigefinger. Das war der Moment, in dem sich Severus tatsächlich wieder wie ein Erstklässler fühlte und er verabscheute es.
„Die Rückverwandlung! Das läuft genauso ab; mit dem Ziel, ein Mensch werden zu wollen und dem Willen, die Gestalt erneut zu wechseln. Es wird dir beim ersten Mal eventuell schwerfallen, weil so viele neue Empfindungen auf deine tierische Gestalt einwirken werden.“
„Aber ich werde doch meinen menschlichen Verstand behalten?“, fragte Severus ungewohnt befangen.
„Natürlich, aber es kommen die animalischen Instinkte hinzu, die du verarbeiten musst. Ein Hund ist beispielsweise vor seinem Jagdtrieb nicht sicher, weshalb viele Animagi gern noch das Stöckchen holen.“ Severus glaubte für einen Moment, sie würde ein Grinsen unterdrücken. „Du wirst durch andere Augen sehen, Severus, anders fühlen und die Umgebung vollkommen verändert wahrnehmen, was Gerüche oder Geräusche betrifft. Anfangs wirst du mit deinen Flügeln nichts anzufangen wissen. Sei darauf vorbereitet, dass dir selbst bekannte Orte fremd vorkommen werden.“
Mit einem Kopfnicken zeigte er seine Bereitschaft zur Verwandlung, bevor er die Augen schloss und sich konzentrierte. Diesmal baute er keine Mauer um seinen Geist herum auf, denn er musste später unbeschwert nach draußen gelangen. Es dauerte eine Viertelstunde, bis er endlich die Muße hatte, ungeschützt von seiner Umgebung loszulassen und sich in seinen Geist zu begeben. Er vertraute, dass Minerva ihn beschützen würde, sollte etwas Unvorhergesehenes geschehen.
Wie seine Kollegin es vorhergesagt hatte, musste er nicht lange suchen. Severus hatte nicht einmal eine der vielen Türen öffnen müssen, denn der Sekretär hielt sich in dem langen Korridor auf und schien auf etwas zu warten – oder sogar auf ihn. Als der Vogel ihn bemerkte, schnellte der Kopf hoch, der noch einige Male schräg gelegt wurde, als es den schwarz gekleideten Mann neugierig durch die rötlich umrandeten Augen betrachtete. Einen Moment später stakste es furchtlos auf ihn zu. Der Kopf wurde jedem Schritt nachgezogen, jedoch weniger ruckartig, wie man es von den meisten Vögeln kannte. Die Laufbewegung wirkte geradezu erhaben und edel. Als der Vogel vor ihm stand, ging Severus in die Knie.
„Schaffen wir es auch ohne Berührung?“, fragte Severus herausfordernd. Er wollte Minerva beweisen, dass er ein sehr gelehriger Schüler war. Ohne den Sekretär anzufassen, konzentrierte er sich auf die Verwandlung. Einige Versuche später war der Vogel plötzlich so dicht bei ihm, dass sich Severus eingeengt fühlte und zurückweichen wollte. Zu spät bemerkte er, dass die Animagusgestalt nicht einfach nur nahe bei ihm war, sondern in ihn übergegangen war. Mit nur einem Schritt hatte Severus seine Gedankenwelt verlassen – diesmal in tierischer Gestalt.
Seine Animagusgestalt stand gelassen vor ihm. Severus rief sich ins Gedächtnis zurück, was Minerva ihm geraten hatte. Er sollte die Gestalt finden, sie beobachten und berühren, sich aber keinesfalls sofort in sie verwandeln. Die Suche hatte ihn müde gemacht. Er würde es nicht riskieren, die tierische Form anzunehmen und wegen seiner Unerfahrenheit möglicherweise nicht mehr dazu imstande zu sein, sich wieder in einen Menschen zurückzuverwandeln.
Der Vogel schaute noch immer wachsam zu ihm auf. Die stechenden Augen blinzelten nervös, aber es blieb furchtlos bei ihm stehen. Vorsichtig streckte Severus eine Hand aus, um damit die grauen Federn am Rücken zu berühren. Für einen Moment bedauerte er, Hermines Angebot nicht annehmen zu können, denn es wäre nicht möglich, dieses Tier wie einen Hund zu bürsten. Um was für einen Vogel es sich handelte, wusste Severus noch nicht, aber er hatte die vage Ahnung, damals bereits einen gesehen zu haben, als seine Eltern ihn in einen Muggelzoo mitgenommen hatten. Es war ein Greifvogel, so viel war sicher. Der Schnabel war wie bei einem Adler leicht nach unten gebogen, als wollte der Animagus damit eine Hakennase nachahmen.
„In deiner Form hätte ich nie meine Dienste für Albus verrichten können“, murmelte Severus. Der Vogel war zu groß und zu auffällig, als dass er diese Gestalt für seine Spionageaufgaben hätte verwenden können. Allerdings hatte jedes Tier besondere Fähigkeiten, aber die seines Vogels waren ihm fremd.
Mit einem Male materialisierte sich, weil er eben an seine Zeit als Spion hatte denken müssen, ein Todesser in seinem Unterbewusstsein. Rodolphus. Der in eine schwarze Kutte gehüllte Mann kam einen Schritt auf Severus zu. Als der Vogel sich umdrehte und den Feind erkannte, stellten sich vor Erregung die pechschwarzen Federn an Kopf und Nacken auf. Er spreizte die beeindruckend großen Flügel, die eine Spannweite von mindestens zwei Meter zwanzig haben mussten. Im Nu war das Tier in voller Kampfbereitschaft, auch wenn dieser Kampf zwischen Mensch und Vogel ungerecht ausfallen würde. Es war erneut Severus, dessen Gedankengänge aus Rodolphus das Wappentier Slytherins machte. Der Todesser verwandelte sich in eine Schlange, die nun bedrohlich zischelnd auf ihn zusteuerte. Seine Animagusgestalt näherte sich der Schlange unerschrocken und fixierte sie mit den wachen Augen. Völlig unerwartet trat der Vogel mit einem seiner starken Beine zu, hielt derweil mit den ausgestreckten Flügeln das Gleichgewicht für den schlanken Körper. Der Schlag war so wuchtig gewesen, dass er noch ein paar Sekunden nachhallte. Die Schlange holte zum Gegenangriff aus, aber der Vogel war viel zu wendig und geschickt, wich dem Opfer in Windeseile aus, bevor er das Kriechtier erneut attackierte. Er holte aus und trat zu. Wieder und wieder trafen die schlanken, aber kraftvollen Beine des Vogels das Reptil, und er zielte dabei auf den gefährlichsten Teil: den Kopf. Sehr bald hatte der Vogel der Schlange das Genick gebrochen.
An der erlegten Beute hielt sich der Vogel nicht lange auf. Er kam zu Severus zurück und der konnte nicht anders, als das Tier zu berühren. Am schwarzen Federkleid um den oberen Teil der Beine strich der Tränkemeister hinunter bis zu der rosafarbenen schuppenartigen Verhornung am unteren Teil, die den Vogel vor Schlangenbissen zu schützen vermochte. Eigentlich, dachte Severus, müsste er selbst auf der Hut sein. Dieses Tier war ein natürlicher Feind der Schlangen, vielleicht symbolisch sogar ein Feind der Slytherins, was ihn selbst in Gefahr bringen würde. Andererseits war dieses Tier ein Produkt seiner eigenen Persönlichkeit. Severus‘ damaligen Feinde stammten überwiegend aus dem Haus mit der grünen Farbe im Wappen. Es wäre möglich, dass er deshalb Angst vor sich selbst hatte, wie sein Irrwicht es deutlich gemacht hatte. Im Kampf für das Gute wäre Severus nicht einmal davor zurückgeschreckt, auch sich selbst aus dem Weg zu räumen, hätte Albus das von ihm verlangt. Natürlich waren nicht alle Slytherins schlechte Menschen; weder die von damals noch die heutigen Schüler. Trotzdem hatte sich bei Severus offenbar unbewusst eine Abneigung gegen das eigene Haus entwickelt, gerade weil die vielen Todesser ihm entsprungen waren.
Der Vogel ließ sich berühren, gestattete es sogar, dass Severus einen der dicht am Körper gefalteten Flügel vorsichtig spreizte, um ihn zu betrachten. Ob er auch fliegen könnte?
Den Körperbau hatte Severus eine Weile studiert, bevor er den Rückweg in die Realität antrat.
„Ich habe das Tier gefunden“, waren Severus‘ ersten Worte, nachdem er seinen Geist wieder verlassen hatte und sich Aug in Aug mit Minerva wiederfand.
„Schon? Das ist unerwartet.“ Mit skeptischem Blick musterte sie ihn. „Hat es dich denn gar nicht gerührt, was du in deinem Innern erfahren hast? Die Suche nach dem Tier dauert oftmals sehr lange, weil man sich an den ganzen Erinnerungen und Träumen aufhält.“
Zu solchen Reaktionen war er gar nicht fähig. Das erste Mal in seinem Leben hatte der Ewige See ihm tatsächlich einen Vorteil verschafft und ihm die notwendige Gleichgültigkeit gegeben, um zum Ziel zu gelangen.
„Ich habe mich nicht aufhalten lassen. Du selbst hast mir diese Anweisung gegeben, Minerva.“
Sie unterdrückte ein Schmunzeln, welches sich nur an den Augenwinkeln zeigte, als sie stichelte: „Und jetzt spielst du den Musterschüler?“ Seinen scharfen Blick übersah sie absichtlich, bevor sie wissen wollte: „Was war es?“
„Der Name ist mir nicht geläufig.“
„Ein Reptil, ein Insekt? Hatte es Haare oder Schuppen?“, zählte sie hilfreich auf.
„Federn.“
Sie stutzte. „Feder? Das hätte ich nicht gedacht.“ Minerva erhob sich von ihrem Stuhl und sagte, als sie zu einem der Bücherregale ging: „Dann lass uns mal nachschauen.“
Sie zog ein dickes Buch mit dem Titel „Der Animagus-Finder, Band 2 – Vögel“ heraus. Sie reichte es Severus, der es ohne Umschweife aufschlug. Das Buch hielt sich weder an eine alphabetisch Ordnung noch war es nach Gattungen sortiert. Es begann bei verschiedenen Kategorien, wie beispielsweise der Größe des Tieres oder seiner Farbe. Auf diese Weise konnte jeder mit wenigen Informationen seine Animagusform identifizieren, wenn man keine weiteren Anhaltspunkte hatte außer dem Aussehen. Eine getroffene Auswahl führte zu einer weiteren Aufzählung von Merkmalen, damit die Suche nach und nach eingeschränkt werden konnten.
„Damit findest du es bestimmt schnell. Die Arten sind nach ihren Merkmalen sortiert. Soll ich dir helfen?“
„Ich denke, ich komme mit der Anordnung des Buches selbst zurecht.“
Sofort begann Severus zu blättern. Albatros und Kondor hatten eine noch größere Flügelspannweite als seine Gestalt, also wählte in dieser Kategorie die Spalte „2,00 – 2,50 Meter“. Mit dieser Wahl wurde er auf eine andere Seite verwiesen. Dort las er weitere angegebene Merkmale, aus denen er wählen konnte und die ihm beim Fortsetzen der Suche helfen sollten. Er konzentrierte sich auf das sicherste aller Merkmale und sah deswegen vorerst von der Farbe des Gefieders ab. Stattdessen stürzte er sich auf das Kapitel „Nahrung“. Hier suchte er nach „Schlangen“ und blätterte zum Verweis, der dahinter stand.
Endlich waren einige Tiere aufgelistet, auf die all diese Merkmale zutrafen. Er fand den Steinadler, Aquila chrysaetos, der mit einer maximalen Flügelspannweite von etwas über zwei Metern mit einem bewegten Bild aufgelistet war. Auf der nächsten Seite erhielt Severus seinen persönlichen Treffer. Minerva musste an seiner Reaktion erkannt haben, dass er fündig geworden war.
„Etwas gefunden?“, fragte sie neugierig.
„Ja.“
„Darf ich mal sehen?“
„Darf ich erst einmal lesen?“, erwiderte er ablehnend.
„Da steht nicht viel, nur welcher Vogel es ist. Um Genaues über dieses Tier zu erfahren, solltest du in der Bibliothek die Abteilung für Ornithologie aufsuchen. Diese Bücher“, sie deutete auf das in seinen Händen, „helfen nur bei der Bestimmung deines Animagus. Es gibt Tiere, die man noch nie in seinem Leben gesehen hat und deren Definition daher sehr schwer für einen Laien ist.“
„Ich habe ihn schon einmal gesehen, ich wusste nur nicht mehr, wie er heißt“, offenbarte Severus, der sich jetzt wieder daran erinnerte, dass das Tier in Afrika heimisch war.
„Hast du ihn als Kind gesehen? Ich frage nur, weil eine Prägung in zartem Alter für die spätere Animagusform verantwortlich sein könnte.“
Severus nickte nur und merkte sich den lateinischen Namen seiner Animagusgestalt, damit er in der Bibliothek nachschlagen könnte. Seiner neugierigen Kollegin reichte er das aufgeschlagene Buch mit dem sich bewegenden Bild eines Sekretärs.
„Oh“, machte sie erstaunt, als sie das Foto betrachtete. „Eine imposante Gestalt, Severus. Vielleicht ein wenig aufsehenerregend, weil es nicht bei uns beheimatet ist, aber dennoch beeindruckend.“
„Und du wirst Stillschweigen bewahren, Minerva!“
Verärgert kniff sie die Lippen zusammen. Es kränkte sie, dass er ihre selbstverständliche Diskretion nicht zu schätzen wusste. „Natürlich werde ich! Allerdings werde ich dich bei erfolgreicher Verwandlung beim Ministerium anmelden.“ Bevor er dagegenhalten konnte, lenkte sie ab. „Hast du ihn nur gesehen oder bereits berührt?“
„Berührt.“
„Gut, dann lies so viel wie möglich über den Vogel. Das nächste Mal wirst du ihn schneller finden, denn er wird sich bereits im Bewusstsein aufhalten. Der nächste Schritt ist die Vereinigung, die Verwandlung in deine Animagusgestalt und natürlich auch die Rückverwandlung.“
„Und wann?“
Minerva zog beide Augenbrauen in die Höhe. „Wann immer du bereit bist. Das hängt nicht von mir ab.“
Er nickte. „Dann werde ich jetzt gehen.“
Höflich, wie sie war, begleitete sie ihn zur Tür. Bevor er jedoch außer Hörweite war, lobte sie ihn noch.
„Beachtlich, Severus, dass du ihn beim ersten Mal gefunden hast. Wahrlich eine Spitzenleistung.“
Severus drehte sich schnell um, so dass sein Umhang noch nachwehte. „Möchtest du mir etwa noch ein goldenes Sternchen ins Hausaufgabenheft zaubern?“
Mit ernster Miene erwiderte sie: „Wenn es dich glücklich macht?“
Er schnaufte herablassend, bevor der Drang nach Spott von ihm abfiel und er ihr höflich zum Abschied zunickte, bevor er seinen Weg in die Bibliothek fortsetzte. Minerva glaubte sogar, ein Lächeln gesehen zu haben.
Die Bibliothek war nicht verschlossen, aber menschenleer und dunkel, so dass er einen Lumos anwandte. Er hatte nicht einmal auf die Uhr gesehen und wusste nicht, wie viel Zeit bei Minerva vergangen war. Es war ihm letztendlich egal. Im Moment interessierte ihn nur sein Animagus, zu dem er jetzt schon eine unvorstellbar feste Bindung aufgebaut hatte, obwohl er ihm heute das erste Mal begegnet war. Er mochte das Tier und war fasziniert von seiner Schnelligkeit und der ungewöhnlichen Taktik, den Feind zu besiegen.
Er suchte die Abteilung der Naturwissenschaften auf, die mit großen Schildern über den Regalen in ihre vier klassischen Gebieten aufgeteilt waren: Physik, Chemie, Geologie und Biologie. In letzteren Gang bog Severus ein. Nach der Botanik traf er sofort auf die Zoologie, die nochmals in mehrere Sparten unterteilt war. Hier in der Abteilung Tierkunde war er nicht mehr weit entfernt von der Vogelkunde. Er ging an Büchern über Herpetologie, Ichthyologie und Malakologie vorbei und konnte sich des Gefühls nicht erwehren, sich wie vorhin schon in seinem eigenen Geist zu befinden, so ordentlich, wie Madam Pince hier alles sortiert hatte. Schon war er bei dem Buchstaben „O“ angelangt und stieß auch gleich auf Ornithologie.
Ein Buch über afrikanische Vögel erweckte seine Aufmerksamkeit. Er zog es hinaus, blätterte im Inhaltsverzeichnis und, als er ein langes Kapitel über den Sekretär fand, schlug es wieder zu, um es sich unter den Arm zu klemmen. Zusätzlich nahm er „Vögel und ihre magische Bedeutung“ mit sowie „Falconiformes – Greifvögel unserer Zeit“ und den Band „Der große Vogelführer“ aus der Reihe „Animagiwelten“.
Mit diesen vier Büchern machte er es sich an einem Tisch bequem. Mit in die Kerker könnte er sie nicht nehmen, wenn Madam Pince nicht vor Ort war, denn die Bücher würden einen Höllenlärm machen, sollte man sie unrechtmäßig entwenden. Die zwei kleinen Lampen auf dem Tisch waren mit Hilfe seines Zauberstabes schnell entzündet. Pergamente und Schreibfedern standen in der Bibliothek immer zur Verfügung, so dass er sich etwas zu schreiben an den Tisch zauberte.
Noch bevor er dazu kam, eines der Bücher aufzuschlagen, hörte er Schritte, dann die leise Stimme eines Kollegen, die ihn vorwarnte: „Erschreck dich nicht.“
„Lupin, was tun Sie um diese Zeit hier?“
Ein warmes Lächeln schlug sich auf dem Gesicht seines Kollegen nieder. „Die Frage kann ich gern zurückgeben. Ich konnte nicht schlafen und wollte die Zeit nutzen, für die Schüler ein Informationsblatt zusammenzustellen, damit sie für ihre Prüfungen alles Wichtige in Stichpunkten vor Augen haben.“ Remus war bei Severus am Tisch angekommen. Er selbst trug drei Bücher mit sich herum. „Darf ich mich zu dir setzen?“
„In der Bibliothek ist wohl Platz genug vorhanden, warum ausgerechnet hier?“
Severus‘ ablehnende Haltung trieb Remus nicht in die Flucht. „Weil es angenehmer ist, nicht allein zu sein.“ Nach einigem Zögern und weil Severus nichts mehr sagte, setzte sich Remus auf den Stuhl gegenüber. „Ich werde auch niemandem verraten, dass du wieder heimlich in schwarzen Büchern liest.“ Es war als Scherz gemeint, was Severus durchaus an der Mimik des Kollegen und dem spitzbübischen Lächeln erkennen konnte.
„Sie haben Vorurteile, Lupin. Ich beschäftige mich nicht mit den Dunklen Künsten.“
„Ach nein? Welchem Thema widmest du dich dann? Zaubertränke? Stellst du auch Material für deine Schüler zusammen?“
„Wie kann man nur so viele Fragen hintereinander stellen?“, spöttelte Severus freundlich.
„Was ist so interessant, dass du zu so später Stunde hier anzutreffen bist?“
„Ich, ähm …“
Um Worte war er normalerweise nie verlegen. Umso härter traf es Severus, dass er keine Antwort fand, mit der er zwar die Wahrheit sagen, aber dennoch nicht den tatsächlichen Grund nennen würde. Remus sollte nichts erfahren. Zu spät bemerkte er, dass sein Kollege sich mit weit aufgerissenen Augen nach vorn gebeugt hatte, um den Titel eines der Bücher zu erhaschen.
„Sie geben dem Begriff ‘Stielaugen‘ eine wahrlich lebhafte Bedeutung, Lupin.“
„Ich wollte doch nur sehen …“ Er hatte einen der Titel gelesen und wiederholte den ein wenig irritiert. „‘Der große Vogelführer‘? Suchst du nach neuen Trankzutaten oder hast du eine neue Vorliebe entdeckt?“
„Wie wäre es, wenn Sie einfach nur Ihre Aufgaben erledigen und ich die meinen?“
„Ich treibe nur Konversation …“
„An der ich nicht interessiert bin! Bitte …“ Severus seufzte. „Es war ein anstrengender Tag für mich. Ich sitze hier nur noch, weil auch ich mit Sicherheit wach im Bett liegen würde, sollte ich nicht einige Auskünfte erhalten.“
„Vielleicht kann ich dir ja helfen?“, bot Remus unbefangen an. „Ich kenne mich mit Tieren aus, hast du selbst einmal gesagt.“
Severus seufzte ein weiteres Mal, doch nicht mehr so genervt. „Also gut: Sagittarius serpentarius.“
Mit diesen beiden Worten war Remus einen Moment beschäftigt. Man konnte beinahe hören, wie sein Gehirn arbeitete. Während Severus längst mit dem Lesen begonnen hatte, weil es endlich ruhig war, übersetzte Remus die Worte nicht nur, sondern ergründete auch ihre Bedeutung.
„Ah“, machte Remus plötzlich. „Sagittarius ist der Bogenschütze! Ein Sternbild.“ Von Severus konfusem Gesichtsausdruck ließ er sich nicht ablenken. „Der Schütze liegt zwischen Skorpion und dem Steinbock! Und Serpentarius … Lass mich kurz überlegen.“ Gerade wollte Severus erwähnen, dass Remus falsch liegen würde, da sagte der: „Ja richtig, Serpentarius ist die alte Bezeichnung für ‘Ophiuchus‘, heißt aber das Gleiche und zwar ‘Schlangenträger‘. Das ist auch ein Sternbild und liegt zwischen Herkules und dem Skorpion.“ Ein selbstzufriedenes Lächeln zierte seine Lippen, während er überlegen nickte. „Ich habe ich Astronomie immer sehr gut aufgepasst!“
„Von was in Merlins Namen reden Sie da?“
„Ich bin mir sicher, dass ich es noch richtig in Erinnerung habe“, beteuerte Remus.
„Es geht aber nicht um Astronomie, sondern um …“ Wieder stoppte sich Severus.
„Um …?“ Plötzlich runzelte Remus die Stirn, als er sich an den Buchtitel erinnerte. „Es geht um Vögel, richtig“, rief er sich ins Gedächtnis.
Beide waren verwirrt. Severus wegen der Informationen über die Sternbilder und Remus darüber, dass er falsch gelegen haben sollte. Um nichts erklären zu müssen, schob Severus das aufgeschlagene Buch hinüber zu Remus und tippte auf die Kapitelüberschrift, die Remus leise vorlas.
„‘Der Sekretär (lat.: Sagittarius serpentarius)‘. Meine Güte, da lag ich ja Lichtjahre daneben“, nahm Remus sich mit seinen astrologischen Kenntnissen selbst auf den Arm. Interessiert betrachtete er das sich bewegende Bild von dem Vogel. „Er kommt im Wappen Südafrikas vor.“
„Tatsächlich?“ Severus hatte gar nicht vor nachzufragen. Es war einfach aus ihm herausgesprudelt.
Remus nickte. „Mit seinen ausgebreiteten Flügeln steht er symbolisch als Beschützer der Nation, über dessen Haupt eine goldene Sonne aufgeht.“
‘Eine goldene Sonne‘, wiederholte Severus in Gedanken, als er sich unerwartet an seinen Traum erinnerte, den Hermine damals für ihn entschlüsselt hatte.
„Der Vogel steht außerdem für die Überlegenheit gegenüber den Feinden.“ Endlich blickte Remus von dem Buch auf, weil er eine Feder kratzen hörte. Er konnte, wenn auch nur über Kopf, lesen, dass Severus die Information mit dem Wappen notierte wie auch die astrologischen Bedeutungen, die er vorhin genannt hatte. „Warum schreibst du das auf, wenn ich damit falsch gelegen habe?“
„Weil es …“ Er zuckte mit den Schultern. „Falls es wichtig sein sollte. Ich arbeite mit jemandem an …“
Severus schrieb und schrieb, vergaß dabei ganz, was er sagen wollte.
„Du arbeitest mit jemandem an was? An einem Trank, der Sirius zum Vollidioten werden lässt?“
Erstaunt blickte Severus auf, erwiderte dann trocken: „Dazu bedarf es keinerlei Tränke mehr.“
Remus musste laut auflachen, auch wenn dieser Scherz auf Kosten seines besten Freundes ging. Sirius würde es nie erfahren.
„Wenn ich dir irgendwie helfen kann, Severus, dann frag ruhig. Ich kenne mich in der Tierwelt aus – in der magischen wie auch der nicht magischen.“
„Und offensichtlich in Astrologie.“
„Astrologie hat viel mit Mythologie zu tun und das ist ein Thema, das mich schon immer interessiert hat.“
„Warum?“, wollte Severus wissen. Aus einer Vermutung heraus fragte er: „Weil in der Mythologie auch Werwölfe ihren festen Platz haben?“
Remus nickte. „Ich glaube, jeder Werwolf beschäftigt sich irgendwann einmal damit, in der Hoffnung, die Ursache für diesen Fluch zu begreifen.“
„Die Ursache lässt sich bestimmt nicht in der Mythologie finden.“
„Warum denn aber nicht? In jeder Überlieferung steckt ein Körnchen Wahrheit. Ich habe mir oft überlegt, ob der Fluch nicht auch gebrochen werden könnte.“
„Wenn es sich um einen Fluch handeln sollte.“
„Laut Mythologie ist es einer. Zeus hat König Lykaon zur Strafe verwandelt, weil der ihm Menschenfleisch vorgesetzt hatte.“
Severus verzog angewiderte das Gesicht. „Eine gerechte Strafe, wie ich finde.“
Von dieser Bemerkung fühlte sich Remus persönlich angegriffen. „Du findest es eine gerechte Strafe, einen Mörder in eine Bestie zu verwandeln, die ebenfalls Menschen tötet? Das war für Lykaon genauso wenig eine Strafe wie für Greyback! Beide haben es doch genossen!“
„Sie müssen deswegen nicht laut werden, Lupin. Ich meinte damit keinesfalls, dass Sie es in irgendeiner Weise verdient hätten, an diesem Fluch zu leiden. Das würde ich nicht einmal meinem ärgsten Feind wünschen.“
„Oh“, machte Remus, der sich schnell wieder beruhig hatte, „da wird sich Sirius aber freuen.“
„Seine flohverseuchte Animagusgestalt reicht vollkommen aus, da muss er nicht noch zu einem Wolf werden.“ Severus blickte Remus direkt in die Augen, bevor er fragte: „Haben Sie eigentlich eine Animagusgestalt?“
„Nein, mir genügt meine monatliche Zwangsverwandlung. Warum fragst du?“
Mit seinen Blicken weichte Severus ihm aus und mit einem Male fügte sich das Puzzle für Remus zusammen. Er machte ganze große Augen, als ihm eine Idee kam. Könnte es sein, fragte sich Remus selbst, dass Severus ein Animagus war?
„Nein, ist das wahr? Du?“ Remus blickte nochmals auf das Bild mit dem Vogel und tippte aufgeregt auf den Sekretär. „Du?“
„Hören Sie schon auf damit!“ Severus entriss ihm das Buch und widmete sich dem Kapitel.
„Severus?“ Der Angesprochene blickte nicht auf. „Severus, du machst das doch nicht allein, oder?“
„Was meinen Sie?“
„Ich meine die Tatsache, dass jedes Buch dazu ermahnt, bei der Verwandlung in einen Animagus nicht allein zu sein. Ich weiß das von James. Er hat mir erklärt, warum sie immer zu dritt waren, als sie geübt haben.“
Endlich blickte Severus auf. „Ich habe mich jemandem anvertraut, falls Sie das beruhigt.“
Remus atmete erleichtert aus. „Ja, das beruhigt mich.“
Einen Moment lang beobachtete Remus sein Gegenüber, als der wieder zu lesen begann.
„Wer?“
Wieder blickte Severus auf. „Was?“
„Ich meine, wer hilft dir? Hermine bestimmt nicht, sie kennt sich damit auch nicht aus.“
Tief durchatmend sammelte Severus alle Ruhe, die nötig war, um Remus eine Antwort zu geben, die jedoch anders ausfiel, als der gehofft hatte. „Es wäre besser gewesen, Sie hätten sich doch an einen anderen Tisch gesetzt, Lupin.“
„Tut mir leid, ich werde nicht mehr stören.“ Einen Augenblick später fragte er: „Kann ich dir bei den Büchern irgendwie helfen?“
Severus hätte nie gedacht, dass Remus so hartnäckig sein könnte. Wütend sah er seinem Kollegen ins Gesicht und wurde von dessen weichen Zügen gleich wieder milde gestimmt.
„Sie schauen genauso treudoof drein wie mein Hund, wenn der irgendwas will“, zog Severus als Vergleich.
„Ich möchte nur helfen …“
„Mein Hund!“ Severus sprang besorgt vom Stuhl auf. „Wie spät ist es?“
„Wieso?“ Remus blickte auf seine Taschenuhr. „Es ist zwanzig vor drei. Was ist passiert?“
„Ich habe meinen Hund bei Hermine gelassen. Es ist wohl ein wenig spät, ihn jetzt zu holen.“
„Ach, das wird ihr schon nichts ausmachen“, beruhigte Remus ihn, so dass Severus wieder Platz nahm.
Es machte Hermine tatsächlich nichts aus. Auch sie schlief noch nicht, sondern hatte es sich am Tisch in der Küche gemütlich gemacht und sich erneut den Berechnungen mit den Hundehaaren gewidmet. Natürlich war es eine Berechnung, mit deren Ergebnis sie nichts anfangen können würde, doch sie sah es als eine Art Testlauf. Eine Übung für die Rechnung mit der Zutat, die sie hoffentlich demnächst von Severus erhalten würde.
Plötzlich hörte sie ein fiependes Geräusch neben sich. Der Hund hatte sich bemerkbar gemacht und blickte sie mit treuen Augen an.
„Er hat dich nicht vergessen“, sprach sie leise und mit warmer Stimme. „Er hat dich bei mir gelassen, damit er einen Grund hat, wieder herzukommen.“ Über ihre eigenen Worte musste sie grinsen. Harry winselte nochmals und ging daraufhin demonstrativ zu Fellinis Fressnapf hinüber. „Ich habe nur Katzenfutter im Haus“, entschuldigte sie sich bei dem hungrigen Vierbeiner.
Trotzdem stand sie auf, um in den Schränken nach etwas zu suchen, dass sie ihm geben könnte. In der gekühlten Vorratskammer stieß sie auf das bereits gebratene Hähnchen, das sie von ihrer Mutter bekommen hatte und sich morgen warmmachen wollte. Mit einem Seufzer verabschiedete sie sich von dem Gedanken, morgen nicht selbst kochen zu müssen. Das Fleisch war per Zauber im Nu von den Knochen getrennt und in ein Schälchen gefüllt, dass sie Harry vor die Nase stellte. Fellini, der die Geräusche aus der Küche gehört hatte, kam übermütig angepest und stahl sich einige Happen von dem Geflügel, die Harry abzugeben bereit war.
Mit zwei schmatzenden Tieren in der Küche widmete sich Hermine wieder ihren Berechnungen, die sie durchging, nur um festzustellen, dass sie fertig waren. Das Problem war nur, dass Sirius nicht das Gleiche fehlte wie Severus und der Rechenweg vermutlich wesentlich einfacher war, als er bei Severus werden würde. Trotzdem wusste sie zumindest, wie sie rechnen musste und was es für Möglichkeiten gab. Um später korrekt errechnen zu können, wie man Severus‘ Seele retten könnte, müsste sie erst noch den Wert für die Seele bestimmen. Eine Seele war in der Zaubererwelt natürlich nichts Unbekanntes, aber man war sich in Arithmantik-Kreisen uneinig, was der richtige Wert wäre. Da gab es einen Wert, den man auch mit Horkruxen in Verbindung brachte, dann einen für die fehlende Seele bei den Opfern von Dementoren und auch einen Zahlenwert für den Thymus. Hermine wollte sich später auf den letzteren Wert konzentrieren, denn sie war der Überzeugung, dass Harrys Magie auf diese hinter dem Brustbein sitzende Drüse eingewirkt haben musste und dass das genau die Stelle war, die Severus manchmal wehtat: Die Drüse, die laut antiker Überlieferungen als Sitz der Seele bezeichnet wurde. Die Berechnung mit Severus‘ Zutat würde ihr nicht so leicht von der Hand gehen. Sie müsste alle Fakten als Zahlen verarbeiten und die Ergebnisse den Zutaten zuordnen, die höchstwahrscheinlich für einen Heiltrank infrage kommen würden. Es war ähnlich wie Dreisatz, nur wesentlich komplizierter. Sie hätte Zahlen und müsste errechnen, was sie benötigen würde, um auf das vorbestimmte Ergebnis zu kommen und dieses vorbestimmte Ergebnis war das Wachstum seiner Seele. Sie fragte sich, ob sie ihn irgendwie auf nette Weise dazu überreden könnte, sich seinem Animagus zu widmen.
Gegen vier ging Hermine ins Bett, gefolgt von den Haustieren, die sich im Schlafzimmer auf den Boden legten. Sie hoffte, dass Severus spätestens zum Mittag kommen würde und schlief mit dem Gedanken an ein gemeinsames Essen ein.
Trotz des wenigen Schlafs war sie bereits um neun Uhr wieder hellwach. Voller Freude, mit Severus den Tag verbringen zu können, kleidete sie sich an. Sie musste sowieso zu Severus, denn auf einen Sonntag würde sie kein Hundefutter besorgen können. Fellini wollte sie mit nach Hogwarts nehmen, damit der ein wenig Abwechslung bekam. Von einer Reise durch den Kamin nahm sie Abstand. Hätte sie nur Fellini, könnte sie mit ihm auf dem Arm durchs Flohnetzwerk reisen, doch zusätzlich mit dem Hund war das ein schwieriges Unterfangen, weshalb sie sich dazu entschloss, vor die Tore Hogwarts‘ zu apparieren.
Der Druck, als würde sie durch einen Schlauch gepresst werden, machte den Tieren nichts aus, denn sobald sie wieder festen Boden unter den Füßen hatten, erkundeten sie neugierig die Landschaft. Hermine trat an das Tor heran, das ihr gleich darauf geöffnet wurde. Ob Albus die Kontrolle darüber hatte, wer hier ein- und ausgehen konnte oder ob das Schloss mit all seinen unergründlichen magischen Fähigkeiten dafür verantwortlich war, war ihr ein Rätsel.
Hund und Kater folgten ihr über die große Wiese, die zum Schloss führte. Fellini hüpfte einem zitronengelben Falter hinterher, während Harry sein Geschäft an einem Gebüsch verrichtete.
In den Kerkern traf Hermine den Gesuchten nicht an. Sie versorgte zunächst Harry mit etwas Futter und frischem Wasser, bevor sie beide Tiere zurückließ, um zur großen Halle zu gehen. Vielleicht war Severus schon dort. Auf ihrem Weg traf sie auf Harry und Ginny, die die gleiche Richtung eingeschlagen hatten.
„Hermine, schön dich zu sehen.“ Ginny umarmte ihre Freundin und auch Harry ließ es sich nicht nehmen, sie innig zu begrüßen.
„Ich suche Severus.“
„Wenn er nicht in seinen Räumen ist, ist er bestimmt schon beim Frühstück. Sonntags ist er immer sehr früh dort, damit er fertig ist, bevor die Schüler kommen“, erklärte Harry auf dem Weg in die Halle.
Weit und breit war Severus nicht zu sehen. Remus winkte Harry und Hermine zu sich heran, während Ginny bei ihren Mitschülern am Gryffindortisch Platz nahm. Remus sah müde aus, was Harry gleich ansprach.
„Schlecht geschlafen?“
„Nein, Harry. Ich habe gut geschlafen, nur zu wenig. Ich war bis spät in die Nacht mit Severus in der Bibliothek.“
„Mit Severus? Wo ist er jetzt?“, wollte Hermine wissen, die von Remus dazu aufgefordert wurde, den Stuhl zwischen ihren beiden Freunden einzunehmen.
„Ist er nicht in den Kerkern?“ Weil Hermine verneinte, vermutete Remus: „Dann könnte er bei Minerva sein.“
Harry setzte sich neben Hermine. „Wieso bei Minerva?“
„Vielleicht, weil sie …“ Gerade noch rechtzeitig biss er sich auf die Zunge. „Ich weiß es nicht.“
Zwar hatte Remus nicht versprochen, den Mund zu halten, aber er hielt es für selbstverständlich. Es sollte Severus überlassen sein, die anderen über seine Animagusform zu unterrichten. Er bemerkte jedoch, dass Hermine einen glücklichen Eindruck machte. Sie freute sich, denn sie schien zu ahnen, mit was sich Severus beschäftigte.
Severus hielt sich nicht, wie man vermutete, bei Minerva auf, sondern in der Bibliothek, um das zu tun, wovon ihn Remus gestern die meiste Zeit abgehalten hatte. Auf einen Sonntag betrat kaum ein Schüler freiwillig den Wirkungsbereich von Madam Pince. Wenn sich doch ein Streber hierher verirrte und seinen Lehrer für Zaubertränke bemerkte, setzte er sich entweder ganz weit weg oder verließ den Raum auf der Stelle. So kam es, dass Severus sich die Bibliothek nur mit Gordian Foster teilte, der an der entgegengesetzten Ecke des Raumes an einem Tisch saß und vorbildlich für die ZAGs lernte. Von ihm wurde am meisten verlangt. Er hatte immerhin zwei Klassen übersprungen und wäre der jüngste Schulabgänger Hogwarts, sollte er die Prüfungen bestehen.
Mit den Büchern vom Vortag hatte Severus sich wieder auf seine Recherche über den Sekretär eingelassen und was er las gefiel ihm. Die Eigenschaften des Vogels entsprachen seinen eigenen, was kein Wunder war, denn darauf baute das ganze Konzept des Animagus-Zaubers auf. Es war dennoch interessant zu erfahren, welchen Instinkten das Tier in ihm nachging.
Am liebsten fraßen diese Vögel Schlangen, wie Severus es bereits in seinem Geiste gesehen hatte. Wahrscheinlich hatte er als Kind im Fernsehen oder im Zoo gesehen, wie so ein Sekretär auf Schlangen losging, um sie erst mit flotten Zickzackbewegungen zu verwirren, bevor er sie mit kräftigen Tritten tötete. Sekretäre hielten sich überwiegend am Boden auf, weil sie dort jagten. Mit ihren langen Stelzbeinen waren sie flink und gewandt, konnte am Tag bis zu dreißig Kilometer zurücklegen. Diese Vögel steckten sich kein Territorium ab, sondern zogen von Ort zu Ort durch die Savannenlandschaft. Nur zur Brutzeit ließen sie sich nieder und verteidigten ihr Nest, das sie in dem Wipfel eines kleinen Baumes oder auf einem dornigen Busch erbaut hatten, gegen Konkurrenten und Feinde. Die Vögel waren mutig und brachten sich auch vor Flächenbränden nicht in Sicherheit, warteten stattdessen am Rande des Feuers auf die fliehenden Tiere, die sie verspeisen oder ihren Jungen bringen wollten. Nur in tatsächlichen Notsituationen erhoben sie sich mit ihren großen Flügeln in die Lüfte oder aber auch, um während der Brutzeit über dem eigenen Nest zu kreisen, um den Nachwuchs vor Angreifern zu schützen.
„Sir, darf ich Ihnen eine Frage stellen?“
Severus schreckte von seinem Text hoch und blickte Gordian durch zusammengekniffene Augen an. „An einem Sonntag?“
„Ich entschuldige mich dafür, Ihre Erholungsphase zu stören.“
„Machen Sie sich über mich lustig?“, giftete Severus zurück, obwohl er wusste, dass er wegen des Schlafmangels wie ein lebender Toter aussehen musste.
„Keinesfalls, Professor Snape. Jeder muss mal ausspannen.“ Bevor er es schlimmer machte, als es war, fragte der Schüler einfach drauf los: „Der Unterschied der Wirkung zwischen Salamanderblut und Greifenklauenpulver ist mir nicht ganz klar. Beides sind Substanzen mit vitalisierenden Eigenschaften. Warum werden nicht beide Zutaten in einem Trank benutzt? Das würde einen Stärkungstrank doch um einiges aufbessern oder nicht?“
„Würde es nicht, Mr. Foster. Das Pulver würde durch die ergogenen Stoffe des Salamanderblutes verklumpen. Beide Zutaten heben sich gegenseitig in ihrer Wirkung auf. Heraus käme ein ineffizientes Gebräu, das nur noch scheußlich schmeckt.“
„Aber …“ Gordian hielt inne, weil er ahnte, dass jetzt nicht der richtige Augenblick war, seinen Lehrer mit Fragen zu löchern. Sein Blick fiel auf die aufgeklappten Bücher und das Tier, das auf zwei der Seiten abgebildet war, was Severus nicht entging.
„Ich rate Ihnen“, zischte Severus, „halten Sie sich aus Dingen heraus, die Sie nichts angehen!“ Es fehlte noch, dass Gordian sich etwas Haarsträubendes zusammenreimen und herumerzählen würde.
„Verzeihen Sie, ich störe Sie nicht weiter, Sir.“
Um von dem Schüler nicht ein weiteres Mal behelligt zu werden, verließ Severus die Bibliothek, nachdem er die Bücher wieder weggestellt hatte. Er hatte genug gelesen.
Minerva war sein nächstes Ziel. Sie war gerade fertig mit dem Frühstück und erwartete ihn.
„Warum überrascht es mich nicht, dass du dich jetzt schon bei mir einfindest? Hast du genügend Informationen gesammelt?“
„Ich wäre sonst nicht hier.“
„Deine Stimmung steht wie üblich mal wieder im Gegensatz zum strahlenden Sonnenschein draußen. Ich hätte gut Lust, ein wenig spazieren zu gehen.“
Sie hielt ihm vor Augen, dass sie freiwillig ihre Zeit opferte, obwohl sie diese sehr gut anders verbringen könnte. Weil er nicht antwortete, zeigte sie auf den Boden und erwartete offenbar, dass er dort Platz nehmen sollte.
„Muss ich zur Strafe jetzt neben dem Stuhl sitzen?“
„Es ist sicherer. Du könntest nach einer erfolgreichen Verwandlung für einen Moment verwirrt sein und fallen. Das möchte ich nicht riskieren, also setz dich bitte auf den Boden.“ Minerva nahm ihm gegenüber auf dem Stuhl Platz, der ihm verwehrt blieb. „Da du das Tier nun kennst, wirst es in deinem klaren Bewusstsein finden, wahrscheinlich sogar gleich, nachdem du dein Innerstes betreten hast. Die Verwandlung findet auf geistiger Ebene statt, also drück das arme Tier nicht verzweifelt an dich.“ Den bösen Blick, den er ihr zuwarf, ignorierte sie. „Es ist anfangs leichter, wenn man den Animagus berührt, um dann die Verwandlung herbeizurufen. Später reicht der pure Gedanke an die tierische Gestalt, ohne sich vorher darauf konzentrieren zu müssen. Es ist ähnlich wie beim Apparieren: Ziel, Wille, Bedacht. Das Ziel ist klar, der Wille ist die Bereitschaft zur Verwandlung. Es bedarf allerdings nicht allzu viel Bedacht, um das bewerkstelligen zu können. Du wirst dich in Zukunft selbst in stressvollen Situationen mit Leichtigkeit verwandeln können, wenn du es erst einmal beherrschst.“
Sie hob einen Zeigefinger. Das war der Moment, in dem sich Severus tatsächlich wieder wie ein Erstklässler fühlte und er verabscheute es.
„Die Rückverwandlung! Das läuft genauso ab; mit dem Ziel, ein Mensch werden zu wollen und dem Willen, die Gestalt erneut zu wechseln. Es wird dir beim ersten Mal eventuell schwerfallen, weil so viele neue Empfindungen auf deine tierische Gestalt einwirken werden.“
„Aber ich werde doch meinen menschlichen Verstand behalten?“, fragte Severus ungewohnt befangen.
„Natürlich, aber es kommen die animalischen Instinkte hinzu, die du verarbeiten musst. Ein Hund ist beispielsweise vor seinem Jagdtrieb nicht sicher, weshalb viele Animagi gern noch das Stöckchen holen.“ Severus glaubte für einen Moment, sie würde ein Grinsen unterdrücken. „Du wirst durch andere Augen sehen, Severus, anders fühlen und die Umgebung vollkommen verändert wahrnehmen, was Gerüche oder Geräusche betrifft. Anfangs wirst du mit deinen Flügeln nichts anzufangen wissen. Sei darauf vorbereitet, dass dir selbst bekannte Orte fremd vorkommen werden.“
Mit einem Kopfnicken zeigte er seine Bereitschaft zur Verwandlung, bevor er die Augen schloss und sich konzentrierte. Diesmal baute er keine Mauer um seinen Geist herum auf, denn er musste später unbeschwert nach draußen gelangen. Es dauerte eine Viertelstunde, bis er endlich die Muße hatte, ungeschützt von seiner Umgebung loszulassen und sich in seinen Geist zu begeben. Er vertraute, dass Minerva ihn beschützen würde, sollte etwas Unvorhergesehenes geschehen.
Wie seine Kollegin es vorhergesagt hatte, musste er nicht lange suchen. Severus hatte nicht einmal eine der vielen Türen öffnen müssen, denn der Sekretär hielt sich in dem langen Korridor auf und schien auf etwas zu warten – oder sogar auf ihn. Als der Vogel ihn bemerkte, schnellte der Kopf hoch, der noch einige Male schräg gelegt wurde, als es den schwarz gekleideten Mann neugierig durch die rötlich umrandeten Augen betrachtete. Einen Moment später stakste es furchtlos auf ihn zu. Der Kopf wurde jedem Schritt nachgezogen, jedoch weniger ruckartig, wie man es von den meisten Vögeln kannte. Die Laufbewegung wirkte geradezu erhaben und edel. Als der Vogel vor ihm stand, ging Severus in die Knie.
„Schaffen wir es auch ohne Berührung?“, fragte Severus herausfordernd. Er wollte Minerva beweisen, dass er ein sehr gelehriger Schüler war. Ohne den Sekretär anzufassen, konzentrierte er sich auf die Verwandlung. Einige Versuche später war der Vogel plötzlich so dicht bei ihm, dass sich Severus eingeengt fühlte und zurückweichen wollte. Zu spät bemerkte er, dass die Animagusgestalt nicht einfach nur nahe bei ihm war, sondern in ihn übergegangen war. Mit nur einem Schritt hatte Severus seine Gedankenwelt verlassen – diesmal in tierischer Gestalt.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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Rest von Kapitel 194
Aufgescheucht schaute er sich um. Alles wirkte so groß, selbst die Sessel und – er schluckte – Minerva, die ihn aufmerksam beobachtete. Aus reinem Instinkt trat er zurück und stolperte über die eigenen langen Beine. Um das Gleichgewicht zu halten, streckte er die Arme aus, doch es waren keine Arme, sondern Flügel mit einer Spannweite von 2,20 Meter, die auch gleich den Tisch leerfegten. Von dem Geräusch des auf den Boden fallenden Teeservices erschrak er, so dass er einen Satz machte und dabei kräftig mit den Flügeln schlug, was wiederum den Quidditchpokal im Regal zum Wackeln brachte.
„Severus“, hörte er die vertraute Stimme seiner Kollegin, „bleib ruhig! Setz dich hin.“
Sein kleines Vogelherz schlug so schnell, dass ihm ganz schwindelig wurde. Es war nicht ihre Bitte, sondern sein Unwohlsein, das ihn in die Knie zwang. Sein nach unten gebogener Schnabel war leicht geöffnet, damit er genügend Luft bekommen würde. Der lange Hals schwang hin und her. Ihm wurde ganz schwummerig. Irgendwie hatte er es geschafft, sich auf den Allerwertesten zu setzen, der sich so exotisch anfühlte. Er wusste gar nicht, wohin mit seinen langen Beinen. Die Flügel hatte er weit ausgestreckt und sie fächerten sich über dem Boden auf, um wenigstens etwas Halt vorzugaukeln.
„Werd‘ mir bloß nicht ohnmächtig, hörst du?“ Er hatte gehört, aber er konnte natürlich nicht antworten, denn als er es versuchte, brachte er nur ein leises Krächzen hervor. Minerva war die Ruhe in Person. Gemächlich und ohne plötzliche Bewegungen stand sie auf und zog ihren Stab, den sie nicht, wie er befürchtete, auf ihn richtete, sondern auf das Teeservice am Boden. Aus der silbernen Kanne zauberte sie eine große Schale, die sie mit Hilfe eines Aguamenti mit Wasser füllte. Diese Schale brachte sie zu dem Vogel hinüber, der noch immer so am Boden saß wie eine in sich zusammengesackte Marionette, deren Fäden man gekappt hatte. Das Wasser sah für ihn verführerisch aus, doch aus der jetzigen Position heraus konnte er nichts trinken, weswegen er langsam und vorsichtig versuchte, seine Beine und Flügel zu ordnen, um aufstehen zu können.
Leicht taumelnd stand er auf seinen Beinen und betrachtete mit gesenktem Haupt die kräftigen Füße, die durch Hornplättchen vor Schlangenbissen schützen konnten. Vor ihm stand die Schale mit Wasser. Es war wegen der langen Beine ein schier unmögliches Unterfangen, den Kopf zu senken, um seinen Durst zu stillen. Kaum hatte er sich gebeugt, drohte er wegen der ungewohnten Gewichtsverlagerung vornüber zu kippen, und damit er nicht fallen würde, spreizte er abermals seine Flügel. Unkoordiniert trat er kräftig in die Wasserschale, die laut scheppernd gegen eines der Tischbeine stieß. Severus war von oben bis unten durchnässt, fühlte aber sogleich einen angenehmen Trocknungszauber, den Minerva aus Mitleid in seine Richtung abgegeben hatte.
Severus verbrachte unter Minervas wachen Augen ein wenig Zeit damit, ihre Räume zu erkunden. Mit dem Schnabel versuchte er, nach einem Teelöffel zu greifen, der jedoch zu schwer war. Als ihm kein Sinn einfallen wollte, was er als Vogel mit einem Teelöffel anstellen könnte, ließ er von seinem Vorhaben ab und widmete sich den Fransen an einem der Couchkissen, an denen er ausgelassen zupfte und zerrte. Nachdem er sich genügend mit seinem Schnabel vertraut gemacht hatte, wurde ihm auch diese Beschäftigung zu langweilig und er suchte nach etwas Neuem. Er wollte unbedingt die Kraft seiner Beine austesten, doch er war froh, mittlerweile erst einmal laufen zu können, ohne ungelenk hin und her zu schlenkern. Jetzt schon im Zickzack zu rennen oder gar auf einen Feind einzutreten traute er sich noch nicht zu.
Seltsame Gerüche lagen in der Luft, deren Ursache er nach und nach ausfindig machte. Da war zum einen der Kamin, dessen verbrannte Wände nach Ruß stanken. Auf dem Tisch in einer Büchse konnte er Ingwer wahrnehmen. Neben all diesen Gerüchen war einer am stärksten und der zog ihn direkt zum Fenster. Die weißen Wolken, die langsam vom Wind getrieben wurden, weckten die Lust nach Freiheit. Minervas Büro war kaum ein geeigneter Ort für einen Vogel. Vorsichtig stieß er mit seinem Schnabel gegen die Scheibe.
„Nein, Severus. Dazu ist es noch zu früh. Geh die Sache langsam an. Gewöhn dich erst an deine Gestalt.“
Ihre Worte wehten wie ein sanftes Lüftchen durch sein Gehör, so dass er sie nicht einmal wahrnehmen konnte. Zu groß war die Sehnsucht, die Luft da draußen zu atmen, das Rascheln der Nager im Gras zu vernehmen und am Himmel seine Runden zu drehen. Als er all diese Eindrücke auf sich wirken ließ, wurde er sich über eine Sache bewusst. All die Liebe zu den natürlichen Dingen war für ihn der Beweis, dass sein Animagus über eine Seele verfügte. Severus empfand Freude und Aufregung. Unruhe machte sich in ihm breit, als er begriff, dass Minerva ihm seinen Wunsch nicht gestatten wollte. Flehend blickte er zu ihr hinüber, damit sie das Fenster öffnen würde. Nicht einmal im Traum fiel ihm ein, sich selbst zurückzuverwandeln und die Balkontür zu öffnen. Der Drang, wie die Wolken am Himmel zu schweben, war momentan stärker als sein klarer Verstand, denn Freiheit, das spürte er am eigenen Leib, zählte zu den erhabensten aller Gefühle. Er wollte nach draußen. Er wollte noch mehr fühlen.
Es klopfte. Erschrocken machte er einen Satz zur Seite, stieß dabei mit seinem Körper einen Beistelltisch um. Minerva war derweil zur Tür gegangen. Die Tür, registrierte Severus‘ berauschter Geist, führte ebenfalls nach draußen.
„Grüß dich, meine Liebe“, hörte man Albus‘ Stimme durch den Spalt sagen. Minerva öffnete die Tür nicht weiter.
„Albus, du kommst in einem wahrlich ungelegenen Moment.“
„Hast du Besuch? Ist Severus bei dir?“ Minerva kämpfte um eine Antwort, denn sie wollte ihren Gatten weder schroff abwimmeln noch anlügen. „Ich frage nur“, fuhr Albus fort, „weil er gesucht wird.“
Immer näher stakste Severus an den Türspalt heran, der ihm die Freiheit versprach. Es war, als würden die Bande der Natur ihn umschlingen und nach draußen zerren.
„Albus, ich bitte dich, komm später wieder. Ein, ähm, Schüler ist bei mir.“
„Ah, ich verstehe. Dann werde ich nicht länger …“
Albus verstummte, als sich in Windeseile ein großes gefiedertes Tier durch den Türspalt an ihm vorbei in den Flur drängte. Aufgescheucht riss Minerva die Tür auf und eilte dem Vogel hinterher, rief dabei, er solle stehenbleiben. Severus war zu schnell für sie. Endlich war er nicht mehr auf engem Raum eingesperrt und konnte eine Kostprobe seiner Schnelligkeit nehmen. Er begann, den Flur im ersten Stock entlangzurennen. Sein Körper war leicht, brachte gerade mal drei Kilo auf die Waage. Es gab Katzen, die mehr wogen als er, doch er war weitaus größer und vor allem schneller. Temporeich passierte er das Klassenzimmer für Geschichte der Zauberei, später die Toilettenräume der Maulenden Myrte, bis er zur Treppe kam, die ins Erdgeschoss führte.
Im Erdgeschoss stürmte er an dem Büro von Filch und dessen Haustier Mrs. Norris vorbei, die vor verschlossener Tür saß. Die Katze des Hausmeisters versuchte, dem riesigen Vogel zu folgen, aber er ließ sie schnell hinter sich, wie auch das Lehrerbüro, aus dem gerade Filius heraustrat und den er beinahe umgerannt hätte.
Severus bog erneut in einen Gang ein, der zur Eingangshalle führte. Der Weg nach draußen war nicht mehr fern; er konnte es riechen. Die Blumen, die Erde, die Tiere. Schüler tauchten im nächsten Gang vor ihm auf und für nur einen kurzen Moment überlegte er, kehrt zu machen und zu Minerva zurückzugehen. Der Gedanke schien jedoch von dem schnell durch seinen Körper gepumpten Blut augenblicklich fortgewischt. Er steuerte weiterhin auf die Gruppe von Schülern zu, die an einem Sonntag erst spät ihr Frühstück einnehmen wollten. Es waren eine Menge Schüler. Er durfte nicht riskieren, von ihnen getreten oder gefangen zu werden, doch es gab einen anderen Weg, dieses Hindernis zu nehmen; einen viel besseren.
In dem Moment, als eine der Schülerin auf den sich schnell der Gruppe nähernden Vogel zeigte und mit ihren Worten die anderen auf ihn aufmerksam machte, spreizte er auch schon die Flügel und stieß sich kräftig vom Boden ab. Über die Köpfe der erschrockenen Schüler hinweg, die sich vorsichtshalber duckten und ihr Haupt mit den Armen schützten, flog der große Vogel in die Eingangshalle und weiter in Richtung Freiheit. Er konnte von Glück sagen, dass der Ausgang zum Pausenhof gerade offen stand.
„Harry“, Ginny zerrte wie ein aufgeregtes Kind an seinem Umhang. „Harry, sieht doch mal!“
Harry und Remus, die gerade ihr Frühstück beendet hatten, folgten Ginnys Zeigefinger, sahen aber gerade noch für vielleicht zwei Sekunden, wie etwas Großes durch die Tür auf den Pausenhof geflogen war.
Severus hatte es geschafft. Der Wind sammelte sich unter seinen Schwingen und trug ihn hinauf, höher und höher. Behutsam legte die Sonne ihre Arme um ihn und wärmte sein Gefieder. Der Duft der feuchten Erde berauschte ihn mehr als das Morphium der Träume. Übermächtig war das Gefühl, so nahe an der Grenze zur himmlischen Seligkeit zu schweben. Bald musste er nicht einmal mehr mit den Flügeln schlagen, sondern durfte sich von den Brisen treiben lassen.
Allmählich gewann Severus‘ menschlicher Verstand wieder die Oberhand. Während er sich das Schloss und die dazugehörigen Ländereien aus der Vogelperspektive betrachtete, resümierte er, wie es dazu gekommen war, dass er sich überhaupt hier oben befand. Da waren Schüler gewesen, erinnerte er sich dunkel. Menschen, die den Vogel gesehen hatten. Albus.
Wenn Vögel stöhnen könnten, würde der Sekretär es jetzt tun. Hätte er geahnt, wie enthemmend sich eine Animagusgestalt auf die immer so gut bewahrte Disziplin auswirken könnte, hätte er Minerva das Versprechen abgerungen, ihn um nichts in der Welt frei herumlaufen zu lassen.
Die Sorge um die möglichen Konsequenzen für sein Handeln war augenblicklich wieder verflogen, als er ein paar verliebte Eulen bemerkte, die am Himmel ihre eigene Freiheit genossen.
Über dem Verbotenen Wald zog er ein paar Kreise, bevor er davon überzeugt war, das Fliegen mit all den Tücken, die aus heftigen Windstößen und unsichtbaren Strudeln bestanden, zu beherrschen. Severus setzte in der Nähe des Waldes zur Landung an, die ihm sogar einigermaßen graziös gelang. Zumindest war die Landung anmutiger anzusehen als Harrys Ausstieg aus einem Kamin, was dem Retter der Welt noch heute holprige Schwierigkeiten bereitete.
Schon dieses kleine Stückchen Natur um Severus herum war das reinste Paradies. Zwischen den langen Gräsern hörte er Frösche leise quaken und das fröhliche Gezwitscher der Vögel hoch oben in den Bäumen drang an seine Ohren. Beides zusammen mit dem leisen Summen und Zirpen verschiedener Insekten glich einem festlichen Begrüßungschor, mit dem man ihn in der Ordnung der Natur willkommen heißen wollte. Severus fühlte sich wohl.
„Nein, was bist du denn für ein Hübscher?“, sprach eine tiefe Stimme mit hörbarer Bewunderung.
‘Hagrid!‘ Severus war der Panik nahe, als er den tierlieben Halbriesen nur wenige Meter von sich entfernt bemerkte. Wie hatte er ihn bei der Körpergröße übersehen können? Er hoffte nicht, dass Hagrid mit dem Gedanken spielte, sich seiner annehmen zu wollen, um ihn totzupflegen, obwohl ihm gar nichts fehlte. Offenbar schätze er Hagrid jedoch falsch ein. Der Wildhüter näherte sich ihm nicht einmal, betrachtete ihn aber von oben bis unten.
„Du bist nich‘ von hier“, stellte Hagrid ganz richtig fest, wenn er damit nur die Animagusform meinte. „Bist wohl aus ‘nem Zoo ausgebüxt.“
Von all den beeindruckenden Gerüchen und Geräuschen des Waldes ganz benebelt hätte Severus beinahe wieder seinen klaren Verstand eingebüßt, doch das Knacken von Ästen hinter ihm ließ ihn herumfahren. Thestrale! Der Instinkt zur Flucht war groß, aber in der Luft hätten die geflügelten pferdeähnlichen Kreaturen leichtes Spiel mit ihm, weshalb er sich lieber für den Schutz durch den Wildhüter entschied. Severus wusste, dass Hagrid die Herde so dressiert hatte, dass die Vierbeiner nicht einmal Posteulen angreifen würden, aber er war keine Eule. Er war für die schwarzen dürren Tiere, die ihn durch geisterhaft weiße Augen anstarrten, nur ein Vogel, den sie nie zuvor gesehen hatten. Severus prägte sich den Geruch der Tiere ein, damit er ihnen in Zukunft aus dem Weg gehen könnte, als plötzlich ein ganz anderer Duft präsent war. Er war intensiv und hing so schwer in der Luft wie der Duft von Zuckerwatte auf einem Rummel. Der Geruch weckte einen der Urinstinkte. Es war Blut.
Severus rügte sich dafür, nicht gefrühstückt zu haben, denn jetzt bekam er Hunger. Wie spät war es überhaupt? Die Sonne stand noch hoch am Himmel, aber sein Zeitgefühl war ihm vollkommen abhanden gekommen. Er wollte zurück zum Schloss gehen, doch vor den Thestralen und ihren spitzen Zähne hatte er Respekt. Es kam auch nicht in Frage, sich hier und jetzt vor Hagrid zurückzuverwandeln. Der Wildhüter war ein Quasselkopf. Innerhalb weniger Stunden würde ganz Hogwarts wissen, dass sich hinter dem fremden Vogel der Zaubertränkelehrer verbarg. Damit würde er wahrscheinlich vor der ganzen Schule sein Gesicht verlieren. Hätte er sich nur nicht von der Sehnsucht nach Freiheit übermannen lassen, mit der ihn seine Animagusform am Ende bezwungen hatte. Andererseits war er froh gewesen, loslassen zu können; all die Pflichten hinter sich zu lassen und sich den niederen Trieben zu ergeben.
Ein Stückchen Fleisch kullerte unverhofft an ihn heran. Irritiert blickte Severus auf. Hagrid fütterte die Thestrale und hatte ihm, dem unbekannten Vogel, uneigennützig etwas abgegeben. Neugierig roch er an dem Stück. Es war frisch. Severus wusste intuitiv, dass er es auch noch fressen würde, selbst wenn es schon einen Tag hier liegen würde. Offenbar machte ein Sekretär auch vor Aas nicht Halt. Mit einem seiner kräftigen Füße fixierte er das Fleisch am Boden, beugte sich hinunter und riss mit seinem Schnabel ein faseriges Stück heraus, das er gierig hinunterschlang. Sein Hunger war mit einigen Happen schnell gestillt.
Die Thestrale waren noch mit der eigenen Fütterung beschäftigt. Severus nutzte die Gelegenheit, um sich ungesehen aus dem Staub zu machen.
Zu Fuß erkundete er das Ufer des Sees und genoss es, mit den Füßen im Wasser zu waten. Auch wenn Sekretäre in der Regel selten flogen, war das die Beschäftigung, die ihm bisher am meisten Freude bereitet hatte. Mit etwas Anlauf erhob er sich ein zweites Mal in die Lüfte und zog seine Kreise.
Er machte einen Abstecher zur Eulerei, wurde aber von einigen mutigen Posteulen dazu genötigt, den Kurs wieder zu ändern. Nur vage erinnerte er sich, dass Eulen ab März bereits brüteten; Waldkäuze sogar schon ab Februar. Als Greifvogel war er eine Gefahr für die Jungtiere. Mit seinem großen Körper würde er sowieso nicht durch die Öffnungen des Turms passen, durch die die Vögel in die Eulerei gelangen konnten, also ignorierte er die aufgeregten Schuhu-Laute der gefiederten Freunde und flog zurück in die Nähe des Schlosses.
Ein paar Flügelschläge später sah er plötzlich etwas auf sich zukommen. Im ersten Moment glaubte Severus, sich einem anderen Greifvogel zu nähern, bis sich das Objekt langsam schärfer zeichnete. Es war jemand auf einem Besen.
Sofort flog Severus ein Ausweichmanöver, machte dabei eine Drehung um neunzig Grad und steuerte auf den Wald zu, doch die Person auf dem Besen war schneller als er. So schnell er konnte schlug Severus mit den großen Flügeln, was mit der Zeit sehr anstrengend für ihn wurde. Gegen den Verfolger hatte er keine Chance.
„Halt!“, rief die Person auf dem Besen, doch die Stimme konnte er bei dem Rauschen des Windes nicht erkennen. Als der Besenflieger sich um wenige Meter genähert hatte, hörte er nochmals die Aufforderung, langsamer zu fliegen. Das Herz rutschte ihm in die außergewöhnlich langen Schwanzfedern, als er neben sich Harry bemerkte, der sich Mühe gab, mit ihm auf gleicher Höhe zu fliegen, aber dabei so viel Abstand hielt, dass die Flügelschläge nicht beeinträchtigt werden würden.
„Professor McGonagall lässt ausrichten, dass Sie zurück ‘zum Stützpunkt‘ kommen sollen, wo auch immer das sein soll!“, rief Harry laut, damit seine Stimme nicht einfach ungehört vom Wind weggetragen werden würde.
Mit einer Bitte in Befehlston hatte Minerva ihn auf den Besen gescheucht und hinterhergeschickt, um dem durchgebrannten Tier ihre Nachricht zu übermitteln. Es war für Harry eine seltsame Situation, einem Vogel zu folgen und mit ihm zu sprechen. Natürlich ahnte er, dass es sich um einen Animagus handeln könnte, aber er wusste nicht, wer es sein könnte.
„Sie schien sehr besorgt“, fügte Harry hinzu, der sich zu fragen schien, was er tun könnte, um den Vogel zum Rückflug zu bewegen.
Es war Severus nicht entgangen, dass Harry ihn siezte und auch nicht mit Vornamen ansprach. Minerva hatte offenbar ihr Versprechen gehalten und niemandem die Identität des Sekretärs preisgegeben. Severus gab auf und steuerte die Brücke an, über die man zum Schloss zur Hütte des Wildhüters gelangte. Harry folgte ihm.
Unter einer der hölzernen Streben flog Severus mit Leichtigkeit hindurch, bevor er sicher auf der Brücke landete. Harry hingegen hatte arge Schwierigkeiten, denn er passte mit dem Besen nicht durch die schrägen Balken. Er musste, während er schwebte, erst vorsichtig vom Besen auf das Geländer der Brücke klettern. Er war etwas außer Atem, als er endlich festen Boden unter den Füßen hatte. Seinen Besen zog er noch durch die Pfeiler, bevor er seine ganze Aufmerksamkeit dem Tier widmen konnte, dem er gefolgt war. Harry musterte den Vogel skeptisch, der ruhig vor ihm stand und auf etwas zu warten schien.
„Soll ich gehen?“, fragte Harry unsicher, weil er nicht wusste, ob die Person – wenn es tatsächlich ein Animagus sein sollte, denn Minerva hatte keinerlei Informationen gegeben – bei der Rückverwandlung lieber allein sein wollte. „Ich gehe besser.“
Harry blieb höflich und wandte sich um, damit er den Rückweg über die Brücke ansteuern konnte. Mit einem Male hörte er es hinter sich rascheln. Ganz automatisch blickte er wegen des seltsamen Geräuschs über seine Schulter und kam ins Wanken, als er Severus genau dort stehen sah, wo eben noch der prächtige Vogel gewesen war.
„Ich glaub’s ja nicht!“ Mit diesen Worten zeugte ein breit grinsender Harry all seinen Respekt. Severus‘ Herz, auch wenn es nicht mehr so klein war, schlug trotzdem noch sehr schnell. „Wie war’s?“, hauchte Harry ehrfürchtig und mit glänzenden Augen.
„Es war …“
Die zauberhaften Lehren seiner Animagusgestalt waren für Severus nicht in irdische Worte zu fassen. Der Vogel hatte den kleinen Teil seiner Seele berührt und ein Wunder verrichtet, indem er ihn für ein paar Stunden in so unschuldiger Art und Weise an den kleinen Freuden teilhaben ließ. Das Erlebnis hatte Severus die Sprache verschlagen. Eines wusste er mit Sicherheit, denn wenn er sich in Zukunft seinem Innersten zukehren sollte, würde er keine trostlose Stille mehr vorfinden, sondern feurige Lebendigkeit. Severus wollte, aber er konnte nicht antworten, was er mit einer hilflosen Geste seiner Hände und einem entschuldigendem Blick untermalte, der einen Augenblick später sehnsüchtig gen Himmel wanderte, als sich dort ein Schwarm Vögel formatierte.
„Ja …“, stimmte Harry dem Gefühl langsam nickend zu, denn er schien zu verstehen und Severus glaubte ihm das sogar. Auch Harry liebte das Fliegen.
Auf dem hölzernen Boden, halb unter seinem Umhang, lag eine schwarze lange Feder, nach der sich Severus bückte. Ein Überbleibsel seines eindrucksvollen Ausflugs in die Natur, die er nun nicht mehr als selbstverständlich hinnehmen konnte. Harry sah dabei zu, wie Severus die Feder behutsam in die Innentasche seines Umhangs steckte; genau dorthin, wo er auch seinen Zauberstab aufbewahrte.
„Lass uns zurück zum Schloss gehen“, schlug Severus mit verklärtem Blick vor, als er sich bereits in Bewegung setzte. Harry ging gleich neben ihm, in einer Hand den Besen haltend.
„Was sagen wir?“
„Wie bitte?“
Harry zuckte mit den Schultern. „Wir sollten die gleiche Geschichte erzählen. Einige Schüler haben den Vogel gesehen. Ein paar haben geglaubt, das wäre ein Angriff gewesen.“ Weil Severus ihm einen ungläubigen Blick schenkte, nickte Harry bestätigend. „Wirklich! Sie dachten, das wäre vielleicht ein Todesser.“
„Damit hätten sie ja nicht ganz Unrecht“, scherzte Severus.
„Wir sagen einfach, der Vogel wäre uns entwischt.“
„Weiß denn niemand …?“
Harry unterbrach. „Nein, nicht einmal ich wusste es. Minerva hat einfach meinen Twister herbeigerufen und mich nach draußen gedrängt. Sie kann übrigens ganz schön kräftig schubsen. Aber wem ich folgen soll, hat sie nicht gesagt, nur dass es ein großer grauschwarzer Vogel mit roten Augen wäre.“
„Es wäre nett, wenn es niemand erfahren würde, solange ich noch hier beschäftigt bin“, verlangte Severus gelassen. „Danach ist es mir gleich.“
„Darf ich fragen, warum? Ich meine, warum eine Animagusform und warum jetzt?“
„Warum jetzt?“, wiederholte Severus murmelnd. „Die Form wäre mir bei meiner damaligen Lebensaufgabe nicht von Nutzen gewesen.“
„Und warum jetzt?“
„Hermine wollte. Wäre es nach mir gegangen, hätte ich keinen Gedanken daran verschwendet.“
Harry runzelte die Stirn. „Und warum wollte Hermine …?“ Er stoppte sich selbst. „Ach, schon gut. Ich bin sicher, es hat einen Sinn.“
Beide näherten sich dem Schulhof, über den sie ins Schloss gelangten. In der Halle warteten schon einige, unter anderem auch Minerva, deren bierernste Miene nur ein kleines bisschen weicher wurde, als sie Severus unbeschadet sah. Nicht gerade wenige Schüler hielten sich hier auf und wollten von Professor Potter wissen, ob er den Vogel fangen konnte.
„Er muss entwischt sein“, gab Harry genauso wieder, wie er es vorhin geplant hatte.
Etliche Augenpaare ruhten auf Severus. Die nicht ausgesprochene Vermutung, er könnte etwas mit dem Tier zu tun haben, war sehr präsent. Minerva näherte sich den beiden und blickte Severus streng an, doch bevor sie etwas sagen konnte, kam Hagrid durch die Tür.
„Ihr glaubt nich‘, was ich eben gesehen habe!“, sagte der Riese mit kindlichem Staunen.
„Was denn, Hagrid?“, fragte Albus mit ruhiger Stimme.
„‘n riesiger Vogel war eben bei mir! Ich hab ihn sogar gefüttert.“
Ein Raunen ging durch die Menge. Die Schüler schienen sich zu überlegen, ob sie draußen nach dem Tier suchen sollten. Severus sollte das Recht sein, solange er nur nicht mehr verdächtigt wurde. Die Schar löste sich auf. Ein paar Kinder gingen tatsächlich nach draußen, einige aber zurück in ihre Gemeinschaftsräume oder dorthin, wo sie ihre Freizeit verbringen wollten. Auch Severus wollte sich auf den Weg machen. Er hatte ein Geschenk für Hermine.
„Severus!“ Minervas Stimme hielt ihn auf. Schnellen Schrittes kam sie auf ihn zu. „Severus“, fauchte sie ganz in Manier ihrer eigenen Animagusform, „was hast du dir dabei gedacht? Es hätte sonst etwas passieren können!“
„Wie du siehst, ist nichts passiert.“
„Aber es hätte!“ Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen. „Und ich wäre zur Verantwortung gezogen worden!“
Auf ihre Sorge ging er nicht ein. „Ich danke dir für die Unterweisung, Minerva.“
Mit einem Male war sie milde gestimmt, denn ein Dankeschön von Severus war selten. „Ich … Gern geschehen. Ich werde dir demnächst das Formular für die Anmeldung beim Ministerium zukommen lassen. Du solltest das nicht aufschieben, sonst könnte man dir noch eine Strafe aufbrummen.“
„Das wäre sehr freundlich.“
Irritiert durch seine netten Worte blickte sie ihn mit hochgezogenen Augenbrauen, bevor sie einmal nickte und sich verabschiedete. Von seiner anderen Seite näherte sich Harry.
„Hermine war übrigens vorhin hier und hat dich gesucht. Hast deinen Hund wohl bei ihr vergessen. Sie ist aber schon gegangen und hat Harry wieder mitgenommen.“
„Danke für die Information. Ich werde mich bei ihr melden.“
In seinen Kerkern angekommen meldete er sich nicht bei ihr, sondern besuchte sie unangekündigt. Er fand Hermine sofort im Wohnzimmer vor. Hund und Kater hatten sie von der Couch vertrieben, denn die beiden lagen dort und dösten, während Hermine auf einem Kissen am Boden saß, um am nicht sehr hohen Couchtisch schreiben zu können. Dort war sie über ihrer Arbeit eingeschlafen – die Schreibfeder lag noch locker zwischen den mit Tinte verschmierten Fingern. Vorsichtig näherte er sich ihr und betrachtete die Pergamente. Severus war ein wenig verstimmt, dass Hermine wiederholt mit den Hundehaaren gerechnet hatte, was sie ganz offensichtlich viel Kraft kostete. Abermals fiel sein Blick auf ihre mit Tinte benetzten Finger und eine kleine Neckerei ging ihm durch den Kopf.
Behutsam entnahm er seiner Innentasche die Feder, die er sich kurz vor der Rückverwandlung in einen Menschen ausgerupft hatte. Die lange schwarze Feder betrachtete er einen Moment, bevor sein teuflischer Plan Gestalt annahm. Er kniete sich neben sie und brachte die Feder an ihre Nase, die sich daraufhin wie die eines der Kaninchen, die sie gestern gehalten hatte, rümpfte. Ein zweites Mal streichelte er mit der Feder über ihre Nase, aber erst beim dritten Mal gelang sein Vorhaben, denn sie ließ die eigene Feder fallen und rieb sich mit den tintenverschmierten Fingern die Nase, so dass sie ganz schwarz wurde. Endlich öffnete Hermine die Augen und blinzelte ein paar Male.
„Severus?“
„In voller Lebensgröße!“
Sie freute sich über ihn und am meisten begrüßte er, dass er das sehen konnte. Lustig anzusehen war der schwarze Fleck an ihrer Nase.
„Ich habe schon befürchtet“, langsam hob sie ihren Kopf, „dass der Besuch bei meinen Eltern dich vergrault haben könnte.“
„Weshalb denn das? Es war doch ein interessantes Zusammentreffen, begleitet von einem aufschlussreichen Gespräch mit deinem Herrn Vater“, wiegelte er ab. „Er hat einen sehr ausgeprägten Beschützerinstinkt, wie ich finde.“
„Hat den nicht jeder Vater?“
Eigentlich wollte Severus verneinen, aber die Erinnerung daran, wie sein Vater ihm nach der Beerdigung seiner Mutter Beistand leisten wollte, ließ jedes Wiederwort irgendwo zwischen Adamsapfel und Zungenbein ersterben. Hermine erwartete jedoch gar keine Antwort, denn die stand für sie längst fest. Ihr Blick fiel auf die Feder in seiner Hand.
„Eine neue Schreibfeder?“ Ohne Kommentar überreichte er ihr die Feder, die sie gleich begutachtete. „Die ist gar nicht bearbeitet. Das Mark ist noch enthalten.“
„Das mag daran liegen, dass sie nicht zum Schreiben gedacht ist.“
„Aber wozu dann?“
Severus legte den Kopf schräg. „Um mit spitzer Feder zu rechnen?“
‘Mit spitzer Feder rechnen‘, wiederholte Hermine in Gedanken. Diese Redewendung hatte Professor Vektor gern benutzt, um den Schülern einzubläuen, dass man viel Wert auf genaues Rechnen legen sollte, auch wenn man bei der Arithmantik die Wahrsagekunst einbezog. Hermines Stirn schlug Falten und sie fragte sich, ob Severus ihr diese schwarze Feder nur symbolisch überreicht hatte, so wie sie ihm damals zum Geburtstag den Schokofrosch und das Hühnerei geschenkt hatte. Plötzlich deutete Severus auf die Pergamente.
„Warum hast du wieder mit den Hundehaaren gerechnet?“
„Ich habe geübt!“, verkündete sie stolz. „Damit ich sicherer bin, wenn ich etwas von deiner Animagusform …“
Ihre Gedanken rotierten plötzlich so schnell wie ein kosmischer Pulsar, was kurzeitig ihr Sprachzentrum lähmte. Erneut blickte sie die Feder an. Konnte es sein?
„Was für eine Feder ist das?“
„Ich würde meinen, es handelt sich um eine Schwungfeder.“ Er musste grinsen, weil sie sich des Tintenflecks an ihrer Nase noch immer nicht bewusst war.
„Ist das …?“ Vor lauter Aufregung verhaspelte sie sich. „Severus, ist die von dir?“
„Mit den Hundehaaren hast du lange genug deine Zeit vergeudet. Wenden wir uns lieber den wichtigen Dingen zu.“
Am Ende zitterte seine Stimme ebenso wie ihre Lippen. Hermine hielt das in der Hand, wovon sie sich eine Heilung für Severus versprach und auch er war sich dessen bewusst. So viel Hoffnung steckte in dieser einen Feder. Hermine rang sich ein Lächeln ab, denn es war nicht auszuschließen, dass ihr Versuch trotz all der Mühe fehlschlagen könnte. Mit bebender Stimme richtete sie das Wort an ihn.
„Darf ich es sehen?“
„Was?“ Der Fleck an ihrer Nase, so drollig er ihn anfangs auch fand, störte im Moment und er griff nach einem Taschentuch, das auf dem Tisch lag.
„Dein Tier, deine Animagusgestalt.“
Mit seinem Zauberstab hatte er das Tuch mit einer magischen Tinktur befeuchtet, die jeden Schmutz beseitigen konnte, egal wie tief der in die Haut gedrungen war. „Warum?“ Seine andere Hand führte er an ihr Kinn, damit sie ihren Kopf ein wenig hob. Sie ließ ihn gewähren, auch wenn sie nicht wusste, was er vorhatte.
„Ich möchte …“ Sie stoppte sich selbst, als er mit Daumen und Zeigefinger an ihrem Kinn die Position ihres Kopfes ein wenig änderte und mit dem Tuch vorsichtig an der Seite ihrer Nase entlangtupfte. Das Ergebnis zeigte er ihr in Form eines dunklen Flecks auf dem weißen Tuch.
„Tinte“, hauchte er. Nachdem er von ihr abgelassen hatte, blickte Hermine automatisch auf ihre rechte Hand und die schwarzen Stellen. Ihr Herz schlug schneller, als er ihre Hand behutsam in seine nahm und mit dem Tuch über die Finger strich, um auch dort den Schmutz zu entfernen.
„Danke.“
Von dem großen Schritt in Richtung Heilung oder aber auch wegen seiner sanften Art ganz ergriffen forderte ihr Körper einen unkontrollierten Atemzug, der sich als Schluchzer entpuppte. Was das Wort Hoffnung bedeutete, wusste sie aus Zeiten des Krieges nur zu gut. Das Schlimmste war immer die begleitende Angst, dass der eine Lichtblick, an den man sich in einer sonst ausweglosen Situation klammerte, sich in Nichts auflösen würde.
„Hermine?“, hörte sie seine besorgte Stimme, so dass sie aufblickte. Ihre Augen erinnerten an die eines erschrockenen Rehs, das von einem immer größer werdenden Lichtkegel paralysiert war.
„Ich hab Angst“, brachte sie flüsternd heraus. Wieder zitterten ihre Lippen, und um ihre Schwäche zu verbergen, presse sie sie fest zusammen. Ihre Furcht, mit dieser Lösung zu versagen, konnte er nachvollziehen, auch wenn es ihn weniger berührte als sie.
„Wir versuche es einfach und wenn es nicht funktioniert …“
„Nein“, unterbrach sie trotzig. „Es muss funktionieren! Es muss …“
„Es bleibt eine Wahrscheinlichkeit, die uns nicht gefallen könnte, aber sie ist da.“
„Nein, du verstehst nicht.“ Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern. Betreten schaute sie zu Boden. Sie war so angespannt, dass ihr ganzer Körper zitterte. „Es bedeutet mir so viel.“ Als sie ihn anblickte, offenbarte allein ihre Mimik all die Hoffnung, die sie auf die Feder setzte. „Wenn es helfen würde, würde ich in jeden einzelnen Brunnen dieser Welt einen Knut werfen und …“
In seinen Augen ähnelte sie einem großen Gemälde, in welchem alles Schöne, aber auch alles Schattige und Unangenehme dargestellt wurde. Ein Kunstwerk, bei dem sich immer wieder etwas Neues entdecken ließ, je öfter man es betrachtete. In diesem Augenblick sah er die Verzweiflung, die einen Kontrast zu ihrer herzlichen Hingabe bilden wollte und dagegen wollte er etwas tun.
„Der Vogel hat eine Seele“, flüsterte er, ohne es selbst bemerkt zu haben. Seine Worte beleuchteten das Gemälde neu und die Schatten verschwanden, zauberten stattdessen schmeichelnde Sinnlichkeit in ihr Gesicht.
„Ich möchte ihn so gern sehen“, bat sie sehnlich.
Er sträubte sich. Es war schon eine Überwindung gewesen, sich Minerva mit einem so intimen Erscheinungsbild zu offenbaren, denn die Animagusgestalt verriet sehr viel über die Persönlichkeit, die man als Mensch gut verbergen konnte. Andererseits hielt Hermine die Feder in der Hand. Sie würde sicherlich keine zwei Tage benötigen, um mit Hilfe von Büchern das dazugehörige Tier zu bestimmen.
„Also gut“, willigte er mit etwas Unbehagen ein. Er hoffte, sich nicht zu blamieren, obwohl Minerva versichert hatte, dass die Verwandlung leicht fallen würde, wenn man sie schon ein Mal hinter sich gebracht hatte.
Severus entfernte sich einen Schritt von Hermine und schloss die Augen. Tief musste er nicht in sich gehen. Den Vogel sah er in seiner Vorstellung und er griff nach ihm, fühlte ihn. Die Verwandlung war nicht schmerzhaft und ging schnell vonstatten. Als er die Augen wieder öffnete, war Hermine viel größer als er. Sie lächelte. Von der Couch aus starrten ihn Harry und Fellini neugierig an, rührten sich aber nicht vom Fleck. Beiden war der große Vogel nicht geheuer.
„Beeindruckend, Severus“, lobte sie seine Gestalt mit warmer Stimme. Hermine kam auf ihn zu und ging in die Knie, hob kurz darauf eine Hand, zögerte aber. „Darf ich?“ Sie wollte sein Federkleid berühren, was er ihr nicht abschlagen konnte. Sein Nicken schien auch für sie verständlich, so dass sie eine Hand an seinen Hals führte und bis hinunter zu einem der starken Flügel strich. Ohne es zu bemerken stellten sich die schwarzen Federn an Kopf und Nacken auf, als sie ihn streichelte. Da war es wieder, das Gefühl, das Harry schon für einen Abend wiedererweckt hatte. Die Wärme in seiner Brust breitete sich aus und er fühlte das aufgeregte Vogelherz bis hinauf in seine Kehle pochen.
Aufgescheucht schaute er sich um. Alles wirkte so groß, selbst die Sessel und – er schluckte – Minerva, die ihn aufmerksam beobachtete. Aus reinem Instinkt trat er zurück und stolperte über die eigenen langen Beine. Um das Gleichgewicht zu halten, streckte er die Arme aus, doch es waren keine Arme, sondern Flügel mit einer Spannweite von 2,20 Meter, die auch gleich den Tisch leerfegten. Von dem Geräusch des auf den Boden fallenden Teeservices erschrak er, so dass er einen Satz machte und dabei kräftig mit den Flügeln schlug, was wiederum den Quidditchpokal im Regal zum Wackeln brachte.
„Severus“, hörte er die vertraute Stimme seiner Kollegin, „bleib ruhig! Setz dich hin.“
Sein kleines Vogelherz schlug so schnell, dass ihm ganz schwindelig wurde. Es war nicht ihre Bitte, sondern sein Unwohlsein, das ihn in die Knie zwang. Sein nach unten gebogener Schnabel war leicht geöffnet, damit er genügend Luft bekommen würde. Der lange Hals schwang hin und her. Ihm wurde ganz schwummerig. Irgendwie hatte er es geschafft, sich auf den Allerwertesten zu setzen, der sich so exotisch anfühlte. Er wusste gar nicht, wohin mit seinen langen Beinen. Die Flügel hatte er weit ausgestreckt und sie fächerten sich über dem Boden auf, um wenigstens etwas Halt vorzugaukeln.
„Werd‘ mir bloß nicht ohnmächtig, hörst du?“ Er hatte gehört, aber er konnte natürlich nicht antworten, denn als er es versuchte, brachte er nur ein leises Krächzen hervor. Minerva war die Ruhe in Person. Gemächlich und ohne plötzliche Bewegungen stand sie auf und zog ihren Stab, den sie nicht, wie er befürchtete, auf ihn richtete, sondern auf das Teeservice am Boden. Aus der silbernen Kanne zauberte sie eine große Schale, die sie mit Hilfe eines Aguamenti mit Wasser füllte. Diese Schale brachte sie zu dem Vogel hinüber, der noch immer so am Boden saß wie eine in sich zusammengesackte Marionette, deren Fäden man gekappt hatte. Das Wasser sah für ihn verführerisch aus, doch aus der jetzigen Position heraus konnte er nichts trinken, weswegen er langsam und vorsichtig versuchte, seine Beine und Flügel zu ordnen, um aufstehen zu können.
Leicht taumelnd stand er auf seinen Beinen und betrachtete mit gesenktem Haupt die kräftigen Füße, die durch Hornplättchen vor Schlangenbissen schützen konnten. Vor ihm stand die Schale mit Wasser. Es war wegen der langen Beine ein schier unmögliches Unterfangen, den Kopf zu senken, um seinen Durst zu stillen. Kaum hatte er sich gebeugt, drohte er wegen der ungewohnten Gewichtsverlagerung vornüber zu kippen, und damit er nicht fallen würde, spreizte er abermals seine Flügel. Unkoordiniert trat er kräftig in die Wasserschale, die laut scheppernd gegen eines der Tischbeine stieß. Severus war von oben bis unten durchnässt, fühlte aber sogleich einen angenehmen Trocknungszauber, den Minerva aus Mitleid in seine Richtung abgegeben hatte.
Severus verbrachte unter Minervas wachen Augen ein wenig Zeit damit, ihre Räume zu erkunden. Mit dem Schnabel versuchte er, nach einem Teelöffel zu greifen, der jedoch zu schwer war. Als ihm kein Sinn einfallen wollte, was er als Vogel mit einem Teelöffel anstellen könnte, ließ er von seinem Vorhaben ab und widmete sich den Fransen an einem der Couchkissen, an denen er ausgelassen zupfte und zerrte. Nachdem er sich genügend mit seinem Schnabel vertraut gemacht hatte, wurde ihm auch diese Beschäftigung zu langweilig und er suchte nach etwas Neuem. Er wollte unbedingt die Kraft seiner Beine austesten, doch er war froh, mittlerweile erst einmal laufen zu können, ohne ungelenk hin und her zu schlenkern. Jetzt schon im Zickzack zu rennen oder gar auf einen Feind einzutreten traute er sich noch nicht zu.
Seltsame Gerüche lagen in der Luft, deren Ursache er nach und nach ausfindig machte. Da war zum einen der Kamin, dessen verbrannte Wände nach Ruß stanken. Auf dem Tisch in einer Büchse konnte er Ingwer wahrnehmen. Neben all diesen Gerüchen war einer am stärksten und der zog ihn direkt zum Fenster. Die weißen Wolken, die langsam vom Wind getrieben wurden, weckten die Lust nach Freiheit. Minervas Büro war kaum ein geeigneter Ort für einen Vogel. Vorsichtig stieß er mit seinem Schnabel gegen die Scheibe.
„Nein, Severus. Dazu ist es noch zu früh. Geh die Sache langsam an. Gewöhn dich erst an deine Gestalt.“
Ihre Worte wehten wie ein sanftes Lüftchen durch sein Gehör, so dass er sie nicht einmal wahrnehmen konnte. Zu groß war die Sehnsucht, die Luft da draußen zu atmen, das Rascheln der Nager im Gras zu vernehmen und am Himmel seine Runden zu drehen. Als er all diese Eindrücke auf sich wirken ließ, wurde er sich über eine Sache bewusst. All die Liebe zu den natürlichen Dingen war für ihn der Beweis, dass sein Animagus über eine Seele verfügte. Severus empfand Freude und Aufregung. Unruhe machte sich in ihm breit, als er begriff, dass Minerva ihm seinen Wunsch nicht gestatten wollte. Flehend blickte er zu ihr hinüber, damit sie das Fenster öffnen würde. Nicht einmal im Traum fiel ihm ein, sich selbst zurückzuverwandeln und die Balkontür zu öffnen. Der Drang, wie die Wolken am Himmel zu schweben, war momentan stärker als sein klarer Verstand, denn Freiheit, das spürte er am eigenen Leib, zählte zu den erhabensten aller Gefühle. Er wollte nach draußen. Er wollte noch mehr fühlen.
Es klopfte. Erschrocken machte er einen Satz zur Seite, stieß dabei mit seinem Körper einen Beistelltisch um. Minerva war derweil zur Tür gegangen. Die Tür, registrierte Severus‘ berauschter Geist, führte ebenfalls nach draußen.
„Grüß dich, meine Liebe“, hörte man Albus‘ Stimme durch den Spalt sagen. Minerva öffnete die Tür nicht weiter.
„Albus, du kommst in einem wahrlich ungelegenen Moment.“
„Hast du Besuch? Ist Severus bei dir?“ Minerva kämpfte um eine Antwort, denn sie wollte ihren Gatten weder schroff abwimmeln noch anlügen. „Ich frage nur“, fuhr Albus fort, „weil er gesucht wird.“
Immer näher stakste Severus an den Türspalt heran, der ihm die Freiheit versprach. Es war, als würden die Bande der Natur ihn umschlingen und nach draußen zerren.
„Albus, ich bitte dich, komm später wieder. Ein, ähm, Schüler ist bei mir.“
„Ah, ich verstehe. Dann werde ich nicht länger …“
Albus verstummte, als sich in Windeseile ein großes gefiedertes Tier durch den Türspalt an ihm vorbei in den Flur drängte. Aufgescheucht riss Minerva die Tür auf und eilte dem Vogel hinterher, rief dabei, er solle stehenbleiben. Severus war zu schnell für sie. Endlich war er nicht mehr auf engem Raum eingesperrt und konnte eine Kostprobe seiner Schnelligkeit nehmen. Er begann, den Flur im ersten Stock entlangzurennen. Sein Körper war leicht, brachte gerade mal drei Kilo auf die Waage. Es gab Katzen, die mehr wogen als er, doch er war weitaus größer und vor allem schneller. Temporeich passierte er das Klassenzimmer für Geschichte der Zauberei, später die Toilettenräume der Maulenden Myrte, bis er zur Treppe kam, die ins Erdgeschoss führte.
Im Erdgeschoss stürmte er an dem Büro von Filch und dessen Haustier Mrs. Norris vorbei, die vor verschlossener Tür saß. Die Katze des Hausmeisters versuchte, dem riesigen Vogel zu folgen, aber er ließ sie schnell hinter sich, wie auch das Lehrerbüro, aus dem gerade Filius heraustrat und den er beinahe umgerannt hätte.
Severus bog erneut in einen Gang ein, der zur Eingangshalle führte. Der Weg nach draußen war nicht mehr fern; er konnte es riechen. Die Blumen, die Erde, die Tiere. Schüler tauchten im nächsten Gang vor ihm auf und für nur einen kurzen Moment überlegte er, kehrt zu machen und zu Minerva zurückzugehen. Der Gedanke schien jedoch von dem schnell durch seinen Körper gepumpten Blut augenblicklich fortgewischt. Er steuerte weiterhin auf die Gruppe von Schülern zu, die an einem Sonntag erst spät ihr Frühstück einnehmen wollten. Es waren eine Menge Schüler. Er durfte nicht riskieren, von ihnen getreten oder gefangen zu werden, doch es gab einen anderen Weg, dieses Hindernis zu nehmen; einen viel besseren.
In dem Moment, als eine der Schülerin auf den sich schnell der Gruppe nähernden Vogel zeigte und mit ihren Worten die anderen auf ihn aufmerksam machte, spreizte er auch schon die Flügel und stieß sich kräftig vom Boden ab. Über die Köpfe der erschrockenen Schüler hinweg, die sich vorsichtshalber duckten und ihr Haupt mit den Armen schützten, flog der große Vogel in die Eingangshalle und weiter in Richtung Freiheit. Er konnte von Glück sagen, dass der Ausgang zum Pausenhof gerade offen stand.
„Harry“, Ginny zerrte wie ein aufgeregtes Kind an seinem Umhang. „Harry, sieht doch mal!“
Harry und Remus, die gerade ihr Frühstück beendet hatten, folgten Ginnys Zeigefinger, sahen aber gerade noch für vielleicht zwei Sekunden, wie etwas Großes durch die Tür auf den Pausenhof geflogen war.
Severus hatte es geschafft. Der Wind sammelte sich unter seinen Schwingen und trug ihn hinauf, höher und höher. Behutsam legte die Sonne ihre Arme um ihn und wärmte sein Gefieder. Der Duft der feuchten Erde berauschte ihn mehr als das Morphium der Träume. Übermächtig war das Gefühl, so nahe an der Grenze zur himmlischen Seligkeit zu schweben. Bald musste er nicht einmal mehr mit den Flügeln schlagen, sondern durfte sich von den Brisen treiben lassen.
Allmählich gewann Severus‘ menschlicher Verstand wieder die Oberhand. Während er sich das Schloss und die dazugehörigen Ländereien aus der Vogelperspektive betrachtete, resümierte er, wie es dazu gekommen war, dass er sich überhaupt hier oben befand. Da waren Schüler gewesen, erinnerte er sich dunkel. Menschen, die den Vogel gesehen hatten. Albus.
Wenn Vögel stöhnen könnten, würde der Sekretär es jetzt tun. Hätte er geahnt, wie enthemmend sich eine Animagusgestalt auf die immer so gut bewahrte Disziplin auswirken könnte, hätte er Minerva das Versprechen abgerungen, ihn um nichts in der Welt frei herumlaufen zu lassen.
Die Sorge um die möglichen Konsequenzen für sein Handeln war augenblicklich wieder verflogen, als er ein paar verliebte Eulen bemerkte, die am Himmel ihre eigene Freiheit genossen.
Über dem Verbotenen Wald zog er ein paar Kreise, bevor er davon überzeugt war, das Fliegen mit all den Tücken, die aus heftigen Windstößen und unsichtbaren Strudeln bestanden, zu beherrschen. Severus setzte in der Nähe des Waldes zur Landung an, die ihm sogar einigermaßen graziös gelang. Zumindest war die Landung anmutiger anzusehen als Harrys Ausstieg aus einem Kamin, was dem Retter der Welt noch heute holprige Schwierigkeiten bereitete.
Schon dieses kleine Stückchen Natur um Severus herum war das reinste Paradies. Zwischen den langen Gräsern hörte er Frösche leise quaken und das fröhliche Gezwitscher der Vögel hoch oben in den Bäumen drang an seine Ohren. Beides zusammen mit dem leisen Summen und Zirpen verschiedener Insekten glich einem festlichen Begrüßungschor, mit dem man ihn in der Ordnung der Natur willkommen heißen wollte. Severus fühlte sich wohl.
„Nein, was bist du denn für ein Hübscher?“, sprach eine tiefe Stimme mit hörbarer Bewunderung.
‘Hagrid!‘ Severus war der Panik nahe, als er den tierlieben Halbriesen nur wenige Meter von sich entfernt bemerkte. Wie hatte er ihn bei der Körpergröße übersehen können? Er hoffte nicht, dass Hagrid mit dem Gedanken spielte, sich seiner annehmen zu wollen, um ihn totzupflegen, obwohl ihm gar nichts fehlte. Offenbar schätze er Hagrid jedoch falsch ein. Der Wildhüter näherte sich ihm nicht einmal, betrachtete ihn aber von oben bis unten.
„Du bist nich‘ von hier“, stellte Hagrid ganz richtig fest, wenn er damit nur die Animagusform meinte. „Bist wohl aus ‘nem Zoo ausgebüxt.“
Von all den beeindruckenden Gerüchen und Geräuschen des Waldes ganz benebelt hätte Severus beinahe wieder seinen klaren Verstand eingebüßt, doch das Knacken von Ästen hinter ihm ließ ihn herumfahren. Thestrale! Der Instinkt zur Flucht war groß, aber in der Luft hätten die geflügelten pferdeähnlichen Kreaturen leichtes Spiel mit ihm, weshalb er sich lieber für den Schutz durch den Wildhüter entschied. Severus wusste, dass Hagrid die Herde so dressiert hatte, dass die Vierbeiner nicht einmal Posteulen angreifen würden, aber er war keine Eule. Er war für die schwarzen dürren Tiere, die ihn durch geisterhaft weiße Augen anstarrten, nur ein Vogel, den sie nie zuvor gesehen hatten. Severus prägte sich den Geruch der Tiere ein, damit er ihnen in Zukunft aus dem Weg gehen könnte, als plötzlich ein ganz anderer Duft präsent war. Er war intensiv und hing so schwer in der Luft wie der Duft von Zuckerwatte auf einem Rummel. Der Geruch weckte einen der Urinstinkte. Es war Blut.
Severus rügte sich dafür, nicht gefrühstückt zu haben, denn jetzt bekam er Hunger. Wie spät war es überhaupt? Die Sonne stand noch hoch am Himmel, aber sein Zeitgefühl war ihm vollkommen abhanden gekommen. Er wollte zurück zum Schloss gehen, doch vor den Thestralen und ihren spitzen Zähne hatte er Respekt. Es kam auch nicht in Frage, sich hier und jetzt vor Hagrid zurückzuverwandeln. Der Wildhüter war ein Quasselkopf. Innerhalb weniger Stunden würde ganz Hogwarts wissen, dass sich hinter dem fremden Vogel der Zaubertränkelehrer verbarg. Damit würde er wahrscheinlich vor der ganzen Schule sein Gesicht verlieren. Hätte er sich nur nicht von der Sehnsucht nach Freiheit übermannen lassen, mit der ihn seine Animagusform am Ende bezwungen hatte. Andererseits war er froh gewesen, loslassen zu können; all die Pflichten hinter sich zu lassen und sich den niederen Trieben zu ergeben.
Ein Stückchen Fleisch kullerte unverhofft an ihn heran. Irritiert blickte Severus auf. Hagrid fütterte die Thestrale und hatte ihm, dem unbekannten Vogel, uneigennützig etwas abgegeben. Neugierig roch er an dem Stück. Es war frisch. Severus wusste intuitiv, dass er es auch noch fressen würde, selbst wenn es schon einen Tag hier liegen würde. Offenbar machte ein Sekretär auch vor Aas nicht Halt. Mit einem seiner kräftigen Füße fixierte er das Fleisch am Boden, beugte sich hinunter und riss mit seinem Schnabel ein faseriges Stück heraus, das er gierig hinunterschlang. Sein Hunger war mit einigen Happen schnell gestillt.
Die Thestrale waren noch mit der eigenen Fütterung beschäftigt. Severus nutzte die Gelegenheit, um sich ungesehen aus dem Staub zu machen.
Zu Fuß erkundete er das Ufer des Sees und genoss es, mit den Füßen im Wasser zu waten. Auch wenn Sekretäre in der Regel selten flogen, war das die Beschäftigung, die ihm bisher am meisten Freude bereitet hatte. Mit etwas Anlauf erhob er sich ein zweites Mal in die Lüfte und zog seine Kreise.
Er machte einen Abstecher zur Eulerei, wurde aber von einigen mutigen Posteulen dazu genötigt, den Kurs wieder zu ändern. Nur vage erinnerte er sich, dass Eulen ab März bereits brüteten; Waldkäuze sogar schon ab Februar. Als Greifvogel war er eine Gefahr für die Jungtiere. Mit seinem großen Körper würde er sowieso nicht durch die Öffnungen des Turms passen, durch die die Vögel in die Eulerei gelangen konnten, also ignorierte er die aufgeregten Schuhu-Laute der gefiederten Freunde und flog zurück in die Nähe des Schlosses.
Ein paar Flügelschläge später sah er plötzlich etwas auf sich zukommen. Im ersten Moment glaubte Severus, sich einem anderen Greifvogel zu nähern, bis sich das Objekt langsam schärfer zeichnete. Es war jemand auf einem Besen.
Sofort flog Severus ein Ausweichmanöver, machte dabei eine Drehung um neunzig Grad und steuerte auf den Wald zu, doch die Person auf dem Besen war schneller als er. So schnell er konnte schlug Severus mit den großen Flügeln, was mit der Zeit sehr anstrengend für ihn wurde. Gegen den Verfolger hatte er keine Chance.
„Halt!“, rief die Person auf dem Besen, doch die Stimme konnte er bei dem Rauschen des Windes nicht erkennen. Als der Besenflieger sich um wenige Meter genähert hatte, hörte er nochmals die Aufforderung, langsamer zu fliegen. Das Herz rutschte ihm in die außergewöhnlich langen Schwanzfedern, als er neben sich Harry bemerkte, der sich Mühe gab, mit ihm auf gleicher Höhe zu fliegen, aber dabei so viel Abstand hielt, dass die Flügelschläge nicht beeinträchtigt werden würden.
„Professor McGonagall lässt ausrichten, dass Sie zurück ‘zum Stützpunkt‘ kommen sollen, wo auch immer das sein soll!“, rief Harry laut, damit seine Stimme nicht einfach ungehört vom Wind weggetragen werden würde.
Mit einer Bitte in Befehlston hatte Minerva ihn auf den Besen gescheucht und hinterhergeschickt, um dem durchgebrannten Tier ihre Nachricht zu übermitteln. Es war für Harry eine seltsame Situation, einem Vogel zu folgen und mit ihm zu sprechen. Natürlich ahnte er, dass es sich um einen Animagus handeln könnte, aber er wusste nicht, wer es sein könnte.
„Sie schien sehr besorgt“, fügte Harry hinzu, der sich zu fragen schien, was er tun könnte, um den Vogel zum Rückflug zu bewegen.
Es war Severus nicht entgangen, dass Harry ihn siezte und auch nicht mit Vornamen ansprach. Minerva hatte offenbar ihr Versprechen gehalten und niemandem die Identität des Sekretärs preisgegeben. Severus gab auf und steuerte die Brücke an, über die man zum Schloss zur Hütte des Wildhüters gelangte. Harry folgte ihm.
Unter einer der hölzernen Streben flog Severus mit Leichtigkeit hindurch, bevor er sicher auf der Brücke landete. Harry hingegen hatte arge Schwierigkeiten, denn er passte mit dem Besen nicht durch die schrägen Balken. Er musste, während er schwebte, erst vorsichtig vom Besen auf das Geländer der Brücke klettern. Er war etwas außer Atem, als er endlich festen Boden unter den Füßen hatte. Seinen Besen zog er noch durch die Pfeiler, bevor er seine ganze Aufmerksamkeit dem Tier widmen konnte, dem er gefolgt war. Harry musterte den Vogel skeptisch, der ruhig vor ihm stand und auf etwas zu warten schien.
„Soll ich gehen?“, fragte Harry unsicher, weil er nicht wusste, ob die Person – wenn es tatsächlich ein Animagus sein sollte, denn Minerva hatte keinerlei Informationen gegeben – bei der Rückverwandlung lieber allein sein wollte. „Ich gehe besser.“
Harry blieb höflich und wandte sich um, damit er den Rückweg über die Brücke ansteuern konnte. Mit einem Male hörte er es hinter sich rascheln. Ganz automatisch blickte er wegen des seltsamen Geräuschs über seine Schulter und kam ins Wanken, als er Severus genau dort stehen sah, wo eben noch der prächtige Vogel gewesen war.
„Ich glaub’s ja nicht!“ Mit diesen Worten zeugte ein breit grinsender Harry all seinen Respekt. Severus‘ Herz, auch wenn es nicht mehr so klein war, schlug trotzdem noch sehr schnell. „Wie war’s?“, hauchte Harry ehrfürchtig und mit glänzenden Augen.
„Es war …“
Die zauberhaften Lehren seiner Animagusgestalt waren für Severus nicht in irdische Worte zu fassen. Der Vogel hatte den kleinen Teil seiner Seele berührt und ein Wunder verrichtet, indem er ihn für ein paar Stunden in so unschuldiger Art und Weise an den kleinen Freuden teilhaben ließ. Das Erlebnis hatte Severus die Sprache verschlagen. Eines wusste er mit Sicherheit, denn wenn er sich in Zukunft seinem Innersten zukehren sollte, würde er keine trostlose Stille mehr vorfinden, sondern feurige Lebendigkeit. Severus wollte, aber er konnte nicht antworten, was er mit einer hilflosen Geste seiner Hände und einem entschuldigendem Blick untermalte, der einen Augenblick später sehnsüchtig gen Himmel wanderte, als sich dort ein Schwarm Vögel formatierte.
„Ja …“, stimmte Harry dem Gefühl langsam nickend zu, denn er schien zu verstehen und Severus glaubte ihm das sogar. Auch Harry liebte das Fliegen.
Auf dem hölzernen Boden, halb unter seinem Umhang, lag eine schwarze lange Feder, nach der sich Severus bückte. Ein Überbleibsel seines eindrucksvollen Ausflugs in die Natur, die er nun nicht mehr als selbstverständlich hinnehmen konnte. Harry sah dabei zu, wie Severus die Feder behutsam in die Innentasche seines Umhangs steckte; genau dorthin, wo er auch seinen Zauberstab aufbewahrte.
„Lass uns zurück zum Schloss gehen“, schlug Severus mit verklärtem Blick vor, als er sich bereits in Bewegung setzte. Harry ging gleich neben ihm, in einer Hand den Besen haltend.
„Was sagen wir?“
„Wie bitte?“
Harry zuckte mit den Schultern. „Wir sollten die gleiche Geschichte erzählen. Einige Schüler haben den Vogel gesehen. Ein paar haben geglaubt, das wäre ein Angriff gewesen.“ Weil Severus ihm einen ungläubigen Blick schenkte, nickte Harry bestätigend. „Wirklich! Sie dachten, das wäre vielleicht ein Todesser.“
„Damit hätten sie ja nicht ganz Unrecht“, scherzte Severus.
„Wir sagen einfach, der Vogel wäre uns entwischt.“
„Weiß denn niemand …?“
Harry unterbrach. „Nein, nicht einmal ich wusste es. Minerva hat einfach meinen Twister herbeigerufen und mich nach draußen gedrängt. Sie kann übrigens ganz schön kräftig schubsen. Aber wem ich folgen soll, hat sie nicht gesagt, nur dass es ein großer grauschwarzer Vogel mit roten Augen wäre.“
„Es wäre nett, wenn es niemand erfahren würde, solange ich noch hier beschäftigt bin“, verlangte Severus gelassen. „Danach ist es mir gleich.“
„Darf ich fragen, warum? Ich meine, warum eine Animagusform und warum jetzt?“
„Warum jetzt?“, wiederholte Severus murmelnd. „Die Form wäre mir bei meiner damaligen Lebensaufgabe nicht von Nutzen gewesen.“
„Und warum jetzt?“
„Hermine wollte. Wäre es nach mir gegangen, hätte ich keinen Gedanken daran verschwendet.“
Harry runzelte die Stirn. „Und warum wollte Hermine …?“ Er stoppte sich selbst. „Ach, schon gut. Ich bin sicher, es hat einen Sinn.“
Beide näherten sich dem Schulhof, über den sie ins Schloss gelangten. In der Halle warteten schon einige, unter anderem auch Minerva, deren bierernste Miene nur ein kleines bisschen weicher wurde, als sie Severus unbeschadet sah. Nicht gerade wenige Schüler hielten sich hier auf und wollten von Professor Potter wissen, ob er den Vogel fangen konnte.
„Er muss entwischt sein“, gab Harry genauso wieder, wie er es vorhin geplant hatte.
Etliche Augenpaare ruhten auf Severus. Die nicht ausgesprochene Vermutung, er könnte etwas mit dem Tier zu tun haben, war sehr präsent. Minerva näherte sich den beiden und blickte Severus streng an, doch bevor sie etwas sagen konnte, kam Hagrid durch die Tür.
„Ihr glaubt nich‘, was ich eben gesehen habe!“, sagte der Riese mit kindlichem Staunen.
„Was denn, Hagrid?“, fragte Albus mit ruhiger Stimme.
„‘n riesiger Vogel war eben bei mir! Ich hab ihn sogar gefüttert.“
Ein Raunen ging durch die Menge. Die Schüler schienen sich zu überlegen, ob sie draußen nach dem Tier suchen sollten. Severus sollte das Recht sein, solange er nur nicht mehr verdächtigt wurde. Die Schar löste sich auf. Ein paar Kinder gingen tatsächlich nach draußen, einige aber zurück in ihre Gemeinschaftsräume oder dorthin, wo sie ihre Freizeit verbringen wollten. Auch Severus wollte sich auf den Weg machen. Er hatte ein Geschenk für Hermine.
„Severus!“ Minervas Stimme hielt ihn auf. Schnellen Schrittes kam sie auf ihn zu. „Severus“, fauchte sie ganz in Manier ihrer eigenen Animagusform, „was hast du dir dabei gedacht? Es hätte sonst etwas passieren können!“
„Wie du siehst, ist nichts passiert.“
„Aber es hätte!“ Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen. „Und ich wäre zur Verantwortung gezogen worden!“
Auf ihre Sorge ging er nicht ein. „Ich danke dir für die Unterweisung, Minerva.“
Mit einem Male war sie milde gestimmt, denn ein Dankeschön von Severus war selten. „Ich … Gern geschehen. Ich werde dir demnächst das Formular für die Anmeldung beim Ministerium zukommen lassen. Du solltest das nicht aufschieben, sonst könnte man dir noch eine Strafe aufbrummen.“
„Das wäre sehr freundlich.“
Irritiert durch seine netten Worte blickte sie ihn mit hochgezogenen Augenbrauen, bevor sie einmal nickte und sich verabschiedete. Von seiner anderen Seite näherte sich Harry.
„Hermine war übrigens vorhin hier und hat dich gesucht. Hast deinen Hund wohl bei ihr vergessen. Sie ist aber schon gegangen und hat Harry wieder mitgenommen.“
„Danke für die Information. Ich werde mich bei ihr melden.“
In seinen Kerkern angekommen meldete er sich nicht bei ihr, sondern besuchte sie unangekündigt. Er fand Hermine sofort im Wohnzimmer vor. Hund und Kater hatten sie von der Couch vertrieben, denn die beiden lagen dort und dösten, während Hermine auf einem Kissen am Boden saß, um am nicht sehr hohen Couchtisch schreiben zu können. Dort war sie über ihrer Arbeit eingeschlafen – die Schreibfeder lag noch locker zwischen den mit Tinte verschmierten Fingern. Vorsichtig näherte er sich ihr und betrachtete die Pergamente. Severus war ein wenig verstimmt, dass Hermine wiederholt mit den Hundehaaren gerechnet hatte, was sie ganz offensichtlich viel Kraft kostete. Abermals fiel sein Blick auf ihre mit Tinte benetzten Finger und eine kleine Neckerei ging ihm durch den Kopf.
Behutsam entnahm er seiner Innentasche die Feder, die er sich kurz vor der Rückverwandlung in einen Menschen ausgerupft hatte. Die lange schwarze Feder betrachtete er einen Moment, bevor sein teuflischer Plan Gestalt annahm. Er kniete sich neben sie und brachte die Feder an ihre Nase, die sich daraufhin wie die eines der Kaninchen, die sie gestern gehalten hatte, rümpfte. Ein zweites Mal streichelte er mit der Feder über ihre Nase, aber erst beim dritten Mal gelang sein Vorhaben, denn sie ließ die eigene Feder fallen und rieb sich mit den tintenverschmierten Fingern die Nase, so dass sie ganz schwarz wurde. Endlich öffnete Hermine die Augen und blinzelte ein paar Male.
„Severus?“
„In voller Lebensgröße!“
Sie freute sich über ihn und am meisten begrüßte er, dass er das sehen konnte. Lustig anzusehen war der schwarze Fleck an ihrer Nase.
„Ich habe schon befürchtet“, langsam hob sie ihren Kopf, „dass der Besuch bei meinen Eltern dich vergrault haben könnte.“
„Weshalb denn das? Es war doch ein interessantes Zusammentreffen, begleitet von einem aufschlussreichen Gespräch mit deinem Herrn Vater“, wiegelte er ab. „Er hat einen sehr ausgeprägten Beschützerinstinkt, wie ich finde.“
„Hat den nicht jeder Vater?“
Eigentlich wollte Severus verneinen, aber die Erinnerung daran, wie sein Vater ihm nach der Beerdigung seiner Mutter Beistand leisten wollte, ließ jedes Wiederwort irgendwo zwischen Adamsapfel und Zungenbein ersterben. Hermine erwartete jedoch gar keine Antwort, denn die stand für sie längst fest. Ihr Blick fiel auf die Feder in seiner Hand.
„Eine neue Schreibfeder?“ Ohne Kommentar überreichte er ihr die Feder, die sie gleich begutachtete. „Die ist gar nicht bearbeitet. Das Mark ist noch enthalten.“
„Das mag daran liegen, dass sie nicht zum Schreiben gedacht ist.“
„Aber wozu dann?“
Severus legte den Kopf schräg. „Um mit spitzer Feder zu rechnen?“
‘Mit spitzer Feder rechnen‘, wiederholte Hermine in Gedanken. Diese Redewendung hatte Professor Vektor gern benutzt, um den Schülern einzubläuen, dass man viel Wert auf genaues Rechnen legen sollte, auch wenn man bei der Arithmantik die Wahrsagekunst einbezog. Hermines Stirn schlug Falten und sie fragte sich, ob Severus ihr diese schwarze Feder nur symbolisch überreicht hatte, so wie sie ihm damals zum Geburtstag den Schokofrosch und das Hühnerei geschenkt hatte. Plötzlich deutete Severus auf die Pergamente.
„Warum hast du wieder mit den Hundehaaren gerechnet?“
„Ich habe geübt!“, verkündete sie stolz. „Damit ich sicherer bin, wenn ich etwas von deiner Animagusform …“
Ihre Gedanken rotierten plötzlich so schnell wie ein kosmischer Pulsar, was kurzeitig ihr Sprachzentrum lähmte. Erneut blickte sie die Feder an. Konnte es sein?
„Was für eine Feder ist das?“
„Ich würde meinen, es handelt sich um eine Schwungfeder.“ Er musste grinsen, weil sie sich des Tintenflecks an ihrer Nase noch immer nicht bewusst war.
„Ist das …?“ Vor lauter Aufregung verhaspelte sie sich. „Severus, ist die von dir?“
„Mit den Hundehaaren hast du lange genug deine Zeit vergeudet. Wenden wir uns lieber den wichtigen Dingen zu.“
Am Ende zitterte seine Stimme ebenso wie ihre Lippen. Hermine hielt das in der Hand, wovon sie sich eine Heilung für Severus versprach und auch er war sich dessen bewusst. So viel Hoffnung steckte in dieser einen Feder. Hermine rang sich ein Lächeln ab, denn es war nicht auszuschließen, dass ihr Versuch trotz all der Mühe fehlschlagen könnte. Mit bebender Stimme richtete sie das Wort an ihn.
„Darf ich es sehen?“
„Was?“ Der Fleck an ihrer Nase, so drollig er ihn anfangs auch fand, störte im Moment und er griff nach einem Taschentuch, das auf dem Tisch lag.
„Dein Tier, deine Animagusgestalt.“
Mit seinem Zauberstab hatte er das Tuch mit einer magischen Tinktur befeuchtet, die jeden Schmutz beseitigen konnte, egal wie tief der in die Haut gedrungen war. „Warum?“ Seine andere Hand führte er an ihr Kinn, damit sie ihren Kopf ein wenig hob. Sie ließ ihn gewähren, auch wenn sie nicht wusste, was er vorhatte.
„Ich möchte …“ Sie stoppte sich selbst, als er mit Daumen und Zeigefinger an ihrem Kinn die Position ihres Kopfes ein wenig änderte und mit dem Tuch vorsichtig an der Seite ihrer Nase entlangtupfte. Das Ergebnis zeigte er ihr in Form eines dunklen Flecks auf dem weißen Tuch.
„Tinte“, hauchte er. Nachdem er von ihr abgelassen hatte, blickte Hermine automatisch auf ihre rechte Hand und die schwarzen Stellen. Ihr Herz schlug schneller, als er ihre Hand behutsam in seine nahm und mit dem Tuch über die Finger strich, um auch dort den Schmutz zu entfernen.
„Danke.“
Von dem großen Schritt in Richtung Heilung oder aber auch wegen seiner sanften Art ganz ergriffen forderte ihr Körper einen unkontrollierten Atemzug, der sich als Schluchzer entpuppte. Was das Wort Hoffnung bedeutete, wusste sie aus Zeiten des Krieges nur zu gut. Das Schlimmste war immer die begleitende Angst, dass der eine Lichtblick, an den man sich in einer sonst ausweglosen Situation klammerte, sich in Nichts auflösen würde.
„Hermine?“, hörte sie seine besorgte Stimme, so dass sie aufblickte. Ihre Augen erinnerten an die eines erschrockenen Rehs, das von einem immer größer werdenden Lichtkegel paralysiert war.
„Ich hab Angst“, brachte sie flüsternd heraus. Wieder zitterten ihre Lippen, und um ihre Schwäche zu verbergen, presse sie sie fest zusammen. Ihre Furcht, mit dieser Lösung zu versagen, konnte er nachvollziehen, auch wenn es ihn weniger berührte als sie.
„Wir versuche es einfach und wenn es nicht funktioniert …“
„Nein“, unterbrach sie trotzig. „Es muss funktionieren! Es muss …“
„Es bleibt eine Wahrscheinlichkeit, die uns nicht gefallen könnte, aber sie ist da.“
„Nein, du verstehst nicht.“ Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern. Betreten schaute sie zu Boden. Sie war so angespannt, dass ihr ganzer Körper zitterte. „Es bedeutet mir so viel.“ Als sie ihn anblickte, offenbarte allein ihre Mimik all die Hoffnung, die sie auf die Feder setzte. „Wenn es helfen würde, würde ich in jeden einzelnen Brunnen dieser Welt einen Knut werfen und …“
In seinen Augen ähnelte sie einem großen Gemälde, in welchem alles Schöne, aber auch alles Schattige und Unangenehme dargestellt wurde. Ein Kunstwerk, bei dem sich immer wieder etwas Neues entdecken ließ, je öfter man es betrachtete. In diesem Augenblick sah er die Verzweiflung, die einen Kontrast zu ihrer herzlichen Hingabe bilden wollte und dagegen wollte er etwas tun.
„Der Vogel hat eine Seele“, flüsterte er, ohne es selbst bemerkt zu haben. Seine Worte beleuchteten das Gemälde neu und die Schatten verschwanden, zauberten stattdessen schmeichelnde Sinnlichkeit in ihr Gesicht.
„Ich möchte ihn so gern sehen“, bat sie sehnlich.
Er sträubte sich. Es war schon eine Überwindung gewesen, sich Minerva mit einem so intimen Erscheinungsbild zu offenbaren, denn die Animagusgestalt verriet sehr viel über die Persönlichkeit, die man als Mensch gut verbergen konnte. Andererseits hielt Hermine die Feder in der Hand. Sie würde sicherlich keine zwei Tage benötigen, um mit Hilfe von Büchern das dazugehörige Tier zu bestimmen.
„Also gut“, willigte er mit etwas Unbehagen ein. Er hoffte, sich nicht zu blamieren, obwohl Minerva versichert hatte, dass die Verwandlung leicht fallen würde, wenn man sie schon ein Mal hinter sich gebracht hatte.
Severus entfernte sich einen Schritt von Hermine und schloss die Augen. Tief musste er nicht in sich gehen. Den Vogel sah er in seiner Vorstellung und er griff nach ihm, fühlte ihn. Die Verwandlung war nicht schmerzhaft und ging schnell vonstatten. Als er die Augen wieder öffnete, war Hermine viel größer als er. Sie lächelte. Von der Couch aus starrten ihn Harry und Fellini neugierig an, rührten sich aber nicht vom Fleck. Beiden war der große Vogel nicht geheuer.
„Beeindruckend, Severus“, lobte sie seine Gestalt mit warmer Stimme. Hermine kam auf ihn zu und ging in die Knie, hob kurz darauf eine Hand, zögerte aber. „Darf ich?“ Sie wollte sein Federkleid berühren, was er ihr nicht abschlagen konnte. Sein Nicken schien auch für sie verständlich, so dass sie eine Hand an seinen Hals führte und bis hinunter zu einem der starken Flügel strich. Ohne es zu bemerken stellten sich die schwarzen Federn an Kopf und Nacken auf, als sie ihn streichelte. Da war es wieder, das Gefühl, das Harry schon für einen Abend wiedererweckt hatte. Die Wärme in seiner Brust breitete sich aus und er fühlte das aufgeregte Vogelherz bis hinauf in seine Kehle pochen.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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195 Vogelfrei
Aufmerksam verfolgte Harry von der Couch aus die Erkundungstour von Nicholas, der eine Feder von Hedwig auf dem Boden gefunden hatte. Von deren Weichheit war er vollkommen hingerissen.
„Nicht in den Mund nehmen“, sagte er ruhig zu dem Jungen, der das Verbot seines Vaters ignorierte und die Feder mit der Zunge betastete. Harry stand auf und ging hinüber, um sich neben Nicholas zu setzen. Mit seinem Zauberstab sorgte er dafür, dass ein Ball von alleine zu rollen begann. Die Feder war auf der Stelle uninteressant geworden und wurde fallengelassen, so dass Harry sie mit einem Evanesco verschwinden lassen konnte. Nicholas rollte den Ball zu Harry hinüber, der ihn stoppte und zurückrollte. Nicholas quiekte vergnügt. Während er mit dem Kind spielte, dachte er immer wieder an eine bestimmte Sache.
Es waren sieben Animagi gewesen, die Minerva damals bei Schulbeginn unter den dreizehn- bis fünfzehnjährigen Schülern ausfindig machen konnte. Harry erinnerte sich daran, dass er im Lehrerzimmer das Gespräch zwischen ihr und Albus verfolgt hatte. Die Gestalten der Kinder waren die von Fluchttieren, ein Chinchilla, eine Rennmaus, ein Pferd, zwei Rehe, ein Kaninchen und ein Meerschweinchen. Harry hatte die Formen der Schülerinnen und Schüler mehr als nur einmal gesehen, wenn sie sich mit verständlichem Stolz vor ihren Freunden verwandelten. Jetzt, nachdem auch Severus eine Form hatte, ließ ihn eine Frage nicht mehr los.
„Ginny?“ Als sie von ihren Büchern aufblickte, fuhr er fort. „Was meinst du, was ich für ein Tier wäre?“
„Was denn für ein Tier?“
„Als Animagus, was wäre ich da?“
Ihre Stirn schlug Falten. „Damit befasse ich mich erst, wenn ich weiß“, sie blickte auf ihre Astronomieberechnungen, „warum ich zweimal Kallisto habe.“
„Zweimal was bitte?“
„Ich habe einen der Jupitermonde doppelt und ich bin mir ziemlich sicher, dass das ein Fehler ist.“
Verständnisvoll nickte Harry. „Ich hatte mal zwei Neptune.“ Ein theatralischer Seufzer entwich ihm. „Glaub mir, ich weiß ganz genau, wie du dich fühlst.“
„Wie hast du den zweiten weggerechnet?“
„Mit Hermine!“
Weil Hermine nicht da war, tat Harry alles in seiner Macht stehende, um Ginny bei den Vorbereitungen für die ZAG-Prüfungen zu helfen. Leider war das nicht viel. Astronomie war nie sein Steckenpferd, aber es hieß, dass man aus Fehlern lernte und das war auch diesmal so, nur dass Ginny aus seinen Fehlern lernte. Wenn er Vorschläge machte, die nur in die Irre führten, erklärte sie ihm, wie sie auf ihr Ergebnis gekommen war. Auf diese Weise fand sie tatsächlich den Fehler und konnte ihn beseitigen.
„Du bekommst sicher überall Bestnoten“, vermutete Harry laut.
„Besonders in ‘Verteidigung gegen die Dunklen Künste‘.“ Sie grinste breit. „Aber nicht, dass man mir anlastet, ich hätte nur ein Ohnegleichen bekommen, weil entsprechender Professor mit mir liiert ist.“
„Ich prüfe euch ja nicht einmal, da kann so ein Verdacht gar nicht aufkommen. Ich weiß zufällig, dass wieder Professor Tofty vom Ministerium kommt. Er übernimmt immer den praktischen Prüfungsteil für ‘Verteidigung‘ und ‘Zauberkunst‘. Ich glaube, bei ‘Geschichte der Zauberei‘ macht er die Theorie.“
„Da werde ich versagen, das weiß ich jetzt schon“, stöhnte Ginny. „Gab es eigentlich jemals einen Schüler – und ich meine außer Hermine –, der dort ein ‘O‘ bekommen hat?“
„Ich hatte bei der Abschlussprüfung damals ein ‘S‘. Schlimmer kann es bei dir gar nicht werden.“
„Natürlich kann es schlimmer werden. Ich könnte ein ‘Troll‘ bekommen.“
Harry schüttelte den Kopf. „Die Koboldaufstände werden immer geprüft und davon weißt du eine Menge.“
Vom Lernen hatte Ginny heute genug. Ihre Bücher und Pergamente legte sie ganz weit weg, damit sie den Sonntagabend noch mit Harry und Nicholas genießen konnte.
„Er wird wohl gar nicht müde“, stellte sie fest, als Nicholas mit einem aufgeregt fröhlichen Grinsen in Richtung Tür robbte, neben der Harry seinen Twister abgestellt hatte. Der Junge streckte die kleinen Hände nach dem Flugbesen aus. „Der Besen hat eine magische Anziehungskraft auf ihn. Er wird mal ein berühmter Quidditch-Spieler werden, ganz bestimmt.“ Ginny stimmte ihren eigenen Worten mit einem Nicken zu.
Mit einer intuitiven Bewegung seiner Hand rettete Harry den Kleinen vor dem umfallenden Besen. „Herrje, wer hätte gedacht, mit was sich unser Elf so herumschlagen muss, jetzt wo Nicholas schon etwas agiler ist?“
„Wart nur ab, bis er laufen kann!“, drohte Ginny mit schelmischem Lächeln.
Ein dumpfer Aufprall war zu hören. Aufgeschreckt blickten Harry und Ginny in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Sie sahen die leere Stange, auf der sonst immer der Phönix saß.
„Fawkes?“ Harry eilte zu dem Vogel, der auf den Boden gefallen war. Benommen vom zum Glück nicht sehr tiefen Sturz blieb der kränkliche Vogel an Ort und Stelle liegen. Er versuchte nicht einmal, aus eigener Kraft zurück auf die Stange zu fliegen. „Ach du meine Güte, Fawkes. Was ist nur mit dir los?“
In der letzten Zeit war der körperliche Verfall des Phönix sehr deutlich geworden. Immer mehr kahle Stellen verunstalteten den einst prächtig scharlachrot gefiederten Freund. Harry kniete sich neben den Feuervogel nieder und streichelte den Kopf des geschwächten Tiers. Ginny kam lieber nicht zu dicht heran. Noch immer war Fawkes anderen Menschen gegenüber ungewohnt angriffslustig.
„Was hat er?“, fragte sie aus sicherer Entfernung.
„Ich weiß es nicht. Würde ich nicht wissen, dass ein Phönix nicht sterben kann, würde ich sagen, seine Zeit ist abgelaufen.“ Harry seufzte. „Als ich ihn damals bei Albus im Büro gesehen habe, bevor er brannte, sah er nicht so schlimm aus wie jetzt. Ich weiß nicht, warum er sich sträubt.“
„Vielleicht weil es wehtut?“
Harry zuckte mit den Schultern. „Er müsste es gewohnt sein, meinst du nicht?“ Vorsichtig befühlte Harry die Verhärtung am Bauch des Vogels. „Vielleicht ist es auch deswegen. Ich weiß nicht, was das ist, aber es ist hart und gehört da definitiv nicht hin.“
Weil er den Phönix zärtlich am Bauch kraulte, legte der Vogel seinen Kopf auf Harrys Unterarm und genoss die Liebkosung, schloss dabei sogar die Augen. Harry machte sich wirklich Sorgen. Von Albus hatte er nicht erfahren, was der Vogel haben könnte. Vorsichtig nahm Harry den gefiederten Gefährten in den Arm, bevor er ihn auf seinen Oberschenkeln absetzte. Ginny beobachtete das skeptisch.
„Der sicherste Platz für einen Vogel, der jeden Moment Feuer fangen kann, ist immer noch dein Schoß.“
Harry gab ihr Recht. „Aber was soll ich sonst mit ihm machen? Ich möchte nicht, dass er noch einmal fällt.“
Einen Moment lang überlegte Ginny sich eine Lösung. „Dann zaubere seine Feuerschale niedriger, aber bitte nicht so, dass Nicholas rankommt.“
Ginnys Vorschlag setzte er in die Tat um. Die Feuerschale samt Stange brache er näher an den Boden heran. Außerdem vergrößerte er die Schale noch. Er wollte verhindern, dass Fawkes in einem ungünstigen Moment auf den Teppich fallen und ihn in Brand setzten würde.
„So, mein Guter.“ Harry erhob sich und setzte Fawkes direkt in der feuerfesten Schale ab. „Ruh dich aus oder erneuere dich. Länger kann ich nämlich nicht mehr mit ansehen, wie du leidest.“
Fawkes schien verstanden zu haben, denn er nickte, bevor er den Kopf unter einen Flügel steckte, um ein wenig zu dösen. Von gegenüber hatte Hedwig alles ganz genau beobachtet. Sie hatte den Phönix in letzter Zeit nicht mehr aus den Augen gelassen.
„Was hast du eigentlich mit seinen Tränen gemacht, die ich aufgefangen habe, als du dir die Erinnerungen angesehen hast?“, wollte Ginny wissen.
Harry sammelte Nicholas vom Boden auf und gesellte sich zu seiner Verlobten auf die Couch. „Die haben ich Poppy gegeben. Sie meinte zwar, sie wird in den nächsten zwanzig Jahren wohl keine Verwendung dafür finden, aber es wäre gut zu wissen, ein so potentes Heilmittel im Haus zu haben.“
Der Junge auf seinem Schoß begann zu quengeln, weil er wieder auf den Boden wollte. Als er sich aus Harrys Armen winden wollte, stieß er mit seinem kleinen Knie versehentlich in eine sehr empfindliche Körperstelle. Harry zog Luft durch die Zähne.
„Das brauche ich noch, mein Kleiner.“ Harry beugte sich nach vorn, um sich vor weiteren Tritten dieser Art zu schützen. Nicholas weinte, machte sich dabei lang, um auf den Boden zu gelangen, doch Harry hielt ihn mit beiden Händen an der Taille, was Ginny belustigt beobachtete.
„Lass ihn ruhig noch etwas runter. Vielleicht haben wir dann die Chance, wenigstens mal eine Nacht durchzuschlafen, wenn er sich jetzt mal völlig verausgaben kann.“
„Von mir aus“, stimmte Harry zu.
Er setzte den Jungen vorsichtig auf dem Boden ab. Auf der Stelle robbte Nicholas auf Händen und Knien hinüber zu Hedwigs Sitzstange, an der er ehrfürchtig mit seinen großen blauen Augen hinaufblickte. Hedwig blickte an ihrem spitzen Schnabel zu ihm hinunter und gab ein freundliches Schuhu von sich. Die zärtliche Kommunikation zwischen Menschenkind und magischem Tier beobachteten Ginny und Harry sehr interessiert. Nicholas streckte sehnsüchtig seine Arme nach Hedwig aus, die daraufhin nach unten geflogen kam und sich dem Kind hüpfend näherte. Sie achtete darauf, dass er sie nicht zu packen bekam, ließ sich aber streicheln, auch wenn das aufgrund der noch nicht so ausgebildeten Feinmotorik des Kindes manchmal etwas grob ausfiel.
Harry verspürte ein Bedürfnis. „Ich bin mal eben woanders.“
Kaum war er aus dem Wohnzimmer gegangen, klopfte es. Ginny bat den Gast herein. Mit ihrem Zaubertränkelehrer hatte sie bestimmt nicht auf einen Sonntagabend gerechnet.
„Professor“, grüßte sie nickend.
„Guten Abend, Miss Weasley. Ich wollte Harry sprechen.“ Unsicher blickte er sich im Wohnzimmer um. „Ist er da?“
„Ja, ich hole ihn. Nehmen Sie doch Platz.“
Mit Severus im Raum befand sie Nicholas für sicher, so dass sie im Schlafzimmer verschwand, um von dort aus Harry durch die Tür zum Badezimmer Bescheid zu geben. Der war allerdings schon fertig für ein Schaumbad ausgezogen und müsste sich erst wieder anziehen.
Weil Harry nicht sofort zu ihm kam, blickte sich Severus im Wohnzimmer um. Der Phönix fiel ihm auf. Er lag in der Feuerschale und wirkte wie tot. Sein Kopf weilte unter einem Flügel und er schien fest zu schlafen. Die Atmung war kaum zu sehen. Giggelnde Geräusche kamen aus der entgegengesetzten Richtung. Severus machte zwei Schritte, um hinter die Couch sehen zu können. Das Kind vergnügte sich mit der Schneeeule, die den kleinen Händen gestattete, das Gefieder zu tätscheln. Severus seufzte, machte mit dem Geräusch den Jungen auf sich aufmerksam, der seine leuchtenden Augen von Hedwig auf den schwarz gekleideten Mann richtete. Ein unergründlicher Gedanke musste sich in dem Kopf des Jungen geformt haben, denn er krabbelte langsam auf Severus zu. Darüber erschrocken ging Severus einen Schritt zurück, dann noch einen, als der Junge wie ein bedrohliches Übel unaufhaltsam näher kam. Severus stieß mit dem Rücken gegen die Tür. Mit Entsetzen betrachtete er den langen Faden aus Speichel, der aus dem breit grinsenden Kindermund herunterhing. Als sich das Kind zu seinen Füßen niedergelassen hatte, griff es nach den Schuhen, doch Severus war schneller und zog den Fuß weg. Nicholas schaute, wie vorhin schon bei Hedwig, diesmal an dem großen Mann empor, riss dann die beiden kleinen Arme in die Luft, weil er getragen werden wollte.
„Das hättest du wohl gern“, murmelte Severus. Auch das erschöpfte Seufzen des Jungen erweichte Severus nicht. Er blieb regungslos an der Tür stehen und hoffte, dass Harry bald kommen würde. Ungeduldig schaute er zur Schlafzimmertür hinüber, aber die regte sich nicht. Plötzlich spürte Severus ein leichtes Ziehen an seinem Umhang. Ein Blick nach unten bestätigte die Befürchtung, dass der Junge den Stoff der Kleidung zu fassen bekommen hatte und nicht daran dachte loszulassen. Severus zerrte an seinem Umhang, aber der Junge hatte seine Hände darin vergraben. Das Kind zog immer mehr, bis es am Ende auf den eigenen zwei Beinen stand. Mit einer Hand hielt Nicholas sich am Umhang fest, die andere suchte Halt an den Falten der Hose. Severus presste sich immer dichter mit dem Rücken an die Tür. Er spielte bereits mit dem Gedanken, laut nach Harry zu rufen, damit er endlich Erlösung von dem aufdringlichen Kind finden würde, da öffnete sich die Tür. Ginny trat heraus und blickte wie versteinert zu Severus und Nicholas hinüber. Nach einer Schrecksekunde brach eine Art willkommene Panik bei ihr aus.
„HARRY, HARRY!“, rief sie zittrig. „Komm schnell her!“
Severus konnte die Aufregung nicht nachvollziehen, war aber auf der Hut, als sie unerwartet ihren Stab zog. Von überreagierenden Müttern hatte er schon viel gehört. Doch sie griff ihn nicht an, dazu gab es seines Erachtens auch gar keinen Grund. Er war hier das Opfer. Das Kind stand noch immer bei ihm, trat ihm auch noch auf den Fuß, worin Severus sogar eine Absicht vermuteten wollten.
„Accio Kamera!“ Mit einem Male kam eine Kamera aus dem Schlafzimmer direkt in Ginnys Hände geflogen. Sie drückte in Windeseile ein paar Knöpfe an dem Gerät, bevor sie es auf Severus richtete. Erst jetzt ahnte er, was ihm blühte.
Mit ausgestrecktem Zeigefinger drohte er: „Wagen Sie es ja nicht, Miss Weasley!“
Schon blendete ihn der Blitz der Kamera. Er blinzelte einige Male, um den auf der Netzhaut gebrannten Fleck verschwinden zu lassen. Kaum blickte er auf, wurde er ein zweites Mal geblendet.
„Es reicht, Miss Weasley!“ Seine Einwände wurden vollkommen ignoriert, denn ein dritter Blitz beeinträchtigte sein Sehvermögen. Noch schlimmer wurde es, als Harry endlich aus dem Schlafzimmer kam, nur in Jogginghose und T-Shirt bekleidet.
„Oh mein Gott, oh mein Gott, oh mein Gott!“ Zu mehr begeisterten Worten war Harry nicht fähig, als er Nicholas bei Severus sah.
„Harry!“ Severus forderte mit seiner Tonlage dazu auf, umgehend mit dem Unfug aufzuhören.
„Er steht!“ Noch immer konnte Harry es nicht fassen, dass er dabei sein durfte, als Nicholas das erste Mal aufrecht stand und das ohne fremde Hilfe. Er hatte sich an Severus‘ Umhang hochgezogen und stand, wenn auch ein wenig hin- und herschlingernd, aus eigener Kraft.
Wegen des Aufruhrs, den seine Eltern im Zimmer veranstalteten, verlor Nicholas erst die Konzentration, dann das Gleichgewicht und er landete auf seinem durch die Windel gut gepolsterten Po. Es war Ginny, die den Kleinen vom Boden auflas und ihn mit hoher Stimme wegen seiner Leistung lobte. Harry schloss sich ihr an. Immerhin stellte das ein Ereignis dar, das es nur einmal im Leben gab.
„Ich werde besser nächste Woche wiederkommen.“ Severus hatte bereits die Hand an der Klinke, da hielt Harry ihn auf.
„Severus warte.“ Severus drehte sich um. Erleichtert verfolgte er, wie Ginny mit dem Kind ins Schlafzimmer ging. Die vorangegangene Situation versuchte Harry zu erklären. „Du musst schon entschuldigen, was eben passiert ist. Das war ein niemals wiederkehrender Moment, der wohl alle Eltern von den Socken haut.“ Bevor er noch ins Schwärmen geraten würde, fragte Harry: „Was gibt es denn?“
Severus schüttelte resignierend den Kopf. „Ich war ein Narr, hier herzukommen.“
„Warum denn? Wie kann ich helfen?“ Weil Severus mit einer Antwort zurückhielt, bot Harry ihm einen Platz an, den Severus nur zögernd annahm. „Also raus mit der Sprache.“
An seiner Unterlippe kauend blickte Severus erst auf seine Hände, dann auf den Boden. Es war die Gestalt des Animagus gewesen, die ihn dazu getrieben hatte, Harry aufzusuchen oder vielmehr das Gefühl, dass der Sekretär ihn so selbstlos erleben ließ. Das Gefühl, das auch schon Harry mit dem kleinen Unfall ausgelöst hatte.
„Severus?“ Harry machte einen verwirrten Eindruck, was auch verständlich war. Er hatte keine Ahnung, weshalb sein Kollege ihn aufgesucht hatte.
„Der Abend des Quidditch-Spiels“, half Severus ihm auf die Sprünge. „Was hast du gemacht, bevor sich die Magie aus dir gelöst hat?“
„Ich habe keine Ahnung“, versicherte Harry aufrichtig. Bei der Antwort rollte Severus mit den Augen, bevor er von der Couch aufstand. „Moment!“ Harry eilte seinem Gast hinterher. „Ich war glücklich.“
Severus schnaufte. „Bist du nicht immer glücklich?“ Das vorangegangene Szenario mit Nicholas, der zum ersten Mal alleine gestanden hatte, war ein gutes Beispiel dafür, wie leicht Harry zufriedenzustellen war.
„Es war mehr, es war wie eine vollkommene innere Zufriedenheit, die ich an dem Abend gespürt habe.“ Harry legte den Kopf schräg, kniff die Augen zusammen. „Warum fragst du das überhaupt?“
„Weil ich es wiederhaben will!“, erklärte Severus mit einer Bestimmtheit in der Stimme, die Harry eine Gänsehaut über den Rücken jagte.
„Wenn ich wüsste, wie das möglich ist, dann wärst du der Erste, dem ich davon erzählen würde.“
„Ich habe auf der Siegesfeier mitgehört, wie du Miss Lovegood versucht hast zu erklären, wie du Voldemort besiegt hast.“
Harry erinnerte sich daran. Vor Luna hatte er die Handbewegung nachgeahmt, die er mit seinem Stab gemacht hatte, als sich plötzlich die goldene Magiekugel aus seiner Hand löste. Vielleicht war es nur diese Handbewegung gewesen, dachte Harry.
„Ich kann es noch einmal versuchen“, bot er dem Tränkemeister an.
„Ich warte!“
Er entfernte sich einen Schritt von Severus, bevor er tief durchatmete und seine Hand hob. Harry ließ sein Handgelenk geschwind kreisen und machte eine abschüttelnde Bewegung in Richtung Severus. Es tat sich nichts.
„Es tut mir wirklich leid“, bedauerte Harry zutiefst.
„Einen Versuch war’s wert.“ Die Enttäuschung war nicht zu überhören. Severus hob und senkte die Schultern, die er am Ende noch ein niedriger hängen ließ als zuvor. Weder als Empfehlung noch als Bitte forderte Severus: „Wie wäre es, wenn du dich damit ein wenig beschäftigst!“
„War das ein Befehl?“, fragte Harry nach, denn es klang so.
„Ich verstehe nicht, wie du so interesselos sein kannst. Da hast du eine Gabe in dir und du versuchst nicht im Geringsten, ihr auf die Schliche zu kommen.“
„Wie soll ich das denn anstellen?“, fragte Harry grantig zurück. Der Vorwurf gefiel ihm gar nicht. Es wirkte so, als würde Severus ihn für unfähig halten.
„Ein wenig Meditation vielleicht, um zu ergründen, was genau es war, dass diesen Magiestoß ausgelöst hat! Es muss doch verdammt noch mal reproduzierbar sein!“
„Hey, nicht so laut bitte!“, wies Harry ihn zurecht.
Severus schien um Worte verlegen. Er hatte sich von seinem Besuch mehr erhofft, das konnte Harry sehen, und er war enttäuscht worden.
„An dem Tag des Spiels konnte ich die Gabe allein durch meinen Wunsch kontrollieren.“
„Das war aber die Gabe, Menschen und Dingen nicht mehr sehen zu wollen. Hat das mit der Magieentladung zu tun?“, fragte Severus nach.
Harry antwortete kleinlaut. „Ich weiß es nicht.“
„Und genau das meine ich! Hast du es nach diesem Tag überhaupt noch einmal versucht, diese Gabe anzuwenden?“
„Nein.“
„Dann kann man schwerlich behaupten, du würdest sie kontrollieren können. Was ist mit der magischen Kugel, die du so mir nichts, dir nichts aus dem Handgelenk geschleudert hast?“ Aufgrund der Frage senkte Harry beschämt seinen Blick. „Dachte ich’s mir! Du hast nichts getan, um diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Ist dir das alles völlig gleichgültig? Du bist vielleicht der mächtigste Zauberer der Welt und du ignorierst das einfach. Was für ein Zauberer bist du eigentlich?“
Auf diese Weise kritisiert zu werden konnte Harry gar nicht leiden, weswegen er gekränkt antwortete: „Einer, dem völlig egal ist, wie stark er ist!“ Er stemmte seine Hände in die Hüfte. „Und jetzt geh bitte. Ich möchte mir diesen schönen Tag nicht mit einer unnötigen Streiterei verderben lassen.“
„Wie kann man nur so ignorant sein?“
„Es ist genug, Severus! Selbst wenn ich genauso mächtig wie Albus wäre, was sollte ich dann deiner Meinung nach tun?“ Harry hob beide Hände in fragender Geste. „Die Weltherrschaft an mich reißen?“
„Das ist nicht witzig!“
„Aber es läuft doch darauf hinaus oder etwa nicht? Was nutzt einem alle Macht der Welt, wenn man die nicht dafür anwenden kann, andere zu unterjochen? Viele denken so, das weiß ich. Auch eine Menge Todesser denken so.“
Harry hatte Severus absichtlich provoziert und ließ von dem Thema auch nicht ab. Er erinnerte sich an die Zeit, als Albus geglaubt hatte, er wäre ein potenzieller neuer Dunkler Lord. Auch die Unterhaltung mit Draco, der Albus‘ abwegige Vermutung verspottete, schoss ihm durch den Kopf.
„Sollte ich es mir eines Tages anders überlegen und machtdürstend nach Anhängern für meine Sache suchen, dann wärst du der Erste, dem ich als mein Zeichen eine Kette aus Gänseblümchen um den Hals lege!“
„Was bitte?“, fragte Severus verwirrt nach.
„Beschwer dich bei Draco. Das war seine Idee.“
Die Lächerlichkeit der Worte und auch den Sinn, den Harry damit vermitteln wollte, hatte Severus zweifelsohne verstanden. Harry war jemand, der seine kräftige Magie höchstens dafür einsetzen wollte, ein ruhiges und schönes Familienleben zu führen – etwas, das ihm bis zu seinem 21. Lebensjahr verwehrt geblieben war.
„So meinte ich es nicht“, erklärte Severus verlegen. „Du könntest mit deinen Fähigkeiten zum Beispiel Zaubereiminister werden!“
Mit verzogenem Gesicht winkte Harry ab. „Ist mir zu zeitintensiv. Außerdem mag ich den jetzigen Minister und hoffe sehr, dass er bei der nächste Wahl nochmal gewinnt.“
„Trotzdem wäre von Vorteil, wenn du analysieren würdest, was alles in dir steckt.“
„Von mir aus. Sag mir, was ich machen soll und ich mach’s. Ich habe keine Ahnung, wie ich dabei vorgehen soll.“
Auch Severus wusste nicht, wie Harry seine in der Zaubererwelt so selten vorkommenden Fähigkeiten erforschen könnte. Er konnte lediglich mit den Schultern zucken, bevor er sich nochmals für sein Verhalten entschuldigte. Es war die Schuld seiner Animagusform, die ihn in der Hoffnung hergetrieben hatte, von Harry ein für allemal erlöst zu werden, aber offenbar gab es keinen bequemen Weg.
„Wir sehen uns beim Frühstück“, verabschiedete sich Severus.
„Einen Moment noch.“ Severus drehte sich zu Harry herum, damit der Gastgeber sein Anliegen vorbringen könnte, was der auch ohne Umschweife tat. „War es schwer, sich in einen Animagus zu verwandeln? Wie lange hast du gebraucht?“
„Für mich war es nicht schwer, aber meine Situation kann man auch nicht als normal bezeichnen.“
„Wie meinst du das?“
Severus kam ein paar Schritte auf Harry zu, damit er leise sprechen konnte. „Ich meine damit, dass meine kaum vorhandene Fähigkeit zu Empfindungen es mir sehr leicht gemacht hat. Von Minerva habe ich erfahren, dass das intensive Animagus-Training je nach Person einige Wochen umfasst, bis man seine Gestalt gefunden hat. Mir gelang es beim ersten Mal, weil ich weder Aufregung noch Begeisterung empfand, um nicht genau zu sagen: Es war mir völlig egal, was ich finden würde.“
„Was glaubst du wäre ich für ein Tier?“ Die Frage war ihm vorhin von Ginny nicht beantwortet worden.
„Die Auswahl an Möglichkeiten ist groß. Ich wage zu bezweifeln, dass ich dich gut genug kenne, um deine Form einschätzen zu können.“ Severus beäugte ihn einen Moment lang. „Fühlst du dich animiert?“
„Es macht mich eher neugierig“, erwiderte Harry ehrlich. Er hatte sich schon einige Male dabei erwischt, wie er seinen Patenonkel um dessen Fähigkeit beneidete.
„Ich bin mir sicher, Minerva würde ihrem ehemaligen Lieblingsschüler diesen Wunsch nicht abschlagen.“
Die Idee, die immer mehr Form annahm, gefiel Harry. Seine Augen glänzten, als er sich erkundigte. „Was für ein Gefühl ist es?“
„Es ist unbeschreiblich“, schwelgte Severus in Erinnerungen. „Black wird dir einiges erzählen können.“
„Aber er ist ein Hund. Ich möchte wissen wie es ist, wenn man aus eigener Kraft fliegen kann.“
„Ich vermute“, begann Severus nachdenklich, „dass jede einzelne Tiergestalt in erster Linie eine ganz bestimmte Sache herausarbeitet und das ist das Gefühl der ausnahmslosen Freiheit. Es ist egal, ob als Fisch im Wasser oder als Vogel in der Luft – man ist frei und man spürt das in jeder einzelnen Feder.“
„Oder Schuppe“, vervollständigte Harry.
„Oder Schuppe, ganz recht. Ich kann es nur jedem empfehlen, es selbst zu tun.“
„Ich bin schon überredet.“ Harry lächelte und zeigte somit, dass sie kleine Meinungsverschiedenheit von vorhin längst vergessen war.
Für Hermine hingegen war einiges noch lange nicht vergessen, besonders nicht der Moment, nachdem Severus ihr die Feder gegeben hatte. Er war nicht lange geblieben, hatte sich ihr nur sehr kurz in seiner Animagusform gezeigt. Nachdem er gegangen war, hatte sie sich zunächst über den Vogel informiert. Die Informationen waren spärlich, weil sie aus einem Lexikon stammten. Morgen würde sie sich ein Vogelbuch bei Flourish und Blotts kaufen; das nahm sie sich fest vor.
Als nächstes hatte sie sich der schwarzen Feder zugewandt, der sie die gleiche Behandlung zuteilwerden ließ wie den Hundehaaren. Am Ende der verschiedenen Aufschlüsselungszauber testete sie die Feder noch auf ihr Verhalten unter der Einwirkung von Hitze. Die Feder und der Kiel versengten und wieder roch es wegen des Keratins wie nach verbrannten Haaren.
Mit den Ergebnissen machte sie sich nun daran, den Wert der Feder zu errechnen. Erst danach würde die eigentliche Arbeit beginnen, aber sie schon arge hatte Schwierigkeiten, bei der Wertbestimmung. Sie bekam dreizehn verschiedene Zahlen heraus. Immer wieder rechnete sie nach. Am Ende blieb ihr nichts anderes übrig als den Wert zu nehmen, den sie am häufigsten errechnet hatte. Schon hier breitete sich ein unangenehmes Gefühl in ihrem Magen aus. Was, wenn die Zahl die Falsche wäre? Hermine nahm einen Gripsschärfungstrank ein und begann von vorn.
Stunden vergingen, bis sie endlich ein und dasselbe Ergebnis fünfundzwanzig Mal hintereinander bekam. Erst jetzt durfte sie sich sicher sein. Die Feder von Severus‘ Animagusform war mit der Zahl 414,40 bestimmt. Es war die gleiche Zahl, mit der sie vorhin schon mit der Aufgabe hätte beginnen können, wären ihr keine Zweifel gekommen. Nichts wollte sie dem Zufall überlassen. Lieber ein Mal mehr nachrechnen als mit ungenauen Ergebnissen arbeiten. Eine Heilung für Severus zu finden war die wohl bedeutendste Aufgabe ihres ganzen Lebens und sie wollte es von Anfang an richtig machen.
Nur kurz verschnaufte Hermine, machte sich derweil einen Kaffee, auch wenn sie selbst ein Teetrinker war. Kaffee putschte sie schon allein aufgrund des angenehm bitteren Geschmacks mehr auf als ein Schwarztee. Mit einem Kännchen machte sie sich wieder an die Arbeit.
Obwohl sie den Entschluss schon einmal gefasst hatte, fragte sie sich nun, welche Zahl die korrekte für die Seele wäre. Die der Wissenschaftler und Heiler oder die von Aristoteles? Ein Buch musste her. Dank ihrer Heilerausbildung hatte sie umfassende literarische Werke, auch die aus dem Zeitalter frühster Medizin, zudem einige aus der Muggelwelt. Sie las und las, fand dann einen Ausspruch von Aristoteles, der einmal gesagt hatte – Hermine las laut vor: „Ändert sich der Zustand der Seele, so ändert dies zugleich auch das Aussehen des Körpers und umgekehrt: ändert sich das Aussehen des Körpers, so ändert dies zugleich auch den Zustand der Seele.“
Unweigerlich musste Hermine an Severus‘ Augen denken, die schon seit längerer Zeit nicht mehr pechschwarz, sondern braun waren wie ihre eigenen. Hermine staunte, als sie Aristoteles‘ Seelenlehre überflog. Bei einem seiner Texte musste sie ihren Ärger herunterschlucken, denn er nannte das Weibliche unvollkommener als das Männliche.
„Waren wir also ein kleiner Chauvi?“, murmelte sie angriffslustig. Aristoteles konnte von Glück sagen, dass er bereits tot war, sonst hätte Hermine sich gern mal mit ihm unterhalten.
Kurzfristig las sie sich in andere Schriften ein, die aus dem alten Griechenland stammten. Alle nannten vier wichtige Punkte, die die Seele betrafen. Jeder Körper würde nur über eine einzelne Seele verfügen, stand dort als erster Punkt. Der zweite war, dass diese Seele durch Wanderung den Körper wechseln könnte. Die anderen beiden Punkte waren, dass die Seele nach dem Tod weiterexistieren würde und außerdem, sollte sie keinen Leib ihr eigenen nennen, mit anderen Seelen körperlos an einem Ort hausen. Als Beispiel wurde in einer urgermanischen Schrift erwähnt, dass einer dieser Orte, an denen Seelen auf neue Körper warten würden, „Ewiger See“ genannt wurde. Der Trank, den Severus eingenommen hatte, trug mit seiner zerstörenden Wirkung definitiv den falschen Namen.
Wieder bei Aristoteles angekommen stolperte sie über die Aussage „Freundschaft ist eine Seele in zwei Körpern. Gleichheit die Seele der Freundschaft.“. Sie war sich sicher, dass das eine Bedeutung hatte. Freundschaft war immer von großem Wert. Im Mungos hatte sie erfahren, dass Patienten, die weniger oder gar keinen Besuch bekamen, nicht so schnell den Weg der Genesung einschlugen wie Menschen, die von Familie und Freunden umgeben waren. Womöglich hatte Freundschaft sogar einen arithmantischen Zahlenwert, schoss es Hermine durch den Kopf.
Sie hatte an einigen Stellen das Gefühl, der griechische Philosoph würde von dem Tier im Menschen schreiben – von einem Animagus. Ihr Entschluss stand bald fest. Sie wollte sich an alle Zahlen halten, die man mit den Schriften von Aristoteles in Zusammenhang brachte. Zur Zahl der Seele addierte sie den Wert für den Schutztrank und subtrahierten den Wert für den Ewigen See, den sie vorher auch erst noch aufgrund aller angewandten Zutaten herausbekommen musste. Als Ergebnis bekam sie die Zahl 1294,2 – den Wert für Severus‘ Seelenkern. Nun musste sie sich daran machen, mit den Werten verschiedenster Zutaten mathematisch zu ermöglichen, dass der Wert von Severus‘ Seelenkern wuchs. Dabei musste sie sich an die Formeln halten, die die Arithmantik vorgab. Es war eine schwierige und zeitraubende Aufgabe. Hermine begann auf der Stelle.
Anstatt einen Kessel anzuwerfen und mit Zutaten zu brauen, braute sie mögliche Heilmittel wieder nur theoretisch mit den vielen Zahlen. Zum Glück gab es Bücher, in denen die jeweiligen Zahlen für Zutaten angegeben waren. Sie warf also nicht Pfeilkraut und Zuckerbüsche in einen Topf, sondern addierte stattdessen 186,1 und 345,78 unter Beachtung angewandter Mengenalgebra und den wichtigen Werten für den Siedepunkt. Es gab unzählige Wege. Der einzige Hinweis waren die Zutaten, die im Ewigen See verwendet wurden.
Hermine prüfte die Zutaten, die das Gegenteil der Zutaten des Ewigen Sees darstellten. Es wäre zu schön gewesen, gleich beim ersten Mal auf die Lösung zu stoßen, aber natürlich kam es anders. Wenn die Zutaten vom Wert her nicht passten, änderte sie die Zubereitungsform. Allein das Pfeilkraut hatte weit über dreihundert verschiedene Werte, je nachdem, ob die Zutat frisch war, an der Luft oder im Keller getrocknet, geschnitten oder zerstoßen, fein oder grob gemahlen wurde. Die Liste ließ sich mit auch mit den anderen Zutaten beliebig fortführen. Hermine musste herausfinden, wie welche Zutat zubereitet sein musste. Sie war mehr als froh, das Originalrezept des Ewigen Sees zu kennen, denn nur so konnte sie von vornherein Zutaten wählen, die eine wachsende Wirkung aufwiesen.
Als es unten laut klopfte, schreckte Hermine hoch. Sie eilte zur Ladentür, nur um dort einen Kunden stehen zu sehen, der mit Hilfe seiner Hand durch die Scheibe spähte. Als er sie sah, lächelte er und ging einen Schritt zurück, so dass Hermine öffnen konnte.
„Sie haben doch geöffnet oder?“, wollte der Herr mittleren Alters wissen. In seiner Hand hielt er ein Stück Pergament, auf dem ein Heiler etwas notiert hatte.
Hermine stutzte. „Wie spät haben wir es denn?“
„Es ist kurz nach neun.“
Die Nacht war wie im Flug vergangen. Den ersten Schwall an Kunden, die mit Heilmittelempfehlungen der in der Nähe angesiedelten Heiler bei ihr aufschlugen, fertigte sie innerhalb von zwei Stunden ab. Danach kamen nur vereinzelt Kunden, weswegen Hermine ihre Arithmantikberechnung mit in den Verkaufsraum genommen hatte. Unter der Theke, vor jedem verborgen, rechnete sie heimlich weiter, wenn sie ein wenig Luft hatte.
Kurz vor der Mittagspause machte sich ein unangenehmer Geruch im Verkaufsraum breit. Hermine blickte von ihren Unterlagen auf und bemerkte einen Mann, den sie nie zuvor gesehen hatte. Trotzdem hatte sie das Gefühl, ihm schon einmal begegnet zu sein.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie den Herrn, der nun erschrocken von einem Fläschchen abließ, das er eben betrachtete.
„Huch, ich habe Sie gar nicht gesehen.“ Er kam ein paar Schritte auf sie zu. Sein Umhang war schmutzig, er selbst wirkte nicht viel sauberer. Als er vor ihr stand, schlug ihr ein strenger Geruch entgegen. Buttersäure.
„Wie kann ich Ihnen behilflich sein?“ Sie hielt sich zurück, nicht das Gesicht zu verziehen oder gar demonstrativ das Fenster zu öffnen. Der Mann stank nach altem Schweiß.
„Ich würde gern Vielsafttrank bestellen.“
Hermine wurde misstrauisch, entnahm dennoch einer Schublade ein Formular, das sie vor ihm auf den Tresen legte – mit einer Armlänge Abstand. Der Mann beguckte sich das Formular, ohne es zu berühren.
„Was ist das?“, wollte er wissen.
„Das Formular, das Sie ausfüllen müssen, bevor ich Ihnen Vielsafttrank verkaufen darf“, erklärte sie knapp.
Endlich nahm er das Pergament in die Hand und überflog die zig Fragen nach Name, Alter und Anschrift des Käufers sowie den Grund für die Verwandlung und den Namen der Person, in die sich verwandelt werden möchte.
„Warum zum Teufel wollen Sie das alles wissen?“ Seine raue Stimme klang grantig.
„Nicht ich will das wissen.“ Hermine hielt die Luft an und ging einen Schritt nach vorn, tippte dann auf das Zeichen des Ministeriums, das man oben im Kopf des Formulars sehen konnte. „Die wollen das wissen. Das sichert auch mich ab, damit ich nicht belangt werden kann, wenn Unfug damit getrieben wird.“
Der übelriechende Kunde schnaufte. Aus reinem Instinkt wich Hermine eine Schritt zurück, um nicht noch seinem Atem ausgesetzt zu sein, der sicherlich nicht besser roch.
„Und was ist, wenn ich mit meiner Frau einfach nur für eine Stunde die Rollen tauschen möchte?“
Sie zuckte mit den Schultern und nickte zum Pergament hinüber. „Da ist die Spalte für den Grund.“
„Das ist doch albern!“, schimpfte der Mann.
„Nein, das ist Gesetz.“
Durch zusammengekniffene Lider blickte er sie fies an. Ein ungutes Gefühl überkam sie, aber sie konnte es nicht einordnen. Irgendwoher kannte sie ihn, aber sein Gesicht war ihr vollkommen fremd. Vielleicht, vermutete sie verängstigt, war er längst durch Vielsafttrank verwandelt?
„Darf ich das mitnehmen?“ Der Kunde winkte mit dem Formular, so dass sie nickte. „Gut.“ Er verstaute es in seinem Umhang. „Dann nehme ich noch was gegen Kopfschmerzen.“ Als Hermine sich umdrehte, um aus dem Regal hinter sich das Glas mit den Dragees zu nehmen, hörte sie seine raue Stimme sagen: „Danke, Schätzchen.“
Das Blut gefror ihr in den Adern, denn endlich wusste sie, woher sie diesen Mann kannte – seine raue Stimme, diese Worte und der übler Geruch. Er war einer von den beiden gewesen, die sie auf dem Weg zu Gringotts überfallen hatten. Ihr Herz schlug plötzlich so heftig, dass sie befürchtete, er könnte es hören. All ihren Mut zusammennehmend nahm sie das Glas und drehte sie um; machte dabei gute Miene zum bösen Spiel.
„Wie viele sollen es sein?“ Sie hielt bereits eine kleine Papiertüte in der Hand, in der sie die Dragees füllen wollte.
„Zwanzig reichen. Was kostet das?“
Hermine beobachtete, wie der Dieb ein Säckchen aus seinem Umhang fischte, das ihr sehr bekannt vorkam. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, die gestohlenen Galleonen in einen eigenen Geldbeutel umzufüllen. Stattdessen trug er den ihren bei sich. Hermine ließ sich nichts anmerken.
„Dreißig Sickel und zehn Knuts.“
„Das ist aber preiswert“, murmelte er, als er von ihrem Geld den entsprechenden Betrag abzählte und auf die Theke legte. „Machen Sie dabei eigentlich einen guten Gewinn?“
Ihre Atmung wurde immer hastiger. Die Erinnerungen an den Überfall waren wieder sehr präsent. Auch wenn es taghell war und sie draußen einige Menschen die Winkelgasse entlangschlendern sah, bekam sie es langsam mit der Angst zu tun.
„Warum fragen Sie?“ Nur in Gedanken fügte sie hinzu: ‘Um mich nochmal auszurauben?‘
„Weil ich Ihnen durchaus viel mehr Geld anbieten würden, wenn wir die Sache mit dem“, er lehnte sich über die Theke und verbreitete damit seinen scheußlichen Gestank noch viel mehr, „Formular vom Ministerium vergessen könnten? Ich würde nicht geizen.“
Der Vorwurf lag ihr auf der Zunge, dass er nicht einmal mit seinem eigenen Geld bezahlen wollte. Rechtschaffen, wie Hermine war, richtete es sich gegen all ihre Prinzipien, auf diesen Handel einzugehen, doch andererseits hätte sie nur so die Möglichkeit, später mit Severus‘ Hilfe diesen Mann dingfest zu machen.
„Was würden Sie mir denn anbieten?“, fragte sie mit einer Unschuldsmiene.
„Was kostet der Trank normalerweise?“
„32 Galleonen.“
Der Mann verzog das Gesicht, bevor er fies grinste. „Machen wir 20 draus. Vergessen Sie nicht, dass der Betrag für Sie ‘steuerfrei‘ ist.“
„Vergessen Sie nicht, dass es einen Monat braucht, um ihn zu brauen“, erinnerte sie ihn. „Sagen wir 25 und es wird was draus.“
Eine schmutzige Hand mit schwarzen Fingernägeln streckte sich ihr entgegen. Nur wiederwillig schlug sie ein.
„Dann bis in einem Monat.“
Der Kunde war kaum zur Tür raus, da schloss Hermine die Apotheke und eilte nach oben ins Badezimmer, um sich angeekelt die Hände zu waschen. Sie zitterte am ganzen Leib. Nur der Gedanke an eine gerechte Strafe, die dem Mann blühen würde, ließ sie die Furcht bekämpfen.
Aufmerksam verfolgte Harry von der Couch aus die Erkundungstour von Nicholas, der eine Feder von Hedwig auf dem Boden gefunden hatte. Von deren Weichheit war er vollkommen hingerissen.
„Nicht in den Mund nehmen“, sagte er ruhig zu dem Jungen, der das Verbot seines Vaters ignorierte und die Feder mit der Zunge betastete. Harry stand auf und ging hinüber, um sich neben Nicholas zu setzen. Mit seinem Zauberstab sorgte er dafür, dass ein Ball von alleine zu rollen begann. Die Feder war auf der Stelle uninteressant geworden und wurde fallengelassen, so dass Harry sie mit einem Evanesco verschwinden lassen konnte. Nicholas rollte den Ball zu Harry hinüber, der ihn stoppte und zurückrollte. Nicholas quiekte vergnügt. Während er mit dem Kind spielte, dachte er immer wieder an eine bestimmte Sache.
Es waren sieben Animagi gewesen, die Minerva damals bei Schulbeginn unter den dreizehn- bis fünfzehnjährigen Schülern ausfindig machen konnte. Harry erinnerte sich daran, dass er im Lehrerzimmer das Gespräch zwischen ihr und Albus verfolgt hatte. Die Gestalten der Kinder waren die von Fluchttieren, ein Chinchilla, eine Rennmaus, ein Pferd, zwei Rehe, ein Kaninchen und ein Meerschweinchen. Harry hatte die Formen der Schülerinnen und Schüler mehr als nur einmal gesehen, wenn sie sich mit verständlichem Stolz vor ihren Freunden verwandelten. Jetzt, nachdem auch Severus eine Form hatte, ließ ihn eine Frage nicht mehr los.
„Ginny?“ Als sie von ihren Büchern aufblickte, fuhr er fort. „Was meinst du, was ich für ein Tier wäre?“
„Was denn für ein Tier?“
„Als Animagus, was wäre ich da?“
Ihre Stirn schlug Falten. „Damit befasse ich mich erst, wenn ich weiß“, sie blickte auf ihre Astronomieberechnungen, „warum ich zweimal Kallisto habe.“
„Zweimal was bitte?“
„Ich habe einen der Jupitermonde doppelt und ich bin mir ziemlich sicher, dass das ein Fehler ist.“
Verständnisvoll nickte Harry. „Ich hatte mal zwei Neptune.“ Ein theatralischer Seufzer entwich ihm. „Glaub mir, ich weiß ganz genau, wie du dich fühlst.“
„Wie hast du den zweiten weggerechnet?“
„Mit Hermine!“
Weil Hermine nicht da war, tat Harry alles in seiner Macht stehende, um Ginny bei den Vorbereitungen für die ZAG-Prüfungen zu helfen. Leider war das nicht viel. Astronomie war nie sein Steckenpferd, aber es hieß, dass man aus Fehlern lernte und das war auch diesmal so, nur dass Ginny aus seinen Fehlern lernte. Wenn er Vorschläge machte, die nur in die Irre führten, erklärte sie ihm, wie sie auf ihr Ergebnis gekommen war. Auf diese Weise fand sie tatsächlich den Fehler und konnte ihn beseitigen.
„Du bekommst sicher überall Bestnoten“, vermutete Harry laut.
„Besonders in ‘Verteidigung gegen die Dunklen Künste‘.“ Sie grinste breit. „Aber nicht, dass man mir anlastet, ich hätte nur ein Ohnegleichen bekommen, weil entsprechender Professor mit mir liiert ist.“
„Ich prüfe euch ja nicht einmal, da kann so ein Verdacht gar nicht aufkommen. Ich weiß zufällig, dass wieder Professor Tofty vom Ministerium kommt. Er übernimmt immer den praktischen Prüfungsteil für ‘Verteidigung‘ und ‘Zauberkunst‘. Ich glaube, bei ‘Geschichte der Zauberei‘ macht er die Theorie.“
„Da werde ich versagen, das weiß ich jetzt schon“, stöhnte Ginny. „Gab es eigentlich jemals einen Schüler – und ich meine außer Hermine –, der dort ein ‘O‘ bekommen hat?“
„Ich hatte bei der Abschlussprüfung damals ein ‘S‘. Schlimmer kann es bei dir gar nicht werden.“
„Natürlich kann es schlimmer werden. Ich könnte ein ‘Troll‘ bekommen.“
Harry schüttelte den Kopf. „Die Koboldaufstände werden immer geprüft und davon weißt du eine Menge.“
Vom Lernen hatte Ginny heute genug. Ihre Bücher und Pergamente legte sie ganz weit weg, damit sie den Sonntagabend noch mit Harry und Nicholas genießen konnte.
„Er wird wohl gar nicht müde“, stellte sie fest, als Nicholas mit einem aufgeregt fröhlichen Grinsen in Richtung Tür robbte, neben der Harry seinen Twister abgestellt hatte. Der Junge streckte die kleinen Hände nach dem Flugbesen aus. „Der Besen hat eine magische Anziehungskraft auf ihn. Er wird mal ein berühmter Quidditch-Spieler werden, ganz bestimmt.“ Ginny stimmte ihren eigenen Worten mit einem Nicken zu.
Mit einer intuitiven Bewegung seiner Hand rettete Harry den Kleinen vor dem umfallenden Besen. „Herrje, wer hätte gedacht, mit was sich unser Elf so herumschlagen muss, jetzt wo Nicholas schon etwas agiler ist?“
„Wart nur ab, bis er laufen kann!“, drohte Ginny mit schelmischem Lächeln.
Ein dumpfer Aufprall war zu hören. Aufgeschreckt blickten Harry und Ginny in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Sie sahen die leere Stange, auf der sonst immer der Phönix saß.
„Fawkes?“ Harry eilte zu dem Vogel, der auf den Boden gefallen war. Benommen vom zum Glück nicht sehr tiefen Sturz blieb der kränkliche Vogel an Ort und Stelle liegen. Er versuchte nicht einmal, aus eigener Kraft zurück auf die Stange zu fliegen. „Ach du meine Güte, Fawkes. Was ist nur mit dir los?“
In der letzten Zeit war der körperliche Verfall des Phönix sehr deutlich geworden. Immer mehr kahle Stellen verunstalteten den einst prächtig scharlachrot gefiederten Freund. Harry kniete sich neben den Feuervogel nieder und streichelte den Kopf des geschwächten Tiers. Ginny kam lieber nicht zu dicht heran. Noch immer war Fawkes anderen Menschen gegenüber ungewohnt angriffslustig.
„Was hat er?“, fragte sie aus sicherer Entfernung.
„Ich weiß es nicht. Würde ich nicht wissen, dass ein Phönix nicht sterben kann, würde ich sagen, seine Zeit ist abgelaufen.“ Harry seufzte. „Als ich ihn damals bei Albus im Büro gesehen habe, bevor er brannte, sah er nicht so schlimm aus wie jetzt. Ich weiß nicht, warum er sich sträubt.“
„Vielleicht weil es wehtut?“
Harry zuckte mit den Schultern. „Er müsste es gewohnt sein, meinst du nicht?“ Vorsichtig befühlte Harry die Verhärtung am Bauch des Vogels. „Vielleicht ist es auch deswegen. Ich weiß nicht, was das ist, aber es ist hart und gehört da definitiv nicht hin.“
Weil er den Phönix zärtlich am Bauch kraulte, legte der Vogel seinen Kopf auf Harrys Unterarm und genoss die Liebkosung, schloss dabei sogar die Augen. Harry machte sich wirklich Sorgen. Von Albus hatte er nicht erfahren, was der Vogel haben könnte. Vorsichtig nahm Harry den gefiederten Gefährten in den Arm, bevor er ihn auf seinen Oberschenkeln absetzte. Ginny beobachtete das skeptisch.
„Der sicherste Platz für einen Vogel, der jeden Moment Feuer fangen kann, ist immer noch dein Schoß.“
Harry gab ihr Recht. „Aber was soll ich sonst mit ihm machen? Ich möchte nicht, dass er noch einmal fällt.“
Einen Moment lang überlegte Ginny sich eine Lösung. „Dann zaubere seine Feuerschale niedriger, aber bitte nicht so, dass Nicholas rankommt.“
Ginnys Vorschlag setzte er in die Tat um. Die Feuerschale samt Stange brache er näher an den Boden heran. Außerdem vergrößerte er die Schale noch. Er wollte verhindern, dass Fawkes in einem ungünstigen Moment auf den Teppich fallen und ihn in Brand setzten würde.
„So, mein Guter.“ Harry erhob sich und setzte Fawkes direkt in der feuerfesten Schale ab. „Ruh dich aus oder erneuere dich. Länger kann ich nämlich nicht mehr mit ansehen, wie du leidest.“
Fawkes schien verstanden zu haben, denn er nickte, bevor er den Kopf unter einen Flügel steckte, um ein wenig zu dösen. Von gegenüber hatte Hedwig alles ganz genau beobachtet. Sie hatte den Phönix in letzter Zeit nicht mehr aus den Augen gelassen.
„Was hast du eigentlich mit seinen Tränen gemacht, die ich aufgefangen habe, als du dir die Erinnerungen angesehen hast?“, wollte Ginny wissen.
Harry sammelte Nicholas vom Boden auf und gesellte sich zu seiner Verlobten auf die Couch. „Die haben ich Poppy gegeben. Sie meinte zwar, sie wird in den nächsten zwanzig Jahren wohl keine Verwendung dafür finden, aber es wäre gut zu wissen, ein so potentes Heilmittel im Haus zu haben.“
Der Junge auf seinem Schoß begann zu quengeln, weil er wieder auf den Boden wollte. Als er sich aus Harrys Armen winden wollte, stieß er mit seinem kleinen Knie versehentlich in eine sehr empfindliche Körperstelle. Harry zog Luft durch die Zähne.
„Das brauche ich noch, mein Kleiner.“ Harry beugte sich nach vorn, um sich vor weiteren Tritten dieser Art zu schützen. Nicholas weinte, machte sich dabei lang, um auf den Boden zu gelangen, doch Harry hielt ihn mit beiden Händen an der Taille, was Ginny belustigt beobachtete.
„Lass ihn ruhig noch etwas runter. Vielleicht haben wir dann die Chance, wenigstens mal eine Nacht durchzuschlafen, wenn er sich jetzt mal völlig verausgaben kann.“
„Von mir aus“, stimmte Harry zu.
Er setzte den Jungen vorsichtig auf dem Boden ab. Auf der Stelle robbte Nicholas auf Händen und Knien hinüber zu Hedwigs Sitzstange, an der er ehrfürchtig mit seinen großen blauen Augen hinaufblickte. Hedwig blickte an ihrem spitzen Schnabel zu ihm hinunter und gab ein freundliches Schuhu von sich. Die zärtliche Kommunikation zwischen Menschenkind und magischem Tier beobachteten Ginny und Harry sehr interessiert. Nicholas streckte sehnsüchtig seine Arme nach Hedwig aus, die daraufhin nach unten geflogen kam und sich dem Kind hüpfend näherte. Sie achtete darauf, dass er sie nicht zu packen bekam, ließ sich aber streicheln, auch wenn das aufgrund der noch nicht so ausgebildeten Feinmotorik des Kindes manchmal etwas grob ausfiel.
Harry verspürte ein Bedürfnis. „Ich bin mal eben woanders.“
Kaum war er aus dem Wohnzimmer gegangen, klopfte es. Ginny bat den Gast herein. Mit ihrem Zaubertränkelehrer hatte sie bestimmt nicht auf einen Sonntagabend gerechnet.
„Professor“, grüßte sie nickend.
„Guten Abend, Miss Weasley. Ich wollte Harry sprechen.“ Unsicher blickte er sich im Wohnzimmer um. „Ist er da?“
„Ja, ich hole ihn. Nehmen Sie doch Platz.“
Mit Severus im Raum befand sie Nicholas für sicher, so dass sie im Schlafzimmer verschwand, um von dort aus Harry durch die Tür zum Badezimmer Bescheid zu geben. Der war allerdings schon fertig für ein Schaumbad ausgezogen und müsste sich erst wieder anziehen.
Weil Harry nicht sofort zu ihm kam, blickte sich Severus im Wohnzimmer um. Der Phönix fiel ihm auf. Er lag in der Feuerschale und wirkte wie tot. Sein Kopf weilte unter einem Flügel und er schien fest zu schlafen. Die Atmung war kaum zu sehen. Giggelnde Geräusche kamen aus der entgegengesetzten Richtung. Severus machte zwei Schritte, um hinter die Couch sehen zu können. Das Kind vergnügte sich mit der Schneeeule, die den kleinen Händen gestattete, das Gefieder zu tätscheln. Severus seufzte, machte mit dem Geräusch den Jungen auf sich aufmerksam, der seine leuchtenden Augen von Hedwig auf den schwarz gekleideten Mann richtete. Ein unergründlicher Gedanke musste sich in dem Kopf des Jungen geformt haben, denn er krabbelte langsam auf Severus zu. Darüber erschrocken ging Severus einen Schritt zurück, dann noch einen, als der Junge wie ein bedrohliches Übel unaufhaltsam näher kam. Severus stieß mit dem Rücken gegen die Tür. Mit Entsetzen betrachtete er den langen Faden aus Speichel, der aus dem breit grinsenden Kindermund herunterhing. Als sich das Kind zu seinen Füßen niedergelassen hatte, griff es nach den Schuhen, doch Severus war schneller und zog den Fuß weg. Nicholas schaute, wie vorhin schon bei Hedwig, diesmal an dem großen Mann empor, riss dann die beiden kleinen Arme in die Luft, weil er getragen werden wollte.
„Das hättest du wohl gern“, murmelte Severus. Auch das erschöpfte Seufzen des Jungen erweichte Severus nicht. Er blieb regungslos an der Tür stehen und hoffte, dass Harry bald kommen würde. Ungeduldig schaute er zur Schlafzimmertür hinüber, aber die regte sich nicht. Plötzlich spürte Severus ein leichtes Ziehen an seinem Umhang. Ein Blick nach unten bestätigte die Befürchtung, dass der Junge den Stoff der Kleidung zu fassen bekommen hatte und nicht daran dachte loszulassen. Severus zerrte an seinem Umhang, aber der Junge hatte seine Hände darin vergraben. Das Kind zog immer mehr, bis es am Ende auf den eigenen zwei Beinen stand. Mit einer Hand hielt Nicholas sich am Umhang fest, die andere suchte Halt an den Falten der Hose. Severus presste sich immer dichter mit dem Rücken an die Tür. Er spielte bereits mit dem Gedanken, laut nach Harry zu rufen, damit er endlich Erlösung von dem aufdringlichen Kind finden würde, da öffnete sich die Tür. Ginny trat heraus und blickte wie versteinert zu Severus und Nicholas hinüber. Nach einer Schrecksekunde brach eine Art willkommene Panik bei ihr aus.
„HARRY, HARRY!“, rief sie zittrig. „Komm schnell her!“
Severus konnte die Aufregung nicht nachvollziehen, war aber auf der Hut, als sie unerwartet ihren Stab zog. Von überreagierenden Müttern hatte er schon viel gehört. Doch sie griff ihn nicht an, dazu gab es seines Erachtens auch gar keinen Grund. Er war hier das Opfer. Das Kind stand noch immer bei ihm, trat ihm auch noch auf den Fuß, worin Severus sogar eine Absicht vermuteten wollten.
„Accio Kamera!“ Mit einem Male kam eine Kamera aus dem Schlafzimmer direkt in Ginnys Hände geflogen. Sie drückte in Windeseile ein paar Knöpfe an dem Gerät, bevor sie es auf Severus richtete. Erst jetzt ahnte er, was ihm blühte.
Mit ausgestrecktem Zeigefinger drohte er: „Wagen Sie es ja nicht, Miss Weasley!“
Schon blendete ihn der Blitz der Kamera. Er blinzelte einige Male, um den auf der Netzhaut gebrannten Fleck verschwinden zu lassen. Kaum blickte er auf, wurde er ein zweites Mal geblendet.
„Es reicht, Miss Weasley!“ Seine Einwände wurden vollkommen ignoriert, denn ein dritter Blitz beeinträchtigte sein Sehvermögen. Noch schlimmer wurde es, als Harry endlich aus dem Schlafzimmer kam, nur in Jogginghose und T-Shirt bekleidet.
„Oh mein Gott, oh mein Gott, oh mein Gott!“ Zu mehr begeisterten Worten war Harry nicht fähig, als er Nicholas bei Severus sah.
„Harry!“ Severus forderte mit seiner Tonlage dazu auf, umgehend mit dem Unfug aufzuhören.
„Er steht!“ Noch immer konnte Harry es nicht fassen, dass er dabei sein durfte, als Nicholas das erste Mal aufrecht stand und das ohne fremde Hilfe. Er hatte sich an Severus‘ Umhang hochgezogen und stand, wenn auch ein wenig hin- und herschlingernd, aus eigener Kraft.
Wegen des Aufruhrs, den seine Eltern im Zimmer veranstalteten, verlor Nicholas erst die Konzentration, dann das Gleichgewicht und er landete auf seinem durch die Windel gut gepolsterten Po. Es war Ginny, die den Kleinen vom Boden auflas und ihn mit hoher Stimme wegen seiner Leistung lobte. Harry schloss sich ihr an. Immerhin stellte das ein Ereignis dar, das es nur einmal im Leben gab.
„Ich werde besser nächste Woche wiederkommen.“ Severus hatte bereits die Hand an der Klinke, da hielt Harry ihn auf.
„Severus warte.“ Severus drehte sich um. Erleichtert verfolgte er, wie Ginny mit dem Kind ins Schlafzimmer ging. Die vorangegangene Situation versuchte Harry zu erklären. „Du musst schon entschuldigen, was eben passiert ist. Das war ein niemals wiederkehrender Moment, der wohl alle Eltern von den Socken haut.“ Bevor er noch ins Schwärmen geraten würde, fragte Harry: „Was gibt es denn?“
Severus schüttelte resignierend den Kopf. „Ich war ein Narr, hier herzukommen.“
„Warum denn? Wie kann ich helfen?“ Weil Severus mit einer Antwort zurückhielt, bot Harry ihm einen Platz an, den Severus nur zögernd annahm. „Also raus mit der Sprache.“
An seiner Unterlippe kauend blickte Severus erst auf seine Hände, dann auf den Boden. Es war die Gestalt des Animagus gewesen, die ihn dazu getrieben hatte, Harry aufzusuchen oder vielmehr das Gefühl, dass der Sekretär ihn so selbstlos erleben ließ. Das Gefühl, das auch schon Harry mit dem kleinen Unfall ausgelöst hatte.
„Severus?“ Harry machte einen verwirrten Eindruck, was auch verständlich war. Er hatte keine Ahnung, weshalb sein Kollege ihn aufgesucht hatte.
„Der Abend des Quidditch-Spiels“, half Severus ihm auf die Sprünge. „Was hast du gemacht, bevor sich die Magie aus dir gelöst hat?“
„Ich habe keine Ahnung“, versicherte Harry aufrichtig. Bei der Antwort rollte Severus mit den Augen, bevor er von der Couch aufstand. „Moment!“ Harry eilte seinem Gast hinterher. „Ich war glücklich.“
Severus schnaufte. „Bist du nicht immer glücklich?“ Das vorangegangene Szenario mit Nicholas, der zum ersten Mal alleine gestanden hatte, war ein gutes Beispiel dafür, wie leicht Harry zufriedenzustellen war.
„Es war mehr, es war wie eine vollkommene innere Zufriedenheit, die ich an dem Abend gespürt habe.“ Harry legte den Kopf schräg, kniff die Augen zusammen. „Warum fragst du das überhaupt?“
„Weil ich es wiederhaben will!“, erklärte Severus mit einer Bestimmtheit in der Stimme, die Harry eine Gänsehaut über den Rücken jagte.
„Wenn ich wüsste, wie das möglich ist, dann wärst du der Erste, dem ich davon erzählen würde.“
„Ich habe auf der Siegesfeier mitgehört, wie du Miss Lovegood versucht hast zu erklären, wie du Voldemort besiegt hast.“
Harry erinnerte sich daran. Vor Luna hatte er die Handbewegung nachgeahmt, die er mit seinem Stab gemacht hatte, als sich plötzlich die goldene Magiekugel aus seiner Hand löste. Vielleicht war es nur diese Handbewegung gewesen, dachte Harry.
„Ich kann es noch einmal versuchen“, bot er dem Tränkemeister an.
„Ich warte!“
Er entfernte sich einen Schritt von Severus, bevor er tief durchatmete und seine Hand hob. Harry ließ sein Handgelenk geschwind kreisen und machte eine abschüttelnde Bewegung in Richtung Severus. Es tat sich nichts.
„Es tut mir wirklich leid“, bedauerte Harry zutiefst.
„Einen Versuch war’s wert.“ Die Enttäuschung war nicht zu überhören. Severus hob und senkte die Schultern, die er am Ende noch ein niedriger hängen ließ als zuvor. Weder als Empfehlung noch als Bitte forderte Severus: „Wie wäre es, wenn du dich damit ein wenig beschäftigst!“
„War das ein Befehl?“, fragte Harry nach, denn es klang so.
„Ich verstehe nicht, wie du so interesselos sein kannst. Da hast du eine Gabe in dir und du versuchst nicht im Geringsten, ihr auf die Schliche zu kommen.“
„Wie soll ich das denn anstellen?“, fragte Harry grantig zurück. Der Vorwurf gefiel ihm gar nicht. Es wirkte so, als würde Severus ihn für unfähig halten.
„Ein wenig Meditation vielleicht, um zu ergründen, was genau es war, dass diesen Magiestoß ausgelöst hat! Es muss doch verdammt noch mal reproduzierbar sein!“
„Hey, nicht so laut bitte!“, wies Harry ihn zurecht.
Severus schien um Worte verlegen. Er hatte sich von seinem Besuch mehr erhofft, das konnte Harry sehen, und er war enttäuscht worden.
„An dem Tag des Spiels konnte ich die Gabe allein durch meinen Wunsch kontrollieren.“
„Das war aber die Gabe, Menschen und Dingen nicht mehr sehen zu wollen. Hat das mit der Magieentladung zu tun?“, fragte Severus nach.
Harry antwortete kleinlaut. „Ich weiß es nicht.“
„Und genau das meine ich! Hast du es nach diesem Tag überhaupt noch einmal versucht, diese Gabe anzuwenden?“
„Nein.“
„Dann kann man schwerlich behaupten, du würdest sie kontrollieren können. Was ist mit der magischen Kugel, die du so mir nichts, dir nichts aus dem Handgelenk geschleudert hast?“ Aufgrund der Frage senkte Harry beschämt seinen Blick. „Dachte ich’s mir! Du hast nichts getan, um diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Ist dir das alles völlig gleichgültig? Du bist vielleicht der mächtigste Zauberer der Welt und du ignorierst das einfach. Was für ein Zauberer bist du eigentlich?“
Auf diese Weise kritisiert zu werden konnte Harry gar nicht leiden, weswegen er gekränkt antwortete: „Einer, dem völlig egal ist, wie stark er ist!“ Er stemmte seine Hände in die Hüfte. „Und jetzt geh bitte. Ich möchte mir diesen schönen Tag nicht mit einer unnötigen Streiterei verderben lassen.“
„Wie kann man nur so ignorant sein?“
„Es ist genug, Severus! Selbst wenn ich genauso mächtig wie Albus wäre, was sollte ich dann deiner Meinung nach tun?“ Harry hob beide Hände in fragender Geste. „Die Weltherrschaft an mich reißen?“
„Das ist nicht witzig!“
„Aber es läuft doch darauf hinaus oder etwa nicht? Was nutzt einem alle Macht der Welt, wenn man die nicht dafür anwenden kann, andere zu unterjochen? Viele denken so, das weiß ich. Auch eine Menge Todesser denken so.“
Harry hatte Severus absichtlich provoziert und ließ von dem Thema auch nicht ab. Er erinnerte sich an die Zeit, als Albus geglaubt hatte, er wäre ein potenzieller neuer Dunkler Lord. Auch die Unterhaltung mit Draco, der Albus‘ abwegige Vermutung verspottete, schoss ihm durch den Kopf.
„Sollte ich es mir eines Tages anders überlegen und machtdürstend nach Anhängern für meine Sache suchen, dann wärst du der Erste, dem ich als mein Zeichen eine Kette aus Gänseblümchen um den Hals lege!“
„Was bitte?“, fragte Severus verwirrt nach.
„Beschwer dich bei Draco. Das war seine Idee.“
Die Lächerlichkeit der Worte und auch den Sinn, den Harry damit vermitteln wollte, hatte Severus zweifelsohne verstanden. Harry war jemand, der seine kräftige Magie höchstens dafür einsetzen wollte, ein ruhiges und schönes Familienleben zu führen – etwas, das ihm bis zu seinem 21. Lebensjahr verwehrt geblieben war.
„So meinte ich es nicht“, erklärte Severus verlegen. „Du könntest mit deinen Fähigkeiten zum Beispiel Zaubereiminister werden!“
Mit verzogenem Gesicht winkte Harry ab. „Ist mir zu zeitintensiv. Außerdem mag ich den jetzigen Minister und hoffe sehr, dass er bei der nächste Wahl nochmal gewinnt.“
„Trotzdem wäre von Vorteil, wenn du analysieren würdest, was alles in dir steckt.“
„Von mir aus. Sag mir, was ich machen soll und ich mach’s. Ich habe keine Ahnung, wie ich dabei vorgehen soll.“
Auch Severus wusste nicht, wie Harry seine in der Zaubererwelt so selten vorkommenden Fähigkeiten erforschen könnte. Er konnte lediglich mit den Schultern zucken, bevor er sich nochmals für sein Verhalten entschuldigte. Es war die Schuld seiner Animagusform, die ihn in der Hoffnung hergetrieben hatte, von Harry ein für allemal erlöst zu werden, aber offenbar gab es keinen bequemen Weg.
„Wir sehen uns beim Frühstück“, verabschiedete sich Severus.
„Einen Moment noch.“ Severus drehte sich zu Harry herum, damit der Gastgeber sein Anliegen vorbringen könnte, was der auch ohne Umschweife tat. „War es schwer, sich in einen Animagus zu verwandeln? Wie lange hast du gebraucht?“
„Für mich war es nicht schwer, aber meine Situation kann man auch nicht als normal bezeichnen.“
„Wie meinst du das?“
Severus kam ein paar Schritte auf Harry zu, damit er leise sprechen konnte. „Ich meine damit, dass meine kaum vorhandene Fähigkeit zu Empfindungen es mir sehr leicht gemacht hat. Von Minerva habe ich erfahren, dass das intensive Animagus-Training je nach Person einige Wochen umfasst, bis man seine Gestalt gefunden hat. Mir gelang es beim ersten Mal, weil ich weder Aufregung noch Begeisterung empfand, um nicht genau zu sagen: Es war mir völlig egal, was ich finden würde.“
„Was glaubst du wäre ich für ein Tier?“ Die Frage war ihm vorhin von Ginny nicht beantwortet worden.
„Die Auswahl an Möglichkeiten ist groß. Ich wage zu bezweifeln, dass ich dich gut genug kenne, um deine Form einschätzen zu können.“ Severus beäugte ihn einen Moment lang. „Fühlst du dich animiert?“
„Es macht mich eher neugierig“, erwiderte Harry ehrlich. Er hatte sich schon einige Male dabei erwischt, wie er seinen Patenonkel um dessen Fähigkeit beneidete.
„Ich bin mir sicher, Minerva würde ihrem ehemaligen Lieblingsschüler diesen Wunsch nicht abschlagen.“
Die Idee, die immer mehr Form annahm, gefiel Harry. Seine Augen glänzten, als er sich erkundigte. „Was für ein Gefühl ist es?“
„Es ist unbeschreiblich“, schwelgte Severus in Erinnerungen. „Black wird dir einiges erzählen können.“
„Aber er ist ein Hund. Ich möchte wissen wie es ist, wenn man aus eigener Kraft fliegen kann.“
„Ich vermute“, begann Severus nachdenklich, „dass jede einzelne Tiergestalt in erster Linie eine ganz bestimmte Sache herausarbeitet und das ist das Gefühl der ausnahmslosen Freiheit. Es ist egal, ob als Fisch im Wasser oder als Vogel in der Luft – man ist frei und man spürt das in jeder einzelnen Feder.“
„Oder Schuppe“, vervollständigte Harry.
„Oder Schuppe, ganz recht. Ich kann es nur jedem empfehlen, es selbst zu tun.“
„Ich bin schon überredet.“ Harry lächelte und zeigte somit, dass sie kleine Meinungsverschiedenheit von vorhin längst vergessen war.
Für Hermine hingegen war einiges noch lange nicht vergessen, besonders nicht der Moment, nachdem Severus ihr die Feder gegeben hatte. Er war nicht lange geblieben, hatte sich ihr nur sehr kurz in seiner Animagusform gezeigt. Nachdem er gegangen war, hatte sie sich zunächst über den Vogel informiert. Die Informationen waren spärlich, weil sie aus einem Lexikon stammten. Morgen würde sie sich ein Vogelbuch bei Flourish und Blotts kaufen; das nahm sie sich fest vor.
Als nächstes hatte sie sich der schwarzen Feder zugewandt, der sie die gleiche Behandlung zuteilwerden ließ wie den Hundehaaren. Am Ende der verschiedenen Aufschlüsselungszauber testete sie die Feder noch auf ihr Verhalten unter der Einwirkung von Hitze. Die Feder und der Kiel versengten und wieder roch es wegen des Keratins wie nach verbrannten Haaren.
Mit den Ergebnissen machte sie sich nun daran, den Wert der Feder zu errechnen. Erst danach würde die eigentliche Arbeit beginnen, aber sie schon arge hatte Schwierigkeiten, bei der Wertbestimmung. Sie bekam dreizehn verschiedene Zahlen heraus. Immer wieder rechnete sie nach. Am Ende blieb ihr nichts anderes übrig als den Wert zu nehmen, den sie am häufigsten errechnet hatte. Schon hier breitete sich ein unangenehmes Gefühl in ihrem Magen aus. Was, wenn die Zahl die Falsche wäre? Hermine nahm einen Gripsschärfungstrank ein und begann von vorn.
Stunden vergingen, bis sie endlich ein und dasselbe Ergebnis fünfundzwanzig Mal hintereinander bekam. Erst jetzt durfte sie sich sicher sein. Die Feder von Severus‘ Animagusform war mit der Zahl 414,40 bestimmt. Es war die gleiche Zahl, mit der sie vorhin schon mit der Aufgabe hätte beginnen können, wären ihr keine Zweifel gekommen. Nichts wollte sie dem Zufall überlassen. Lieber ein Mal mehr nachrechnen als mit ungenauen Ergebnissen arbeiten. Eine Heilung für Severus zu finden war die wohl bedeutendste Aufgabe ihres ganzen Lebens und sie wollte es von Anfang an richtig machen.
Nur kurz verschnaufte Hermine, machte sich derweil einen Kaffee, auch wenn sie selbst ein Teetrinker war. Kaffee putschte sie schon allein aufgrund des angenehm bitteren Geschmacks mehr auf als ein Schwarztee. Mit einem Kännchen machte sie sich wieder an die Arbeit.
Obwohl sie den Entschluss schon einmal gefasst hatte, fragte sie sich nun, welche Zahl die korrekte für die Seele wäre. Die der Wissenschaftler und Heiler oder die von Aristoteles? Ein Buch musste her. Dank ihrer Heilerausbildung hatte sie umfassende literarische Werke, auch die aus dem Zeitalter frühster Medizin, zudem einige aus der Muggelwelt. Sie las und las, fand dann einen Ausspruch von Aristoteles, der einmal gesagt hatte – Hermine las laut vor: „Ändert sich der Zustand der Seele, so ändert dies zugleich auch das Aussehen des Körpers und umgekehrt: ändert sich das Aussehen des Körpers, so ändert dies zugleich auch den Zustand der Seele.“
Unweigerlich musste Hermine an Severus‘ Augen denken, die schon seit längerer Zeit nicht mehr pechschwarz, sondern braun waren wie ihre eigenen. Hermine staunte, als sie Aristoteles‘ Seelenlehre überflog. Bei einem seiner Texte musste sie ihren Ärger herunterschlucken, denn er nannte das Weibliche unvollkommener als das Männliche.
„Waren wir also ein kleiner Chauvi?“, murmelte sie angriffslustig. Aristoteles konnte von Glück sagen, dass er bereits tot war, sonst hätte Hermine sich gern mal mit ihm unterhalten.
Kurzfristig las sie sich in andere Schriften ein, die aus dem alten Griechenland stammten. Alle nannten vier wichtige Punkte, die die Seele betrafen. Jeder Körper würde nur über eine einzelne Seele verfügen, stand dort als erster Punkt. Der zweite war, dass diese Seele durch Wanderung den Körper wechseln könnte. Die anderen beiden Punkte waren, dass die Seele nach dem Tod weiterexistieren würde und außerdem, sollte sie keinen Leib ihr eigenen nennen, mit anderen Seelen körperlos an einem Ort hausen. Als Beispiel wurde in einer urgermanischen Schrift erwähnt, dass einer dieser Orte, an denen Seelen auf neue Körper warten würden, „Ewiger See“ genannt wurde. Der Trank, den Severus eingenommen hatte, trug mit seiner zerstörenden Wirkung definitiv den falschen Namen.
Wieder bei Aristoteles angekommen stolperte sie über die Aussage „Freundschaft ist eine Seele in zwei Körpern. Gleichheit die Seele der Freundschaft.“. Sie war sich sicher, dass das eine Bedeutung hatte. Freundschaft war immer von großem Wert. Im Mungos hatte sie erfahren, dass Patienten, die weniger oder gar keinen Besuch bekamen, nicht so schnell den Weg der Genesung einschlugen wie Menschen, die von Familie und Freunden umgeben waren. Womöglich hatte Freundschaft sogar einen arithmantischen Zahlenwert, schoss es Hermine durch den Kopf.
Sie hatte an einigen Stellen das Gefühl, der griechische Philosoph würde von dem Tier im Menschen schreiben – von einem Animagus. Ihr Entschluss stand bald fest. Sie wollte sich an alle Zahlen halten, die man mit den Schriften von Aristoteles in Zusammenhang brachte. Zur Zahl der Seele addierte sie den Wert für den Schutztrank und subtrahierten den Wert für den Ewigen See, den sie vorher auch erst noch aufgrund aller angewandten Zutaten herausbekommen musste. Als Ergebnis bekam sie die Zahl 1294,2 – den Wert für Severus‘ Seelenkern. Nun musste sie sich daran machen, mit den Werten verschiedenster Zutaten mathematisch zu ermöglichen, dass der Wert von Severus‘ Seelenkern wuchs. Dabei musste sie sich an die Formeln halten, die die Arithmantik vorgab. Es war eine schwierige und zeitraubende Aufgabe. Hermine begann auf der Stelle.
Anstatt einen Kessel anzuwerfen und mit Zutaten zu brauen, braute sie mögliche Heilmittel wieder nur theoretisch mit den vielen Zahlen. Zum Glück gab es Bücher, in denen die jeweiligen Zahlen für Zutaten angegeben waren. Sie warf also nicht Pfeilkraut und Zuckerbüsche in einen Topf, sondern addierte stattdessen 186,1 und 345,78 unter Beachtung angewandter Mengenalgebra und den wichtigen Werten für den Siedepunkt. Es gab unzählige Wege. Der einzige Hinweis waren die Zutaten, die im Ewigen See verwendet wurden.
Hermine prüfte die Zutaten, die das Gegenteil der Zutaten des Ewigen Sees darstellten. Es wäre zu schön gewesen, gleich beim ersten Mal auf die Lösung zu stoßen, aber natürlich kam es anders. Wenn die Zutaten vom Wert her nicht passten, änderte sie die Zubereitungsform. Allein das Pfeilkraut hatte weit über dreihundert verschiedene Werte, je nachdem, ob die Zutat frisch war, an der Luft oder im Keller getrocknet, geschnitten oder zerstoßen, fein oder grob gemahlen wurde. Die Liste ließ sich mit auch mit den anderen Zutaten beliebig fortführen. Hermine musste herausfinden, wie welche Zutat zubereitet sein musste. Sie war mehr als froh, das Originalrezept des Ewigen Sees zu kennen, denn nur so konnte sie von vornherein Zutaten wählen, die eine wachsende Wirkung aufwiesen.
Als es unten laut klopfte, schreckte Hermine hoch. Sie eilte zur Ladentür, nur um dort einen Kunden stehen zu sehen, der mit Hilfe seiner Hand durch die Scheibe spähte. Als er sie sah, lächelte er und ging einen Schritt zurück, so dass Hermine öffnen konnte.
„Sie haben doch geöffnet oder?“, wollte der Herr mittleren Alters wissen. In seiner Hand hielt er ein Stück Pergament, auf dem ein Heiler etwas notiert hatte.
Hermine stutzte. „Wie spät haben wir es denn?“
„Es ist kurz nach neun.“
Die Nacht war wie im Flug vergangen. Den ersten Schwall an Kunden, die mit Heilmittelempfehlungen der in der Nähe angesiedelten Heiler bei ihr aufschlugen, fertigte sie innerhalb von zwei Stunden ab. Danach kamen nur vereinzelt Kunden, weswegen Hermine ihre Arithmantikberechnung mit in den Verkaufsraum genommen hatte. Unter der Theke, vor jedem verborgen, rechnete sie heimlich weiter, wenn sie ein wenig Luft hatte.
Kurz vor der Mittagspause machte sich ein unangenehmer Geruch im Verkaufsraum breit. Hermine blickte von ihren Unterlagen auf und bemerkte einen Mann, den sie nie zuvor gesehen hatte. Trotzdem hatte sie das Gefühl, ihm schon einmal begegnet zu sein.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie den Herrn, der nun erschrocken von einem Fläschchen abließ, das er eben betrachtete.
„Huch, ich habe Sie gar nicht gesehen.“ Er kam ein paar Schritte auf sie zu. Sein Umhang war schmutzig, er selbst wirkte nicht viel sauberer. Als er vor ihr stand, schlug ihr ein strenger Geruch entgegen. Buttersäure.
„Wie kann ich Ihnen behilflich sein?“ Sie hielt sich zurück, nicht das Gesicht zu verziehen oder gar demonstrativ das Fenster zu öffnen. Der Mann stank nach altem Schweiß.
„Ich würde gern Vielsafttrank bestellen.“
Hermine wurde misstrauisch, entnahm dennoch einer Schublade ein Formular, das sie vor ihm auf den Tresen legte – mit einer Armlänge Abstand. Der Mann beguckte sich das Formular, ohne es zu berühren.
„Was ist das?“, wollte er wissen.
„Das Formular, das Sie ausfüllen müssen, bevor ich Ihnen Vielsafttrank verkaufen darf“, erklärte sie knapp.
Endlich nahm er das Pergament in die Hand und überflog die zig Fragen nach Name, Alter und Anschrift des Käufers sowie den Grund für die Verwandlung und den Namen der Person, in die sich verwandelt werden möchte.
„Warum zum Teufel wollen Sie das alles wissen?“ Seine raue Stimme klang grantig.
„Nicht ich will das wissen.“ Hermine hielt die Luft an und ging einen Schritt nach vorn, tippte dann auf das Zeichen des Ministeriums, das man oben im Kopf des Formulars sehen konnte. „Die wollen das wissen. Das sichert auch mich ab, damit ich nicht belangt werden kann, wenn Unfug damit getrieben wird.“
Der übelriechende Kunde schnaufte. Aus reinem Instinkt wich Hermine eine Schritt zurück, um nicht noch seinem Atem ausgesetzt zu sein, der sicherlich nicht besser roch.
„Und was ist, wenn ich mit meiner Frau einfach nur für eine Stunde die Rollen tauschen möchte?“
Sie zuckte mit den Schultern und nickte zum Pergament hinüber. „Da ist die Spalte für den Grund.“
„Das ist doch albern!“, schimpfte der Mann.
„Nein, das ist Gesetz.“
Durch zusammengekniffene Lider blickte er sie fies an. Ein ungutes Gefühl überkam sie, aber sie konnte es nicht einordnen. Irgendwoher kannte sie ihn, aber sein Gesicht war ihr vollkommen fremd. Vielleicht, vermutete sie verängstigt, war er längst durch Vielsafttrank verwandelt?
„Darf ich das mitnehmen?“ Der Kunde winkte mit dem Formular, so dass sie nickte. „Gut.“ Er verstaute es in seinem Umhang. „Dann nehme ich noch was gegen Kopfschmerzen.“ Als Hermine sich umdrehte, um aus dem Regal hinter sich das Glas mit den Dragees zu nehmen, hörte sie seine raue Stimme sagen: „Danke, Schätzchen.“
Das Blut gefror ihr in den Adern, denn endlich wusste sie, woher sie diesen Mann kannte – seine raue Stimme, diese Worte und der übler Geruch. Er war einer von den beiden gewesen, die sie auf dem Weg zu Gringotts überfallen hatten. Ihr Herz schlug plötzlich so heftig, dass sie befürchtete, er könnte es hören. All ihren Mut zusammennehmend nahm sie das Glas und drehte sie um; machte dabei gute Miene zum bösen Spiel.
„Wie viele sollen es sein?“ Sie hielt bereits eine kleine Papiertüte in der Hand, in der sie die Dragees füllen wollte.
„Zwanzig reichen. Was kostet das?“
Hermine beobachtete, wie der Dieb ein Säckchen aus seinem Umhang fischte, das ihr sehr bekannt vorkam. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, die gestohlenen Galleonen in einen eigenen Geldbeutel umzufüllen. Stattdessen trug er den ihren bei sich. Hermine ließ sich nichts anmerken.
„Dreißig Sickel und zehn Knuts.“
„Das ist aber preiswert“, murmelte er, als er von ihrem Geld den entsprechenden Betrag abzählte und auf die Theke legte. „Machen Sie dabei eigentlich einen guten Gewinn?“
Ihre Atmung wurde immer hastiger. Die Erinnerungen an den Überfall waren wieder sehr präsent. Auch wenn es taghell war und sie draußen einige Menschen die Winkelgasse entlangschlendern sah, bekam sie es langsam mit der Angst zu tun.
„Warum fragen Sie?“ Nur in Gedanken fügte sie hinzu: ‘Um mich nochmal auszurauben?‘
„Weil ich Ihnen durchaus viel mehr Geld anbieten würden, wenn wir die Sache mit dem“, er lehnte sich über die Theke und verbreitete damit seinen scheußlichen Gestank noch viel mehr, „Formular vom Ministerium vergessen könnten? Ich würde nicht geizen.“
Der Vorwurf lag ihr auf der Zunge, dass er nicht einmal mit seinem eigenen Geld bezahlen wollte. Rechtschaffen, wie Hermine war, richtete es sich gegen all ihre Prinzipien, auf diesen Handel einzugehen, doch andererseits hätte sie nur so die Möglichkeit, später mit Severus‘ Hilfe diesen Mann dingfest zu machen.
„Was würden Sie mir denn anbieten?“, fragte sie mit einer Unschuldsmiene.
„Was kostet der Trank normalerweise?“
„32 Galleonen.“
Der Mann verzog das Gesicht, bevor er fies grinste. „Machen wir 20 draus. Vergessen Sie nicht, dass der Betrag für Sie ‘steuerfrei‘ ist.“
„Vergessen Sie nicht, dass es einen Monat braucht, um ihn zu brauen“, erinnerte sie ihn. „Sagen wir 25 und es wird was draus.“
Eine schmutzige Hand mit schwarzen Fingernägeln streckte sich ihr entgegen. Nur wiederwillig schlug sie ein.
„Dann bis in einem Monat.“
Der Kunde war kaum zur Tür raus, da schloss Hermine die Apotheke und eilte nach oben ins Badezimmer, um sich angeekelt die Hände zu waschen. Sie zitterte am ganzen Leib. Nur der Gedanke an eine gerechte Strafe, die dem Mann blühen würde, ließ sie die Furcht bekämpfen.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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Rest von Kapitel 195
Die Option, in einem Monat einen Vielsafttrank zu erhalten, um damit vielleicht näher an Harry Potter zu gelangen, ließ Stringer aufatmen. Die von Hopkins versprochene Belohnung kündigte für ihn und seinen Kumpel Fogg ein angenehmes Leben an. Beide würden nicht mehr in einem heruntergekommenen Gasthaus in der Nokturngasse leben müssen und Fogg könnte sich den notwendigen Wolfsbanntrank auch ehrlich erwerben, vorausgesetzt er wollte das überhaupt.
An den alternden Dirnen vorbei und die Schwarzhändler passierend traf er im Gasthaus „Der Gehängte“ ein. Die Zimmer in dieser Schenke waren so preiswert, weil der namensgebende Gehängte noch immer dort umherspukte und auch nachts laut stöhnend jedem sein Leid klagte, ob man es hören wollte oder nicht. Der Wirt war für jeden Gast dankbar, der für eines der miesen Zimmer den geringen Preis zu zahlen bereit war. Fogg und Stringer stellten momentan die einzigen Besucher dar, die für einen Monat im Voraus bezahlt hatten. Wenn Vollmond wäre, müsste zumindest Fogg wieder in die Wälder ziehen, sonst würde man ihn wegen des Lärms rauswerfen oder dem Ministerium melden. Stringer ging die brüchigen Stufen hinauf in den ersten Stock, in dem sich die Zimmer befanden.
Fogg saß an einem wackligen Tisch und las in einer gestohlenen Zeitung, blickte erst auf, als Stringer ihn grüßte.
„Hast du was zu essen mitgebracht?“
„Die Läden haben jetzt geschlossen. Ich hole nachmittags was“, versicherte Stringer. Zur Antwort knurrte Foggs Magen.
„Ich hab Hunger!“
„Später! Ich war in einer Apotheke und hab Vielsafttrank geordert. Nur für den Fall, dass unsere Pläne nicht in den nächsten vier Wochen eingehalten werden können.“
Fogg legte die Zeitung beiseite und blickt seinen Gefährten ungläubig an. „Was denn für Pläne? Wir haben keine Pläne oder ist mir da was entgangen?“
„Wir sollten uns aber langsam mal Gedanken machen, wie wir an Potter rankommen können, ohne dass seine Freunde uns gleich mit Flüchen grillen.“
Unverständlich murmelte Fogg etwas vor sich hin. Er glaubte nicht daran, den Auftrag von Hopkins ausführen zu können. Er wollte Potter nicht einmal entführen. Erstens war er ein sehr mächtiger Zauberer, bei dem man auf der Hut sein musste und zweitens las er gerade einen Artikel in der Muggelpost, in dem sich Potter für die Rechte der Werwölfe starkmachte – sich für Fogg und seinesgleichen einsetzte.
„Die Brüder waren hier“, murrte Fogg unzufrieden. „Gehen mir langsam auf die Nerven mit ihren ständigen Fragen über unser Vorankommen.“
„Hopkins will uns im Auge behalten, falls wir uns mit dem Vorschuss aus dem Staub machen sollten. Was stören dich die beiden Squibs? Die haben gegen uns keine Chance, sollten wir wirklich verschwinden.“ Stringer setzte sich auf den anderen Stuhl, der unter der Last laut stöhnte. Es entging ihm nicht, dass Fogg mit seinem eigenen Stuhl etwas abrückte, sehr wahrscheinlich wegen des üblen Körpergeruchs. „Du weißt, dass ich nichts dafür kann“, verteidigte sich Stringer, bevor er belustigt hinzufügte, „aber es hat einen Vorteil: Meine Feinde möchten mir nicht zu nahe kommen.“
„Es hat aber auch den Nachteil, dass deine Freunde sich dir auch nicht nähern möchten. Bei Merlins Bart, nimm ein Bad! Dann hat meine Nase wenigstens eine Stunde Ruhe.“
„Und danach fängt es wieder an, also wozu die Mühe?“
Fogg schnaufte gereizt. „Du könntest wenigstens so tun, als würde es dich selbst auch stören. Das kommt eben davon, wenn man eine Hexe heiratet und mit deren Schwester ein Techtelmechtel beginnt. Das würde nicht mal ich tun, so anständig wie ich bin.“
„Anständig? Und das aus dem Munde eines Diebs, Hehlers und Betrügers!“ Stringer lachte auf, rückte sich dabei die Zeitung gerade, die Fogg dort abgelegt hatte. „Außerdem bin ich sicher, dass wir mit dem Geld von Hopkins endlich einen Fluchbrecher bezahlen können, der sich um den Gestank kümmert, den meine werte Gattin mir für das ‘faule Spielchen‘, das ich mit ihr getrieben habe, angehext hat.“
Der Werwolf seufzte und blickte aus dem Fenster. „Ich bete zu Merlin und Morgana, dass es wenigstens dagegen ein Mittel gibt.“ Mit mehr als dem Wolfsbanntrank konnte Fogg nicht rechnen.
Ohne etwas zu essen, obwohl besonders Foggs Magen dringend etwas benötigte, nahmen beide wenigstens eine Tasse Tee zu sich, um sich die Zeit bis zum Nachmittag vertreiben zu können. Natürlich schmiedeten sie auch Pläne, von denen sie die meisten gleich wieder verwerfen mussten, weil Potter nicht leicht zu bekommen wäre.
„Und wenn wir uns als Journalisten ausgeben?“ Fogg tippte auf die Zeitung. „Er gibt ja offensichtlich wieder Interviews!“
„Wer von uns soll mit diesem Anliegen an ihn herantreten?“ Stringer zeigte auf sich selbst. „Der Stinker oder“, er deutet zu seinem Kumpan, „der Typ mit der dicken Narbe am Hals? Ich würde keinen von uns auch nur einen Meter an mich heranlassen, wäre ich Potter.“
„Wir könnten die Mitleidsmasche fahren und mich als armen, bedauernswürdigen Werwolf hinstellen, der sich von dem großen Harry Potter ein wenig Hoffnung verspricht.“
„Das wäre nicht einmal gelogen“, warf Stringer ein, als er den Artikel in der Muggelpost überflog, „ich meine das mit dem ‘arm und bedauernswürdig‘.“
„Jedenfalls kann man mich nicht zehn Meilen gegen den Wind riechen!“
Stringer war etwas anderes eingefallen. „Sind nicht bald Prüfungen? Die ZAGs?“
„Klar“, stimmte Stringer zu, „und zwar in Hogwarts, hinter dicken Mauern und einer Menge Schutzzaubern.“
„Ja, aber wir könnten uns als Prüfer ausgeben!“
Aufgebracht schüttelte Fogg den Kopf. „Du auf keinen Fall. Du bist viel zu auffällig. Und ich?“ Nochmals schüttelte er den Kopf. „Mich hat man dort auch nie gesehen. Ich hab keine Lust, von Dumbledore in ein Gespräch verwickelt zu werden. Ich könnte wetten, er benötigt keine fünf Minuten, um herauszufinden, wer ich bin, was ich vorhabe und wie der Name von meinem Lieblingsteddy war, den meine Mutter mir als Kind geschenkt hat.“
Stringer winkte ab. „So gut ist der nun auch nicht.“
„Nein, hast recht, er ist besser. Vergiss es! Mich kriegen keine zehn Pferde nach Hogwarts. Das wäre Selbstmord.“
Seufzend griff Stringer in seine Innentasche, um die Tüte mit den Kopfschmerzdragees zu entnehmen. Er warf sie vor Fogg auf den Tisch.
„Gegen deine Kopfschmerzen.“
Die Tüte an sich nehmend klärte Fogg ihn auf. „Die sind gar nicht für mich. Die Roth-Brüder wollten die für Hopkins haben. Er darf nur nicht wissen, dass es ein Heilmittel aus unserer Welt ist. Deren Aspirin hilft offenbar schon lange nicht mehr gegen seine Kopfschmerzen.“
„Der Typ hat sowieso einen Knall. Ich meine, was will er überhaupt?“ Stringer untermalte seine Frage mit beiden Händen. „Ein Muggel, der von unserer Welt erzählt bekam, will sich Potter schnappen, um was zu tun?“
Mit schräg gelegtem Kopf offenbarte Fogg kleinlaut: „Das wird irgendwas Politisches sein und von sowas habe ich keine Ahnung.“
„Was Politisches? Ich bitte dich, das ist doch Quatsch. Wo bitte ist Potter politisch aktiv? Er hat sogar die Wahl zum Minister ausgeschlagen.“
Wie aus der Pistole geschossen versicherte Fogg: „Ich hätte ihn gewählt!“
„Du hast damals auch Fudge gewählt, weil jemand deine Stimme gekauft hat!“, warf ihm Stringer vor.
Fogg grinste verschmitzt. „Ich war jung und brauchte das Geld.“
„Du warst schon immer ein Gauner, Fogg! Käuflich.“
„Das ist nicht wahr! Das bin ich erst, nachdem ich gebissen wurde. Vorher hatte ich rein gar nichts an meinem Leben auszusetzen.“
„Du nicht“, stimmte Stringer zu, „aber deine Schwiegereltern. Du hast mir nie erzählt, wie es dazu gekommen ist, dass man dich rausgeworfen hat.“
„Das werde ich auch niemandem erzählen.“
Mittlerweile wirkte Fogg trotzig. So wurde er immer, wenn er über etwas nicht reden wollte. Stringer beließ es dabei. Er selbst hatte wenig angenehme Erinnerungen an seine Vergangenheit, besonders an seine Frau. Für sein geruchsintentives Schicksal war er durch seine Untreue selbst verantwortlich. Fogg hingegen wurde von einem Werwolf gebissen und erlebte erst dann die gesamte Palette an Ungerechtigkeiten, die über ihn eingebrochen war, ohne dass er sich wehren konnte.
Fogg blickte starr auf das Foto von Harry Potter, das das Titelbild der Muggelpost zierte. Er war schon lange kein kleiner Junge mehr. Das letzte Bild vom Idol der Zaubererwelt hatte Fogg kurz nach dem Krieg gesehen, als Potter und einige andere einen Orden erhalten hatten.
„Wenn wir Vielsafttrank haben, in wen würden wir uns verwandeln wollen?“
„Ich habe keine Ahnung. Ehrlich gesagt habe ich den Vielsafttrank nur bestellt, falls uns bis dahin etwas einfallen sollte. Der braucht immerhin einen Monat.“
Einen Augenblick lang überlegte Fogg, bevor er aufschaute und erschrocken fragte: „Das hast du doch nicht etwa hier in der Nokturngasse bestellt? Du weißt, dass die unsauber arbeiten.“
„Ich bin doch nicht irre und trinke etwas, was diese Gauner einen Monat lang unter fragwürdigen hygienischen Umständen zusammenpampen. Nein, ich war in der Winkelgasse bei jemandem, der etwas von seinem Job versteht.“
Durch zusammengekniffene Augen blickte Fogg ihn an. „Du hast nicht etwa bei der Kleinen bestellt? Bei der neuen Apothekerin, die wir ausgeraubt haben.“
„Haben wir sie ausgeraubt?“ Stringer zuckte mit den Schultern. „Wir überfallen so viele Menschen, da wird mir das entfallen sein.“
„Werd‘ ja nicht unvorsichtig, hörst du?“, warnte Fogg seinen Kumpel.
„Überleg lieber, wie wir …“
Stringer wurde unterbrochen, als es an der Tür klopfte. Nach einem lauten Herein betraten Arnold und Alex das Zimmer. Beide verzogen angewidert das Gesicht.
„Ah, meine Freunde“, stichelte Stringer. „Was führt euch in unser bescheidenes Heim?“
„Wir wollen uns vergewissern“, begann der ältere der beiden Squibs, „dass ihr auch an dem Job arbeitet, den Mr. Hopkins euch auferlegt hat.“
„Mmmh“, macht Stringer nachdenklich, aber auch amüsiert. „Seit wann sind wir so sehr befreundet, dass wir uns sogar duzen? Oder gehört das dazu, wenn man für Hopkins einen Auftrag ausführt.“
Der jüngere Bruder fragte spöttelnd: „Wird der Auftrag denn ausgeführt? Denn wisst ihr: Jedes Mal, wenn wir einen Kontrollbesuch machen, sitzt ihr nur da und unterhaltet euch.“
Fogg schnaufte aufgebracht. „Das nennt man ‘Pläne schmieden‘, du Idiot!“
„Pläne? Würde es euch etwas ausmachen, uns in diese Pläne einzuweihen?“, fragte Arnold.
Von seinem Stuhl stand Stringer auf, um auf Arnold zuzugehen, der verständlicherweise vor dem Geruch zu fliehen versuchte und rückwärts ging, bis ein Schrank ihn aufhielt. Stringer grinste bösartig.
„Vielleicht“, hauchte er den Squib an, „weihen wir euch nicht ein, weil ihr die Pläne einfach nicht verstehen würdet? Würde mich überraschen, wenn Ausgestoßene wie ihr etwas über Vielsafttrank wisst.“ Mit einer Hand stützte sich Stringer an dem Schrank hinter Arnold ab, genau neben dessen Kopf, woraufhin die Geruchspartikel des Unterarms besonders gut zur Geltung kamen. Arnolds verzogene Miene sprach Bände. „Oder bist du Experte auf dem Gebiet der Zaubertränke?“, spöttelte Stringer. „Wie lange habt ihr beide in der Zaubererwelt leben dürfen, bevor eure Eltern erfahren haben, dass ihr ‘nur‘ Squibs seid?“ Er hatte das Wort „nur“ absichtlich sehr geringschätzig betont und erhielt daraufhin die Reaktion, die er erhofft hatte hervorzurufen. Arnold stieß ihn wütend von sich. Einen Augenblick lang torkelte Stringer, bevor er das Gleichgewicht wiedergefunden hatte.
„Mein Leben hat dich nicht zu interessieren!“, keifte Arnold.
„Vielleicht aber doch? Warum habt ihr nicht in der Muggelwelt ein eigenes Leben begonnen, anstatt euch wieder und wieder hier herumzutreiben und euch der Demütigung auszusetzen, die ihr ohne Frage mit Sicherheit erfahrt? Könnt ihr etwa von der magischen Welt nicht loslassen? Oder wollt ihr nur nicht loslassen, weil sie euch verzaubert hat?“
Fogg hielt sich völlig heraus. Er kannte den Zorn, den Stringer tag ein, tag aus in seinem Herzen mit sich führte. Es wäre ratsam, nicht selbst das Ziel der Bösartigkeiten zu werden, also ließ er seinen Freund die anderen beiden zusammenstauchen, auch wenn er Mitleid mit ihnen hatte. Arnold und Alex zählten wie er zu einer von der Zauberergesellschaft verachteten Minderheit. Der jüngere Bruder, Alex, hielt sich ebenfalls zurück, beobachtete die kleine Auseinandersetzung aber sehr aufmerksam.
Seine verletzenden Anmerkungen hielt Stringer nicht im Zaum, als er das Wort erneut an Arnold richtete.
„Oder habt ihr euch einem Muggel angeschlossen, um eines Tages Rache für eure Verbannung ausüben zu können?“ Stringer fletschte die Zähne. „Und das alles nur, weil Mami und Papi euch eines Tages nicht mehr lieb gehabt haben!“
Die Luft in diesem kleinen Zimmer brannte. Arnold war nicht mehr zu halten und stürzte sich auf Stringer, der nicht einmal die Zeit fand, seinen Zauberstab zu ziehen. Den hatte Arnold in Windeseile aus dem Umhang gezerrt und weit weggeworfen. Der Stab rollte in eine Ritze und verschwand unter den Dielen.
Als Fogg sich von der Schocksekunde erholt hatte, sprang er von seinem Stuhl auf, um seinem Freund zu Hilfe zu eilen, doch auch er bekam seinen Stab nicht zu fassen. Alex setzte sich gleichermaßen für seinen Bruder ein. Der jüngere der Squibs stürzte sich auf Fogg und warf ihn zu Boden. Weder Stringer noch Fogg fanden Zeit und Konzentration dafür, ihren Zauberstab mit einem stablosen Aufrufezauber heranzuschaffen. Stringer fand sich auf dem Rücken liegend wieder, Arnold mit geballter Faust über ihm. Der junge Mann schlug so schnell zu, dass Stringer sogar ein Geräusch wahrnehmen konnte, als die Faust die Luft zerriss. Den knackenden Laut, als die Zähne aufeinanderstießen, hörte jeder im Raum.
Auch Alex hatte Fogg noch immer unter sich begraben. Er griff nach einem schweren Aschenbecher, der vom Tisch gefallen war.
„Nein!“ Fogg fürchtete um sein Leben. Ein schwerer Aschenbecher aus Granit und der menschliche Schädel vertrugen sich nicht. „Das kannst du nicht machen! Willst du mich umbringen?“
Alex zögerte, warf den Aschenbecher dann von sich und schlug mit der Faust zu. Der stechende Schmerz der Nasenwurzel breitete sich sofort im ganzen Gesicht aus. Fogg stöhnte laut auf, versuchte sein Gesicht mit den Händen zu schützen, doch ein weiterer Schlag blieb zum Glück aus. Etwas Warmes, das seinen Hals hinunterlief, löste erst einen Schluckreflex aus. Kurz darauf würgte er. Alex ließ ihn nicht los, auch nicht, als Fogg seinen Kopf zur Seite rollte und das Blut erbrach, das sich aus einer nicht sichtbaren Wunde einen Weg durch die Nasennebenhöhlen suchte. Zumindest wurde er nur noch festgehalten, aber nicht mehr von Alex geschlagen.
Anders sah es bei Arnold und Stringer aus. Letzterer lag wie sein Freund mit dem Rücken auf dem Boden; Arnold mit drohenden Fäusten über ihm. Stringer gab seinem Angreifer einen kräftigen Tritt, womit er ihn am Steißbein traf. Den abgelenkten Mann konnte er endlich von sich stoßen. Sogleich rappelte sich Arnold wieder auf und trat wahllos auf sein Opfer ein, das gerade vom Boden aufstehen wollte. Er traf dabei das Knie von Stringer, der daraufhin erneut zusammensackte. Wieder trat Arnold zu, direkt in den Bauch. Stringer heulte auf wie ein Tier und krümmte sich, blickte durch Tränen zu seinem Peiniger hinauf.
„Du kämpfst wie ein Mädchen!“ Arnold spuckte auf Stringer, bevor er ihm nochmals einen Tritt in die gleiche Stelle gab, dabei die Unterarme traf, mit denen der am Boden Liegenden sich schützen wollte. „Ohne eure Stäbe seid ihr so hilflos. Ich hätte gut Lust“, er trat nochmals zu, „dir eine Lektion zu erteilen, die du niemals in deinem Leben vergessen wirst.“
Arnolds Blick fiel auf den Aschenbecher aus Granit, den er im Nu in der Hand hielt. Um sich in Sicherheit zu bringen, kroch Stringer mit schmerzverzerrtem Gesicht über den rauen Holzboden. Er hoffte, seinen Zauberstab zu erreichen, doch Arnold hatte sich ihm erneut genähert und seine Ankunft mit einem weiteren Tritt angekündigt.
„Wohin denn so eilig, Mr. Stringer?“
„Du verdammter Squib!“ Mit dieser Bemerkung heimste er einen weiteren Tritt ein, doch Stringer ließ nicht locker. „So zerfressen vom Hass? Soll jeder einzelne Zauberer, jede einzelne Hexe dran glauben?“ Er zuckte zusammen, als er mit einem weiteren Fußtritt rechnete, doch der blieb aus. „Auch die, die euch gegenüber keine Vorurteile haben?“
„Jeder hat Vorurteile gegen uns.“
Es irritierte Arnold, dass gerade sein Bruder ihm wiedersprach und beteuerte: „Das ist nicht wahr!“
„Halt deinen Mund!“
Mit seinen Knien hatte Arnold die Arme von Stringer am Boden fixiert, als er sich wieder auf ihn gestürzt hatte. Er saß halb auf dem Bauch, halb auf dem Brustkorb auf dem wehrlosen Zauberer. Mit beiden Händen hob er den großen Aschenbecher über den eigenen Kopf. Dabei beobachtete er das Gesicht von Stringer, doch was er sah, gefiel ihm offenbar nicht. Stringer sprach es mit einem schiefen Lächeln an.
„Was denn? Erwartest du etwa Angst? Nicht von mir, bedaure. Der Krieg hat mich viele Dinge ertragen lassen. Der eigene Tod scheint da geradezu harmlos wie ein Kätzchen, das ich schon mehr als einmal in meinem Leben streicheln musste. Du willst mir Angst machen? Werd‘ erst einmal erwachsen, Jungchen.“
Von einer blechernen Stimme hörte man plötzlich die anspornenden Worte: „Schlag zu, Bursche. Es ist so einsam hier.“
Der Gehängte, der im Wirtshaus spukte, war unbemerkt durch die verschlossene Tür gekommen und hoffte nun offenbar auf einen Gefährten in seiner einsamen Existenz als Geist. Doch nicht nur der Geist des Gehängten, sondern auch der Wirt war auf den Kampf im ersten Stock aufmerksam geworden. Mit einem lauten Krachen verschaffte sich jemand Zutritt. Der leicht untersetzte Wirt hatte die Tür aus den Angeln gehoben und richtete seinen Zauberstab nacheinander auf Fogg und Alex, dann auf Stringer und am Ende auf Arnold, der nun langsam die Arme senkte und den Aschenbecher auf den Boden warf.
„Nur ungern“, begann der Wirt aufgebracht, „hole ich die Polizeibrigade, aber wenn hier nicht langsam Ruhe herrscht …“
„Keine Sorge“, unterbrach Arnold, bevor er von Stringer abließ und aufstand. „Wir wollten sowieso gerade gehen.“
In Richtung seines Bruders machte Arnold eine Kopfbewegung, mit der er Alex dazu aufforderte, ihm zu folgen. Alex ließ Foggs Arme los und stand auf. Beide Squibs drängten sich am beleibten Wirt vorbei ins Freie. Der Wirt blickte ihnen kurz nach, bevor er seine Gäste betrachtete.
„Was wollten die Kerle?“
Stringer spielte die Begegnung hinunter. Der Inhaber des Gasthauses durfte nicht zu viel erfahren. „Wir hatten nur eine kleine Meinungsverschiedenheit.“
„Eine kleine?“ Der Wirt zog beide Augenbrauen in die Höhe, womit sein helles Gesicht einem Vollmond glich. „Sah mir eher nach einer großen aus.“ Als er Fogg betrachtete, der sich nun aufgerichtete hatte und sich die Nase hielt, aus der er unaufhörlich blutete, empfahl er: „Sie sollten das von einem Heiler ansehen lassen. Sieht nicht gut aus.“
Stringer blutete zwar nicht, aber die unzähligen Tritte in den Magen und auf die Gliedmaßen würden eine Menge blauer Flecken hinterlassen. Er konnte jetzt schon einen Schmerz ausmachen, der einem starken Muskelkater glich. Als er aufstehen wollte, krümmte er sich und hielt sich den Bauch, so dass der Wirt ihm aufhalf.
Mit ausdrucksloser Miene betrachtete der Geist des Gehängten die drei Männer und zog enttäuscht von dannen, als ihm bewusst wurde, heute mit keinem Toten mehr rechnen zu dürfen. Der Wirt folgte dem Geist, nachdem Stringer ihm versichert hatte, sich um seinen verletzten Freund zu kümmern. Das tat er jedoch nur verbal.
„Geh zu einem Heiler“, stöhnte er, weil die eigenen Schmerzen sich bei jeder Bewegung bemerkbar machten. Aus seinem Umhang zog er einen Geldsack, aus dem er fünf Galleonen entnahm. Die reichte er Fogg. „Oder hol dir in einer Apotheke was dagegen.“ Besorgt zeigte er auf das viele Blut. Fogg hatte die Augen geschlossen. Obwohl er eine Hand schützend vors Gesicht hielt, konnte man das rot verschmierte Kinn sehen. Der schwarze Umhang wirkte auf das Blut allerdings wie Löschpapier, denn man sah dort nichts, ahnte aber, dass der Stoff feucht sein musste.
Ohne ein Wort zu verlieren sammelte Fogg die Münzen ein und verließ das Wirtshaus. In der Nokturngasse beachtete man ihn trotz des Blutes nicht mehr als sonst. Hier, wo sich Diebe, Mörder und andere zwielichtige Gestalten herumtrieben, stellte man keine Fragen.
Vorbei an Flourish und Blotts passierte er den kleinen Weg, der zur wenig belebten Winkelgasse führte. Es war Fogg egal, wer ihm helfen würde. Wichtig war nur, dass ihm sehr bald jemand die Schmerzen nahm. Die Menschen, die er auf seinem Weg traf und die ihm tuschelnd hinterherstarrten, beachtete er nicht. Vom eintretenden Schwindel leicht benommen torkelte er auf ein Schaufenster zu, in welchem sich gerade die dargebotenen Artikel wie von selbst neu anzuordnen schienen.
Hermine, die gerade dabei war, im Ladenfenster auch ihre eigenständig erfundenen Stimmungsaufheller unterzubringen, bemerkte den Mann, der schleichend an der Apotheke vorüberging. Ihr geschulter Blickt sagte ihr nicht nur, dass es sich bei ihm um Mr. Doppel-X handelte, sondern auch, dass es ihm sehr schlecht ging. Obwohl es noch nicht an der Zeit war, öffnete sie ihren Laden und rannte dem Verletzten hinterher.
„Warten Sie!“, hörte Fogg eine weibliche Stimme. Er gehorchte, drehte sich jedoch nicht um, sondern schloss erneut die Augen. An seiner Schulter fühlte er eine Hand, die ein wenig Druck ausübte und ihn dazu aufforderte, sich umzudrehen. Dann folgte wieder die angenehme Stimme: „Kommen Sie mit. Ich kümmere mich darum.“
Wenn sie die Erste sein wollte, die ihm helfen würde, wollte er das Angebot gern annehmen, also ließ er sich von ihr führen. In der Apotheke wurde ihm erst bewusst, wo er sich befand und wer die Frau war. Er hatte sich bei ihr dreimal den Wolfsbanntrank ergaunert und hoffte innig, dass sie das nicht bemerkt hatte oder ihn gar wiedererkannte.
„Zeigen Sie mal.“ Hermine nahm seine Hand in ihre und zog sie von der Nase weg. Es blutete wie ein Wasserfall. Leichte Schwellungen waren bereits zu sehen. „Autsch“, kommentierte sie mitfühlend. „Auch ohne Diagnosezauber kann ich sagen, dass die Nase gebrochen ist. Warten Sie, ich hole etwas.“
Im Labor, in dem sich bereits Severus befand und zwei Tränke für Kunden parallel braute, suchte sie in einem Schrank nach einem Mittel, für das sie selten Verwendung fand. Es war ähnlich wie Skele-Wachs, nur dass es nicht nur Knochen heilen konnte, sondern auch den Knorpel in der Nase.
„Rate mal“, richtete sie das Wort an Severus, „wer gerade mit gebrochener Nase in meinem Verkaufsraum wartet?“ Weil er nicht einmal eine Vermutung hatte und sich nicht äußerte, lüftete sie das Geheimnis. „Mr. Doppel-X.“
„Nein!“, entwich es ihm überrascht. Seine Augen strahlten bei der Aussicht auf Vergeltung. „Dann werde ich mal …“ Severus wurde von ihr aufgehalten, als er nach draußen stürmen wollte, um sich den Zechpreller zur Brust zu nehmen.
„Nicht, Severus. Es geht ihm nicht gut.“
Er stutzte und sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren. Was er an ihr ausmachen konnte, stimmte ihn mit einem Schlag wieder milde, denn Hermines Gesichtsausdruck war voller Güte. Im Moment war sie eine Heilerin ohne Vorurteile oder Ablehnung.
„Wenn du mit ihm fertig bist, dann schick ihn zu mir herein“, bat Severus trocken. „Und stell den Trank nicht so weit weg, du könntest ihn, wenn ich mit dem Herrn fertig bin, noch einmal benötigen.“
„Solche Dinge lassen sich auch anders regeln, Severus.“
Mit diesen Worten verließ sie das Labor, um erneut den Werwolf aufzusuchen. Der hatte sich mittlerweile auf einen kleinen Hocker gesetzt, der meist von der ehemaligen Besitzerin Mrs. Cara benutzt wurde, weil die nicht so lange stehen konnte.
„Hier“, Hermine hielt ihm die Phiole unter die Nase, „trinken Sie das, Mr. …“
„Fogg“, gab er sich unbeabsichtigt zu erkennen. „Danke.“
Während ihr Patient trank, erklärte Hermine: „Es wird ein wenig zwacken, aber nicht schlimm. Danach sollten sie für eine Stunde die Nase nicht berühren, sie für drei weitere Stunden nicht putzen.“
Er senkte die Phiole wieder und atmete erleichtert durch den Mund aus, als er die heilende Wirkung verspürte. Es trat genau das ein, was sie beschrieben hatte. In seiner Nasenwurzel zwackte und kitzelte es. Die Nase selbst kribbelte, wurde taub, kribbelte wieder. Magie war schon etwas Seltsames.
„Wie haben Sie sich die Verletzung zugezogen?“, wollte Hermine wissen.
„Bin gegen eine Tür gelaufen?“ Man hörte heraus, dass er diese Erklärung nur als mögliche Antwort gegeben hatte, um sie zufriedenzustellen.
„Hatte die Tür in etwa diese Form?“ Hermine ballte ihre Faust, woraufhin Fogg kurz zusammenfuhr, dann aber ihr nettes Schmunzeln bemerkte.
„Möglich“, erwiderte er vorgetäuscht sachlich. „Ich glaube, sie war ein klitzekleines bisschen größer.“ Gerade wollte er seine Nase betasten, da stoppte er sich selbst, als er sich ihre Anweisung in Erinnerung rief. „Es fühlt sich schon viel besser an, vielen Dank.“
„Gern geschehen.“
Aus seiner Innentasche zückte er die fünf Galleonen, doch Hermine winkte ab.
„Bitte“, er streckte seine Hand, „nehmen Sie es.“
„Nein danke, wirklich nicht nötig. Das war doch Ehrensache.“
Ein Gewissen – das wusste Fogg nun –, hatte er durchaus und in diesem Moment sogar ein schlechtes. Mit Stringer zusammen hatte er die junge Frau mit einem gefälschten Pass, der aus Papier zur Fernkommunikation bestand, an der Nase herumgeführt und jetzt wollte sie nicht einmal die Bezahlung für die Heilung annehmen. Stattdessen nahm die Apothekerin etwas von der Theke und reichte es ihm. Es war eine Broschüre.
„Das wollte ich Ihnen schon das letzte Mal geben.“
Ein kurzer Blick auf das Werbematerial ließ ihn erschauern. Sie erinnerte sich offenbar sehr lebhaft an ihn und auch daran, was er getan hatte. Es war ein buntes Faltblatt der „Initiative für die Forderung eines Anti-Diskriminierungsgesetzes für magische und nichtmagische Halbwesen“.
„Die könnten Ihnen helfen, Mr. Fogg. Die unterstützen Sie bei der Suche nach einem Job bei Arbeitgebern, die keine Vorurteile haben. Man wird Ihnen auch zur Seite stehen, wenn Sie sich dazu entschließen sollten, sich endlich beim Ministerium als Werwolf zu registrieren. Mit einer Strafe brauchen Sie nicht zu rechnen, höchstens mit einer mündlichen Verwarnung.“
Spätestens jetzt war klar, dass sie ihn mit der ausgebliebenen Bezahlung für die drei Wolfsbanntränke in Zusammenhang brachte. Er war um Worte verlegen. Ihre freundliche Art machte es nur noch schwieriger, den harten Mann zu spielen. Einer jungen Frau, die ihm so uneigennützig entgegenkam, konnte er nichts antun. Verlegen blätterte in der Broschüre, als ihm ein ganz bestimmter Name auffiel, den er aus den Zeitungen kannte.
„Und ich kann mich dort melden?“, wollte er wissen.
„Ja, am besten bei dem hier.“ Hermine deutete auf ein Feld mit Kontaktangaben; auf den Namen, der ihm sofort ins Auge gestochen war.
Tief durchatmend richtete sich Fogg wieder auf. „Vielen Dank, Miss …“
Sie half ihm auf die Sprünge, falls er das riesige Schild über der Apotheke noch nie gelesen haben sollte, was vielen Kunden so ging. „Granger.“
„Vielen Dank, Miss Granger“, wiederholte er höflichkeitshalber nochmal vollständig.
Als sie ihn zur Tür begleitete, empfahl sie noch: „Wenn es doch wieder bluten sollte, dann kommen Sie einfach her.“
Beschämt nickte er, bevor er die Apotheke verließ. Hermine schloss die Tür und erschrak ein wenig, als sie Severus‘ Stimme hörte, der alles beobachtet haben musste.
„Es könnte einem fast das Mittagessen hochkommen, wenn man beobachtet, mit welcher Herzensgüte du dich um einen Gauner kümmerst.“
„Und genau deswegen magst du mich so“, rechtfertigte sie sich keck. Ihm fiel daraufhin nicht einmal eine weitere spitze Bemerkung ein, denn sie sollte Recht behalten. Er mochte ihre Art, das kontrollierte Verhalten in Ausnahmesituationen und dass sie kaum nachtragend war.
„Ich habe mir auch schon die Nase gebrochen und wurde nicht so betuttelt wie dieser Betrüger!“
Überrascht drehte sich Hermine zu ihm, weil sie ein wenig Neid herausgehört haben wollte. „Du hast dir die Nase gebrochen? Wann war das?“
„Zweimal, um genau zu sein.“
Ohne ihr weitere Informationen zu geben, ging er zurück ins Labor. Sie war so neugierig, dass sie ihm folgte. Im Labor lehnte sie sich an einen Tisch.
„Wann hast du dir die Nase gebrochen?“
Er mied den Augenkontakt und fuhr mit dem Brauen fort, als wäre nichts gewesen, erzählte dennoch, wie es sich zugetragen hatte. „Das eine Mal war Black so frei gewesen, mir einen Petrificus Totalus hinterherzuwerfen, als ich an ihm vorbeirannte. Bewegungsunfähig landete ich direkt vor Lilys Füßen – mit dem Gesicht prallte ich auf den steinernen Boden.“
Harry hatte ihr einmal von dieser Geschichte erzählt, weil Sirus damals gern damit geprahlt hatte. „Und das zweite Mal?“
„Das war das zweite Mal.“
„Dann eben das erste Mal“, hakte Hermine nach.
Severus presste die Lippen fest zusammen und warf eine Zutat in den Kessel, die er hurtig untermischte. „Es war in den Sommerferien der zweiten Klasse.“ Er erinnerte sich an den heißen Sommer 1972. Zwar hatte er die Zeit Zuhause bei seinem Vater verbracht, aber er war selten bei ihm gewesen, weil er die Angewohnheiten seines alten Herrn nicht gutheißen konnte. „Ich trieb mich häufig in London herum. Die Damen dieser Zeit hatten schon Jahre zuvor Gefallen an sehr ausgefallenen Kleidungsstücken gefunden. Eines hatte mich so“, er pausierte kurz, um nach einem treffenden Wort zu suchen, „zerstreut, dass ich Bekanntschaft mit einem Objekt machte, das für die Straßenbeleuchtung verantwortlich war.“
Gemächlich rührte Severus seinen Trank, blickte dann einmal gelassen zu Hermine hinüber, um ihre Reaktion zu beobachten, doch die grübelte noch über seine Worte.
„‘Ausgefallene Kleidungsstücke‘?“, wiederholte sie. Ihre Stirn begann Falten zu schlagen. „1972?“
„Korrekt.“
In Gedanken ging Hermine sämtliche modischen Erscheinungen durch und als sie glaubte, das gesuchte Kleidungsstück gefunden zu haben, kombinierte sie es mit seiner Aussage. Sie musste schmunzeln, als sie seinen Unfall in eigenen Worten wiedergab.
„Du hast einem Mädchen in einem Minirock nachgeschaut und bist gegen eine Laterne gelaufen?“
Erst nach ihrer eigenen Interpretation des Zwischenfalls wollte sich bei ihr etwas einstellen, das sie normalerweise unterdrückte: Schadenfreude. Severus warf ihr nur halbherzig einen warnenden Blick zu. Der Grund war die sichtliche Anstrengung ihrerseits, nicht in Gelächter auszubrechen, was er amüsiert beobachtete. Als sie sich diesen Moment auch bildlich vorstellte, war es um sie geschehen.
„Severus?“
„Mmmh?“ Noch immer rührte er ohne Eile das Gebräu.
„Wärst du mir sehr böse, wenn ich darüber lachen muss?“ Sie schnaufte bereits, ihre Mundwinkel zogen sich von ganz allein nach oben.
„Tu, was du nicht lassen kannst“, erlaubte Severus, denn er mochte es, wenn sie gut gelaunt war.
Hermine hielt sich nicht zurück. Sie lachte, aber nicht über ihn, sondern über die Situation selbst. Dabei strahlten ihren Augen eine anhimmelnde Liebenswürdigkeit aus, die ganz allein ihm galt. Unbewusst suchte er nach ähnlichen Momenten aus seinem Leben, deren Schilderung bei ihr die gleiche Reaktion hervorrufen könnte.
Zum Lachen war Fogg noch nicht zumute. Er machte sich keine Sorgen mehr um seine ehemals gebrochene Nase, als er zurück zum Wirtshaus ging. Pure Konzentration hatte sich bei ihm ausgebreitet, denn die Broschüre der Initiative hatte ihn dazu bewegt, einen Plan auszutüfteln.
Seinen Freund fand er auf dem Bett liegend wieder. Der Wirt hatte ihm etwas gegen die Hämatome und Schwellungen gegeben, doch die Schmerzen waren geblieben, waren aber nicht mehr so stark, dass er sie nicht ertragen könnte. Fogg richtete unverzüglich das Wort an ihn, kaum hatte er das Zimmer betreten.
„Ich weiß, wie wir Potter kriegen!“
Stringer blickte ihn ungläubig an. „Wie?“
„Einer von uns wird sich in Sirius Black verwandeln. Dann locken wir ihn irgendwo hin, machen ihn handlungsunfähig und übergeben ihn an Hopkins.“
„Aha.“ Stringer klang nicht sehr überzeugt. „Und wie in Merlins Namen möchtest du dich in Black verwandeln?“
„Weil ich mich mit ihm treffen werde! Es wird mir wohl noch gelingen, ein Haar zu stibitzen.“
„Mag ja sein, aber wie willst du an ihn herankommen? Der ist genauso schwer zu kriegen wie Potter.“
Fogg schüttelte seinen Kopf. „Nein, ist er nicht. Ich werde einen Termin ausmachen, um mit ihm über mein monatliches Problem zu sprechen.“
Endlich hielt er seinem Freund die Broschüre entgegen, die Stringer sofort überflog. Als Kontaktperson war ein Mr. Bloom genannt, der die Initiative leitete, aber gleich darunter stand Sirius Black und eine Adresse, über die man ihn per Eule erreichen könnte.
„Ich glaub’s ja nicht“, murmelte Stringer. „Das könnte sogar klappen!“
Die Option, in einem Monat einen Vielsafttrank zu erhalten, um damit vielleicht näher an Harry Potter zu gelangen, ließ Stringer aufatmen. Die von Hopkins versprochene Belohnung kündigte für ihn und seinen Kumpel Fogg ein angenehmes Leben an. Beide würden nicht mehr in einem heruntergekommenen Gasthaus in der Nokturngasse leben müssen und Fogg könnte sich den notwendigen Wolfsbanntrank auch ehrlich erwerben, vorausgesetzt er wollte das überhaupt.
An den alternden Dirnen vorbei und die Schwarzhändler passierend traf er im Gasthaus „Der Gehängte“ ein. Die Zimmer in dieser Schenke waren so preiswert, weil der namensgebende Gehängte noch immer dort umherspukte und auch nachts laut stöhnend jedem sein Leid klagte, ob man es hören wollte oder nicht. Der Wirt war für jeden Gast dankbar, der für eines der miesen Zimmer den geringen Preis zu zahlen bereit war. Fogg und Stringer stellten momentan die einzigen Besucher dar, die für einen Monat im Voraus bezahlt hatten. Wenn Vollmond wäre, müsste zumindest Fogg wieder in die Wälder ziehen, sonst würde man ihn wegen des Lärms rauswerfen oder dem Ministerium melden. Stringer ging die brüchigen Stufen hinauf in den ersten Stock, in dem sich die Zimmer befanden.
Fogg saß an einem wackligen Tisch und las in einer gestohlenen Zeitung, blickte erst auf, als Stringer ihn grüßte.
„Hast du was zu essen mitgebracht?“
„Die Läden haben jetzt geschlossen. Ich hole nachmittags was“, versicherte Stringer. Zur Antwort knurrte Foggs Magen.
„Ich hab Hunger!“
„Später! Ich war in einer Apotheke und hab Vielsafttrank geordert. Nur für den Fall, dass unsere Pläne nicht in den nächsten vier Wochen eingehalten werden können.“
Fogg legte die Zeitung beiseite und blickt seinen Gefährten ungläubig an. „Was denn für Pläne? Wir haben keine Pläne oder ist mir da was entgangen?“
„Wir sollten uns aber langsam mal Gedanken machen, wie wir an Potter rankommen können, ohne dass seine Freunde uns gleich mit Flüchen grillen.“
Unverständlich murmelte Fogg etwas vor sich hin. Er glaubte nicht daran, den Auftrag von Hopkins ausführen zu können. Er wollte Potter nicht einmal entführen. Erstens war er ein sehr mächtiger Zauberer, bei dem man auf der Hut sein musste und zweitens las er gerade einen Artikel in der Muggelpost, in dem sich Potter für die Rechte der Werwölfe starkmachte – sich für Fogg und seinesgleichen einsetzte.
„Die Brüder waren hier“, murrte Fogg unzufrieden. „Gehen mir langsam auf die Nerven mit ihren ständigen Fragen über unser Vorankommen.“
„Hopkins will uns im Auge behalten, falls wir uns mit dem Vorschuss aus dem Staub machen sollten. Was stören dich die beiden Squibs? Die haben gegen uns keine Chance, sollten wir wirklich verschwinden.“ Stringer setzte sich auf den anderen Stuhl, der unter der Last laut stöhnte. Es entging ihm nicht, dass Fogg mit seinem eigenen Stuhl etwas abrückte, sehr wahrscheinlich wegen des üblen Körpergeruchs. „Du weißt, dass ich nichts dafür kann“, verteidigte sich Stringer, bevor er belustigt hinzufügte, „aber es hat einen Vorteil: Meine Feinde möchten mir nicht zu nahe kommen.“
„Es hat aber auch den Nachteil, dass deine Freunde sich dir auch nicht nähern möchten. Bei Merlins Bart, nimm ein Bad! Dann hat meine Nase wenigstens eine Stunde Ruhe.“
„Und danach fängt es wieder an, also wozu die Mühe?“
Fogg schnaufte gereizt. „Du könntest wenigstens so tun, als würde es dich selbst auch stören. Das kommt eben davon, wenn man eine Hexe heiratet und mit deren Schwester ein Techtelmechtel beginnt. Das würde nicht mal ich tun, so anständig wie ich bin.“
„Anständig? Und das aus dem Munde eines Diebs, Hehlers und Betrügers!“ Stringer lachte auf, rückte sich dabei die Zeitung gerade, die Fogg dort abgelegt hatte. „Außerdem bin ich sicher, dass wir mit dem Geld von Hopkins endlich einen Fluchbrecher bezahlen können, der sich um den Gestank kümmert, den meine werte Gattin mir für das ‘faule Spielchen‘, das ich mit ihr getrieben habe, angehext hat.“
Der Werwolf seufzte und blickte aus dem Fenster. „Ich bete zu Merlin und Morgana, dass es wenigstens dagegen ein Mittel gibt.“ Mit mehr als dem Wolfsbanntrank konnte Fogg nicht rechnen.
Ohne etwas zu essen, obwohl besonders Foggs Magen dringend etwas benötigte, nahmen beide wenigstens eine Tasse Tee zu sich, um sich die Zeit bis zum Nachmittag vertreiben zu können. Natürlich schmiedeten sie auch Pläne, von denen sie die meisten gleich wieder verwerfen mussten, weil Potter nicht leicht zu bekommen wäre.
„Und wenn wir uns als Journalisten ausgeben?“ Fogg tippte auf die Zeitung. „Er gibt ja offensichtlich wieder Interviews!“
„Wer von uns soll mit diesem Anliegen an ihn herantreten?“ Stringer zeigte auf sich selbst. „Der Stinker oder“, er deutet zu seinem Kumpan, „der Typ mit der dicken Narbe am Hals? Ich würde keinen von uns auch nur einen Meter an mich heranlassen, wäre ich Potter.“
„Wir könnten die Mitleidsmasche fahren und mich als armen, bedauernswürdigen Werwolf hinstellen, der sich von dem großen Harry Potter ein wenig Hoffnung verspricht.“
„Das wäre nicht einmal gelogen“, warf Stringer ein, als er den Artikel in der Muggelpost überflog, „ich meine das mit dem ‘arm und bedauernswürdig‘.“
„Jedenfalls kann man mich nicht zehn Meilen gegen den Wind riechen!“
Stringer war etwas anderes eingefallen. „Sind nicht bald Prüfungen? Die ZAGs?“
„Klar“, stimmte Stringer zu, „und zwar in Hogwarts, hinter dicken Mauern und einer Menge Schutzzaubern.“
„Ja, aber wir könnten uns als Prüfer ausgeben!“
Aufgebracht schüttelte Fogg den Kopf. „Du auf keinen Fall. Du bist viel zu auffällig. Und ich?“ Nochmals schüttelte er den Kopf. „Mich hat man dort auch nie gesehen. Ich hab keine Lust, von Dumbledore in ein Gespräch verwickelt zu werden. Ich könnte wetten, er benötigt keine fünf Minuten, um herauszufinden, wer ich bin, was ich vorhabe und wie der Name von meinem Lieblingsteddy war, den meine Mutter mir als Kind geschenkt hat.“
Stringer winkte ab. „So gut ist der nun auch nicht.“
„Nein, hast recht, er ist besser. Vergiss es! Mich kriegen keine zehn Pferde nach Hogwarts. Das wäre Selbstmord.“
Seufzend griff Stringer in seine Innentasche, um die Tüte mit den Kopfschmerzdragees zu entnehmen. Er warf sie vor Fogg auf den Tisch.
„Gegen deine Kopfschmerzen.“
Die Tüte an sich nehmend klärte Fogg ihn auf. „Die sind gar nicht für mich. Die Roth-Brüder wollten die für Hopkins haben. Er darf nur nicht wissen, dass es ein Heilmittel aus unserer Welt ist. Deren Aspirin hilft offenbar schon lange nicht mehr gegen seine Kopfschmerzen.“
„Der Typ hat sowieso einen Knall. Ich meine, was will er überhaupt?“ Stringer untermalte seine Frage mit beiden Händen. „Ein Muggel, der von unserer Welt erzählt bekam, will sich Potter schnappen, um was zu tun?“
Mit schräg gelegtem Kopf offenbarte Fogg kleinlaut: „Das wird irgendwas Politisches sein und von sowas habe ich keine Ahnung.“
„Was Politisches? Ich bitte dich, das ist doch Quatsch. Wo bitte ist Potter politisch aktiv? Er hat sogar die Wahl zum Minister ausgeschlagen.“
Wie aus der Pistole geschossen versicherte Fogg: „Ich hätte ihn gewählt!“
„Du hast damals auch Fudge gewählt, weil jemand deine Stimme gekauft hat!“, warf ihm Stringer vor.
Fogg grinste verschmitzt. „Ich war jung und brauchte das Geld.“
„Du warst schon immer ein Gauner, Fogg! Käuflich.“
„Das ist nicht wahr! Das bin ich erst, nachdem ich gebissen wurde. Vorher hatte ich rein gar nichts an meinem Leben auszusetzen.“
„Du nicht“, stimmte Stringer zu, „aber deine Schwiegereltern. Du hast mir nie erzählt, wie es dazu gekommen ist, dass man dich rausgeworfen hat.“
„Das werde ich auch niemandem erzählen.“
Mittlerweile wirkte Fogg trotzig. So wurde er immer, wenn er über etwas nicht reden wollte. Stringer beließ es dabei. Er selbst hatte wenig angenehme Erinnerungen an seine Vergangenheit, besonders an seine Frau. Für sein geruchsintentives Schicksal war er durch seine Untreue selbst verantwortlich. Fogg hingegen wurde von einem Werwolf gebissen und erlebte erst dann die gesamte Palette an Ungerechtigkeiten, die über ihn eingebrochen war, ohne dass er sich wehren konnte.
Fogg blickte starr auf das Foto von Harry Potter, das das Titelbild der Muggelpost zierte. Er war schon lange kein kleiner Junge mehr. Das letzte Bild vom Idol der Zaubererwelt hatte Fogg kurz nach dem Krieg gesehen, als Potter und einige andere einen Orden erhalten hatten.
„Wenn wir Vielsafttrank haben, in wen würden wir uns verwandeln wollen?“
„Ich habe keine Ahnung. Ehrlich gesagt habe ich den Vielsafttrank nur bestellt, falls uns bis dahin etwas einfallen sollte. Der braucht immerhin einen Monat.“
Einen Augenblick lang überlegte Fogg, bevor er aufschaute und erschrocken fragte: „Das hast du doch nicht etwa hier in der Nokturngasse bestellt? Du weißt, dass die unsauber arbeiten.“
„Ich bin doch nicht irre und trinke etwas, was diese Gauner einen Monat lang unter fragwürdigen hygienischen Umständen zusammenpampen. Nein, ich war in der Winkelgasse bei jemandem, der etwas von seinem Job versteht.“
Durch zusammengekniffene Augen blickte Fogg ihn an. „Du hast nicht etwa bei der Kleinen bestellt? Bei der neuen Apothekerin, die wir ausgeraubt haben.“
„Haben wir sie ausgeraubt?“ Stringer zuckte mit den Schultern. „Wir überfallen so viele Menschen, da wird mir das entfallen sein.“
„Werd‘ ja nicht unvorsichtig, hörst du?“, warnte Fogg seinen Kumpel.
„Überleg lieber, wie wir …“
Stringer wurde unterbrochen, als es an der Tür klopfte. Nach einem lauten Herein betraten Arnold und Alex das Zimmer. Beide verzogen angewidert das Gesicht.
„Ah, meine Freunde“, stichelte Stringer. „Was führt euch in unser bescheidenes Heim?“
„Wir wollen uns vergewissern“, begann der ältere der beiden Squibs, „dass ihr auch an dem Job arbeitet, den Mr. Hopkins euch auferlegt hat.“
„Mmmh“, macht Stringer nachdenklich, aber auch amüsiert. „Seit wann sind wir so sehr befreundet, dass wir uns sogar duzen? Oder gehört das dazu, wenn man für Hopkins einen Auftrag ausführt.“
Der jüngere Bruder fragte spöttelnd: „Wird der Auftrag denn ausgeführt? Denn wisst ihr: Jedes Mal, wenn wir einen Kontrollbesuch machen, sitzt ihr nur da und unterhaltet euch.“
Fogg schnaufte aufgebracht. „Das nennt man ‘Pläne schmieden‘, du Idiot!“
„Pläne? Würde es euch etwas ausmachen, uns in diese Pläne einzuweihen?“, fragte Arnold.
Von seinem Stuhl stand Stringer auf, um auf Arnold zuzugehen, der verständlicherweise vor dem Geruch zu fliehen versuchte und rückwärts ging, bis ein Schrank ihn aufhielt. Stringer grinste bösartig.
„Vielleicht“, hauchte er den Squib an, „weihen wir euch nicht ein, weil ihr die Pläne einfach nicht verstehen würdet? Würde mich überraschen, wenn Ausgestoßene wie ihr etwas über Vielsafttrank wisst.“ Mit einer Hand stützte sich Stringer an dem Schrank hinter Arnold ab, genau neben dessen Kopf, woraufhin die Geruchspartikel des Unterarms besonders gut zur Geltung kamen. Arnolds verzogene Miene sprach Bände. „Oder bist du Experte auf dem Gebiet der Zaubertränke?“, spöttelte Stringer. „Wie lange habt ihr beide in der Zaubererwelt leben dürfen, bevor eure Eltern erfahren haben, dass ihr ‘nur‘ Squibs seid?“ Er hatte das Wort „nur“ absichtlich sehr geringschätzig betont und erhielt daraufhin die Reaktion, die er erhofft hatte hervorzurufen. Arnold stieß ihn wütend von sich. Einen Augenblick lang torkelte Stringer, bevor er das Gleichgewicht wiedergefunden hatte.
„Mein Leben hat dich nicht zu interessieren!“, keifte Arnold.
„Vielleicht aber doch? Warum habt ihr nicht in der Muggelwelt ein eigenes Leben begonnen, anstatt euch wieder und wieder hier herumzutreiben und euch der Demütigung auszusetzen, die ihr ohne Frage mit Sicherheit erfahrt? Könnt ihr etwa von der magischen Welt nicht loslassen? Oder wollt ihr nur nicht loslassen, weil sie euch verzaubert hat?“
Fogg hielt sich völlig heraus. Er kannte den Zorn, den Stringer tag ein, tag aus in seinem Herzen mit sich führte. Es wäre ratsam, nicht selbst das Ziel der Bösartigkeiten zu werden, also ließ er seinen Freund die anderen beiden zusammenstauchen, auch wenn er Mitleid mit ihnen hatte. Arnold und Alex zählten wie er zu einer von der Zauberergesellschaft verachteten Minderheit. Der jüngere Bruder, Alex, hielt sich ebenfalls zurück, beobachtete die kleine Auseinandersetzung aber sehr aufmerksam.
Seine verletzenden Anmerkungen hielt Stringer nicht im Zaum, als er das Wort erneut an Arnold richtete.
„Oder habt ihr euch einem Muggel angeschlossen, um eines Tages Rache für eure Verbannung ausüben zu können?“ Stringer fletschte die Zähne. „Und das alles nur, weil Mami und Papi euch eines Tages nicht mehr lieb gehabt haben!“
Die Luft in diesem kleinen Zimmer brannte. Arnold war nicht mehr zu halten und stürzte sich auf Stringer, der nicht einmal die Zeit fand, seinen Zauberstab zu ziehen. Den hatte Arnold in Windeseile aus dem Umhang gezerrt und weit weggeworfen. Der Stab rollte in eine Ritze und verschwand unter den Dielen.
Als Fogg sich von der Schocksekunde erholt hatte, sprang er von seinem Stuhl auf, um seinem Freund zu Hilfe zu eilen, doch auch er bekam seinen Stab nicht zu fassen. Alex setzte sich gleichermaßen für seinen Bruder ein. Der jüngere der Squibs stürzte sich auf Fogg und warf ihn zu Boden. Weder Stringer noch Fogg fanden Zeit und Konzentration dafür, ihren Zauberstab mit einem stablosen Aufrufezauber heranzuschaffen. Stringer fand sich auf dem Rücken liegend wieder, Arnold mit geballter Faust über ihm. Der junge Mann schlug so schnell zu, dass Stringer sogar ein Geräusch wahrnehmen konnte, als die Faust die Luft zerriss. Den knackenden Laut, als die Zähne aufeinanderstießen, hörte jeder im Raum.
Auch Alex hatte Fogg noch immer unter sich begraben. Er griff nach einem schweren Aschenbecher, der vom Tisch gefallen war.
„Nein!“ Fogg fürchtete um sein Leben. Ein schwerer Aschenbecher aus Granit und der menschliche Schädel vertrugen sich nicht. „Das kannst du nicht machen! Willst du mich umbringen?“
Alex zögerte, warf den Aschenbecher dann von sich und schlug mit der Faust zu. Der stechende Schmerz der Nasenwurzel breitete sich sofort im ganzen Gesicht aus. Fogg stöhnte laut auf, versuchte sein Gesicht mit den Händen zu schützen, doch ein weiterer Schlag blieb zum Glück aus. Etwas Warmes, das seinen Hals hinunterlief, löste erst einen Schluckreflex aus. Kurz darauf würgte er. Alex ließ ihn nicht los, auch nicht, als Fogg seinen Kopf zur Seite rollte und das Blut erbrach, das sich aus einer nicht sichtbaren Wunde einen Weg durch die Nasennebenhöhlen suchte. Zumindest wurde er nur noch festgehalten, aber nicht mehr von Alex geschlagen.
Anders sah es bei Arnold und Stringer aus. Letzterer lag wie sein Freund mit dem Rücken auf dem Boden; Arnold mit drohenden Fäusten über ihm. Stringer gab seinem Angreifer einen kräftigen Tritt, womit er ihn am Steißbein traf. Den abgelenkten Mann konnte er endlich von sich stoßen. Sogleich rappelte sich Arnold wieder auf und trat wahllos auf sein Opfer ein, das gerade vom Boden aufstehen wollte. Er traf dabei das Knie von Stringer, der daraufhin erneut zusammensackte. Wieder trat Arnold zu, direkt in den Bauch. Stringer heulte auf wie ein Tier und krümmte sich, blickte durch Tränen zu seinem Peiniger hinauf.
„Du kämpfst wie ein Mädchen!“ Arnold spuckte auf Stringer, bevor er ihm nochmals einen Tritt in die gleiche Stelle gab, dabei die Unterarme traf, mit denen der am Boden Liegenden sich schützen wollte. „Ohne eure Stäbe seid ihr so hilflos. Ich hätte gut Lust“, er trat nochmals zu, „dir eine Lektion zu erteilen, die du niemals in deinem Leben vergessen wirst.“
Arnolds Blick fiel auf den Aschenbecher aus Granit, den er im Nu in der Hand hielt. Um sich in Sicherheit zu bringen, kroch Stringer mit schmerzverzerrtem Gesicht über den rauen Holzboden. Er hoffte, seinen Zauberstab zu erreichen, doch Arnold hatte sich ihm erneut genähert und seine Ankunft mit einem weiteren Tritt angekündigt.
„Wohin denn so eilig, Mr. Stringer?“
„Du verdammter Squib!“ Mit dieser Bemerkung heimste er einen weiteren Tritt ein, doch Stringer ließ nicht locker. „So zerfressen vom Hass? Soll jeder einzelne Zauberer, jede einzelne Hexe dran glauben?“ Er zuckte zusammen, als er mit einem weiteren Fußtritt rechnete, doch der blieb aus. „Auch die, die euch gegenüber keine Vorurteile haben?“
„Jeder hat Vorurteile gegen uns.“
Es irritierte Arnold, dass gerade sein Bruder ihm wiedersprach und beteuerte: „Das ist nicht wahr!“
„Halt deinen Mund!“
Mit seinen Knien hatte Arnold die Arme von Stringer am Boden fixiert, als er sich wieder auf ihn gestürzt hatte. Er saß halb auf dem Bauch, halb auf dem Brustkorb auf dem wehrlosen Zauberer. Mit beiden Händen hob er den großen Aschenbecher über den eigenen Kopf. Dabei beobachtete er das Gesicht von Stringer, doch was er sah, gefiel ihm offenbar nicht. Stringer sprach es mit einem schiefen Lächeln an.
„Was denn? Erwartest du etwa Angst? Nicht von mir, bedaure. Der Krieg hat mich viele Dinge ertragen lassen. Der eigene Tod scheint da geradezu harmlos wie ein Kätzchen, das ich schon mehr als einmal in meinem Leben streicheln musste. Du willst mir Angst machen? Werd‘ erst einmal erwachsen, Jungchen.“
Von einer blechernen Stimme hörte man plötzlich die anspornenden Worte: „Schlag zu, Bursche. Es ist so einsam hier.“
Der Gehängte, der im Wirtshaus spukte, war unbemerkt durch die verschlossene Tür gekommen und hoffte nun offenbar auf einen Gefährten in seiner einsamen Existenz als Geist. Doch nicht nur der Geist des Gehängten, sondern auch der Wirt war auf den Kampf im ersten Stock aufmerksam geworden. Mit einem lauten Krachen verschaffte sich jemand Zutritt. Der leicht untersetzte Wirt hatte die Tür aus den Angeln gehoben und richtete seinen Zauberstab nacheinander auf Fogg und Alex, dann auf Stringer und am Ende auf Arnold, der nun langsam die Arme senkte und den Aschenbecher auf den Boden warf.
„Nur ungern“, begann der Wirt aufgebracht, „hole ich die Polizeibrigade, aber wenn hier nicht langsam Ruhe herrscht …“
„Keine Sorge“, unterbrach Arnold, bevor er von Stringer abließ und aufstand. „Wir wollten sowieso gerade gehen.“
In Richtung seines Bruders machte Arnold eine Kopfbewegung, mit der er Alex dazu aufforderte, ihm zu folgen. Alex ließ Foggs Arme los und stand auf. Beide Squibs drängten sich am beleibten Wirt vorbei ins Freie. Der Wirt blickte ihnen kurz nach, bevor er seine Gäste betrachtete.
„Was wollten die Kerle?“
Stringer spielte die Begegnung hinunter. Der Inhaber des Gasthauses durfte nicht zu viel erfahren. „Wir hatten nur eine kleine Meinungsverschiedenheit.“
„Eine kleine?“ Der Wirt zog beide Augenbrauen in die Höhe, womit sein helles Gesicht einem Vollmond glich. „Sah mir eher nach einer großen aus.“ Als er Fogg betrachtete, der sich nun aufgerichtete hatte und sich die Nase hielt, aus der er unaufhörlich blutete, empfahl er: „Sie sollten das von einem Heiler ansehen lassen. Sieht nicht gut aus.“
Stringer blutete zwar nicht, aber die unzähligen Tritte in den Magen und auf die Gliedmaßen würden eine Menge blauer Flecken hinterlassen. Er konnte jetzt schon einen Schmerz ausmachen, der einem starken Muskelkater glich. Als er aufstehen wollte, krümmte er sich und hielt sich den Bauch, so dass der Wirt ihm aufhalf.
Mit ausdrucksloser Miene betrachtete der Geist des Gehängten die drei Männer und zog enttäuscht von dannen, als ihm bewusst wurde, heute mit keinem Toten mehr rechnen zu dürfen. Der Wirt folgte dem Geist, nachdem Stringer ihm versichert hatte, sich um seinen verletzten Freund zu kümmern. Das tat er jedoch nur verbal.
„Geh zu einem Heiler“, stöhnte er, weil die eigenen Schmerzen sich bei jeder Bewegung bemerkbar machten. Aus seinem Umhang zog er einen Geldsack, aus dem er fünf Galleonen entnahm. Die reichte er Fogg. „Oder hol dir in einer Apotheke was dagegen.“ Besorgt zeigte er auf das viele Blut. Fogg hatte die Augen geschlossen. Obwohl er eine Hand schützend vors Gesicht hielt, konnte man das rot verschmierte Kinn sehen. Der schwarze Umhang wirkte auf das Blut allerdings wie Löschpapier, denn man sah dort nichts, ahnte aber, dass der Stoff feucht sein musste.
Ohne ein Wort zu verlieren sammelte Fogg die Münzen ein und verließ das Wirtshaus. In der Nokturngasse beachtete man ihn trotz des Blutes nicht mehr als sonst. Hier, wo sich Diebe, Mörder und andere zwielichtige Gestalten herumtrieben, stellte man keine Fragen.
Vorbei an Flourish und Blotts passierte er den kleinen Weg, der zur wenig belebten Winkelgasse führte. Es war Fogg egal, wer ihm helfen würde. Wichtig war nur, dass ihm sehr bald jemand die Schmerzen nahm. Die Menschen, die er auf seinem Weg traf und die ihm tuschelnd hinterherstarrten, beachtete er nicht. Vom eintretenden Schwindel leicht benommen torkelte er auf ein Schaufenster zu, in welchem sich gerade die dargebotenen Artikel wie von selbst neu anzuordnen schienen.
Hermine, die gerade dabei war, im Ladenfenster auch ihre eigenständig erfundenen Stimmungsaufheller unterzubringen, bemerkte den Mann, der schleichend an der Apotheke vorüberging. Ihr geschulter Blickt sagte ihr nicht nur, dass es sich bei ihm um Mr. Doppel-X handelte, sondern auch, dass es ihm sehr schlecht ging. Obwohl es noch nicht an der Zeit war, öffnete sie ihren Laden und rannte dem Verletzten hinterher.
„Warten Sie!“, hörte Fogg eine weibliche Stimme. Er gehorchte, drehte sich jedoch nicht um, sondern schloss erneut die Augen. An seiner Schulter fühlte er eine Hand, die ein wenig Druck ausübte und ihn dazu aufforderte, sich umzudrehen. Dann folgte wieder die angenehme Stimme: „Kommen Sie mit. Ich kümmere mich darum.“
Wenn sie die Erste sein wollte, die ihm helfen würde, wollte er das Angebot gern annehmen, also ließ er sich von ihr führen. In der Apotheke wurde ihm erst bewusst, wo er sich befand und wer die Frau war. Er hatte sich bei ihr dreimal den Wolfsbanntrank ergaunert und hoffte innig, dass sie das nicht bemerkt hatte oder ihn gar wiedererkannte.
„Zeigen Sie mal.“ Hermine nahm seine Hand in ihre und zog sie von der Nase weg. Es blutete wie ein Wasserfall. Leichte Schwellungen waren bereits zu sehen. „Autsch“, kommentierte sie mitfühlend. „Auch ohne Diagnosezauber kann ich sagen, dass die Nase gebrochen ist. Warten Sie, ich hole etwas.“
Im Labor, in dem sich bereits Severus befand und zwei Tränke für Kunden parallel braute, suchte sie in einem Schrank nach einem Mittel, für das sie selten Verwendung fand. Es war ähnlich wie Skele-Wachs, nur dass es nicht nur Knochen heilen konnte, sondern auch den Knorpel in der Nase.
„Rate mal“, richtete sie das Wort an Severus, „wer gerade mit gebrochener Nase in meinem Verkaufsraum wartet?“ Weil er nicht einmal eine Vermutung hatte und sich nicht äußerte, lüftete sie das Geheimnis. „Mr. Doppel-X.“
„Nein!“, entwich es ihm überrascht. Seine Augen strahlten bei der Aussicht auf Vergeltung. „Dann werde ich mal …“ Severus wurde von ihr aufgehalten, als er nach draußen stürmen wollte, um sich den Zechpreller zur Brust zu nehmen.
„Nicht, Severus. Es geht ihm nicht gut.“
Er stutzte und sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren. Was er an ihr ausmachen konnte, stimmte ihn mit einem Schlag wieder milde, denn Hermines Gesichtsausdruck war voller Güte. Im Moment war sie eine Heilerin ohne Vorurteile oder Ablehnung.
„Wenn du mit ihm fertig bist, dann schick ihn zu mir herein“, bat Severus trocken. „Und stell den Trank nicht so weit weg, du könntest ihn, wenn ich mit dem Herrn fertig bin, noch einmal benötigen.“
„Solche Dinge lassen sich auch anders regeln, Severus.“
Mit diesen Worten verließ sie das Labor, um erneut den Werwolf aufzusuchen. Der hatte sich mittlerweile auf einen kleinen Hocker gesetzt, der meist von der ehemaligen Besitzerin Mrs. Cara benutzt wurde, weil die nicht so lange stehen konnte.
„Hier“, Hermine hielt ihm die Phiole unter die Nase, „trinken Sie das, Mr. …“
„Fogg“, gab er sich unbeabsichtigt zu erkennen. „Danke.“
Während ihr Patient trank, erklärte Hermine: „Es wird ein wenig zwacken, aber nicht schlimm. Danach sollten sie für eine Stunde die Nase nicht berühren, sie für drei weitere Stunden nicht putzen.“
Er senkte die Phiole wieder und atmete erleichtert durch den Mund aus, als er die heilende Wirkung verspürte. Es trat genau das ein, was sie beschrieben hatte. In seiner Nasenwurzel zwackte und kitzelte es. Die Nase selbst kribbelte, wurde taub, kribbelte wieder. Magie war schon etwas Seltsames.
„Wie haben Sie sich die Verletzung zugezogen?“, wollte Hermine wissen.
„Bin gegen eine Tür gelaufen?“ Man hörte heraus, dass er diese Erklärung nur als mögliche Antwort gegeben hatte, um sie zufriedenzustellen.
„Hatte die Tür in etwa diese Form?“ Hermine ballte ihre Faust, woraufhin Fogg kurz zusammenfuhr, dann aber ihr nettes Schmunzeln bemerkte.
„Möglich“, erwiderte er vorgetäuscht sachlich. „Ich glaube, sie war ein klitzekleines bisschen größer.“ Gerade wollte er seine Nase betasten, da stoppte er sich selbst, als er sich ihre Anweisung in Erinnerung rief. „Es fühlt sich schon viel besser an, vielen Dank.“
„Gern geschehen.“
Aus seiner Innentasche zückte er die fünf Galleonen, doch Hermine winkte ab.
„Bitte“, er streckte seine Hand, „nehmen Sie es.“
„Nein danke, wirklich nicht nötig. Das war doch Ehrensache.“
Ein Gewissen – das wusste Fogg nun –, hatte er durchaus und in diesem Moment sogar ein schlechtes. Mit Stringer zusammen hatte er die junge Frau mit einem gefälschten Pass, der aus Papier zur Fernkommunikation bestand, an der Nase herumgeführt und jetzt wollte sie nicht einmal die Bezahlung für die Heilung annehmen. Stattdessen nahm die Apothekerin etwas von der Theke und reichte es ihm. Es war eine Broschüre.
„Das wollte ich Ihnen schon das letzte Mal geben.“
Ein kurzer Blick auf das Werbematerial ließ ihn erschauern. Sie erinnerte sich offenbar sehr lebhaft an ihn und auch daran, was er getan hatte. Es war ein buntes Faltblatt der „Initiative für die Forderung eines Anti-Diskriminierungsgesetzes für magische und nichtmagische Halbwesen“.
„Die könnten Ihnen helfen, Mr. Fogg. Die unterstützen Sie bei der Suche nach einem Job bei Arbeitgebern, die keine Vorurteile haben. Man wird Ihnen auch zur Seite stehen, wenn Sie sich dazu entschließen sollten, sich endlich beim Ministerium als Werwolf zu registrieren. Mit einer Strafe brauchen Sie nicht zu rechnen, höchstens mit einer mündlichen Verwarnung.“
Spätestens jetzt war klar, dass sie ihn mit der ausgebliebenen Bezahlung für die drei Wolfsbanntränke in Zusammenhang brachte. Er war um Worte verlegen. Ihre freundliche Art machte es nur noch schwieriger, den harten Mann zu spielen. Einer jungen Frau, die ihm so uneigennützig entgegenkam, konnte er nichts antun. Verlegen blätterte in der Broschüre, als ihm ein ganz bestimmter Name auffiel, den er aus den Zeitungen kannte.
„Und ich kann mich dort melden?“, wollte er wissen.
„Ja, am besten bei dem hier.“ Hermine deutete auf ein Feld mit Kontaktangaben; auf den Namen, der ihm sofort ins Auge gestochen war.
Tief durchatmend richtete sich Fogg wieder auf. „Vielen Dank, Miss …“
Sie half ihm auf die Sprünge, falls er das riesige Schild über der Apotheke noch nie gelesen haben sollte, was vielen Kunden so ging. „Granger.“
„Vielen Dank, Miss Granger“, wiederholte er höflichkeitshalber nochmal vollständig.
Als sie ihn zur Tür begleitete, empfahl sie noch: „Wenn es doch wieder bluten sollte, dann kommen Sie einfach her.“
Beschämt nickte er, bevor er die Apotheke verließ. Hermine schloss die Tür und erschrak ein wenig, als sie Severus‘ Stimme hörte, der alles beobachtet haben musste.
„Es könnte einem fast das Mittagessen hochkommen, wenn man beobachtet, mit welcher Herzensgüte du dich um einen Gauner kümmerst.“
„Und genau deswegen magst du mich so“, rechtfertigte sie sich keck. Ihm fiel daraufhin nicht einmal eine weitere spitze Bemerkung ein, denn sie sollte Recht behalten. Er mochte ihre Art, das kontrollierte Verhalten in Ausnahmesituationen und dass sie kaum nachtragend war.
„Ich habe mir auch schon die Nase gebrochen und wurde nicht so betuttelt wie dieser Betrüger!“
Überrascht drehte sich Hermine zu ihm, weil sie ein wenig Neid herausgehört haben wollte. „Du hast dir die Nase gebrochen? Wann war das?“
„Zweimal, um genau zu sein.“
Ohne ihr weitere Informationen zu geben, ging er zurück ins Labor. Sie war so neugierig, dass sie ihm folgte. Im Labor lehnte sie sich an einen Tisch.
„Wann hast du dir die Nase gebrochen?“
Er mied den Augenkontakt und fuhr mit dem Brauen fort, als wäre nichts gewesen, erzählte dennoch, wie es sich zugetragen hatte. „Das eine Mal war Black so frei gewesen, mir einen Petrificus Totalus hinterherzuwerfen, als ich an ihm vorbeirannte. Bewegungsunfähig landete ich direkt vor Lilys Füßen – mit dem Gesicht prallte ich auf den steinernen Boden.“
Harry hatte ihr einmal von dieser Geschichte erzählt, weil Sirus damals gern damit geprahlt hatte. „Und das zweite Mal?“
„Das war das zweite Mal.“
„Dann eben das erste Mal“, hakte Hermine nach.
Severus presste die Lippen fest zusammen und warf eine Zutat in den Kessel, die er hurtig untermischte. „Es war in den Sommerferien der zweiten Klasse.“ Er erinnerte sich an den heißen Sommer 1972. Zwar hatte er die Zeit Zuhause bei seinem Vater verbracht, aber er war selten bei ihm gewesen, weil er die Angewohnheiten seines alten Herrn nicht gutheißen konnte. „Ich trieb mich häufig in London herum. Die Damen dieser Zeit hatten schon Jahre zuvor Gefallen an sehr ausgefallenen Kleidungsstücken gefunden. Eines hatte mich so“, er pausierte kurz, um nach einem treffenden Wort zu suchen, „zerstreut, dass ich Bekanntschaft mit einem Objekt machte, das für die Straßenbeleuchtung verantwortlich war.“
Gemächlich rührte Severus seinen Trank, blickte dann einmal gelassen zu Hermine hinüber, um ihre Reaktion zu beobachten, doch die grübelte noch über seine Worte.
„‘Ausgefallene Kleidungsstücke‘?“, wiederholte sie. Ihre Stirn begann Falten zu schlagen. „1972?“
„Korrekt.“
In Gedanken ging Hermine sämtliche modischen Erscheinungen durch und als sie glaubte, das gesuchte Kleidungsstück gefunden zu haben, kombinierte sie es mit seiner Aussage. Sie musste schmunzeln, als sie seinen Unfall in eigenen Worten wiedergab.
„Du hast einem Mädchen in einem Minirock nachgeschaut und bist gegen eine Laterne gelaufen?“
Erst nach ihrer eigenen Interpretation des Zwischenfalls wollte sich bei ihr etwas einstellen, das sie normalerweise unterdrückte: Schadenfreude. Severus warf ihr nur halbherzig einen warnenden Blick zu. Der Grund war die sichtliche Anstrengung ihrerseits, nicht in Gelächter auszubrechen, was er amüsiert beobachtete. Als sie sich diesen Moment auch bildlich vorstellte, war es um sie geschehen.
„Severus?“
„Mmmh?“ Noch immer rührte er ohne Eile das Gebräu.
„Wärst du mir sehr böse, wenn ich darüber lachen muss?“ Sie schnaufte bereits, ihre Mundwinkel zogen sich von ganz allein nach oben.
„Tu, was du nicht lassen kannst“, erlaubte Severus, denn er mochte es, wenn sie gut gelaunt war.
Hermine hielt sich nicht zurück. Sie lachte, aber nicht über ihn, sondern über die Situation selbst. Dabei strahlten ihren Augen eine anhimmelnde Liebenswürdigkeit aus, die ganz allein ihm galt. Unbewusst suchte er nach ähnlichen Momenten aus seinem Leben, deren Schilderung bei ihr die gleiche Reaktion hervorrufen könnte.
Zum Lachen war Fogg noch nicht zumute. Er machte sich keine Sorgen mehr um seine ehemals gebrochene Nase, als er zurück zum Wirtshaus ging. Pure Konzentration hatte sich bei ihm ausgebreitet, denn die Broschüre der Initiative hatte ihn dazu bewegt, einen Plan auszutüfteln.
Seinen Freund fand er auf dem Bett liegend wieder. Der Wirt hatte ihm etwas gegen die Hämatome und Schwellungen gegeben, doch die Schmerzen waren geblieben, waren aber nicht mehr so stark, dass er sie nicht ertragen könnte. Fogg richtete unverzüglich das Wort an ihn, kaum hatte er das Zimmer betreten.
„Ich weiß, wie wir Potter kriegen!“
Stringer blickte ihn ungläubig an. „Wie?“
„Einer von uns wird sich in Sirius Black verwandeln. Dann locken wir ihn irgendwo hin, machen ihn handlungsunfähig und übergeben ihn an Hopkins.“
„Aha.“ Stringer klang nicht sehr überzeugt. „Und wie in Merlins Namen möchtest du dich in Black verwandeln?“
„Weil ich mich mit ihm treffen werde! Es wird mir wohl noch gelingen, ein Haar zu stibitzen.“
„Mag ja sein, aber wie willst du an ihn herankommen? Der ist genauso schwer zu kriegen wie Potter.“
Fogg schüttelte seinen Kopf. „Nein, ist er nicht. Ich werde einen Termin ausmachen, um mit ihm über mein monatliches Problem zu sprechen.“
Endlich hielt er seinem Freund die Broschüre entgegen, die Stringer sofort überflog. Als Kontaktperson war ein Mr. Bloom genannt, der die Initiative leitete, aber gleich darunter stand Sirius Black und eine Adresse, über die man ihn per Eule erreichen könnte.
„Ich glaub’s ja nicht“, murmelte Stringer. „Das könnte sogar klappen!“
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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196 Der verrückte Professor
Am Frühstückstisch der Gryffindors lasen die meisten Schüler die Briefe ihrer Eltern und Geschwister. Manche bekamen ein oder zwei Galleonen für das nächste Hogsmeade-Wochenende zugesteckt, andere erhielten die Drohung, das Taschengeld gekürzt zu bekommen, sollten sie die UTZe oder ZAGs nicht zur Zufriedenheit der Familie bestehen. Ginny las einen ganz anderen Brief. Er war von Besenknechts Sonntagsstaat, dem Bekleidungsgeschäft in Hogsmeade.
Eine ihrer Mitschülerinnen hatte ein paar Wörter des Schreibens lesen können und stieß sie mit dem Ellenbogen an.
„Ist das Kleid endlich fertig? Los, lies schon vor!“, wurde sie aufgefordert.
Ginny räusperte sich: „Wir freuen uns Ihnen mitteilen zu dürfen, dass die Hochzeitsgarderobe nach Ihren individuellen Vorstellungen fertig geschneidert in unserer Filiale in der Winkelgasse auf eine Anprobe wartet.“
„Das hört sich doch gut an. Wann ist die Hochzeit nochmal?“
Lächelnd erwiderte Ginny: „Am 26. Juni.“ Noch knapp sechs Wochen.
Manchmal gab es unerklärliche Begebenheiten, die auch ungeklärt bleiben würden, weil man sie nicht einmal erkennen könnte. So würde Hermine nicht einmal vermuten, dass sie plötzlich an die Hochzeit von Harry und Ginny denken musste, nur weil es ihrer besten Freundin im Augenblick genauso ging.
„Meinst du“, richtete Hermine das Wort an Severus, „ich sollte schon zwei, drei Wochen vorher ein Schild anbringen, dass wir am 26. Juni geschlossen haben?“
Severus blickte von seinem Kessel auf und runzelte die Stirn. „Wieso? Was ist denn da?“
Sie kam nicht drumherum, mit den Augen zu rollen. „Da gehen wir beide zu einer Hochzeit, schon vergessen?“
Dass sie gemeinsam gehen würden, hatten sie längst geklärt. Nur eine Sache stand noch aus, die Hermine unbedingt zu ihren Gunsten entscheiden wollte. Keiner von beiden bemerkte, wie sich die Tür vom Geschäft öffnete und ein Mann eintrat.
„Natürlich habe ich das nicht vergessen“, redete sich Severus raus.
„Ich erwarte …“, Hermine verbesserte, „nein, ich fordere mindestens einen Tanz und ein ‘Nein‘ zählt nicht.“ Als Antwort erhielt sie von Severus eine Mischung aus murmelnden und grunzenden Lauten, während er den Kopf schüttelte. „Was war das bitte?“, fragte sie herausfordernd nach.
„Ich sagte nein!“
Die Person, die den Verkaufsraum betreten hatte, ging einige Schritte an der Theke vorbei, um dem Gespräch im Labor zu lauschen.
„Das ist die Hochzeit meines besten Freundes und ich werde dort mit demjenigen tanzen, der mich begleitet!“ Trotzig stemmte Hermine ihre Hände in die Hüfte.
„Ich dachte, Mr. Weasley wäre dein bester Freund.“
„Beide sind meine Freunde! Hör auf, auf solchen Kleinigkeiten herumzureiten. Harry und Ginny heiraten nur einmal im Leben. Es ist eine Sache, auf einer Versammlung von Tränkemeistern nicht tanzen zu wollen oder auf einer Siegesfeier nach einem Quidditch-Spiel, aber eine Hochzeit …!“
Er fiel ihr ins Wort: „Eine Hochzeit ist nichts anderes. Es ist eine Gelegenheit, viele Menschen auf engstem Raum miteinander agieren zu lassen. Es wird einige Reden geben, gutes Essen – das hoffe ich zumindest – und Musik. Bei Letzterem werden sich unzählige Personen blamieren und ich werde keinesfalls dazugehören!“
Die Person im Verkaufsraum trat noch näher an die Tür heran, die zum Labor führte. Sie stand offen, so dass der Mann, der eigentlich nur die Apothekerin sprechen wollte, sie jetzt sogar sehen konnte. Der Tränkemeister war außer Sichtweite, aber dennoch gut zu hören.
„Ist es das? Du befürchtest, dich zu blamieren? Da brauchst du wirklich keine Angst zu haben, denn ich weiß, dass mindestens ein Gast anwesend sein wird, der mit Sicherheit seinem Tanzpartner ständig auf die Füße treten wird und ich mag sie trotzdem.“
Nicht nur Severus, sondern auch die Person, die dem Gespräch lauschte, musste sofort an Tonks denken. Die junge Aurorin machte sich überhaupt nichts aus ihrer Tollpatschigkeit, und es interessierte sie nicht, was andere von ihr hielten.
„Warum kannst du ein Nein nicht einfach akzeptieren?“, grummelte der Tränkemeister.
Hermine seufzte. „Ach Severus, eine Hochzeit ohne Tanz ist wie ein Schrumpftrank ohne Gänseblümchen.“
„Ohne diese Zutat wäre es kein Schrumpftrank!“
„Genau das meine ich doch! Es fehlt etwas. Kannst du nicht einfach mal über deinen Schatten springen, anstatt dich zu verstecken oder läuft es wieder darauf hinaus, dass du in einer Ecke stehst und die anderen beobachtest?“ Das folgende Murmeln war für den Lauscher und auch für Hermine zu unverständlich, so dass sie ihrem künftigen Partner vor Augen hielt: „Hast du mal mitgezählt, wie oft ich in dieser Angelegenheit eine Abfuhr von dir bekommen habe?“
„Ah, führen wir jetzt schon eine Strichliste?“
Hermine war nicht mehr zu halten. Sein Mangel an Kooperation trieb sie zur Weißglut. Entsprechend grantig klang sie auch.
„Wie wäre es, wenn du dir ein Tanz-Euphorie-Elixier braust?“
Ein Schnaufen war zu hören. „So etwas gibt es gar nicht.“
Die beobachtende Person sah, wie Hermine einen Stapel Pergamente in die Hand nahm.
„Dann erfinde einen!“, wetterte sie. „Es kann nicht schwerer sein als das, was ich hier mache!“ Mit dem Stapel Pergamenten winkte sie Severus zu hinüber, bevor sie verärgert zur Tür marschierte.
Der heimliche Zuhörer eilte so leise wie möglich zurück in den Verkaufsraum, um sich eine kleine Dose aus dem Regal zu nehmen, der er seine ganze Aufmerksamkeit widmen wollte.
Als Hermine den Verkaufsraum betrat, fand sie Sirius vor, aber sie kam nicht dazu, das Wort an ihn zu richten, denn Severus war ihr wutentbrannt gefolgt und ergriff sie am Oberarm.
„Du brauchst nicht zu glauben“, schnauzte er Hermine in einem Ton an, der sie an eine damalige Stunde Zaubertränke erinnerte, „dass du deswegen“, er schlug einmal mit der flachen Hand auf die Pergamente, „das Recht dazu hast, mich zu Gegenleistungen zu nötigen!“
„Nötigen?“, wiederholte Hermine erbost. „Ich glaube nicht, dass es überhaupt möglich ist, in irgendeiner Weise Zwang auf dich auszuüben.“
„Dann lass es gefälligst und akzeptiere ein Nein!“
Als Severus sich umdrehte, um den Verkaufsbereich wieder zu verlassen, fiel sein Blick auf Sirius, der still an einem Regal stand und vortäuschte, das Gezanke nicht bemerkt zu haben.
„Black!“ Sirius drehte sich zu Severus um. „Kann ich Ihnen helfen?“ Der Blick des Tränkemeisters fiel auf die Dose in seinen Händen. „Darf es noch etwas anderes sein als eine Creme gegen Hämorrhoiden?“
Erschrocken stellte Sirius die Dose wieder zurück. „Nein danke, ich habe mich nur etwas umgesehen.“
„Umgesehen oder eher umgehört?“
Sirius schnaufte erregt. „Willst du mich als Spitzel darstellen? Ich dachte, das wäre eher deine Aufgabe.“
Severus wollte schon auf Sirius zustürmen, doch er wurde von Hermine aufgehalten. Sie bat ihn wortlos, zurück ins Labor zu gehen, um den Vielsafttrank für den stinkenden Kunden zu brauen. Er kam, auf wenn er äußerst schlecht gelaunt war, ihrer Bitte nach und verschwand. Sirius blickte ihm skeptisch hinterher und als Severus außer Hörweite war, sprach er die Auseinandersetzung an, weil Hermine genauso traurig aussah wie auf dem Bild, das er einmal vor dem Papierkorb gerettet hatte.
„Worum ging es?“
„Ach“, Hermine winkte ab, „es wird nie geschehen.“
„Was? Dass er mit dir tanzt? Kann ich gar nicht verstehen, wie man sich da so zieren kann.“ Er lachte über Severus und zog dessen Verhalten ins Lächerliche, was Hermine gar nicht gefiel. Sofort verteidigte sie ihren zukünftigen Geschäftspartner.
„Vielleicht liegt es an den Erfahrungen, die er im Laufe seines Lebens sammeln musste?“
Den Zusammenhang ihrer Worte verstand Sirius nicht. „Was für Erfahrungen?“
Sie zuckte gleichgültig mit den Schultern, doch ihre Zunge war spitz. „Ich meine gewisse demütigende Erlebnisse aus Schultagen, die eventuell mit einem Weihnachtsball zu tun haben könnten.“
Es war ihm anzusehen, dass er sofort begriffen hatte. Seine Augenbrauen wanderten ein kleines Stückchen in Richtung Haaransatz und sein Blick richtete sich schuldbewusst auf die Theke, als er sich das damalige Ereignis ins Gedächtnis zurückrief; sich daran erinnerte, dass er an diesem Abend mit zwei Mädchen getanzt hatte, während Severus und der Ravenclaw Georgi Popovich leer ausgegangen waren.
„Über solche Dinge sollte man nach so langer Zeit längst hinweg sein.“
Seine Rechtfertigung war nur halbherzig. Er selbst hielt noch immer an dem Gefühl fest, das er damals für Severus empfunden hatte. Sirius stellte sich die Frage, wie er von anderen verlangen könnte, über vergangene Zeiten hinweg zu sein, wenn er selbst noch von den Gefühlen von gestern eingenommen war. Seinem Freund Remus war es viel leichter gefallen, neu anzufangen und sich sogar mit Severus zu unterhalten, ohne dass man eine Eskalation befürchten musste. Vielleicht, dachte Sirius, war es die Schuld der verlorenen Lebensjahre, die er in Askaban und später in der Nicht-Welt des mysteriösen Torbogens lassen musste. Möglicherweise hinderte ihn das Fehlen an Lebenserfahrung daran, von alten Gewohnheiten loszulassen. Severus war nichts anderes als eine dieser alten Gewohnheiten. Allein dessen Anwesenheit appellierte an Sirius‘ Gehässigkeit, auch wenn er es gelernt hatte, sich einigermaßen zurückzuhalten. Sein Patensohn und sein bester Freund hatten ihm mehr als nur einmal ans Herz gelegt, alte Streitigkeiten zu vergessen und das Kriegsbeil zu begraben, aber genau das fiel Sirius so schwer, denn wenn er mit Severus diese kleinen Boshaftigkeiten austauschte, fühlte er sich wieder so jung wie damals in der Schule. Jetzt war er aber keine zwanzig mehr, er wäre in ein paar Monaten 44 Jahre alt, genau wie Severus.
„Wolltest du etwas Bestimmtes?“ Mit ihrer mürrisch gestellten Frage riss Hermine ihn aus seinen Gedanken.
„Was?“ Als ihm bewusst wurde, was sie gefragt hatte, verneinte er. „Ich wollte nur mal reinschauen. Bin gerade auf dem Weg zu Duvall.“ Eigentlich wollte er ihr das Schreibfederset bringen, aber ihm war eine Idee gekommen, wie er mit Severus ein für allemal reinen Tisch machen konnte, aber dafür benötigte er Hermines Handschrift.
„Ach, wo du gerade hier bist“, mit einem Male war ihre schlechte Laune verschwunden. „Ich habe einem Werwolf geraten, dich aufzusuchen. Er hat Angst, das war nicht zu übersehen. Registriert ist er auch nicht, hat mich um drei Tränke geprellt, aber er scheint umgänglich zu sein, wenn er nichts befürchten muss.“
„Wie heißt er?“
„Sein Name ist Fogg. Ich weiß nicht, wann oder ob er sich bei dir melden wird, aber ich wollte dich trotzdem vorwarnen.“
„Mmmh“, summte Sirius gedankenverloren. „Danke fürs Bescheid sagen. Ich werde dann mal gehen. Wir kommen mit der Arbeit schnell voran. Kingsley liest schon den ersten Teil der Gesetzesänderungen und bisher kam von ihm kein Veto.“
Hermine strahlte über das ganze Gesicht. „Das ist schön, das freut mich. Ich drücke die Daumen, dass ihr schnell fertig werdet.“
„Danke Hermine, bis dann.“
Soeben hatte Sirius die Apotheke verlassen, da traf er in der Winkelgasse auf Anne. Sie hielt eine Tüte in der Hand, die wahrscheinlich ein spätes Mittagessen beinhaltete. Misstrauisch blickte sie erst ihn an, dann den Eingang der Apotheke.
„Anne, du hier?“
„Ich arbeite in dieser Einkaufsstraße, schon vergessen? Was hattest du da verloren?“ Sie nickte zur Apotheke hinüber, während Sirius sich ihr bereits näherte und ihren Arm um den seinen legte. Er ging einige Schritte, so dass sie ihm folgen musste.
„Ich benötige deine Hilfe, Anne. Deine Meinung ist mir wichtig, aber das werden wir heute Abend Zuhause klären.“
„Um was geht es denn?“, wollte sie wissen.
„Das kann ich dir jetzt noch nicht sagen. Lass mich dir nur soviel sagen, dass ich etwas wiedergutmachen möchte.“
Abrupt blieb Anne stehen, weswegen er einen Ruck am Arm spürte, mit dem er sie führte.
„Und das hat mit Hermine zu tun?“
Sirius nickte. „Aber nur indirekt. Es geht um ihren …“ Er fragte sich, wie man ihn nennen könnte.
Anne vermutete korrekt: „Severus?“
„Genau, um Severus.“
„Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, dass du etwas tun möchtest, das ihn betrifft. Ihr könnt euch nicht ausstehen. Das wird nicht gut gehen.“
„Deswegen will ich ja deine Meinung hören. Ich habe da eine vage Idee, brauche dafür nur noch einen Hauch Weiblichkeit.“
„Du sprichst in Rätseln, Sirius. Du hättest Orakel werden sollen – oder Direktor von Hogwarts. Denk daran, dass Severus mir das Leben gerettet hat. Ich möchte auf keinen Fall in irgendetwas verwickelt werden, das ihm schaden könnte. Mir gefällt das ganz und gar nicht.“
„Ach Anne, jetzt hör aber auf. Du weißt ja nicht mal, um was es sich handelt.“ Sie wollte ihm bereits mehr Informationen entlocken, doch er hielt stoppend eine Hand nach oben. „Nein, heute Abend! Und jetzt begleite ich dich erst einmal zu ‘Hut und Stock‘.“
„Stock und Hut“, verbesserte sie.
„Richtig, richtig.“
In Sirius‘ Gedanken nahm die Idee immer mehr Gestalt an, aber erst heute Abend würde er es mit Anne bereden. Sollte sie auch nur den kleinsten Zweifel hegen, würde er von seinem Vorhaben Abstand nehmen. Er ahnte jedoch, dass Anne begeistert sein würde.
Wenig begeistert war Hermine wegen der kleinen Streitigkeit mit Severus. Er wollte einfach nicht verstehen, dass eine Hochzeit von den engsten Freunden mehr war als nur eine Veranstaltung, die man zu seinen Pflichten zählte. Sie verstand jedoch auch, dass Severus besonders in der Anwesenheit von Sirius keinen Grund für Lästereien geben wollte – und Sirius als Harrys Patenonkel würde auf jeden Fall zu Gast sein. Hermine seufzte, denn die Situation schien ausweglos.
Mit hängenden Mundwinkeln ging sie ins Labor, wo Severus dem Vielsafttrank gerade Florfliegen untermischte. Er blickte über seine Schulter, als er sie kommen hörte.
„Der Trank muss noch eine halbe Stunde aufkochen, danach für zwei Tage ziehen“, erklärte er mit monotoner Stimme. Er rührte das Gebräu noch einige Male um, bevor er den Löffel am Rand des Kessels abklopfte und damit zum Waschbecken hinüberging, um ihn abzuwaschen. „Noch irgendwelche Aufträge?“
Hermine war am Tisch angelangt und stand direkt hinter ihm. „Einen Felix Felicis, zwei Gripsschärfungstränke und eine Murtlap-Essenz. Haben wir noch eingelegtes Murtlap-Rückengewebe?“
„Ich habe vorgestern welches bestellt. Es sollte Morgen bei der Lieferung dabei sein.“
Weil er an alles dachte, musste Hermine lächeln, was er auch an ihrer Stimme hören konnte, als sie ihm erzählte: „Poppy hat auch zwei Liter Skele-Wachs bestellt. Man merkt, dass in Hogwarts die Quidditch-Saison voll im Gange ist.“
Er nickte, trocknete dabei den Löffel ab, den er gleich darauf an seinen Haken hängte. Dass Hermine sich ihm genähert hatte, spürte er erst, als sie seine Hand nahm und ihre andere um seinen Unterarm legte. Die Wärme ihrer Wange konnte er an seinem Oberarm fühlen, an den sie sich gelehnt hatte. Stocksteif wartete er darauf, was diese Situation bringen würde. Als er eine Vermutung hatte, sprach er es freiheraus an, wenn auch flüsternd.
„Ich lasse mich nicht überreden, Hermine.“
„Nein, das will ich auch gar nicht versuchen.“ Wieder seufzte sie, doch diesmal erleichternd, weil der Streit längst vergessen war. „Du sollst nur wissen, wenn du deine Meinung übers Tanzen ändern solltest, dann bin ich allzeit bereit.“
Er wandte seinen Kopf zur Seite und traf mit seinen Lippen auf ihr Haar. „Was wollte Black?“
„Nichts Bestimmtes. Er hat sich sicher nur die Zeit bei mir vertreiben wollen. Ich habe nämlich gesehen, dass er sich draußen mit Anne getroffen hat.“ Nur langsam brachte Hermine wieder ein wenig Abstand zwischen sich und Severus, aber noch immer umfasste sie seinen Unterarm. „Ich benötige noch mehr Federn. Eine sollte vorerst reichen. Ich treffe immer wieder auf neue Zubereitungsmöglichkeiten und muss prüfen, wie die Feder auf bestimmte Verarbeitungsmethoden reagiert.“
„Sofort?“
„Für heute Abend brauche ich sie.“ So dicht bei ihm und seine Wärme spürend schloss sie die Augen. „Ich bin müde.“
„Du solltest nicht immer die Nächte durcharbeiten. Die Apotheke führt sich nicht von selbst.“
„Du bist doch da!“, erinnerte sie ihn frech. „Du denkst an alles, was ich vergesse. Gehst du eigentlich regelmäßig die Zutaten durch?“
„Natürlich! Man kann nur Qualität bieten, wenn man verdorbene Zutaten aussortiert und immer für ein vorhandenes Mindestmaß an Standardbestückung sorgt.“ Severus legte eine Hand auf ihre Schulter und drückte sie ein wenig von sich weg, damit er ihr in die Augen sehen konnte. „Wie kommst du voran?“, fragte er mit unsicherer Stimme.
„Besser als ich erwartet habe, wenn ich ehrlich bin. Die Übung mit den Hundehaaren hat wirklich geholfen. Ich bin viel sicherer bei der Frage, wie ich effektiv vorgehen muss, um eine Lösung zu finden. Und“, sie drückte seine Hand, „zwei Zutaten für einen Gegentrank habe ich schon! Einmal ist es das Pfeilkraut, beziehungsweise deren Rhizom. In diesen Wurzeln wird ein Wirkstoff gespeichert, der wachstumsstärkende Eigenschaften besitzt und zwar auf alles.“
„Pfeilkraut hat doch aber keine magischen Eigenschaften!“
Hermine strich sanft über seinen Unterarm. „Erinnerst du dich noch an die Wasserpflanzen, die wir bei Takeda gesehen haben?“ Severus nickte, so dass sie erklärte. „Er hat gezeigt, dass sie magische Eigenschaften haben können. In seinem letzten Brief schrieb er …“
„Er hat dir geschrieben?“
„Oh“, machte Hermine verlegen. „Hab ich ihn dir gar nicht gezeigt?“
Natürlich hatte sie nicht, weswegen sie den Brief, den sie ihren Pergamenten beigefügt hatte, herauszog und Severus zu lesen gab. Er las und las, dabei wurden seine Augen immer größer.
„Takeda hat die magischen Eigenschaften des Pfeilkrauts sogar schon getestet?“
„Und mir eine Probe der Pflanze geschickt, mit der ich selbst arbeiten konnte.“
„Das ist“, Severus schluckte kräftig, „eine Neuheit im Bereich der Zaubertränke!“ Summend stimmte sie ihm zu. „Und was für eine Pflanze ist die andere?“
„Zuckerbüsche! Stellt das genaue Gegenteil vom Gespenstischen Steinregen dar. Die Blume soll dafür sorgen, dass die Seelenteile, die nachwachsen werden, unabänderlich mit dem Kern verschmelzen und wieder eine Einheit mit ihm bilden. Der Gespenstische Steinregen spaltet alles Mögliche, die Zuckerbüsche hingegen sind bekannt für ihre fusionierende Wirkung.“
„Werden Zuckerbüsche nicht auch in der Trankversion des Dauerklebefluchs verwendet?“
Hermine nickte selbstsicher, denn davon hatte sie erst gestern gelesen. „Ja, was mit Hilfe von Zuckerbüschen verbunden wurde, lässt sich nicht mehr lösen.“
„Es sieht tatsächlich so aus, als kämest du voran.“
„Ich werde natürlich nichts überstürzen und lieber mehrmals nachrechnen, bevor sich noch ein Fehler einschleicht. Erst einmal muss ich sämtliche möglichen Zutaten testen und in meine Berechnungen einbinden. Was mir in Takedas Brief aufgefallen ist, war seine Methode, die er dem Pfeilkraut zugute kommen ließ. Er hat regelmäßig mit der Pflanze gesprochen, sie berührt und auf diese Weise mit seiner Magie gefüttert. Das werde ich auch tun müssen, ich weiß nur noch nicht, in welchem Ausmaß. Könntest du demnächst noch etwas von meinem Farbtrank brauen? Ich werde selbst einige Pflanzen anbauen müssen, um Tests zu machen.“
„Sicher.“
Auf einem Stück Pergament notierte sich Severus all das, was er noch brauen müsste, als er abrupt innehielt und in Gedanken versank. In seinem Kopf spielte sich immer wieder das Bild ab, in welchem Takeda die nicht-magischen Pflanzen berührte, die daraufhin vor lauter Zauber zu glühen begangen. Vor seinem inneren Auge tauschte er Takeda gegen eine andere Person aus, die er gut kannte.
„Was hast du, Severus?“
Sein Gesicht war bleich, sein Ausdruck jedoch euphorisch, geradezu erschreckend enthusiastisch.
„Harrys Magie!“, sprudelte es aus ihm heraus.
„Was?“
„Harry soll die Pflanzen ziehen und zwar nach Takedas Methode!“
Da war sie wieder, die Hoffnung in seinen Augen. Hermine verfiel in eine Art Trance, denn sie begann bereits damit, diese Information zu verarbeiten, zu berechnen. Sein Einfall war Gold wert. Wenn Harrys Magie sich schon in purer Form heilend auf Severus auswirken konnte, dann würden die Pflanzen, die sie für den Gegentrank benötigte, sicherlich aus dieser kräftigen Magie einen Vorteil ziehen.
„Brillant, Severus! Einfach nur brillant. Ich werde ihm eine Pflanze geben, um die er sich kümmern soll. Danach werde ich testen, inwiefern sich die Eigenschaften des Pfeilkrauts durch ihn verändert haben.“
„Sofort!“
„Severus, wir sollten es nicht übereilen.“
„Hermine, es kann Wochen dauern, bis die Pflanze die Magie annimmt. Hat Takeda selbst geschrieben! Wir sollten keine Zeit verlieren.“
So impulsiv hatte Hermine ihn selten erleben dürfen, weshalb sie seinen Wunsch nicht abschlagen konnte. Severus‘ braune Augen glitzerten wie die von Albus, wenn der sich mächtig über etwas freute. Sie konnte nicht anders, als ihm um den Hals zu fallen und ihn an sich zu drücken.
„Ich bin sicher, dass es funktionieren wird!“, hörte er ganz dicht an seinem Ohr.
Wange an Wange standen sie da, bis sich seine Arme um ihre Taille legten und er die Augen schloss, einfach nur um das Gefühl zu spüren, das so tief in ihm vergraben war und das ihre Nähe auch auslösen konnte, wenn auch nicht so stark, wie es notwendig wäre, um es am Leben zu erhalten. Er konnte beinahe danach greifen, aber immer wieder entwischte es ihm.
„Du solltest den Zutaten auch die besondere Behandlung zukommen lassen, Hermine“, murmelte er in ihr Ohr.
„Ach ja?“
„Ja“, bestätigte er. Ihr musste klar sein, dass sie ebenfalls eine positive Wirkung auf ihn ausübte, sonst hätte er diesen Vorschlag nicht gemacht. Wie es aussah, hatte sie ihn nicht missverstanden, denn sie drückte noch kräftiger zu.
In genau diesem Augenblick umarmten sich eine Menge Menschen auf dieser Welt, auch in Hogwarts, wie die Schüler Meredith und Gordian, die sich auf dem Astronomieturm getroffen hatten oder Harry und Ginny, die keinen Grund benötigten, um den anderen zu herzen.
„Das Kleid ist fertig, Harry. Kommst du mit, wenn ich es nächste Woche anprobiere?“
Harry löste die Umarmung. „Ich dachte immer, es bringt Unglück, wenn ich dich vorher im Kleid sehe.“
„Das ist doch Blödsinn. Bei den Muggeln mag es laut Volksmund Unglück bringen, aber ich weiß, dass eine Menge Paare ihre Kleidung aufeinander abstimmen und deshalb auch zusammen einkaufen gehen. Was ist mit deinem Anzug?“
„Ich hab noch gar nicht …“ Ginny schaute ihn erstaunt an und Harry versuchte, sich zu rechtfertigen. „Es sind doch noch sechs Wochen! Als ich mich das letzte Mal in einem Geschäft umgeschaut habe, meinten die Verkäufer, dass ich noch viel Zeit hätte.“
„Zeit, die sehr schnell vergehen kann. Dann komm einfach mit, wenn ich das Kleid anprobiere. Du kannst dir dort gleich ein paar Anzüge ansehen.“ Sie kam ins Schwärmen. „Die haben ganz wundervolle Kataloge, Harry.“
Als es klopfte ließen die beiden vollends voneinander ab. Harry ließ den unerwarteten Gast hinein.
„Hermine! Komm rein, schön dich zu sehen.“ Sein Blick fiel sofort auf das gläserne rundliche Gefäß, das sie in den Händen hielt. Am Boden hatte sich viel Erde abgesetzt, aber zur gleichen Menge war Wasser hinzugegeben. Aus der augenscheinlich überwässerten Erde sprossen über den Rand des Glases hinaus einige grüne Stängel, die an ihren obersten Enden dreiblättrige weiße Blüten aufwiesen.
„Hallo Harry“, sie blickte zu ihrer Freundin hinüber, „Ginny, wie geht’s?“
„Ganz wunderbar, danke der Nachfrage.“
Auf dem Boden sah Hermine ihren Patensohn mit magischen Bauklötzen spielen, die nicht sofort umfielen, wenn sie ein wenig schief aufeinander gestapelt wurden. Dementsprechend hoch war bereits ein so schräger Turm gebaut, der den schiefen Turm von Pisa mit Leichtigkeit in den Schatten stellte. Als Nicholas sie bemerkte, grinste er breit. Zwei Schneidezähne konnte man andeutungsweise erkennen. Der Junge riss freudig die Arme hoch, ließ dabei den einen Klotz achtlos auf den Boden fallen.
„Ist das nicht mein kleiner Patensohn?“ Das runde Glasgebilde stellte Hermine auf dem Tisch ab, doch bevor sie zu Nicholas gehen konnte, hielt Ginny sie auf.
„Geh in die Knie“, riet ihr die Rothaarige, „und ruf ihn.“
Neugierig kam sie der Aufforderung nach und ging in die Knie. Mit ihren Händen klatschte sie einmal, bevor sie sie dem Jungen entgegenstreckte. Der machte gleich darauf ein paar akrobatische Bewegungen, drückte sich vom Boden weg und …
„Er steht!“ Hermine konnte es noch gar nicht fassen.
Stolz kündigte Harry an: „Es kommt noch viel besser.“
Nicholas stand auf wackeligen Beinen. Nachdem er einen Schritt gemacht hatte, stolperte er über den fallengelassenen Klotz und landete auf dem Allerwertesten, doch er weinte nicht. Noch immer grinste er fröhlich, als er sich ein zweites Mal aufrappelte, dabei von Hermine in höchsten Tonlagen animiert wurde. Sie rief ihn, klatschte immer wieder in die Hände. Mit rudernden Armen machte Nicholas zwei Schritte, bis er endlich die Couch erreicht hatte. Zwischen Couch und Tisch hindurch hielt er sich an beiden Gegenständen fest, damit er nicht mehr fallen würde.
„Na komm her, Nicholas.“ Mit gurgelnden Singlauten kam der Junge immer näher, bis er von Hermine in den Arm geschlossen und am Kopf mit Küssen bedeckt wurde. „Fein gemacht.“ Sie hob ihn hoch. In dem Moment, als sie den vielen Speichel an seinem Kinn bemerkte, war Ginny schon mit einem weichen Taschentuch zur Stelle.
„Das ist wegen der Zähne“, erklärte Ginny. „Ich hab überall Tücher bereitgelegt und bin ständig dabei, ihm den Mund abzuwischen. Mama hat gesagt, das ist völlig normal.“
Hermine wiegte den Jungen hin und her. „Dann wird es Zeit für einen Beißring, damit es nicht so wehtut, wenn die Zähne kommen.“
Harry schnaufte. „Hat er schon, nimmt er aber selten. Er kaut lieber auf allem anderen herum, aber nicht auf den Sachen, die wir ihm dafür geben.“
Mit Nicholas im Arm nahm Hermine Platz und unterhielt sich mit Ginny über die schnellen Fortschritte des Kindes.
„Kaum konnte er alleine stehen, hat er sich ständig irgendwo hochgezogen, bis er ein paar Schritte machen konnte. Das ging wirklich fix. Harry und ich saßen wie gebannt auf der Couch und haben zugesehen. Das war spannender als jedes Quidditch-Spiel.“
„Das glaub ich“, stimmte Hermine zu, die Nicholas ansehen konnte, dass er nun müde war, denn er hatte seine Wange an ihre Brust gelegt, und die kleinen Augenlider flatterten angestrengt, als er versuchte wach zu bleiben. „Hat er schon einen Spontanzauber ausgelöst?“
Harry runzelte die Stirn. „Einen was?“
Die Erklärung übernahm Ginny, während sie Harrys Hand nahm und sie abwesend streichelte. „Das sind Zauber, die einfach so passieren können. Muss nicht immer so sein, aber viele Kinder können plötzlich etwas tun, was sie nicht kontrollieren können.“ Sie lächelte Harry an. „So ähnlich wie mit deiner Gabe.“
„Ich bin aber keine zehn Monate alt, Ginny“, erwiderte er vorgetäuscht beleidigt. „Ich glaube ich weiß, was ihr mit Spontanzauber meint. Neville hat damals erzählt, was sein Großonkel Algie alles mit ihm angestellt hat, um eine magische Reaktion zu provozieren.“
Hermine, die sich auch noch gut an Nevilles Erzählungen erinnern konnte, warf erbost ein: „Solche Methoden gehören verboten! Neville wäre fast ertrunken, als sein Onkel ihn vom Pier gestoßen hat. Und stellt euch vor, bei dem Sturz aus dem Fenster hätte sich herausgestellt, Neville wäre ein Squib gewesen! Gar nicht auszudenken, wie schlimm die Verletzungen gewesen wären, wenn er das überhaupt überlebt hätte.“
„Das ist unter Reinblütern leider sehr verbreitet gewesen“, erklärte Ginny.
Harry schüttelte den Kopf. „Aber warum?“
Einen Moment zögerte sie, doch letztendlich gab seine Verlobte ihm die Antwort. „Viele Reinblüterfamilien haben den Tod eines Familienmitglieds in Kauf genommen, wenn sich bei solchen waghalsigen Aktionen herausgestellt hat, dass es ein Squib war.“
Schockiert über diese Information war Harry einen Moment sprachlos. Als er sich wieder gefangen hatte, war seine ganze Entrüstung in seiner Stimme und seiner Körpersprache auszumachen.
„Einfach ein Kind aus dem Fenster werfen und wenn es ein Squib war, dann hat man halt Pech gehabt?“ Er atmete heftig und schüttelte den Kopf. „Das ist aber heutzutage nicht mehr so oder?“ Niemand antwortete. „Ginny! Das ist heute nicht mehr so, oder?“
„Ich weiß es nicht. Man kann nicht ausschließen, dass manche Familien das noch immer so handhaben. Neville war allerdings der Einzige, von dem ich damals solche Geschichten gehört habe. Das lässt hoffen, dass die Zauberer und Hexen davon abgekommen sind.“
Harry war außer sich vor Wut. „Aber man weiß es nicht! Ist ja auch kein Wunder, denn welcher Squib kann über diese unmenschlichen Behandlungen noch reden, wenn er tot ist?“
„Harry, ein bisschen leiser bitte“, rügte Hermine, denn der dösende Nicholas war wegen der Lautstärke in ihrem Arm zusammengezuckt.
Aufgebracht fuhr Harry sich durchs wirre Haar. Er konnte sich nicht vorstellen, dass seine Eltern jemals so gehandelt hätten. ‘Wer weiß‘, dachte er, ‘vielleicht war es seinem Vater so ergangen? Immerhin war er reinblütig gewesen. Womöglich musste Draco Ähnliches durchleben, nur sprach er nicht darüber.‘
„Harry?“ Durchs Ginnys Stimme wurde er aus seinen Gedanken gerissen. Noch immer liebkoste sie seine Hand. „Vielleicht solltest du mit meinem Vater darüber reden? Oder besser noch mit Sirius. Vielleicht haben sie das in den Gesetzesänderungen gar nicht beachtet und könnten das für den Schutz von Squibs einarbeiten.“
„Das werde ich tun! Ihr wisst ja gar nicht, was für scheußliche Bilder sich gerade in meinem Kopf formen. Ich will sicher sein, dass kein Kind solchen ‘Erziehungsmethoden‘ ausgesetzt ist!“
Die Erziehungsmethoden waren von Familie zu Familie unterschiedlich. Manche verhätschelten ihre Kinder und dabei war völlig zweitrangig, ob ein Squib zur Welt gekommen war oder der Nachwuchs magische Fähigkeiten besaß. Andere zeigten ihren Sprösslingen, dass sie besser dran wären, wenn sie das elterliche Haus verlassen würden – somit die Familie vor der Schande bewahrten.
Bei den Malfoys waren bis zum Tode von Abraxas, dem Vater von Lucius, sehr viel strengere Sitten an der Tagesordnung gewesen. Einige von denen hatte auch Draco miterleben müssen. So gehörte es zum Beispiel nach Ansicht von Abraxas zum guten Ton einer reinblütigen Familie, dass die Familienmitglieder ein Instrument beherrschten. Lucius wie auch Draco wurden von klein auf am Klavier unterrichtet, doch nachdem Abraxas, der sich gern und oft in die Erziehung seines Enkels eingemischt hatte, an Drachenpocken zugrunde gegangen war, ruhte der Unterricht.
Eines Tages, nachdem die Beerdigung und die Trauer einigermaßen überwunden waren, fragte der neunjährige Draco seinen Vater, als beide sich im Musikzimmer aufhielten, ob er üben sollte. Lucius hatte bejaht und sich mit einer Ausgabe des Tagespropheten auf den Hocker neben das Klavier gesetzt, als sein Sohn zu spielen begann. Bei der ersten falschen Note zuckte Draco zusammen und hielt sich seine kleinen Hände schützend vor die Brust, doch der befürchtete Schlag mit dem Rohrstock, mit dem sein Großvater stetig die Lernfähigkeit seines Schützlings verbessern wollte, war ausgeblieben. Sein Vater störte sich nicht an der falschen Note.
‘Beginn einfach nochmal von vorn‘, waren die Worte seines Vaters gewesen, die auch jetzt wieder in Dracos Ohren hallten, als er sich im Musikzimmer aufhielt, um dort ein paar Reinigungszauber anzuwenden. Als er das helle Klavier aus Vogelaugenahorn vom Staub befreite, wurde ihm klar, dass nach diesem einen Tag weder er noch sein Vater jemals wieder darauf gespielt hatten. In gewisser Weise stellte das den ersten Bruch mit einer Tradition des Hauses Malfoy dar, dachte Draco, als er die Klappe öffnete, unter der sich die Klaviatur befand. Gedankenverloren setzte er sich und schlug wahllos ein paar Tasten an. Als er blind drauf losspielen wollte, musste er feststellen, dass er es nicht mehr konnte.
„Du spielst?“ Auf der Stelle hielt Draco seine Finger still und er drehte sich um. Im Türrahmen stand sein Vater, der das Zimmer betrat, nachdem seine Anwesenheit nicht länger verborgen war.
„Ich hab es verlernt“, gab Draco offen zu. Gerade wollte er den Deckel wieder schließen, da hinderte sein Vater ihn daran.
„Versuchen wir es zusammen.“ Lucius nahm links von seinem Sohn Platz. „Nehmen wir etwas Leichtes, etwas, dass du mit Sicherheit noch kannst.“
„Ich hab alles vergessen, Vater.“
Lucius machte drei schnelle Schnalzgeräusche mit seiner Zunge. „Nicht doch, Junge. Versuch es wenigstens.“
Er würde sich blamieren, so viel stand für Draco fest. „Und was schlägst du vor?“
Sein Vater überlegte nicht lange: „Sur le Pont d'Avignon. Ich werde dich mit zerlegten Akkorden begleiten.“
Das Kinderlied, das wegen seiner Einfachheit wohl zu jedem Klavierunterricht dazugehörte, hatte Draco tatsächlich noch sehr munter in Erinnerung, wie auch die Methoden seines Großvaters. Dracos Hände schwebten über den Tasten, aber er begann nicht zu spielen. Stattdessen zitterten seine Finger bei der Erinnerung an das sogenannte „Tatzen“, wie die Schläge auf die Handfläche bezeichnet wurden. Sein Vater bemerkte die aufkommende Abneigung.
„Mir geht es wie dir.“ Lucius und schlug wahllos eine Taste an. „Schlechte Erinnerungen, die einem die Freude am Spielen nehmen.“ Noch eine Note erklang. „Es war eine Art Todsünde, dem eigenen Vater zu widersprechen, aber glaub mir: Ich habe ihn mir mehrmals zur Brust genommen und seine Verfahrensweise kritisiert. Leider hat es ihn nicht interessiert, was ich davon halte.“
Verschwommen konnte sich Draco an einige Begebenheiten erinnern. An kleine Auseinandersetzungen zwischen Vater und Großvater, nachdem es einen Schlag auf die Finger gegeben hatte.
Sehr leise fügte Lucius hinzu: „Er hat mich undankbar genannt.“ Ein reumütiger Seufzer entwich Lucius, doch gleich darauf atmete er tief durch, sammelte Kraft aus dem Hier und Jetzt. Es schien, als würde das Wetter die Trostlosigkeit aus dem Zimmer vertreiben wollen, denn die Wolken rissen auf und das Musikzimmer badete in den letzten Strahlen der Abendsonne. Es hatte etwas Heiliges an sich.
„Also, spielen wir?“, forderte Lucius ihn begeistert auf.
Draco nickte seinem Vater zu und begann mit dem Lied, das sein Erstes gewesen war, nachdem er die Tonleiter beherrschte. Sein Vater begleitete ihn zu den fröhlichen Klängen und mit einem Male war das Klavier nicht mehr mit negativen Erinnerungen verknüpft, sondern wurde in diesem Moment mit einem neuen Gefühl geprägt. Dem Gefühl, seinem eigenen Vater wieder etwas näher gekommen zu sein. Vernachlässigte Gewohnheiten wurden auf neue Weise wiederbelebt, ganz ohne Zwang, und das Musikzimmer wurde ohne jeden Übergang lebendig.
Beide waren aus der Übung, Draco mehr als sein Vater. Das Tempo stimmte nicht und einige Töne waren falsch. Ihr Spiel war keinesfalls perfekt, es war viel besser – es war vollkommen.
So saßen Vater und Sohn beisammen und spielten ein Lied aus Kindertagen, während die Sonne ins Musikzimmer schien und die Holzverkleidung samt dem rotbraunen Parkett eine heimelige Wärme ausstrahlte. Die gleiche sonnige Wärme verspürte Draco auch in seinem Brustkorb und er vermutete, dass es seinem Vater ähnlich erging.
Als sie fertig waren, denn besonders lang war das Stück nicht, blieben beide noch wortlos nebeneinander auf dem Hocker sitzen, weil sie diesen einzigartigen Moment genossen. Sein Vater war es, der nach einer Weile die Stille durchbrach.
„Danke für die kleine Abwechslung.“
„Ich danke dir“, gab Draco gut gelaunt zurück. Sein Vater legte ihm daraufhin eine Hand auf die Schulter und drückte willkommen zu, bevor er sich erhob und den Raum verlassen wollte. „Warte!“ Lucius drehte sich um und wartete geduldig auf das, was seinem Sohn auf der Zunge brannte. „Ich dachte, du könntest mir vielleicht den einen oder anderen Tipp geben.“
Sein Vater legte den Kopf schräg. „In Bezug auf was?“
„Ich bin der einzige Sponsor von Eintracht Pfützensee und frage mich, ob ich Werbefläche verkaufen sollte, zum Beispiel auf der Sportbekleidung.“
Lucius war erstaunt, was er auch nicht verbergen wollte. „Da fragst du gerade mich? Ich dachte eigentlich, man hätte mich in dieser Hinsicht abgeschrieben.“
„Vater bitte …“
Der Moment der Zusammengehörigkeit sollte nicht so schnell wieder zerstört werden. Draco benötigte tatsächlich Hilfe. Er hatte zwar einige Partner und war hier und da in vielversprechende Geschäfte eingestiegen, aber wie er jeweils das Beste herausschlagen konnte, war ihm nicht bewusst.
„Nun“, begann Lucius mit überheblichem Tonfall, den Draco ihm nicht übel nehmen wollte, „dann sollten wir deine Unterlagen mal gemeinsam durchgehen. Morgen?“
„Nach der Schule habe ich Zeit.“
„Gut, dann Morgen in meinem“, er verbesserte schweren Herzens, „in deinem Arbeitszimmer.“
„In unserem“, stellte Draco richtig, womit er ein zufriedenes Lächeln auf das Gesicht seines Vaters zauberte.
Ein zufriedenes Lächeln hatte sich auch auf Hermines Gesicht niedergeschlagen, als sie Nicholas beim Schlafen beobachtete. In ihren Armen fühlte er sich so wohl, dass ihn die Geräusche der Umgebung, die Unterhaltung zwischen ihr und seinen Eltern, absolut nichts ausmachten.
„Hermine? Erklärst du mir auch, warum du ein Aquarium mitgebracht hast?“ Harry nickte zu dem runden und mit Wasser und Pflanzen gefüllten Gefäß, indem kein einziger Fisch schwamm.
„Es gibt da eine Sache, um die ich dich bitten möchte. Du hast damals gesagt, wozu auch immer ich deine Hilfe benötige, du würdest es tun.“
„Ah, es geht um …“ Er warf Hermine einen bedeutungsschwangeren Blick zu, den Ginny mit einem Augenrollen kommentierte.
„Ich bin nicht blöd. Es geht um Snape, soviel habe ich von all eurem Getue längst mitbekommen!“ Ginny schaute zu Hermine, dann zu Harry. „Soll ich gehen?“
Verneinend erklärte Hermine: „Es geht um die Pflanzen. Harry, du musst mir einen Gefallen tun. Ich will gar nicht zu sehr ins Detail gehen, weil es dich langweilen würde.“
„Versuch es doch einfach mal“, forderte er sie auf, woraufhin Hermine stutzte, seiner Bitte aber nachkam.
„Neulich in Japan habe ich erfahren, dass nicht-magische Pflanzen wie dieses Pfeilkraut“, sie deutete zum gläsernen Gefäß, „fremde Magie aufnehmen können und auf diese Weise auch eigenständige magische Wirkstoffe aufweisen.“
„Siehst du, ich hab’s verstanden“, beteuerte er grinsend.
„Gut, denn was ich von dir verlange, mag sich im ersten Moment etwas seltsam anhören.“ Ginny und Harry warteten gespannt auf ihre Anweisung, die sie ohne Umschweife gab. „Ich möchte, dass du dich ganz besonders um diese Wasserpflanzen kümmerst.“
„Warum?“, fragte er erstaunt nach.
Ginny schlug ihm scherzhaft auf den Unterarm. „Sag mal, hast du nicht zugehört? Hermine hat gesagt, dass diese Pflanzen fremde Magie aufnehmen können. Ergo möchte sie, dass sie deine Magie aufnehmen.“
„Okay, kein Problem. Was muss ich tun?“
Den Jungen auf ihrem Unterarm legte Hermine etwas mehr in die Horizontale, damit ihr die Gliedmaße nicht einschlafen würde. „Du musst die Pflanzen berühren, mit ihnen sprechen und wenn möglich immer in deiner Nähe haben.“
„Abends kein Problem, aber was ist tagsüber während des Unterrichts?“, gab Harry zu bedenken. „Ich kann schlecht zu jeder Klasse mit einem Aquarium unter dem Arm auftauchen.“
Ginny zuckte mit den Schultern. „Warum denn nicht? Ich werde das Gerücht verbreiten, dass es sich um ein Experiment handelt, das du immer im Auge behalten musst. Da wird niemand Fragen stellen.“
„Sieht trotzdem ein bisschen komisch aus, findet ihr nicht?“ Mit dieser Meinung stand er offensichtlich allein da, weswegen er resignierend mit den Schultern zuckte. „Gut, dann nehme ich die Pflanze eben auch zum Unterricht mit. Solange ich nicht mit ihr schlafen muss ...“ Er lachte, war aber der Einzige, so dass ihm das Lachen im Halse stecken blieb. „Das ist nicht dein Ernst, Hermine!“
„Nein, natürlich nicht, obwohl man das Glas durchaus so verzaubern könnte, dass es im Bett nicht umkippen würde.“
Harry bekam größere Kulleraugen als Wobbel. „Es kommt auf den Nachttisch, basta. Das muss reichen.“
Hermine grinste amüsiert und nickte zustimmend. „Das wird auch reichen. Die Hauptsache ist, dass du immer in der Nähe bist und die Pflanze sich immer in deinem Magiekreis aufhält. Trotzdem vergiss nicht, das Pfeilkraut auch regelmäßig zu berühren und …“
Harry unterbrach: „Mit ihr zu sprechen, verstehe schon. Wenn ich gut drauf bin, darf sie auch dabei sein, wenn ich Nicholas ein Gute-Nacht-Lied vorsinge.“
„Du singst ihm was vor? Ist das goldig“, schwärmte Hermine. „Darf ich mal dabei sein?“
„Nein!“, wehrte sich Harry. „Da schmeiß ich Ginny auch immer raus, bevor ich …“
Er wurde von seiner Verlobten unterbrochen. „Ich habe gelauscht und es ist wirklich ganz herzallerliebst!“
„Ich sollte Eintrittskarten verkaufen“, murmelte Harry. An Hermine gerichtet wollte er wissen: „Darf ich fragen, was du im Anschluss damit vorhast?“
Diesmal blickte Hermine zu Ginny hinüber, denn jetzt war das Thema tatsächlich auf Severus und sein Problem gelenkt worden und sie wollte kein Wort verlieren, das zu viel Einblick geben könnte. Mit ein wenig Geschick drückte sie sich so aus, dass sie nicht zu genau wurde.
„Ich hoffe, mit deiner Hilfe wird aus dem Pfeilkraut eine Zutat für den Heiltrank werden.“
Harry blinzelte einige Male. „Tatsächlich?“ Als Hermine bejahte, schien ihm ein Stein vom Herzen zu fallen. „Wusste gar nicht, dass du schon so weit bist.“
„Ich gebe mir alle Mühe, Harry. Da war eine Menge, das ich in Erfahrung gebracht habe; eine Menge Informationen, die mir geholfen haben. Trotzdem werde ich später noch Hilfe benötigen, da bin ich mir ganz sicher.“
Mit erhobener Hand beteuerte Harry: „Bin zur Stelle, wenn du mich brauchst.“
„Danke. Ach, bevor ich es vergesse, Harry: Ich habe auch welche von den 30-Sekunden-Farbtränken mit. Nur damit du in etwa weißt, wie groß der Radius deiner Magie ist, wie dicht also das Glas immer sein muss.“ Dem schlafenden Kind im Arm gab sie einen Kuss auf die samtweiche Stirn. „So, mein Kleiner. Ich muss jetzt wieder los. Severus wartet auf mich.“
„Er ist bei dir?“, fragte Harry erstaunt.
„Ja.“ Die nicht gestellte Frage ‘Warum?‘ schwang in Hermines Tonfall mit.
„Nur so“, winkte Harry ab. Als Hermine zur Tür ging, stutzte er. „Warum nimmst du nicht den Kamin?“
„Weil ich kurz noch bei Neville vorbeischauen möchte. Also“, Hermine nickte ihren beiden Freunden zu, „bis dann!“
Nachdem Hermine gegangen war, starrte Ginny auf das Glasgefäß mit der Pflanze. Kurz darauf blickte sie Harry an, bevor sie die Vermutung aufstellte: „Läuft zwischen den beiden irgendwas?“
„Hey, frag nicht mich. Ich bin immer der Letzte, der über sowas in Kenntnis gesetzt wird.“
„George meinte neulich, Snape wäre fast jeden Tag bei ihr.“
Harry nickte. „Ist auch sein gutes Recht, ihm gehört immerhin die halbe Apotheke.“
„Und außerdem hat Fred mir erzählt – das weiß er von seinen Nachbarn –, dass Snape sich in der Winkelgasse wegen einer Wohnung umschaut, aber bisher waren ihm alle zu teuer.“
„Na also, da hast du doch die Antwort auf deine erste Frage! Er könnte auch bei Hermine einziehen, wenn er wollte, aber er tut’s nicht.“ Sein Blick fiel auf den Tisch. Er überreichte Ginny den schlafenden Jungen. „Und jetzt lass mir einen Moment, Schatz. Ich muss mich um meinen neuen besten Freund kümmern.“
Gelassen näherte sich Harry der Pflanze und berührte vorsichtig den Teil, der über das Wasser hinausragte. Mit seinen Fingerspitzen strich er über die bandförmigen grünen Blätter.
„Hallo, ich bin der Harry“, sagte er mit fröhlichem Singsang in der Stimme und einem breiten Grinsen im Gesicht. Als er zu Ginny hinüberschaute, giggelte sie gleich darauf los.
„Oh Merlin, lass das bloß niemanden sehen, sonst wirst du noch ins Mungos eingewiesen.“
Auch wenn er in diesem Moment einen Scherz darüber machte, mit der Pflanze zu sprechen, so wusste er von dem Experiment mit Draco, dass die Magie auf einen anderen Menschen übergehen konnte, denn das hatte er selbst erlebt. Wenn Hermine sagte, die Magie würde auch auf Pflanzen einwirken, glaubte er ihr das ungesehen. Vielleicht konnte er Severus auf diese Weise den Wunsch erfüllen, ihm einen Teil seiner Magie zu geben. Mit all der Hoffnung, diese Pflanze zu einer wirkungsvollen Zutat für ein Heilmittel zu machen, befühlte Harry die drei weißen Blütenblätter.
Am Frühstückstisch der Gryffindors lasen die meisten Schüler die Briefe ihrer Eltern und Geschwister. Manche bekamen ein oder zwei Galleonen für das nächste Hogsmeade-Wochenende zugesteckt, andere erhielten die Drohung, das Taschengeld gekürzt zu bekommen, sollten sie die UTZe oder ZAGs nicht zur Zufriedenheit der Familie bestehen. Ginny las einen ganz anderen Brief. Er war von Besenknechts Sonntagsstaat, dem Bekleidungsgeschäft in Hogsmeade.
Eine ihrer Mitschülerinnen hatte ein paar Wörter des Schreibens lesen können und stieß sie mit dem Ellenbogen an.
„Ist das Kleid endlich fertig? Los, lies schon vor!“, wurde sie aufgefordert.
Ginny räusperte sich: „Wir freuen uns Ihnen mitteilen zu dürfen, dass die Hochzeitsgarderobe nach Ihren individuellen Vorstellungen fertig geschneidert in unserer Filiale in der Winkelgasse auf eine Anprobe wartet.“
„Das hört sich doch gut an. Wann ist die Hochzeit nochmal?“
Lächelnd erwiderte Ginny: „Am 26. Juni.“ Noch knapp sechs Wochen.
Manchmal gab es unerklärliche Begebenheiten, die auch ungeklärt bleiben würden, weil man sie nicht einmal erkennen könnte. So würde Hermine nicht einmal vermuten, dass sie plötzlich an die Hochzeit von Harry und Ginny denken musste, nur weil es ihrer besten Freundin im Augenblick genauso ging.
„Meinst du“, richtete Hermine das Wort an Severus, „ich sollte schon zwei, drei Wochen vorher ein Schild anbringen, dass wir am 26. Juni geschlossen haben?“
Severus blickte von seinem Kessel auf und runzelte die Stirn. „Wieso? Was ist denn da?“
Sie kam nicht drumherum, mit den Augen zu rollen. „Da gehen wir beide zu einer Hochzeit, schon vergessen?“
Dass sie gemeinsam gehen würden, hatten sie längst geklärt. Nur eine Sache stand noch aus, die Hermine unbedingt zu ihren Gunsten entscheiden wollte. Keiner von beiden bemerkte, wie sich die Tür vom Geschäft öffnete und ein Mann eintrat.
„Natürlich habe ich das nicht vergessen“, redete sich Severus raus.
„Ich erwarte …“, Hermine verbesserte, „nein, ich fordere mindestens einen Tanz und ein ‘Nein‘ zählt nicht.“ Als Antwort erhielt sie von Severus eine Mischung aus murmelnden und grunzenden Lauten, während er den Kopf schüttelte. „Was war das bitte?“, fragte sie herausfordernd nach.
„Ich sagte nein!“
Die Person, die den Verkaufsraum betreten hatte, ging einige Schritte an der Theke vorbei, um dem Gespräch im Labor zu lauschen.
„Das ist die Hochzeit meines besten Freundes und ich werde dort mit demjenigen tanzen, der mich begleitet!“ Trotzig stemmte Hermine ihre Hände in die Hüfte.
„Ich dachte, Mr. Weasley wäre dein bester Freund.“
„Beide sind meine Freunde! Hör auf, auf solchen Kleinigkeiten herumzureiten. Harry und Ginny heiraten nur einmal im Leben. Es ist eine Sache, auf einer Versammlung von Tränkemeistern nicht tanzen zu wollen oder auf einer Siegesfeier nach einem Quidditch-Spiel, aber eine Hochzeit …!“
Er fiel ihr ins Wort: „Eine Hochzeit ist nichts anderes. Es ist eine Gelegenheit, viele Menschen auf engstem Raum miteinander agieren zu lassen. Es wird einige Reden geben, gutes Essen – das hoffe ich zumindest – und Musik. Bei Letzterem werden sich unzählige Personen blamieren und ich werde keinesfalls dazugehören!“
Die Person im Verkaufsraum trat noch näher an die Tür heran, die zum Labor führte. Sie stand offen, so dass der Mann, der eigentlich nur die Apothekerin sprechen wollte, sie jetzt sogar sehen konnte. Der Tränkemeister war außer Sichtweite, aber dennoch gut zu hören.
„Ist es das? Du befürchtest, dich zu blamieren? Da brauchst du wirklich keine Angst zu haben, denn ich weiß, dass mindestens ein Gast anwesend sein wird, der mit Sicherheit seinem Tanzpartner ständig auf die Füße treten wird und ich mag sie trotzdem.“
Nicht nur Severus, sondern auch die Person, die dem Gespräch lauschte, musste sofort an Tonks denken. Die junge Aurorin machte sich überhaupt nichts aus ihrer Tollpatschigkeit, und es interessierte sie nicht, was andere von ihr hielten.
„Warum kannst du ein Nein nicht einfach akzeptieren?“, grummelte der Tränkemeister.
Hermine seufzte. „Ach Severus, eine Hochzeit ohne Tanz ist wie ein Schrumpftrank ohne Gänseblümchen.“
„Ohne diese Zutat wäre es kein Schrumpftrank!“
„Genau das meine ich doch! Es fehlt etwas. Kannst du nicht einfach mal über deinen Schatten springen, anstatt dich zu verstecken oder läuft es wieder darauf hinaus, dass du in einer Ecke stehst und die anderen beobachtest?“ Das folgende Murmeln war für den Lauscher und auch für Hermine zu unverständlich, so dass sie ihrem künftigen Partner vor Augen hielt: „Hast du mal mitgezählt, wie oft ich in dieser Angelegenheit eine Abfuhr von dir bekommen habe?“
„Ah, führen wir jetzt schon eine Strichliste?“
Hermine war nicht mehr zu halten. Sein Mangel an Kooperation trieb sie zur Weißglut. Entsprechend grantig klang sie auch.
„Wie wäre es, wenn du dir ein Tanz-Euphorie-Elixier braust?“
Ein Schnaufen war zu hören. „So etwas gibt es gar nicht.“
Die beobachtende Person sah, wie Hermine einen Stapel Pergamente in die Hand nahm.
„Dann erfinde einen!“, wetterte sie. „Es kann nicht schwerer sein als das, was ich hier mache!“ Mit dem Stapel Pergamenten winkte sie Severus zu hinüber, bevor sie verärgert zur Tür marschierte.
Der heimliche Zuhörer eilte so leise wie möglich zurück in den Verkaufsraum, um sich eine kleine Dose aus dem Regal zu nehmen, der er seine ganze Aufmerksamkeit widmen wollte.
Als Hermine den Verkaufsraum betrat, fand sie Sirius vor, aber sie kam nicht dazu, das Wort an ihn zu richten, denn Severus war ihr wutentbrannt gefolgt und ergriff sie am Oberarm.
„Du brauchst nicht zu glauben“, schnauzte er Hermine in einem Ton an, der sie an eine damalige Stunde Zaubertränke erinnerte, „dass du deswegen“, er schlug einmal mit der flachen Hand auf die Pergamente, „das Recht dazu hast, mich zu Gegenleistungen zu nötigen!“
„Nötigen?“, wiederholte Hermine erbost. „Ich glaube nicht, dass es überhaupt möglich ist, in irgendeiner Weise Zwang auf dich auszuüben.“
„Dann lass es gefälligst und akzeptiere ein Nein!“
Als Severus sich umdrehte, um den Verkaufsbereich wieder zu verlassen, fiel sein Blick auf Sirius, der still an einem Regal stand und vortäuschte, das Gezanke nicht bemerkt zu haben.
„Black!“ Sirius drehte sich zu Severus um. „Kann ich Ihnen helfen?“ Der Blick des Tränkemeisters fiel auf die Dose in seinen Händen. „Darf es noch etwas anderes sein als eine Creme gegen Hämorrhoiden?“
Erschrocken stellte Sirius die Dose wieder zurück. „Nein danke, ich habe mich nur etwas umgesehen.“
„Umgesehen oder eher umgehört?“
Sirius schnaufte erregt. „Willst du mich als Spitzel darstellen? Ich dachte, das wäre eher deine Aufgabe.“
Severus wollte schon auf Sirius zustürmen, doch er wurde von Hermine aufgehalten. Sie bat ihn wortlos, zurück ins Labor zu gehen, um den Vielsafttrank für den stinkenden Kunden zu brauen. Er kam, auf wenn er äußerst schlecht gelaunt war, ihrer Bitte nach und verschwand. Sirius blickte ihm skeptisch hinterher und als Severus außer Hörweite war, sprach er die Auseinandersetzung an, weil Hermine genauso traurig aussah wie auf dem Bild, das er einmal vor dem Papierkorb gerettet hatte.
„Worum ging es?“
„Ach“, Hermine winkte ab, „es wird nie geschehen.“
„Was? Dass er mit dir tanzt? Kann ich gar nicht verstehen, wie man sich da so zieren kann.“ Er lachte über Severus und zog dessen Verhalten ins Lächerliche, was Hermine gar nicht gefiel. Sofort verteidigte sie ihren zukünftigen Geschäftspartner.
„Vielleicht liegt es an den Erfahrungen, die er im Laufe seines Lebens sammeln musste?“
Den Zusammenhang ihrer Worte verstand Sirius nicht. „Was für Erfahrungen?“
Sie zuckte gleichgültig mit den Schultern, doch ihre Zunge war spitz. „Ich meine gewisse demütigende Erlebnisse aus Schultagen, die eventuell mit einem Weihnachtsball zu tun haben könnten.“
Es war ihm anzusehen, dass er sofort begriffen hatte. Seine Augenbrauen wanderten ein kleines Stückchen in Richtung Haaransatz und sein Blick richtete sich schuldbewusst auf die Theke, als er sich das damalige Ereignis ins Gedächtnis zurückrief; sich daran erinnerte, dass er an diesem Abend mit zwei Mädchen getanzt hatte, während Severus und der Ravenclaw Georgi Popovich leer ausgegangen waren.
„Über solche Dinge sollte man nach so langer Zeit längst hinweg sein.“
Seine Rechtfertigung war nur halbherzig. Er selbst hielt noch immer an dem Gefühl fest, das er damals für Severus empfunden hatte. Sirius stellte sich die Frage, wie er von anderen verlangen könnte, über vergangene Zeiten hinweg zu sein, wenn er selbst noch von den Gefühlen von gestern eingenommen war. Seinem Freund Remus war es viel leichter gefallen, neu anzufangen und sich sogar mit Severus zu unterhalten, ohne dass man eine Eskalation befürchten musste. Vielleicht, dachte Sirius, war es die Schuld der verlorenen Lebensjahre, die er in Askaban und später in der Nicht-Welt des mysteriösen Torbogens lassen musste. Möglicherweise hinderte ihn das Fehlen an Lebenserfahrung daran, von alten Gewohnheiten loszulassen. Severus war nichts anderes als eine dieser alten Gewohnheiten. Allein dessen Anwesenheit appellierte an Sirius‘ Gehässigkeit, auch wenn er es gelernt hatte, sich einigermaßen zurückzuhalten. Sein Patensohn und sein bester Freund hatten ihm mehr als nur einmal ans Herz gelegt, alte Streitigkeiten zu vergessen und das Kriegsbeil zu begraben, aber genau das fiel Sirius so schwer, denn wenn er mit Severus diese kleinen Boshaftigkeiten austauschte, fühlte er sich wieder so jung wie damals in der Schule. Jetzt war er aber keine zwanzig mehr, er wäre in ein paar Monaten 44 Jahre alt, genau wie Severus.
„Wolltest du etwas Bestimmtes?“ Mit ihrer mürrisch gestellten Frage riss Hermine ihn aus seinen Gedanken.
„Was?“ Als ihm bewusst wurde, was sie gefragt hatte, verneinte er. „Ich wollte nur mal reinschauen. Bin gerade auf dem Weg zu Duvall.“ Eigentlich wollte er ihr das Schreibfederset bringen, aber ihm war eine Idee gekommen, wie er mit Severus ein für allemal reinen Tisch machen konnte, aber dafür benötigte er Hermines Handschrift.
„Ach, wo du gerade hier bist“, mit einem Male war ihre schlechte Laune verschwunden. „Ich habe einem Werwolf geraten, dich aufzusuchen. Er hat Angst, das war nicht zu übersehen. Registriert ist er auch nicht, hat mich um drei Tränke geprellt, aber er scheint umgänglich zu sein, wenn er nichts befürchten muss.“
„Wie heißt er?“
„Sein Name ist Fogg. Ich weiß nicht, wann oder ob er sich bei dir melden wird, aber ich wollte dich trotzdem vorwarnen.“
„Mmmh“, summte Sirius gedankenverloren. „Danke fürs Bescheid sagen. Ich werde dann mal gehen. Wir kommen mit der Arbeit schnell voran. Kingsley liest schon den ersten Teil der Gesetzesänderungen und bisher kam von ihm kein Veto.“
Hermine strahlte über das ganze Gesicht. „Das ist schön, das freut mich. Ich drücke die Daumen, dass ihr schnell fertig werdet.“
„Danke Hermine, bis dann.“
Soeben hatte Sirius die Apotheke verlassen, da traf er in der Winkelgasse auf Anne. Sie hielt eine Tüte in der Hand, die wahrscheinlich ein spätes Mittagessen beinhaltete. Misstrauisch blickte sie erst ihn an, dann den Eingang der Apotheke.
„Anne, du hier?“
„Ich arbeite in dieser Einkaufsstraße, schon vergessen? Was hattest du da verloren?“ Sie nickte zur Apotheke hinüber, während Sirius sich ihr bereits näherte und ihren Arm um den seinen legte. Er ging einige Schritte, so dass sie ihm folgen musste.
„Ich benötige deine Hilfe, Anne. Deine Meinung ist mir wichtig, aber das werden wir heute Abend Zuhause klären.“
„Um was geht es denn?“, wollte sie wissen.
„Das kann ich dir jetzt noch nicht sagen. Lass mich dir nur soviel sagen, dass ich etwas wiedergutmachen möchte.“
Abrupt blieb Anne stehen, weswegen er einen Ruck am Arm spürte, mit dem er sie führte.
„Und das hat mit Hermine zu tun?“
Sirius nickte. „Aber nur indirekt. Es geht um ihren …“ Er fragte sich, wie man ihn nennen könnte.
Anne vermutete korrekt: „Severus?“
„Genau, um Severus.“
„Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, dass du etwas tun möchtest, das ihn betrifft. Ihr könnt euch nicht ausstehen. Das wird nicht gut gehen.“
„Deswegen will ich ja deine Meinung hören. Ich habe da eine vage Idee, brauche dafür nur noch einen Hauch Weiblichkeit.“
„Du sprichst in Rätseln, Sirius. Du hättest Orakel werden sollen – oder Direktor von Hogwarts. Denk daran, dass Severus mir das Leben gerettet hat. Ich möchte auf keinen Fall in irgendetwas verwickelt werden, das ihm schaden könnte. Mir gefällt das ganz und gar nicht.“
„Ach Anne, jetzt hör aber auf. Du weißt ja nicht mal, um was es sich handelt.“ Sie wollte ihm bereits mehr Informationen entlocken, doch er hielt stoppend eine Hand nach oben. „Nein, heute Abend! Und jetzt begleite ich dich erst einmal zu ‘Hut und Stock‘.“
„Stock und Hut“, verbesserte sie.
„Richtig, richtig.“
In Sirius‘ Gedanken nahm die Idee immer mehr Gestalt an, aber erst heute Abend würde er es mit Anne bereden. Sollte sie auch nur den kleinsten Zweifel hegen, würde er von seinem Vorhaben Abstand nehmen. Er ahnte jedoch, dass Anne begeistert sein würde.
Wenig begeistert war Hermine wegen der kleinen Streitigkeit mit Severus. Er wollte einfach nicht verstehen, dass eine Hochzeit von den engsten Freunden mehr war als nur eine Veranstaltung, die man zu seinen Pflichten zählte. Sie verstand jedoch auch, dass Severus besonders in der Anwesenheit von Sirius keinen Grund für Lästereien geben wollte – und Sirius als Harrys Patenonkel würde auf jeden Fall zu Gast sein. Hermine seufzte, denn die Situation schien ausweglos.
Mit hängenden Mundwinkeln ging sie ins Labor, wo Severus dem Vielsafttrank gerade Florfliegen untermischte. Er blickte über seine Schulter, als er sie kommen hörte.
„Der Trank muss noch eine halbe Stunde aufkochen, danach für zwei Tage ziehen“, erklärte er mit monotoner Stimme. Er rührte das Gebräu noch einige Male um, bevor er den Löffel am Rand des Kessels abklopfte und damit zum Waschbecken hinüberging, um ihn abzuwaschen. „Noch irgendwelche Aufträge?“
Hermine war am Tisch angelangt und stand direkt hinter ihm. „Einen Felix Felicis, zwei Gripsschärfungstränke und eine Murtlap-Essenz. Haben wir noch eingelegtes Murtlap-Rückengewebe?“
„Ich habe vorgestern welches bestellt. Es sollte Morgen bei der Lieferung dabei sein.“
Weil er an alles dachte, musste Hermine lächeln, was er auch an ihrer Stimme hören konnte, als sie ihm erzählte: „Poppy hat auch zwei Liter Skele-Wachs bestellt. Man merkt, dass in Hogwarts die Quidditch-Saison voll im Gange ist.“
Er nickte, trocknete dabei den Löffel ab, den er gleich darauf an seinen Haken hängte. Dass Hermine sich ihm genähert hatte, spürte er erst, als sie seine Hand nahm und ihre andere um seinen Unterarm legte. Die Wärme ihrer Wange konnte er an seinem Oberarm fühlen, an den sie sich gelehnt hatte. Stocksteif wartete er darauf, was diese Situation bringen würde. Als er eine Vermutung hatte, sprach er es freiheraus an, wenn auch flüsternd.
„Ich lasse mich nicht überreden, Hermine.“
„Nein, das will ich auch gar nicht versuchen.“ Wieder seufzte sie, doch diesmal erleichternd, weil der Streit längst vergessen war. „Du sollst nur wissen, wenn du deine Meinung übers Tanzen ändern solltest, dann bin ich allzeit bereit.“
Er wandte seinen Kopf zur Seite und traf mit seinen Lippen auf ihr Haar. „Was wollte Black?“
„Nichts Bestimmtes. Er hat sich sicher nur die Zeit bei mir vertreiben wollen. Ich habe nämlich gesehen, dass er sich draußen mit Anne getroffen hat.“ Nur langsam brachte Hermine wieder ein wenig Abstand zwischen sich und Severus, aber noch immer umfasste sie seinen Unterarm. „Ich benötige noch mehr Federn. Eine sollte vorerst reichen. Ich treffe immer wieder auf neue Zubereitungsmöglichkeiten und muss prüfen, wie die Feder auf bestimmte Verarbeitungsmethoden reagiert.“
„Sofort?“
„Für heute Abend brauche ich sie.“ So dicht bei ihm und seine Wärme spürend schloss sie die Augen. „Ich bin müde.“
„Du solltest nicht immer die Nächte durcharbeiten. Die Apotheke führt sich nicht von selbst.“
„Du bist doch da!“, erinnerte sie ihn frech. „Du denkst an alles, was ich vergesse. Gehst du eigentlich regelmäßig die Zutaten durch?“
„Natürlich! Man kann nur Qualität bieten, wenn man verdorbene Zutaten aussortiert und immer für ein vorhandenes Mindestmaß an Standardbestückung sorgt.“ Severus legte eine Hand auf ihre Schulter und drückte sie ein wenig von sich weg, damit er ihr in die Augen sehen konnte. „Wie kommst du voran?“, fragte er mit unsicherer Stimme.
„Besser als ich erwartet habe, wenn ich ehrlich bin. Die Übung mit den Hundehaaren hat wirklich geholfen. Ich bin viel sicherer bei der Frage, wie ich effektiv vorgehen muss, um eine Lösung zu finden. Und“, sie drückte seine Hand, „zwei Zutaten für einen Gegentrank habe ich schon! Einmal ist es das Pfeilkraut, beziehungsweise deren Rhizom. In diesen Wurzeln wird ein Wirkstoff gespeichert, der wachstumsstärkende Eigenschaften besitzt und zwar auf alles.“
„Pfeilkraut hat doch aber keine magischen Eigenschaften!“
Hermine strich sanft über seinen Unterarm. „Erinnerst du dich noch an die Wasserpflanzen, die wir bei Takeda gesehen haben?“ Severus nickte, so dass sie erklärte. „Er hat gezeigt, dass sie magische Eigenschaften haben können. In seinem letzten Brief schrieb er …“
„Er hat dir geschrieben?“
„Oh“, machte Hermine verlegen. „Hab ich ihn dir gar nicht gezeigt?“
Natürlich hatte sie nicht, weswegen sie den Brief, den sie ihren Pergamenten beigefügt hatte, herauszog und Severus zu lesen gab. Er las und las, dabei wurden seine Augen immer größer.
„Takeda hat die magischen Eigenschaften des Pfeilkrauts sogar schon getestet?“
„Und mir eine Probe der Pflanze geschickt, mit der ich selbst arbeiten konnte.“
„Das ist“, Severus schluckte kräftig, „eine Neuheit im Bereich der Zaubertränke!“ Summend stimmte sie ihm zu. „Und was für eine Pflanze ist die andere?“
„Zuckerbüsche! Stellt das genaue Gegenteil vom Gespenstischen Steinregen dar. Die Blume soll dafür sorgen, dass die Seelenteile, die nachwachsen werden, unabänderlich mit dem Kern verschmelzen und wieder eine Einheit mit ihm bilden. Der Gespenstische Steinregen spaltet alles Mögliche, die Zuckerbüsche hingegen sind bekannt für ihre fusionierende Wirkung.“
„Werden Zuckerbüsche nicht auch in der Trankversion des Dauerklebefluchs verwendet?“
Hermine nickte selbstsicher, denn davon hatte sie erst gestern gelesen. „Ja, was mit Hilfe von Zuckerbüschen verbunden wurde, lässt sich nicht mehr lösen.“
„Es sieht tatsächlich so aus, als kämest du voran.“
„Ich werde natürlich nichts überstürzen und lieber mehrmals nachrechnen, bevor sich noch ein Fehler einschleicht. Erst einmal muss ich sämtliche möglichen Zutaten testen und in meine Berechnungen einbinden. Was mir in Takedas Brief aufgefallen ist, war seine Methode, die er dem Pfeilkraut zugute kommen ließ. Er hat regelmäßig mit der Pflanze gesprochen, sie berührt und auf diese Weise mit seiner Magie gefüttert. Das werde ich auch tun müssen, ich weiß nur noch nicht, in welchem Ausmaß. Könntest du demnächst noch etwas von meinem Farbtrank brauen? Ich werde selbst einige Pflanzen anbauen müssen, um Tests zu machen.“
„Sicher.“
Auf einem Stück Pergament notierte sich Severus all das, was er noch brauen müsste, als er abrupt innehielt und in Gedanken versank. In seinem Kopf spielte sich immer wieder das Bild ab, in welchem Takeda die nicht-magischen Pflanzen berührte, die daraufhin vor lauter Zauber zu glühen begangen. Vor seinem inneren Auge tauschte er Takeda gegen eine andere Person aus, die er gut kannte.
„Was hast du, Severus?“
Sein Gesicht war bleich, sein Ausdruck jedoch euphorisch, geradezu erschreckend enthusiastisch.
„Harrys Magie!“, sprudelte es aus ihm heraus.
„Was?“
„Harry soll die Pflanzen ziehen und zwar nach Takedas Methode!“
Da war sie wieder, die Hoffnung in seinen Augen. Hermine verfiel in eine Art Trance, denn sie begann bereits damit, diese Information zu verarbeiten, zu berechnen. Sein Einfall war Gold wert. Wenn Harrys Magie sich schon in purer Form heilend auf Severus auswirken konnte, dann würden die Pflanzen, die sie für den Gegentrank benötigte, sicherlich aus dieser kräftigen Magie einen Vorteil ziehen.
„Brillant, Severus! Einfach nur brillant. Ich werde ihm eine Pflanze geben, um die er sich kümmern soll. Danach werde ich testen, inwiefern sich die Eigenschaften des Pfeilkrauts durch ihn verändert haben.“
„Sofort!“
„Severus, wir sollten es nicht übereilen.“
„Hermine, es kann Wochen dauern, bis die Pflanze die Magie annimmt. Hat Takeda selbst geschrieben! Wir sollten keine Zeit verlieren.“
So impulsiv hatte Hermine ihn selten erleben dürfen, weshalb sie seinen Wunsch nicht abschlagen konnte. Severus‘ braune Augen glitzerten wie die von Albus, wenn der sich mächtig über etwas freute. Sie konnte nicht anders, als ihm um den Hals zu fallen und ihn an sich zu drücken.
„Ich bin sicher, dass es funktionieren wird!“, hörte er ganz dicht an seinem Ohr.
Wange an Wange standen sie da, bis sich seine Arme um ihre Taille legten und er die Augen schloss, einfach nur um das Gefühl zu spüren, das so tief in ihm vergraben war und das ihre Nähe auch auslösen konnte, wenn auch nicht so stark, wie es notwendig wäre, um es am Leben zu erhalten. Er konnte beinahe danach greifen, aber immer wieder entwischte es ihm.
„Du solltest den Zutaten auch die besondere Behandlung zukommen lassen, Hermine“, murmelte er in ihr Ohr.
„Ach ja?“
„Ja“, bestätigte er. Ihr musste klar sein, dass sie ebenfalls eine positive Wirkung auf ihn ausübte, sonst hätte er diesen Vorschlag nicht gemacht. Wie es aussah, hatte sie ihn nicht missverstanden, denn sie drückte noch kräftiger zu.
In genau diesem Augenblick umarmten sich eine Menge Menschen auf dieser Welt, auch in Hogwarts, wie die Schüler Meredith und Gordian, die sich auf dem Astronomieturm getroffen hatten oder Harry und Ginny, die keinen Grund benötigten, um den anderen zu herzen.
„Das Kleid ist fertig, Harry. Kommst du mit, wenn ich es nächste Woche anprobiere?“
Harry löste die Umarmung. „Ich dachte immer, es bringt Unglück, wenn ich dich vorher im Kleid sehe.“
„Das ist doch Blödsinn. Bei den Muggeln mag es laut Volksmund Unglück bringen, aber ich weiß, dass eine Menge Paare ihre Kleidung aufeinander abstimmen und deshalb auch zusammen einkaufen gehen. Was ist mit deinem Anzug?“
„Ich hab noch gar nicht …“ Ginny schaute ihn erstaunt an und Harry versuchte, sich zu rechtfertigen. „Es sind doch noch sechs Wochen! Als ich mich das letzte Mal in einem Geschäft umgeschaut habe, meinten die Verkäufer, dass ich noch viel Zeit hätte.“
„Zeit, die sehr schnell vergehen kann. Dann komm einfach mit, wenn ich das Kleid anprobiere. Du kannst dir dort gleich ein paar Anzüge ansehen.“ Sie kam ins Schwärmen. „Die haben ganz wundervolle Kataloge, Harry.“
Als es klopfte ließen die beiden vollends voneinander ab. Harry ließ den unerwarteten Gast hinein.
„Hermine! Komm rein, schön dich zu sehen.“ Sein Blick fiel sofort auf das gläserne rundliche Gefäß, das sie in den Händen hielt. Am Boden hatte sich viel Erde abgesetzt, aber zur gleichen Menge war Wasser hinzugegeben. Aus der augenscheinlich überwässerten Erde sprossen über den Rand des Glases hinaus einige grüne Stängel, die an ihren obersten Enden dreiblättrige weiße Blüten aufwiesen.
„Hallo Harry“, sie blickte zu ihrer Freundin hinüber, „Ginny, wie geht’s?“
„Ganz wunderbar, danke der Nachfrage.“
Auf dem Boden sah Hermine ihren Patensohn mit magischen Bauklötzen spielen, die nicht sofort umfielen, wenn sie ein wenig schief aufeinander gestapelt wurden. Dementsprechend hoch war bereits ein so schräger Turm gebaut, der den schiefen Turm von Pisa mit Leichtigkeit in den Schatten stellte. Als Nicholas sie bemerkte, grinste er breit. Zwei Schneidezähne konnte man andeutungsweise erkennen. Der Junge riss freudig die Arme hoch, ließ dabei den einen Klotz achtlos auf den Boden fallen.
„Ist das nicht mein kleiner Patensohn?“ Das runde Glasgebilde stellte Hermine auf dem Tisch ab, doch bevor sie zu Nicholas gehen konnte, hielt Ginny sie auf.
„Geh in die Knie“, riet ihr die Rothaarige, „und ruf ihn.“
Neugierig kam sie der Aufforderung nach und ging in die Knie. Mit ihren Händen klatschte sie einmal, bevor sie sie dem Jungen entgegenstreckte. Der machte gleich darauf ein paar akrobatische Bewegungen, drückte sich vom Boden weg und …
„Er steht!“ Hermine konnte es noch gar nicht fassen.
Stolz kündigte Harry an: „Es kommt noch viel besser.“
Nicholas stand auf wackeligen Beinen. Nachdem er einen Schritt gemacht hatte, stolperte er über den fallengelassenen Klotz und landete auf dem Allerwertesten, doch er weinte nicht. Noch immer grinste er fröhlich, als er sich ein zweites Mal aufrappelte, dabei von Hermine in höchsten Tonlagen animiert wurde. Sie rief ihn, klatschte immer wieder in die Hände. Mit rudernden Armen machte Nicholas zwei Schritte, bis er endlich die Couch erreicht hatte. Zwischen Couch und Tisch hindurch hielt er sich an beiden Gegenständen fest, damit er nicht mehr fallen würde.
„Na komm her, Nicholas.“ Mit gurgelnden Singlauten kam der Junge immer näher, bis er von Hermine in den Arm geschlossen und am Kopf mit Küssen bedeckt wurde. „Fein gemacht.“ Sie hob ihn hoch. In dem Moment, als sie den vielen Speichel an seinem Kinn bemerkte, war Ginny schon mit einem weichen Taschentuch zur Stelle.
„Das ist wegen der Zähne“, erklärte Ginny. „Ich hab überall Tücher bereitgelegt und bin ständig dabei, ihm den Mund abzuwischen. Mama hat gesagt, das ist völlig normal.“
Hermine wiegte den Jungen hin und her. „Dann wird es Zeit für einen Beißring, damit es nicht so wehtut, wenn die Zähne kommen.“
Harry schnaufte. „Hat er schon, nimmt er aber selten. Er kaut lieber auf allem anderen herum, aber nicht auf den Sachen, die wir ihm dafür geben.“
Mit Nicholas im Arm nahm Hermine Platz und unterhielt sich mit Ginny über die schnellen Fortschritte des Kindes.
„Kaum konnte er alleine stehen, hat er sich ständig irgendwo hochgezogen, bis er ein paar Schritte machen konnte. Das ging wirklich fix. Harry und ich saßen wie gebannt auf der Couch und haben zugesehen. Das war spannender als jedes Quidditch-Spiel.“
„Das glaub ich“, stimmte Hermine zu, die Nicholas ansehen konnte, dass er nun müde war, denn er hatte seine Wange an ihre Brust gelegt, und die kleinen Augenlider flatterten angestrengt, als er versuchte wach zu bleiben. „Hat er schon einen Spontanzauber ausgelöst?“
Harry runzelte die Stirn. „Einen was?“
Die Erklärung übernahm Ginny, während sie Harrys Hand nahm und sie abwesend streichelte. „Das sind Zauber, die einfach so passieren können. Muss nicht immer so sein, aber viele Kinder können plötzlich etwas tun, was sie nicht kontrollieren können.“ Sie lächelte Harry an. „So ähnlich wie mit deiner Gabe.“
„Ich bin aber keine zehn Monate alt, Ginny“, erwiderte er vorgetäuscht beleidigt. „Ich glaube ich weiß, was ihr mit Spontanzauber meint. Neville hat damals erzählt, was sein Großonkel Algie alles mit ihm angestellt hat, um eine magische Reaktion zu provozieren.“
Hermine, die sich auch noch gut an Nevilles Erzählungen erinnern konnte, warf erbost ein: „Solche Methoden gehören verboten! Neville wäre fast ertrunken, als sein Onkel ihn vom Pier gestoßen hat. Und stellt euch vor, bei dem Sturz aus dem Fenster hätte sich herausgestellt, Neville wäre ein Squib gewesen! Gar nicht auszudenken, wie schlimm die Verletzungen gewesen wären, wenn er das überhaupt überlebt hätte.“
„Das ist unter Reinblütern leider sehr verbreitet gewesen“, erklärte Ginny.
Harry schüttelte den Kopf. „Aber warum?“
Einen Moment zögerte sie, doch letztendlich gab seine Verlobte ihm die Antwort. „Viele Reinblüterfamilien haben den Tod eines Familienmitglieds in Kauf genommen, wenn sich bei solchen waghalsigen Aktionen herausgestellt hat, dass es ein Squib war.“
Schockiert über diese Information war Harry einen Moment sprachlos. Als er sich wieder gefangen hatte, war seine ganze Entrüstung in seiner Stimme und seiner Körpersprache auszumachen.
„Einfach ein Kind aus dem Fenster werfen und wenn es ein Squib war, dann hat man halt Pech gehabt?“ Er atmete heftig und schüttelte den Kopf. „Das ist aber heutzutage nicht mehr so oder?“ Niemand antwortete. „Ginny! Das ist heute nicht mehr so, oder?“
„Ich weiß es nicht. Man kann nicht ausschließen, dass manche Familien das noch immer so handhaben. Neville war allerdings der Einzige, von dem ich damals solche Geschichten gehört habe. Das lässt hoffen, dass die Zauberer und Hexen davon abgekommen sind.“
Harry war außer sich vor Wut. „Aber man weiß es nicht! Ist ja auch kein Wunder, denn welcher Squib kann über diese unmenschlichen Behandlungen noch reden, wenn er tot ist?“
„Harry, ein bisschen leiser bitte“, rügte Hermine, denn der dösende Nicholas war wegen der Lautstärke in ihrem Arm zusammengezuckt.
Aufgebracht fuhr Harry sich durchs wirre Haar. Er konnte sich nicht vorstellen, dass seine Eltern jemals so gehandelt hätten. ‘Wer weiß‘, dachte er, ‘vielleicht war es seinem Vater so ergangen? Immerhin war er reinblütig gewesen. Womöglich musste Draco Ähnliches durchleben, nur sprach er nicht darüber.‘
„Harry?“ Durchs Ginnys Stimme wurde er aus seinen Gedanken gerissen. Noch immer liebkoste sie seine Hand. „Vielleicht solltest du mit meinem Vater darüber reden? Oder besser noch mit Sirius. Vielleicht haben sie das in den Gesetzesänderungen gar nicht beachtet und könnten das für den Schutz von Squibs einarbeiten.“
„Das werde ich tun! Ihr wisst ja gar nicht, was für scheußliche Bilder sich gerade in meinem Kopf formen. Ich will sicher sein, dass kein Kind solchen ‘Erziehungsmethoden‘ ausgesetzt ist!“
Die Erziehungsmethoden waren von Familie zu Familie unterschiedlich. Manche verhätschelten ihre Kinder und dabei war völlig zweitrangig, ob ein Squib zur Welt gekommen war oder der Nachwuchs magische Fähigkeiten besaß. Andere zeigten ihren Sprösslingen, dass sie besser dran wären, wenn sie das elterliche Haus verlassen würden – somit die Familie vor der Schande bewahrten.
Bei den Malfoys waren bis zum Tode von Abraxas, dem Vater von Lucius, sehr viel strengere Sitten an der Tagesordnung gewesen. Einige von denen hatte auch Draco miterleben müssen. So gehörte es zum Beispiel nach Ansicht von Abraxas zum guten Ton einer reinblütigen Familie, dass die Familienmitglieder ein Instrument beherrschten. Lucius wie auch Draco wurden von klein auf am Klavier unterrichtet, doch nachdem Abraxas, der sich gern und oft in die Erziehung seines Enkels eingemischt hatte, an Drachenpocken zugrunde gegangen war, ruhte der Unterricht.
Eines Tages, nachdem die Beerdigung und die Trauer einigermaßen überwunden waren, fragte der neunjährige Draco seinen Vater, als beide sich im Musikzimmer aufhielten, ob er üben sollte. Lucius hatte bejaht und sich mit einer Ausgabe des Tagespropheten auf den Hocker neben das Klavier gesetzt, als sein Sohn zu spielen begann. Bei der ersten falschen Note zuckte Draco zusammen und hielt sich seine kleinen Hände schützend vor die Brust, doch der befürchtete Schlag mit dem Rohrstock, mit dem sein Großvater stetig die Lernfähigkeit seines Schützlings verbessern wollte, war ausgeblieben. Sein Vater störte sich nicht an der falschen Note.
‘Beginn einfach nochmal von vorn‘, waren die Worte seines Vaters gewesen, die auch jetzt wieder in Dracos Ohren hallten, als er sich im Musikzimmer aufhielt, um dort ein paar Reinigungszauber anzuwenden. Als er das helle Klavier aus Vogelaugenahorn vom Staub befreite, wurde ihm klar, dass nach diesem einen Tag weder er noch sein Vater jemals wieder darauf gespielt hatten. In gewisser Weise stellte das den ersten Bruch mit einer Tradition des Hauses Malfoy dar, dachte Draco, als er die Klappe öffnete, unter der sich die Klaviatur befand. Gedankenverloren setzte er sich und schlug wahllos ein paar Tasten an. Als er blind drauf losspielen wollte, musste er feststellen, dass er es nicht mehr konnte.
„Du spielst?“ Auf der Stelle hielt Draco seine Finger still und er drehte sich um. Im Türrahmen stand sein Vater, der das Zimmer betrat, nachdem seine Anwesenheit nicht länger verborgen war.
„Ich hab es verlernt“, gab Draco offen zu. Gerade wollte er den Deckel wieder schließen, da hinderte sein Vater ihn daran.
„Versuchen wir es zusammen.“ Lucius nahm links von seinem Sohn Platz. „Nehmen wir etwas Leichtes, etwas, dass du mit Sicherheit noch kannst.“
„Ich hab alles vergessen, Vater.“
Lucius machte drei schnelle Schnalzgeräusche mit seiner Zunge. „Nicht doch, Junge. Versuch es wenigstens.“
Er würde sich blamieren, so viel stand für Draco fest. „Und was schlägst du vor?“
Sein Vater überlegte nicht lange: „Sur le Pont d'Avignon. Ich werde dich mit zerlegten Akkorden begleiten.“
Das Kinderlied, das wegen seiner Einfachheit wohl zu jedem Klavierunterricht dazugehörte, hatte Draco tatsächlich noch sehr munter in Erinnerung, wie auch die Methoden seines Großvaters. Dracos Hände schwebten über den Tasten, aber er begann nicht zu spielen. Stattdessen zitterten seine Finger bei der Erinnerung an das sogenannte „Tatzen“, wie die Schläge auf die Handfläche bezeichnet wurden. Sein Vater bemerkte die aufkommende Abneigung.
„Mir geht es wie dir.“ Lucius und schlug wahllos eine Taste an. „Schlechte Erinnerungen, die einem die Freude am Spielen nehmen.“ Noch eine Note erklang. „Es war eine Art Todsünde, dem eigenen Vater zu widersprechen, aber glaub mir: Ich habe ihn mir mehrmals zur Brust genommen und seine Verfahrensweise kritisiert. Leider hat es ihn nicht interessiert, was ich davon halte.“
Verschwommen konnte sich Draco an einige Begebenheiten erinnern. An kleine Auseinandersetzungen zwischen Vater und Großvater, nachdem es einen Schlag auf die Finger gegeben hatte.
Sehr leise fügte Lucius hinzu: „Er hat mich undankbar genannt.“ Ein reumütiger Seufzer entwich Lucius, doch gleich darauf atmete er tief durch, sammelte Kraft aus dem Hier und Jetzt. Es schien, als würde das Wetter die Trostlosigkeit aus dem Zimmer vertreiben wollen, denn die Wolken rissen auf und das Musikzimmer badete in den letzten Strahlen der Abendsonne. Es hatte etwas Heiliges an sich.
„Also, spielen wir?“, forderte Lucius ihn begeistert auf.
Draco nickte seinem Vater zu und begann mit dem Lied, das sein Erstes gewesen war, nachdem er die Tonleiter beherrschte. Sein Vater begleitete ihn zu den fröhlichen Klängen und mit einem Male war das Klavier nicht mehr mit negativen Erinnerungen verknüpft, sondern wurde in diesem Moment mit einem neuen Gefühl geprägt. Dem Gefühl, seinem eigenen Vater wieder etwas näher gekommen zu sein. Vernachlässigte Gewohnheiten wurden auf neue Weise wiederbelebt, ganz ohne Zwang, und das Musikzimmer wurde ohne jeden Übergang lebendig.
Beide waren aus der Übung, Draco mehr als sein Vater. Das Tempo stimmte nicht und einige Töne waren falsch. Ihr Spiel war keinesfalls perfekt, es war viel besser – es war vollkommen.
So saßen Vater und Sohn beisammen und spielten ein Lied aus Kindertagen, während die Sonne ins Musikzimmer schien und die Holzverkleidung samt dem rotbraunen Parkett eine heimelige Wärme ausstrahlte. Die gleiche sonnige Wärme verspürte Draco auch in seinem Brustkorb und er vermutete, dass es seinem Vater ähnlich erging.
Als sie fertig waren, denn besonders lang war das Stück nicht, blieben beide noch wortlos nebeneinander auf dem Hocker sitzen, weil sie diesen einzigartigen Moment genossen. Sein Vater war es, der nach einer Weile die Stille durchbrach.
„Danke für die kleine Abwechslung.“
„Ich danke dir“, gab Draco gut gelaunt zurück. Sein Vater legte ihm daraufhin eine Hand auf die Schulter und drückte willkommen zu, bevor er sich erhob und den Raum verlassen wollte. „Warte!“ Lucius drehte sich um und wartete geduldig auf das, was seinem Sohn auf der Zunge brannte. „Ich dachte, du könntest mir vielleicht den einen oder anderen Tipp geben.“
Sein Vater legte den Kopf schräg. „In Bezug auf was?“
„Ich bin der einzige Sponsor von Eintracht Pfützensee und frage mich, ob ich Werbefläche verkaufen sollte, zum Beispiel auf der Sportbekleidung.“
Lucius war erstaunt, was er auch nicht verbergen wollte. „Da fragst du gerade mich? Ich dachte eigentlich, man hätte mich in dieser Hinsicht abgeschrieben.“
„Vater bitte …“
Der Moment der Zusammengehörigkeit sollte nicht so schnell wieder zerstört werden. Draco benötigte tatsächlich Hilfe. Er hatte zwar einige Partner und war hier und da in vielversprechende Geschäfte eingestiegen, aber wie er jeweils das Beste herausschlagen konnte, war ihm nicht bewusst.
„Nun“, begann Lucius mit überheblichem Tonfall, den Draco ihm nicht übel nehmen wollte, „dann sollten wir deine Unterlagen mal gemeinsam durchgehen. Morgen?“
„Nach der Schule habe ich Zeit.“
„Gut, dann Morgen in meinem“, er verbesserte schweren Herzens, „in deinem Arbeitszimmer.“
„In unserem“, stellte Draco richtig, womit er ein zufriedenes Lächeln auf das Gesicht seines Vaters zauberte.
Ein zufriedenes Lächeln hatte sich auch auf Hermines Gesicht niedergeschlagen, als sie Nicholas beim Schlafen beobachtete. In ihren Armen fühlte er sich so wohl, dass ihn die Geräusche der Umgebung, die Unterhaltung zwischen ihr und seinen Eltern, absolut nichts ausmachten.
„Hermine? Erklärst du mir auch, warum du ein Aquarium mitgebracht hast?“ Harry nickte zu dem runden und mit Wasser und Pflanzen gefüllten Gefäß, indem kein einziger Fisch schwamm.
„Es gibt da eine Sache, um die ich dich bitten möchte. Du hast damals gesagt, wozu auch immer ich deine Hilfe benötige, du würdest es tun.“
„Ah, es geht um …“ Er warf Hermine einen bedeutungsschwangeren Blick zu, den Ginny mit einem Augenrollen kommentierte.
„Ich bin nicht blöd. Es geht um Snape, soviel habe ich von all eurem Getue längst mitbekommen!“ Ginny schaute zu Hermine, dann zu Harry. „Soll ich gehen?“
Verneinend erklärte Hermine: „Es geht um die Pflanzen. Harry, du musst mir einen Gefallen tun. Ich will gar nicht zu sehr ins Detail gehen, weil es dich langweilen würde.“
„Versuch es doch einfach mal“, forderte er sie auf, woraufhin Hermine stutzte, seiner Bitte aber nachkam.
„Neulich in Japan habe ich erfahren, dass nicht-magische Pflanzen wie dieses Pfeilkraut“, sie deutete zum gläsernen Gefäß, „fremde Magie aufnehmen können und auf diese Weise auch eigenständige magische Wirkstoffe aufweisen.“
„Siehst du, ich hab’s verstanden“, beteuerte er grinsend.
„Gut, denn was ich von dir verlange, mag sich im ersten Moment etwas seltsam anhören.“ Ginny und Harry warteten gespannt auf ihre Anweisung, die sie ohne Umschweife gab. „Ich möchte, dass du dich ganz besonders um diese Wasserpflanzen kümmerst.“
„Warum?“, fragte er erstaunt nach.
Ginny schlug ihm scherzhaft auf den Unterarm. „Sag mal, hast du nicht zugehört? Hermine hat gesagt, dass diese Pflanzen fremde Magie aufnehmen können. Ergo möchte sie, dass sie deine Magie aufnehmen.“
„Okay, kein Problem. Was muss ich tun?“
Den Jungen auf ihrem Unterarm legte Hermine etwas mehr in die Horizontale, damit ihr die Gliedmaße nicht einschlafen würde. „Du musst die Pflanzen berühren, mit ihnen sprechen und wenn möglich immer in deiner Nähe haben.“
„Abends kein Problem, aber was ist tagsüber während des Unterrichts?“, gab Harry zu bedenken. „Ich kann schlecht zu jeder Klasse mit einem Aquarium unter dem Arm auftauchen.“
Ginny zuckte mit den Schultern. „Warum denn nicht? Ich werde das Gerücht verbreiten, dass es sich um ein Experiment handelt, das du immer im Auge behalten musst. Da wird niemand Fragen stellen.“
„Sieht trotzdem ein bisschen komisch aus, findet ihr nicht?“ Mit dieser Meinung stand er offensichtlich allein da, weswegen er resignierend mit den Schultern zuckte. „Gut, dann nehme ich die Pflanze eben auch zum Unterricht mit. Solange ich nicht mit ihr schlafen muss ...“ Er lachte, war aber der Einzige, so dass ihm das Lachen im Halse stecken blieb. „Das ist nicht dein Ernst, Hermine!“
„Nein, natürlich nicht, obwohl man das Glas durchaus so verzaubern könnte, dass es im Bett nicht umkippen würde.“
Harry bekam größere Kulleraugen als Wobbel. „Es kommt auf den Nachttisch, basta. Das muss reichen.“
Hermine grinste amüsiert und nickte zustimmend. „Das wird auch reichen. Die Hauptsache ist, dass du immer in der Nähe bist und die Pflanze sich immer in deinem Magiekreis aufhält. Trotzdem vergiss nicht, das Pfeilkraut auch regelmäßig zu berühren und …“
Harry unterbrach: „Mit ihr zu sprechen, verstehe schon. Wenn ich gut drauf bin, darf sie auch dabei sein, wenn ich Nicholas ein Gute-Nacht-Lied vorsinge.“
„Du singst ihm was vor? Ist das goldig“, schwärmte Hermine. „Darf ich mal dabei sein?“
„Nein!“, wehrte sich Harry. „Da schmeiß ich Ginny auch immer raus, bevor ich …“
Er wurde von seiner Verlobten unterbrochen. „Ich habe gelauscht und es ist wirklich ganz herzallerliebst!“
„Ich sollte Eintrittskarten verkaufen“, murmelte Harry. An Hermine gerichtet wollte er wissen: „Darf ich fragen, was du im Anschluss damit vorhast?“
Diesmal blickte Hermine zu Ginny hinüber, denn jetzt war das Thema tatsächlich auf Severus und sein Problem gelenkt worden und sie wollte kein Wort verlieren, das zu viel Einblick geben könnte. Mit ein wenig Geschick drückte sie sich so aus, dass sie nicht zu genau wurde.
„Ich hoffe, mit deiner Hilfe wird aus dem Pfeilkraut eine Zutat für den Heiltrank werden.“
Harry blinzelte einige Male. „Tatsächlich?“ Als Hermine bejahte, schien ihm ein Stein vom Herzen zu fallen. „Wusste gar nicht, dass du schon so weit bist.“
„Ich gebe mir alle Mühe, Harry. Da war eine Menge, das ich in Erfahrung gebracht habe; eine Menge Informationen, die mir geholfen haben. Trotzdem werde ich später noch Hilfe benötigen, da bin ich mir ganz sicher.“
Mit erhobener Hand beteuerte Harry: „Bin zur Stelle, wenn du mich brauchst.“
„Danke. Ach, bevor ich es vergesse, Harry: Ich habe auch welche von den 30-Sekunden-Farbtränken mit. Nur damit du in etwa weißt, wie groß der Radius deiner Magie ist, wie dicht also das Glas immer sein muss.“ Dem schlafenden Kind im Arm gab sie einen Kuss auf die samtweiche Stirn. „So, mein Kleiner. Ich muss jetzt wieder los. Severus wartet auf mich.“
„Er ist bei dir?“, fragte Harry erstaunt.
„Ja.“ Die nicht gestellte Frage ‘Warum?‘ schwang in Hermines Tonfall mit.
„Nur so“, winkte Harry ab. Als Hermine zur Tür ging, stutzte er. „Warum nimmst du nicht den Kamin?“
„Weil ich kurz noch bei Neville vorbeischauen möchte. Also“, Hermine nickte ihren beiden Freunden zu, „bis dann!“
Nachdem Hermine gegangen war, starrte Ginny auf das Glasgefäß mit der Pflanze. Kurz darauf blickte sie Harry an, bevor sie die Vermutung aufstellte: „Läuft zwischen den beiden irgendwas?“
„Hey, frag nicht mich. Ich bin immer der Letzte, der über sowas in Kenntnis gesetzt wird.“
„George meinte neulich, Snape wäre fast jeden Tag bei ihr.“
Harry nickte. „Ist auch sein gutes Recht, ihm gehört immerhin die halbe Apotheke.“
„Und außerdem hat Fred mir erzählt – das weiß er von seinen Nachbarn –, dass Snape sich in der Winkelgasse wegen einer Wohnung umschaut, aber bisher waren ihm alle zu teuer.“
„Na also, da hast du doch die Antwort auf deine erste Frage! Er könnte auch bei Hermine einziehen, wenn er wollte, aber er tut’s nicht.“ Sein Blick fiel auf den Tisch. Er überreichte Ginny den schlafenden Jungen. „Und jetzt lass mir einen Moment, Schatz. Ich muss mich um meinen neuen besten Freund kümmern.“
Gelassen näherte sich Harry der Pflanze und berührte vorsichtig den Teil, der über das Wasser hinausragte. Mit seinen Fingerspitzen strich er über die bandförmigen grünen Blätter.
„Hallo, ich bin der Harry“, sagte er mit fröhlichem Singsang in der Stimme und einem breiten Grinsen im Gesicht. Als er zu Ginny hinüberschaute, giggelte sie gleich darauf los.
„Oh Merlin, lass das bloß niemanden sehen, sonst wirst du noch ins Mungos eingewiesen.“
Auch wenn er in diesem Moment einen Scherz darüber machte, mit der Pflanze zu sprechen, so wusste er von dem Experiment mit Draco, dass die Magie auf einen anderen Menschen übergehen konnte, denn das hatte er selbst erlebt. Wenn Hermine sagte, die Magie würde auch auf Pflanzen einwirken, glaubte er ihr das ungesehen. Vielleicht konnte er Severus auf diese Weise den Wunsch erfüllen, ihm einen Teil seiner Magie zu geben. Mit all der Hoffnung, diese Pflanze zu einer wirkungsvollen Zutat für ein Heilmittel zu machen, befühlte Harry die drei weißen Blütenblätter.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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Rest von Kapitel 196
Genau das stellte sich Hermine gerade vor. Sie dachte daran, wie Harry das Pfeilkraut berührte und sah vor ihrem inneren Auge die Magie, die von ihm auf die Pflanze übersprang. Sie stellte sich allerdings auch gleich vor, wie sie die Magie von Harry in Zahlen umrechnen würde. Ihr Weg führte sie zu den Gewächshäusern der Schule. In einem brannte noch Licht. Es war Gewächshaus Nummer vier.
„Neville?“, fragte sie, nachdem sie die Tür geöffnet und den Kopf hineingesteckt hatte.
Eine weibliche Stimme antwortete ihr. „Hermine, guten Abend. Kommen Sie bitte rein. Neville ist jeden Moment wieder da.“
„Hallo Pomona.“
Die rundliche Lehrerin für Kräuterkunde kam freudig auf Hermine zu und begrüßte sie, hielt ihr dafür die mit Erde beschmutzte Hand entgegen, doch als sie selbst ihre schmutzigen Fingernägel bemerkte, zog sie die Hand wieder zurück.
„Tut mir leid, dreckige Hände sind wohl Berufsrisiko.“
„Das macht ganz und gar nichts.“ Hermine schaute sich in dem Gewächshaus um. Rechts von ihr, wo Luna einmal gestanden hatte, blühten die Blumen nur noch kräftiger.
„Haben Sie für Neville wieder eine Aufgabe?“, wollte Pomona wissen.
„Oh ja, ich hoffe, das ist in Ordnung, wenn er für mich etwas hier auf dem Schulgelände anbaut.“
„Da machen Sie sich mal keine Sorgen, Hermine. Auf diese Weise lernt Neville noch viel mehr und das wird sich später bei seiner Prüfung positiv auswirken.“
Die Tür öffnete sich. Mit seinem Zauberstab brachte Neville fünf Säcke frischer Erde ins Gewächshaus. Erst als diese in einer Ecke verstaut waren und er sich umblickte, bemerkte er Hermine. Die Begrüßung war herzlich.
„Was kann ich für dich tun? Wieder etwas säen?“
„Wie kommst du nur darauf?“, schäkerte sie. „Mein Wunsch ist diesmal aber etwas ausgefallender.“
Pomona beruhigte sie. „Es gibt nichts, was Neville nicht ziehen kann.“ Sie schlug ihm kräftig auf den Rücken, so dass er einen Schritt nach vorn machte, um die Wucht auszugleichen. „Nicht wahr, mein Guter?“
Er lächelte verlegen, doch weder bestätigte noch dementierte er ihre Aussage. Er war zu bescheiden.
„Neville, es geht um Zuckerbüsche. Ich brauche da eine besondere Art.“
Ungläubig blickte er Hermine an. „Das wird schwierig.“
„Warum?“
„Weil Zuckerbüsche nur sehr schwer zu kultivieren sind, aber reizen würde mich das schon.“ Er knabberte kurz an seiner Unterlippe, als er nachdachte. „Weißt du, dass die Zuckerbüsche echte Ur-Blumen sind?“ Hermine schüttelte den Kopf. Sie wusste viel, aber natürlich nicht alles, also hörte sie interessiert zu, als Neville erzählte: „Damals, als alle Kontinente noch eins waren, da gab es sie schon. Als Gondwana, der südliche Kontinent, vor circa 150 Millionen Jahren auseinanderbrach, nahm er diese Pflanze mit. Es gibt die Zuckerbüsche heute nur in südlichen Regionen, wo es besonders warm ist und ein eher trockenes Klima herrscht. Das in einem Gewächshaus nachzuahmen ist …“
„Nicht unmöglich!“, fiel Pomona ihm ins Wort. „Zuckerbüsche sind kälteempfindlich, aber das bekommen wir schon hin. In Gewächshaus Nummer drei können wir einen Teil des Raumes abschirmen, um dort entsprechendes Klima nachzuempfinden.“ Pomona lächelte freundlich. „Für ein ‘Schulprojekt‘ ist das schon eine außergewöhnliche Sache, aber für deine Prüfung, Neville, ein absolutes Plus. Wenn du es schaffst, diese Blumen zu ziehen, wird kein Prüfer an dir zweifeln.“
Nevilles Wangen wurden rot, aber er lächelte zuversichtlich. Mit Hilfe von Pomona würde er diese Aufgabe zu Hermines Zufriedenheit bewältigen können. Es war nur noch die Frage des Preises zu klären, dachte Hermine.
„Was würden die Samen kosten?“
Hilfesuchend blickte Neville zu Pomona, die aufgrund ihrer Erfahrung sicherlich eine Antwort geben konnte und er irrte sich nicht, denn sie erwiderte an seiner Stelle: „Man kann die Samen auch in Europa bestellen, aber ich schlage vor, wir nehmen einen Händler aus Australien, Südchina, Afrika oder Japan.“
„Japan?“, wiederholte Hermine verdutzt. „Da kenne ich jemanden. Ich werde fragen, ob er mir Samen schicken kann und wenn das möglich wäre, dann lass ich sie gleich zu dir schicken, Neville. Wenn das in Ordnung ist, heißt das.“
„Aber sicher“, er stockte, dachte kurz nach. „Japan? Takeda?“
„Genau der!“
Mit breitem Lächeln verließ sie Neville und Pomona, um den Heimweg anzutreten. Es war ein schönes Gefühl zu wissen, dass sie Zuhause nicht allein war, sondern jemand auf sie wartete.
„Macht er es?“, waren die begrüßenden Worte von Severus.
„Harry? Natürlich macht er es, was für eine Frage.“
„Es hätte ja sein können, dass er irgendeine Gegenleistung erwartet.“ Severus füllte gerade die beiden frischen Gripsschärfungstränke ab, die Kunden bestellt hatten.
„Was sollte er schon als Gegenleistung erwarten? Höchstens doch, dass es am Ende so klappt, wie ich es mir vorstelle.“ Langsam näherte sie sich ihm. „Ich muss Takeda einen Brief schreiben. Wie schicke ich den am besten? Per Eule würde es ewig dauern. Und wenn ich an den Weg denke, den sie zurücklegen muss, tut mir das Tier jetzt schon leid.“
„Muggelpost.“
„Was?“
Severus verkorkte die zweite Flasche und blickte danach Hermine an. „Ich sagte, per Muggelpost. Viele Zauberer und Hexen halten zwar nicht viel von Muggeln, aber in einigen Dingen haben deren Methoden Vorteile.“
Ihr schoss durch den Kopf, dass Harry und viele ihrer Freunde zur Schulzeit Briefe von ihren Muggelverwandten bekommen hatten.
„Wie geht das überhaupt? Ein Muggel schickt einen Brief über die Post ab und der Zauberer bekommt ihn – wie geht das?“
Anscheinend wusste Severus die Vorgehensweise von Albus und lieferte daher eine annehmbare Erklärung. „In jeder Postfiliale wird mindestens ein Squib oder Zauberer arbeiten. Die Post, die wegen einer nicht zustellbaren Adressierung liegen bleibt, wird von diesen Personen bearbeitet. Die meisten Briefe werden dann auf magischem Wege weitergeleitet, beziehungsweise an ein Posteulenamt abgetreten.“
„Also soll ich Takeda über die Muggelpost einen Brief schreiben, damit es nicht zu lange dauert?“
„Genau das schlage ich vor.“
Severus betrachtete Hermines Gesicht, ihre Augen, die Lippen, die Wangenknochen und dann, ohne dass sie es vorhersehen konnte, stand der Sekretär vor ihr. Sie musste lächeln. Der Vogel gefiel ihr. Er war recht groß und wirkte wegen seiner rot umrandeten Augen und den schwarzen Kopffedern sehr anmutig. Vorsichtig breitete der Vogel einen seiner Flügel aus und führte den Kopf ans Gefieder. Mit einer ruckartigen Bewegung hatte er eine seiner Schwungfedern herausgerissen, die er nun mit seinem nach unten gebogenen Schnabel Hermine präsentierte. Sie ging in die Knie und nahm die Feder entgegen, bedankte sich sogar bei ihm, doch Severus verwandelte sich nicht sofort zurück. Er stand nur da und betrachtete sie. Wie schon zuvor, das konnte Hermine aus der Nähe erkennen, blickte er erst in ihre Augen, dann auf den Mund und auf ihre Wangen. Sie erschrak nicht, als er auf sie zukam. Wie in Zeitlupe legte er seinen Kopf auf ihrer Schulter ab. Sie glaubte, aber sie könnte es sich auch eingebildet haben, den Vogel seufzen zu hören, als er das Gesicht in ihren Haaren vergrub. Kleine Katzenbabys mochten die Stelle zwischen Nacken und Haaransatz ebenfalls, weil die Haare des Menschen eine Assoziation zum Fell der Mutter darstellten und das Gefühl der Geborgenheit aufkommen ließen. Hermine konnte nicht anders, als über die an den Körper gelegten Flügel zu streichen. Noch einen Moment verweilten sie so, bis der Vogel sich abrupt von ihr abwandte und Severus sich zurückverwandelte.
Der Hauch eines rötlichen Schimmers war auf seinen Wangen auszumachen, als er verlegen auf den Tisch schaute und wissen wollte: „Ist noch irgendeine Arbeit zu erledigen?“
„Nein.“ Weil er enttäuscht aussah, empfahl sie: „Poppy braucht das Skele-Wachs zwar erst nächsten Monat, aber sie wird bestimmt nichts dagegen haben, wenn sie es früher bekommt.“
Schon war Severus in seinem Element. Er holte sich die Arbeitsmittel und Zutaten an den Tisch, um mit dem komplizierten Trank zu beginnen.
„Was dagegen, wenn ich hier sitze und meine Arbeit mache?“ In Gedanken ergänzte sie: ‘Wenn ich hier sitze und rechne?‘
„Natürlich nicht.“
Im Nu hatte Hermine all ihre Unterlagen ins Labor geholt. Eine Ecke des Tisches gehörte ihr ganz allein. Dort breitete sie ihre Nachschlagewerke mit den arithmantischen Formeln aus, Zutatenlisten und natürlich ihre vielen Pergamente, auf denen sie sich Stichpunkte machte oder Berechnungen anstellte. Severus‘ Anwesenheit half ihr bei der Konzentration und stärkte zudem ihr Durchhaltevermögen.
Dank der Informationen, welche Zutaten im Ewigen See verwendet wurden, hatte Hermine einen so guten Anhaltspunkt, dass sie in dieser einen Nacht fast alle Zutaten berechnen konnte, die für ein Heilmittel notwendig waren. Nur eine fehlte und sie kam beim besten Willen nicht drauf, welche Pflanze das sein könnte. Ihr enttäuschtes Stöhnen machte Severus auf sie aufmerksam.
„Verrechnet?“, fragte er mit einem Schmunzeln.
„Nein, nicht verrechnet. Ich habe hier Werte, die ich keiner Pflanze zuordnen kann.“
„Vielleicht handelt es sich um einen organischen Stoff?“, warf er ein. „Im Ewigen See finden die Leuchtorgane des Drachenfischs Verwendung.“
„Nach der Zahl bin ich mir sicher, dass es ein pflanzlicher Stoff sein muss. Die Werte von organischen Stoffen liegen in den Zehntausendern, aber in keinem Arithmantikbuch finde ich den Zahlenwert, den ich errechnet habe. Das ist so, als hätte ich die Nummer eines Personalausweises, aber nicht den Namen der Person, nicht mal ein Foto von ihr. Ich weiß einfach nicht, wie ich die gesuchte Pflanze finden kann.“ Genervt schlug Hermine ein Buch zu und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Augen.
„Vielleicht handelt es sich um eine nicht-magische Pflanze, die erst mit Takedas spezieller Behandlung magische Wirkstoffe produziert“, vermutete Severus.
„Wenn das so wäre, dann müsste ich erst einen Anti-Alterungstrank für mich brauen, denn um alle nicht-magischen Pflanzen auf diese Weise zu ziehen und zu testen, brauche ich mehr als nur ein Leben. Ich würde sterben, bevor ich das herausfinden könnte.“
„Kannst du den Zahlenwert wenigstens einer bestimmten Pflanzengruppe zuordnen?“
Hermine stutzte, blätterte dann in ihren Unterlagen und in einem Buch. Es gab tatsächlich „von-bis“-Zahlenwerte und ihr Wert passte in eine bestimmte Gruppe.
„Ranunculales.“
„Na bitte.“ Severus schien zuversichtlich, doch Hermine konnte dieses Gefühl nicht teilen.
„Hast du eine Ahnung, wie viele Pflanzen zu den Ranunculales zählen?“ Um ihm korrekte Informationen zu geben, blätterte sie in einem Buch für Kräuterkunde, las eine Stelle und erklärte dann: „Da gibt es über fünfzig Gattungen, über 1.500 Arten. Alles in allem beinhaltet sie Sträucher, jede Menge Kräuter und sogar Lianengewächse.“ Erneut schlug sie das Buch zu. „Ich würde vielleicht nur noch hundert Jahre benötigen, anstatt 500, um die richtige Pflanze zu finden, auf die meine Zahl zutrifft.“
„Dann schätze einfach.“
Hermine machte ganz große Augen. „Schätzen?“, fragte sie nach, als hätte er gerade etwas Unmögliches vorgeschlagen. „‘Pi mal Daumen‘ ist nicht unbedingt ein Rechenweg, der mir zusagt.“
„Wie wäre es dann“, er setzte sich neben sie, „wenn du jene Pflanzen der Ranunculales streichst, die bereits mit einem festen Zahlenwert in den Büchern vertreten sind? Von den über 1.500 Arten sollten auf diese Weise einige wegfallen und du kannst am Ende mit dem arbeiten, was übrig bleibt.“
„Ah“, machte sie einsichtig, „also nach dem Ausschlussprinzip. Das gefällt mir schon besser, auch wenn ich mir sicher bin, dass eine ganze Menge Pflanzen übrig bleiben werden und wahrscheinlich alle von der Sorte, die als nicht-magisch geführt werden. Ich werde Neville fragen. Vielleicht kann er mir einen Tipp geben, wie ich am besten vorgehen kann.“ Die ganzen Pergamente ordnete sie liebevoll, währen sie murmelte: „Ein Computer wäre schön.“
Severus wusste, dass das ein Gerät aus der Muggelwelt war, das Hermine schon benutzt hatte, um Informationen über Hopkins zu sammeln. „Dann besorgt dir einen.“
Sie schnaufte. „Der würde hier nicht funktionieren. Die ganze Magie in der Winkelgasse würde stören. Ich habe keine Lust darauf, stundenlang an einer Tabelle zu arbeiten, die mit dem nächsten Aufrufezauber in unmittelbarer Umgebung zunichte gemacht wird; vielleicht noch die ganze Festplatte löscht, wie es mir bei meinen Eltern mal passiert ist. So sauer habe ich meinen Vater noch nie erlebt.“
Elektrische Geräte waren nicht so anfällig wie kompliziertere elektronische Geräte. Eine normale Lampe mit Glühbirne, die durch Strom betrieben wurde, war viel sicherer vor den unerklärlichen Entladungen der Magie als ein modernes chipgesteuertes Auto oder eben ein Computer.
„Und wenn du deine Eltern besuchst?“, schlug er vor.
„Könnte ich natürlich machen, aber ich müsste eine Menge Zeit investieren. Ich weiß nicht, ob mein Vater bereit sein wird, mir seinen PC so lange zur Verfügung zu stellen. Er macht seine Abrechnungen darüber.“ Sie atmete tief durch. „Fragen schadet wohl nicht.“
Letzteres dachte sich auch ein Erstklässler, der am nächsten Tag noch vor Unterrichtsbeginn zu Harry an den Pult kam, auf die Pflanze im Glas deutete und wissen wollte: „Was ist das, Sir?“
„Das“, Harry schaute ebenfalls zum Pfeilkraut, „ist ein Experiment, auf das ich achten möchte. Deshalb nehme ich sie mit, wohin ich auch gehe.“
Skeptisch blickte der neugierige Erstklässler auf das Glas. „Ist das ein Experiment mit Dunkler Magie?“
„Was?“ Harry schnaufte. „Natürlich nicht!“
Es läutete zum Unterricht und der Schüler ließ ihn zum Glück in Ruhe. Harry stellte das Glas neben seinen Stuhl auf den Boden, damit es zwar in seiner Nähe war, aber nicht für jeden sichtbar.
Das Gleiche tat er auch beim Mittagessen, doch als Remus neben ihm Platz nehmen wollte, stieß der versehentlich gegen das Glas und etwas Wasser schwappte über.
„Oh, entschuldige bitte.“
„Kein Problem.“ Mit beiden Händen schob er das Glas direkt unter seinen Sitz. „So, jetzt sollte es nicht mehr in Weg sein.“
Remus setzte sich, blickte Harry dabei fragend an. „Was machst du damit? Ist es das, was die Schüler sich erzählen? Das unheimliche ‘Experiment‘?“
„Wow, das ging aber schnell mit dem Informationsfluss. Aber ja“, Harry nickte, „das ist mein Experiment.“
„Aha“, machte Remus etwas verwirrt. „Und was genau …?“
Harry unterbrach. „Da darf ich nicht drüber reden.“ Er zwinkerte Remus verspielt zu, der die Antwort einfach zur Kenntnis nahm und sich von dem Rostbraten auftat.
So wie an diesem Tag verliefen auch die darauf folgenden. Die Schüler hatten sich bereits an Professor Potters komisches Experiment gewöhnt, die Kollegen – bis auf Severus – jedoch nicht. Als Harry eines morgens mit dem Glas unterm Arm ins Lehrerzimmer kam, es wie gewohnt unter seinen Stuhl abstellte und seine Unterlagen über die Noten der Schüler aus seiner Tasche zog, sprach Neville ihn an.
„Harry? Um was für ein Experiment geht es eigentlich?“
„Ähm“, Harry war verlegen, denn Neville und er waren nicht die einzigen im Raum. Da war noch Minerva, die ihn neugierig anblickte und ebenfalls auf eine Antwort zu hoffen schien, ebenso wie Filius, Albus, Aurora, Septina und auch Remus. „Das ist eine …“ Er begann von Neuem: „Ich meine, ich mache das für eine Freundin. Sie, ähm …“
Severus, der ihm genau gegenübersaß, konnte sich aufgrund seiner Erklärungsnot ein amüsiertes Schmunzeln nicht verkneifen, äußerte sich jedoch nicht zum Thema, obwohl Harry hoffte, dass ihm irgendjemand aus der Patsche helfen würde.
„Wenn ich Sie nicht so gut kennen würde“, begann Filius frech grinsend, „dann würde ich meinen, es wäre ein Ausdruck geistiger Umnachtung, wenn jemand ständig eine Blume mit sich führt.“
„Da möchte ich zustimmen“, kam es von Minerva. „Die Schüler haben mir berichtet, Sie würden sogar mit der Pflanze sprechen.“
Harry fühlte, dass er rot wurde, denn seine Wangen glühten. „Ich habe den Schülern gesagt, dass es sich um ein Experiment handelt. Es wird auch bestimmt nicht mehr lange dauern. Es tut mir ja furchtbar leid, wenn ich einen kauzigen Eindruck mache, aber ich versichere Ihnen allen, dass meine geistige Gesundheit nicht angegriffen ist.“
Severus konnte es sich nicht verkneifen zu sagen: „Jedenfalls nicht mehr als sonst auch.“
Harry bewarf Severus mit einem der in goldenes Papier eingewickelten Bonbons, die auf dem Tisch lagen. „Das ist ja wohl die Höhe, dass gerade du mir in den Rücken fällst!“, regte er sich künstlich auf. „Na warte, das zahle ich dir irgendwann heim.“ Harry versuchte, so fies wie nur möglich zu grinsen, aber darin war Severus viel besser als er.
Albus hatte die Skepsis der Lehrer und die Unterredung aufmerksam verfolgt, so dass er nun sein Urteil fällen konnte, indem er mit einem Lächeln beteuerte: „Also, auf mich wirkt alles vollkommen normal. Ganz so wie immer.“ Professor Binns stimmte dem Direktor zu, allerdings hatte er auch gar nicht mitbekommen, um was es überhaupt ging.
Nach Unterrichtsschluss kehrte Harry in seine Räume ein. Ginny fütterte gerade Nicholas und Wobbel machte nebenbei mit dem Schnippen seiner Finger in Windeseile sauber. Das runde Glasgefäß stellte er auf dem Tisch ab, bevor er sich mit einem lauten Seufzer auf die Couch warf.
„Weißt du, wie man mich nennt?“
Mit dem Löffel Kindernahrung blieb sie auf halbem Weg zum kleinen Mund stehen, den Nicholas erwartungsvoll aufgerissen hatte. „Der Pflanzenflüsterer?“
„Herrje, das ist schon bis zu dir durchgedrungen?“
„Nicht ganz, ich war nämlich diejenige, die dir den Spitznamen verpasst hat.“
„Vielen Dank auch, Ginny. Langsam halten mich wirklich alle für wunderlich.“ Er nahm die Brille von der Nase, um sie mit einem Taschentuch zu putzen, beobachtete dabei Ginny, die den Jungen fütterte. „Hat sich Hermine gemeldet? Langsam müsste die Zeit doch reichen, die ich mit dem Pfeilkraut verbracht habe.“
Ginny schüttelte den Kopf. „Immer, wenn ich sie in der Apotheke angefloht habe, war nur Snape da. Er sagte, sie wäre bei ihren Eltern.“
„Na klasse, Hermine macht sich einen schönen Tag bei ihren Eltern im Garten und mich hält man für einen verrückten Professor.“
„Ach Harry, mach dir keine Sorgen. Laut meiner letzten Umfrage unter den Mitschülern liegt Trelawney noch immer an erster Stelle, was die kauzigen Lehrer von Hogwarts betrifft. Du näherst dich ihr allerdings mit großen Schritten.“ Weil Harry ihr einen warnenden Blick zuwarf, musste Ginny lachen. „Jeder andere hätte längst aufgegeben, weil es ihm peinlich wäre.“
Wortlos verneinte Harry. „Was kümmert es mich, was die anderen von mir denken?“
„Oho“, machte Ginny, „das sah früher aber mal anders aus. Ich sage nur ‘Tagesprophet‘.“
„Das ist doch was völlig anderes.“
„Lass gut sein, Harry. Ich mag spleenige Professoren.“ Sie zwinkerte ihm frech zu. „Ich weiß auch, wie man sie noch mehr zerstreuen kann.“ Jetzt ließ sie noch die Augenbrauen auf und ab tanzen.
„Ach ja? Wie?“, fragte Harry unschuldig nach.
Ein verführerisches Lächeln zauberte sich auf ihr Gesicht. „Das zeig ich dir, wenn wir uns schlafengelegt haben.“
Demonstrativ gähnte Harry. „Habe ich schon erwähnt, wie müde ich bin? Ich glaube, ich gehe sofort ins Bett.“
Während Ginny wie versprochen bei Harry für Zerstreuung sorgte, stellte sich Severus die Frage nach dem zu Bett gehen noch lange nicht. Er musste in der Apotheke seinen Mann stehen, während Hermine ihn mit der Arbeit allein ließ und bei ihren Eltern eine Liste der Pflanzenarten am Computer erstellte. Nach über einer Woche war es um ihn so bestellt, wie es ihr in den ersten Wochen ergangen war. Er war überarbeitet. Allein waren die Aufgaben kaum noch zu bewältigen. Noch schaffte er es, Tränke und Cremes fristgemäß herzustellen, doch bald müsste der Zeitpunkt eintreten, wo er nachhinken würde. Er hoffte innig, dass Hermine vor diesem Punkt, an dem es kein Zurück mehr gab, zu ihm stoßen würde, denn sonst würden die Kunden wegen zu langer Wartezeit wegbleiben. Natürlich fragte sie ihn jeden Tag, ob er zurechtkommen würde und stets hatte er bejaht. Dass er genau wie sie die Nächte durchmachte, davon wusste sie nichts. Auch nicht davon, dass er seit Tagen weniger als zwei Stunden Schlaf pro Nacht bekam. Er putschte sich mit literweise Kaffee und einigen Wachmacher-Tränken auf. Lange würde das nicht mehr gutgehen. Seine Lider wurden immer träger, aber er riss sich zusammen. Hermine benötigte Zeit, um der Lösung näher zu kommen und wenn er ihr schon nicht bei den Berechnungen helfen konnte, dann müsste er wenigstens dafür sorgen, dass sie den Rücken frei haben würde.
Der letzte Trank für heute blubberte in einem Kessel. Danach hätte Severus knapp noch zweieinhalb Stunden Zeit, um ein wenig Schlaf zu finden, bis der Unterricht in Hogwarts beginnen würde. Er war so froh, dass er die Schule demnächst hinter sich lassen würde. Im Moment empfand er die Beschäftigung als Lehrer nur noch als Belastung.
Ihre Eltern wohnten gar nicht so weit weg von der Winkelgasse. Severus musste an Hermine denken, als er das Euphorie-Elixier für einen Kunden fertigbraute. Ein Trank, den sie beileibe nicht nötig hatte.
Ein paar Kilometer entfernt saß Hermine beim dämmrigen Licht einer Nachttischlampe am Schreibtisch ihres Vaters und hielt kurz inne, als sie das wohlige Gefühl überkam, eine ihr bekannte Person wäre im Raum, aber da war niemand. So fuhr sie mit ihrer Arbeit fort und erstellte eine Tabelle aller Pflanzen der Ordnung „Ranunculales“. Die Arten erst einmal zu finden war die zeitintensivste Tätigkeit. Sie sammelte schon seit Tagen ihre Informationen aus Büchern und aus dem Internet und nur mit dieser Kombination fand sie alle der über 1.500 Arten. Endlich notierte sie die letzte Pflanze. In den nächsten Tagen müsste sie mit dem Streichen der Pflanzen beginnen, müsste aussortieren, welche auf keinen Fall auf den Zahlenwert zutrafen, den Hermine als Zutat für den Heiltrank errechnet hatte. Diese Arbeit konnte sie mit Büchern über Trankzutaten überwinden, denn im Internet würde sie darüber rein gar nichts finden. Die Liste war fertig. Hermine hatte sich gleich zu Beginn dazu entschlossen, nur die lateinischen Namen der Pflanzen zu notieren, denn es gab für manche Blumen oder Sträucher zwei, manchmal noch mehr Namen in ihrer Sprache.
Ihre Tabelle formatierte sie noch, damit sie einen Ausdruck machen konnte. Der Tintenkopf huschte nicht gerade lautlos über das Papier. Es verwunderte sie nicht, dass sie damit ihre Eltern weckte, die im Nebenzimmer schliefen.
Es klopfte und ihr mit einem Bademantel bekleideter Vater trat ein. In der Hand hielt er eine Tasche aus Stoff.
„Es tut mir leid, Dad. Ich wusste nicht, dass der Drucker so laut ist und auch nicht, dass es schon“, sie blickte auf die Uhr und sog erschrocken Luft ein, „halb fünf morgens ist.“
„Der Wecker klingelt sowieso in einer Stunde, also was soll’s?“ Gelassen zuckte er mit den Schultern, bevor er den Chefsessel vom Arbeitsplatz seiner Frau zu Hermine hinüberrollte, damit er neben ihr Platz nehmen konnte. „Ich will dich wirklich nicht loswerden, Schatz, aber du weißt, was ein Monatsabschluss ist, oder?“
„Natürlich.“
Er nickte ruhig. „Du weißt auch, dass jetzt die Zeit ist, wo man in der Regel einen Monatsabschluss in Angriff nehmen muss?“
„Lass mich das nur noch ausdrucken, Dad. Ich verspreche …“
Sie stoppte sich, als ihr Vater seine Hand auf die ihre legte. „Ich kenne dich lang genug, um sagen zu können, dass du etwas wirklich Wichtiges hier machst.“ Er deutet auf die vielen Bücher und die Tabelle, die auf dem Monitor zu sehen war – das Fenster mit dem Druckstatus zeigte 22 von 75 Seiten an. „Du musst Papier nachlegen.“
„Wie bitte?“
„Papier! Soviel ist nicht im Drucker.“
Hermines Vater stellte die Tasche auf dem Boden ab und kümmerte sich um das Nachlegen des Papiers. Im Nu war das Fach voll und der Druckvorgang wurde nicht einmal unterbrochen.
„Was ich sagen wollte, Hermine“, er reichte ihr die Tasche, „das ist für dich.“
Völlig perplex nahm sie die schmale Tasche entgegen. Sie wog in etwa eineinhalb Kilo.
„Was ist das?“
„Mach auf, dann siehst du es.“
Mit allem Möglichen hatte sie gerechnet, aber nicht mit einem Laptop.
„Ich …“ Sie war sprachlos, was ihr Vater gut verstand.
„Ich weiß, was dir durch den Kopf geht. Es wird bei dir nicht funktionieren. Zu viel Magie. Wir haben ja gesehen“, er seufzte, „was das letzte Mal passiert ist, als du in der Nähe meines Rechners gezaubert hast. Du kannst den Laptop überall mit hinnehmen, im Sommer in einem Park sitzen und arbeiten oder irgendwo in den Highlands.“ Sie setzte gerade an, etwas zu sagen, da schien er ihre Gedanken gelesen zu haben. „Die Frage mit dem Strom, ich weiß. Da sind drei Akkus bei. Wir können das so machen, dass wir in der Küche immer zwei am Ladegerät haben. Wenn deiner leer ist, apparierst du kurz her und tauschst ihn aus. Wenn dir das alles nicht zu umständlich ist, dann gehört er dir.“
Hermine standen Tränen in den Augen. „Danke Dad!“ Sie umarmte ihn und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
„Nichts zu danken. Nachdem Severus das Geld überwiesen hat, dachte ich, könnte ich dir damit ein Geschenk machen, das du auch wirklich brauchst. Ich weiß“, er tätschelte ihren Rücken, „dass es schwer werden wird, die Technik mit der Magie zu vereinbaren, aber du bekommst das schon hin. Und jetzt“, er drückte sie von sich weg, „mach ihn an.“
„Jetzt?“
„Natürlich! Du willst doch sicherlich deine Daten mitnehmen.“
Mit einem Datenkabel konnte Hermine mit Leichtigkeit ihre Dateien vom Rechner ihres Vaters auf ihr neues Laptop kopieren. Als sie damit fertig waren, wurde gerade die 67. Seite ihrer Tabelle gedruckt.
„Weißt du, was schade ist?“ Ihr Vater legte seinen Arm um ihre Schulter. „Dass du jeden Abend hier warst, wir dich aber nur für wenige Minuten zu Gesicht bekommen haben. Das holen wir nach, Liebes. Wie wäre es mit einem gemeinsamen Urlaub? Wir laden dich ein.“
„Das ist lieb, aber ich kann im Moment nicht an Urlaub denken. Ich habe zu viel zu tun. Ich würde gern, aber im Augenblick ist es unmöglich.“
„Das Angebot steht für unbegrenzte Zeit, Minchen. Wenn du eine Pause nötig hast, dann sag einfach Bescheid.“
Mit dem Geschenk ihres Vaters apparierte Hermine zurück in ihre Wohnung, ohne daran gedacht zu haben, dass vielleicht schon die Magie der Apparation den Laptop beschädigen könnte. Sie würde es merken, wenn sie ihn das nächste Mal anschaltete. Jetzt lag all ihr Interesse darin, etwas Schlaf zu finden, als sie unten im Labor plötzlich etwas hörte.
Neugierig ging sie die Stufen hinunter und lugte in den Raum hinein, in dem Severus dabei war, die Liste mit Bestellungen durchzugehen, die er heute nicht mehr geschafft hatte.
„Severus, du bist noch hier?“ Er sah vollkommen übermüdet aus, rang sich dennoch ein schiefes Lächeln ab.
„Du verfügst über eine überaus subtile Auffassungsgabe.“
„Warst du zwischenzeitlich in Hogwarts oder hast du dir die ganze Nacht um die Ohren geschlagen?“ Er antwortete nicht. „Severus? Wächst dir das über den Kopf?“
„Ich bin in meinem Leben schon mit viel schwierigeren Aufgaben konfrontiert gewesen!“, rechtfertigte er sich.
„Das ist keine Antwort auf meine Frage!“
Für einen Moment schloss er die mit den geplatzten Äderchen überzogenen Augen. Alles an ihm wies auf Übermüdung hin: die Körpersprache, die Ringe unter den Augen, seine unpräzisen Bewegungen. Unerwartet richtete er das Wort an sie.
„Wirst du noch mehr Zeit bei deinen Eltern verbringen?“
„Nein, ich bin dort fertig.“
Sie hörte ihn erleichtert durchatmen. „Das ist schön zu hören. Ich werde mich dann verabschieden.“ Als er einige Schritte machte, torkelte er schlaftrunken.
„Du kannst auch hier übernachten“, bot sie an.
„Danke für das Angebot, aber ich ziehe ein Bett vor. Wenn die Zeit zum Schlafen schon so begrenzt ist, sollte es nicht noch an Komfort mangeln.“
„Mein Bett ist groß.“
„Das, ähm, das wäre …“
Sie wusste, was er sagen wollte. Es wäre unmoralisch, keine gute Idee oder einfach nur überstürzt, doch sie steuerte dagegen. „Wir haben schon einmal in einem Bett zusammen übernachtet und da haben wir uns nicht einmal geduzt. Da ist doch gar nichts dabei.“
Er erinnerte sich an Aberdeen und befand die jetzige Situation für genauso harmlos wie die damalige, so dass er zustimmte. In seinem ruhebedürftigen Zustand wollte er es keinesfalls auf eine Diskussion mit ihr ankommen lassen, denn die würde er verlieren. Er wollt einfach nur schlafen.
Die letzten Male hatte er vergessen, den schuleigenen Hauselfen den Auftrag zu geben, sich um seinen Kamin zu kümmern, denn erst im Hochsommer wärmten sich die Kerker so sehr auf, dass man kein Feuer mehr machen musste. Ihr Schlafzimmer hingegen war den ganzen Tag über auf natürliche Weise von der Sonne aufgeheizt worden. Hier war es auch ohne brennenden Kamin angenehm warm. Hermine hatte sich sehr schnell zu Bett begeben und schlief bereits, als er aus dem Badezimmer kam. Auch Severus benötigte nicht viel Zeit, um sich ins Traumland zu begeben. Er war todmüde.
Gerade erst war er eingeschlafen, wurde er auch schon wieder geweckt. Die einfallenden Sonnenstrahlen zeugten allerdings davon, dass er tatsächlich fest geschlafen haben musste und nur dem Gefühl erlegen war, erst vor fünf Minuten die Augen geschlossen zu haben.
„Severus, du musst aufstehen“, hörte er ihre warme Stimme. „Eine halbe Stunde nur noch, bis der Unterricht beginnt und bevor ich die Apotheke öffnen muss. Steh doch auf.“ Ein mürrisches Grummeln war die Antwort. „Ich wusste gar nicht“, schäkerte sie gut gelaunt, „dass du ein Morgenmuffel bist.“ Er murmelte daraufhin irgendwas ins Kopfkissen. „Was war das?“
Den Kopf hob er ein wenig an, damit er seinen Satz verständlich wiederholen konnte. „Bin ich nicht!“
„Ich hab Frühstück gemacht, falls du noch was essen möchtest, bevor du den lieben Kinderchen erklären musst, was man beim Tränkebrauen auf keinen Fall tun darf.“
Zu Scherzen war ihm gar nicht zumute. Verschlafen stöhnte er: „Ich spiele das erste Mal in meinem Leben ernsthaft mit dem Gedanken, mich aus vorgetäuschten Gründen krank zu melden.“
„Ja klar“, er fühlte einen leichten Schlag auf seinem Oberarm, „und wenn du das von meinem Kamin aus machst, wird Albus gleich den richtigen Eindruck von dir bekommen. Jetzt komm schon, steh auf.“
„Ist Kaffee fertig?“
„Natürlich!“
Mit dem Zauberwort „Kaffee“ hatte Hermine ihn aus dem Bett locken können. In der Küche waren beide sehr wortkarg, weil er noch nicht in Stimmung für Unterhaltungen mit komplizierten Inhalten war. Auch Hermine wollte einfach nur ihren Toast essen und Tee trinken. Nur zwei Stunden Schlaf zu bekommen machten selbst sie viel schweigsamer, als man es von ihr gewohnt war.
„Severus? Sagst du Harry bitte Bescheid, dass ich ihn heute Abend besuche? Ich möchte das Pfeilkraut abholen.“
„Werde ich tun. Ich vermute, er wird erleichtert sein.“
Hermine stutzte. „Warum das denn?“
„Weil die ganze Schule über ihn tuschelt.“ Seine Tasse Kaffe stellte Severus gemächlich auf dem Tisch ab. „War es wirklich notwendig, ihn auch tagsüber damit herumlaufen zu lassen? Ich möchte nicht, dass das auf mich zurückfällt.“
„Hat irgendwer die Vermutung angestellt, es könnte mit dir zu tun haben?“, wollte sie wissen.
„Das nicht, aber …“
„Warum regst du dich dann auf?“
„Wenn ich mich aufrege, sieht das anders aus. Ich hatte nur befürchtet, dass jeder wissen könnte, was es mit der Pflanze auf sich hat; was wir mit ihr vorhaben.“
Beruhigend schüttelte Hermine den Kopf. „Keine Sorge, von mir weiß niemand was und Harry sagt auch nichts weiter.“
„Dann bin ich erleichtert.“
Genauso erleichtert war Harry, als ihm Severus zur Mittagszeit die Nachricht überbrachte, Hermine würde das Pfeilkraut heute Abend abholen wollen.
„Auf einer Seite“, begann Harry, „ist er mir ans Herz gewachsen?“
„‘Er‘? Es heißt ‘das‘ Pfeilkraut.“
„Es heißt aber auch“, konterte Harry, „‘die‘ Pflanze, also ist sie weiblich. Ist mir eine echte Freundin geworden.“
„Du nimmst mich auf den Arm!“
„Nein, keinesfalls. Weißt du“, Harry schaute einmal liebevoll unter seinen Stuhl, „ich habe mit ihr gesprochen und nie kam eine Widerrede, geschweige denn, irgendein sarkastischer Kommentar.“ Harry grinste in sich hinein.
„Ah, verstehe. Weiß Miss Weasley von deinen tiefen Gefühlen zu der Pflanze?“
„Ha!“, machte Harry völlig unerwartet. „Also doch ‘der‘ Pflanze.“
Mit toternster Miene schaute Severus seinen jungen Kollegen an, bevor sein Blick auf den hinteren Teil von Harrys Hals fiel. Mit einer Hand hielt Severus ihn plötzlich leicht am Oberarm fest.
„Halt einen Moment still, Harry.“
Mit der anderen Hand wischte Severus etwas mit zaghaft streichenden Bewegungen von seinem Rücken. „Was? Was ist da?“ Beinahe verrenkte sich Harry den Kopf, als er nach hinten schauen wollte.
„Du hast den Schalk im Nacken“, Severus klopfte ihm noch zweimal auf den Rücken, als wollte er ein paar Fusseln entfernen. „So, jetzt ist er weg.“
Es ging nicht anders: Harry musste laut lachen. Die Köpfe der Schüler drehten sich fast zeitgleich, um zum Lehrertisch aufzublicken. Jetzt, dachten sie, hätte Professor Potter vollends seinen Verstand verloren.
Wie versprochen besuchte Hermine ihn am Abend, um das Pfeilkraut abzuholen, aber auch, um ein wenig zu plaudern. Ihren Besuch hielt sie so kurz wie möglich, denn sie war ganz erpicht darauf, die Pflanze zu testen.
„Hermine, du bist ja ganz zappelig“, stellte Harry fest, als er sie unruhig auf der Couch hin und her rutschen sah.
„Tut mir leid, ich würde am liebsten sofort nachhause und einige Tests durchführen.“
„Du musst dich wirklich nicht verpflichtet fühlen, mit uns Zeit zu verbringen. Geh ruhig. Es interessiert mich ja selbst, ob es was gebracht hat. Und ehrlich gesagt hoffe ich sehr, dass es nicht umsonst war. Manchmal kam ich mir schon reichlich dämlich vor.“ Harry lächelte, also konnte es so schlimm nicht gewesen sein, dachte Hermine.
„Dann seid ihr mich nicht böse, wenn ich gleich wieder gehe?“
Von Ginny und Harry bestärkt nahm sie das Glas mit dem Pfeilkraut und flohte in die Apotheke, wo sie schon erwartet wurde.
Verblüfft schaute Severus sie an, als sie ins Labor trat. „Schon zurück?“
„Ich konnte es nicht abwarten.“ Den rundlichen Glasbehälter mit dem Pfeilkraut stellte sie auf dem Labortisch ab, bevor sie sich den Umhang auszog, den Severus ihr freundlicherweise abnahm, um ihn aufzuhängen. „Ich möchte sofort nachsehen, inwiefern sich die Pflanze verändert hat.“
„Niemand hält dich auf. Kann ich dir behilflich sein?“
„Du brauchst einfach nur hier sein, das reicht.“
Hermine testete, notierte sich etwas, rechnete und testete nochmals. Neben ihr hatte sich Severus an der Liste versucht, die Hermine bei ihrem Vater ausgedruckt hatte. Auf jeder der 75 Seiten im Querformat waren 20 Pflanzennahmen notiert. Gleich dahinter hatte Hermine eine Spalte für Notizen freigelassen. Severus‘ Aufgabe war es, die Liste von Anfang an durchzugehen und die Pflanzen zu streichen, die in der magischen Welt bereits einen festen arithmantischen Zahlenwert besaßen und somit nicht die von ihr gesuchte Pflanze darstellen konnte. Er durchstrich eine Menge der lateinischen Namen, aber noch immer waren am Ende zu viele übrig.
Als er aufblickte, wurde sein Blick auf Hermines Zunge gelenkt, die zwischen ihren Lippen hervorlugte. Vor lauter Konzentration fiel ihr gar nicht auf, was sie für erheiternde Eigenschaften ans Tageslicht brachte. Sie rechnete, nahm dabei unbewusst die Finger zur Hilfe. An ihrem Gesichtsausdruck erkannte er, dass sie bisher mit ihrem Weg sehr zufrieden sein musste.
„Möchtest du etwas essen?“, fragte er zuvorkommend.
„Mmmh?“
„Essen! Nahrungszufuhr – du erinnerst dich sicher noch daran, dass Organismen wie der unsere Energie benötigen.“
Hermine winkte dankend ab. „Gib mir einfach einen Stärkungstrank.“
„Kommt nicht in Frage. Es ist davon abzuraten, solche Tränke häufiger anzuwenden, weil sie …“
Sie vervollständigte seinen Satz: „… sonst nicht mehr wirken. Ich weiß. Was gibt es denn zu essen?“
„Ich werde einfach sehen, was deine Vorratsschränke beinhalten.“
„Mmmh“, murmelte sie abwesend, weil sie wieder in ihren Zahlen versunken war. Sie hörte ihn nicht einmal stöhnen.
Eine Minute später – oder waren es dreißig? – kam Severus zurück ins Labor.
„Komm in die Küche“, sagte er im scharfen Befehlston, weil sie jede Bitte sicherlich überhört hätte.
„Noch einen Moment.“
„Jetzt!“
Gereizt fauchte sie: „Nicht jetzt! Ich bin knapp vor dem Ziel, Severus. Ich bin schon dabei, die Lösungswege zu notieren.“
„Wie kannst du bei der Lösung sein, wenn du nicht einmal weißt, was für eine Pflanze dir fehlt?“
„Ich habe ja ihren Zahlenwert. Damit kann ich bereits rechnen, auch wenn ich noch nicht weiß, wie sie heißt oder wo ich sie finde.“
„So kurz vor dem Ziel solltest du dir eine Verschnaufpause gönnen.“
„Du verstehst wohl nicht, was das“, sie nahm ihre Pergamente in die Hand, „bedeutet?“ Sie schien wütend, als wollte er sie ihres Lebensziels berauben.
„Ich glaube, du unterschätzt meine Auffassungsgabe, Hermine.“ Mit beiden Händen stützte er sich neben ihr auf dem Tisch ab, so dass sein Kopf dicht an ihrem war. „Das, was du in deinen Händen hältst, bedeutet Freiheit für mich und eine Menge Herzblut deinerseits.“
Seine Worte hatten bei ihr blitzartig für Ruhe innere Ruhe gesorgt. Ohne Murren ließ sie sich in die Küche führen. Mit dem ersten Bissen bemerkte sie, wie hungrig sie eigentlich war. Aus dem gemeinsamen Essen und der Unterhaltung mit ihm schöpfte sie tatsächlich wieder Kraft.
Gestärkt und voller Tatendrang rechnete sie danach weiter, bis sie am Ende die Lösung hatte. Eine Lösung, die aus Formeln zusammengesetzt war, die sie nicht verstand. Wieder und wieder überflog sie die fünf Seiten, die nach dem Gleichheitszeichen herausgekommen waren.
„So ein Mist!“, fluchte sie leise, doch er hatte sie gehört.
„Was ist jetzt wieder?“
Sie zeigte ihm die fünf Seiten, auf denen in ihrer Handschrift unzählige Zahlen und mathematischen Symbolen niedergeschrieben waren. „Das hier soll die Lösung sein! Es ist richtig gerechnet, daran zweifle ich gar nicht, aber was ist das?“
Severus überflog ihre Rechnung, stieß dabei auf einige Symbole für Körper und Ring, auch auf Mengenformeln und …
„Ist das eine Vektorrechnung?“, fragte er erstaunt, woraufhin sie nickte „Ich muss leider gestehen, dass ich damit nichts anfangen kann.“
„Prima, wenn soll ich denn jetzt fragen? Harry und Ron scheiden aus, die haben da keine Ahnung von und Neville kennt sich mit Pflanzen aus, aber nicht mit Arithmantik. Und warum zum Teufel bekomme ich eine Teillösung, die aus dem Bereich der Elementargeometrie stammt? Da kann doch was nicht stimmen.“
„Geometrie?“
„Ja, schau hier!“ Sie tippte auf ein Dreieckssymbol, hinter der mehrere Zahlen standen. Severus war vollkommen hilflos. „Sagt dir nichts, oder?“, stellte sie traurig fest.
„Wie ich schon sagte, ich bedauere sehr, dass ich hier keine Hilfe bin.“
„Macht ja nichts. Ist nur ein seltsames Gefühl, die ersehnte Lösung schwarz auf weiß zu haben und trotzdem auf der Stelle zu treten.“
Müde ordnete sie ihre Pergamente in eine Mappe ein. Es war unbefriedigend. Genauso musste sich ein Archäologe fühlen, der endlich den Eingang zu einer alten Ruinenstadt entdeckt hatte, nur um festzustellen, dass er die Tür nicht öffnen konnte, weil er die Symbole des Türmechanismus nicht verstand.
„Ich werde es nachrechnen müssen, bleibt mir ja nichts anderes übrig“, murmelte sie wütend.
„Verstehe ich recht, dass du die Lösung meines Problems bereits in deinen Händen hältst, damit aber nichts anfangen kannst?“
„So könnte man es sagen, Severus“, gab sie schweren Herzens zu. „In der Theorie ist alles fertig. In der Praxis muss ich nur noch diese eine Pflanze finden, mit deren Wert ich bereits gerechnet habe und ich muss verstehen, wie die Lösung gemeint ist.“
„Dann sind wir dicht dran?“, fragte er vorsichtig.
Hermine lächelte ihm aufmunternd zu. Mit Daumen und Zeigefinger zeigte sie einen Zentimeter Abstand und sagt: „So dicht, Severus!“
Genau das stellte sich Hermine gerade vor. Sie dachte daran, wie Harry das Pfeilkraut berührte und sah vor ihrem inneren Auge die Magie, die von ihm auf die Pflanze übersprang. Sie stellte sich allerdings auch gleich vor, wie sie die Magie von Harry in Zahlen umrechnen würde. Ihr Weg führte sie zu den Gewächshäusern der Schule. In einem brannte noch Licht. Es war Gewächshaus Nummer vier.
„Neville?“, fragte sie, nachdem sie die Tür geöffnet und den Kopf hineingesteckt hatte.
Eine weibliche Stimme antwortete ihr. „Hermine, guten Abend. Kommen Sie bitte rein. Neville ist jeden Moment wieder da.“
„Hallo Pomona.“
Die rundliche Lehrerin für Kräuterkunde kam freudig auf Hermine zu und begrüßte sie, hielt ihr dafür die mit Erde beschmutzte Hand entgegen, doch als sie selbst ihre schmutzigen Fingernägel bemerkte, zog sie die Hand wieder zurück.
„Tut mir leid, dreckige Hände sind wohl Berufsrisiko.“
„Das macht ganz und gar nichts.“ Hermine schaute sich in dem Gewächshaus um. Rechts von ihr, wo Luna einmal gestanden hatte, blühten die Blumen nur noch kräftiger.
„Haben Sie für Neville wieder eine Aufgabe?“, wollte Pomona wissen.
„Oh ja, ich hoffe, das ist in Ordnung, wenn er für mich etwas hier auf dem Schulgelände anbaut.“
„Da machen Sie sich mal keine Sorgen, Hermine. Auf diese Weise lernt Neville noch viel mehr und das wird sich später bei seiner Prüfung positiv auswirken.“
Die Tür öffnete sich. Mit seinem Zauberstab brachte Neville fünf Säcke frischer Erde ins Gewächshaus. Erst als diese in einer Ecke verstaut waren und er sich umblickte, bemerkte er Hermine. Die Begrüßung war herzlich.
„Was kann ich für dich tun? Wieder etwas säen?“
„Wie kommst du nur darauf?“, schäkerte sie. „Mein Wunsch ist diesmal aber etwas ausgefallender.“
Pomona beruhigte sie. „Es gibt nichts, was Neville nicht ziehen kann.“ Sie schlug ihm kräftig auf den Rücken, so dass er einen Schritt nach vorn machte, um die Wucht auszugleichen. „Nicht wahr, mein Guter?“
Er lächelte verlegen, doch weder bestätigte noch dementierte er ihre Aussage. Er war zu bescheiden.
„Neville, es geht um Zuckerbüsche. Ich brauche da eine besondere Art.“
Ungläubig blickte er Hermine an. „Das wird schwierig.“
„Warum?“
„Weil Zuckerbüsche nur sehr schwer zu kultivieren sind, aber reizen würde mich das schon.“ Er knabberte kurz an seiner Unterlippe, als er nachdachte. „Weißt du, dass die Zuckerbüsche echte Ur-Blumen sind?“ Hermine schüttelte den Kopf. Sie wusste viel, aber natürlich nicht alles, also hörte sie interessiert zu, als Neville erzählte: „Damals, als alle Kontinente noch eins waren, da gab es sie schon. Als Gondwana, der südliche Kontinent, vor circa 150 Millionen Jahren auseinanderbrach, nahm er diese Pflanze mit. Es gibt die Zuckerbüsche heute nur in südlichen Regionen, wo es besonders warm ist und ein eher trockenes Klima herrscht. Das in einem Gewächshaus nachzuahmen ist …“
„Nicht unmöglich!“, fiel Pomona ihm ins Wort. „Zuckerbüsche sind kälteempfindlich, aber das bekommen wir schon hin. In Gewächshaus Nummer drei können wir einen Teil des Raumes abschirmen, um dort entsprechendes Klima nachzuempfinden.“ Pomona lächelte freundlich. „Für ein ‘Schulprojekt‘ ist das schon eine außergewöhnliche Sache, aber für deine Prüfung, Neville, ein absolutes Plus. Wenn du es schaffst, diese Blumen zu ziehen, wird kein Prüfer an dir zweifeln.“
Nevilles Wangen wurden rot, aber er lächelte zuversichtlich. Mit Hilfe von Pomona würde er diese Aufgabe zu Hermines Zufriedenheit bewältigen können. Es war nur noch die Frage des Preises zu klären, dachte Hermine.
„Was würden die Samen kosten?“
Hilfesuchend blickte Neville zu Pomona, die aufgrund ihrer Erfahrung sicherlich eine Antwort geben konnte und er irrte sich nicht, denn sie erwiderte an seiner Stelle: „Man kann die Samen auch in Europa bestellen, aber ich schlage vor, wir nehmen einen Händler aus Australien, Südchina, Afrika oder Japan.“
„Japan?“, wiederholte Hermine verdutzt. „Da kenne ich jemanden. Ich werde fragen, ob er mir Samen schicken kann und wenn das möglich wäre, dann lass ich sie gleich zu dir schicken, Neville. Wenn das in Ordnung ist, heißt das.“
„Aber sicher“, er stockte, dachte kurz nach. „Japan? Takeda?“
„Genau der!“
Mit breitem Lächeln verließ sie Neville und Pomona, um den Heimweg anzutreten. Es war ein schönes Gefühl zu wissen, dass sie Zuhause nicht allein war, sondern jemand auf sie wartete.
„Macht er es?“, waren die begrüßenden Worte von Severus.
„Harry? Natürlich macht er es, was für eine Frage.“
„Es hätte ja sein können, dass er irgendeine Gegenleistung erwartet.“ Severus füllte gerade die beiden frischen Gripsschärfungstränke ab, die Kunden bestellt hatten.
„Was sollte er schon als Gegenleistung erwarten? Höchstens doch, dass es am Ende so klappt, wie ich es mir vorstelle.“ Langsam näherte sie sich ihm. „Ich muss Takeda einen Brief schreiben. Wie schicke ich den am besten? Per Eule würde es ewig dauern. Und wenn ich an den Weg denke, den sie zurücklegen muss, tut mir das Tier jetzt schon leid.“
„Muggelpost.“
„Was?“
Severus verkorkte die zweite Flasche und blickte danach Hermine an. „Ich sagte, per Muggelpost. Viele Zauberer und Hexen halten zwar nicht viel von Muggeln, aber in einigen Dingen haben deren Methoden Vorteile.“
Ihr schoss durch den Kopf, dass Harry und viele ihrer Freunde zur Schulzeit Briefe von ihren Muggelverwandten bekommen hatten.
„Wie geht das überhaupt? Ein Muggel schickt einen Brief über die Post ab und der Zauberer bekommt ihn – wie geht das?“
Anscheinend wusste Severus die Vorgehensweise von Albus und lieferte daher eine annehmbare Erklärung. „In jeder Postfiliale wird mindestens ein Squib oder Zauberer arbeiten. Die Post, die wegen einer nicht zustellbaren Adressierung liegen bleibt, wird von diesen Personen bearbeitet. Die meisten Briefe werden dann auf magischem Wege weitergeleitet, beziehungsweise an ein Posteulenamt abgetreten.“
„Also soll ich Takeda über die Muggelpost einen Brief schreiben, damit es nicht zu lange dauert?“
„Genau das schlage ich vor.“
Severus betrachtete Hermines Gesicht, ihre Augen, die Lippen, die Wangenknochen und dann, ohne dass sie es vorhersehen konnte, stand der Sekretär vor ihr. Sie musste lächeln. Der Vogel gefiel ihr. Er war recht groß und wirkte wegen seiner rot umrandeten Augen und den schwarzen Kopffedern sehr anmutig. Vorsichtig breitete der Vogel einen seiner Flügel aus und führte den Kopf ans Gefieder. Mit einer ruckartigen Bewegung hatte er eine seiner Schwungfedern herausgerissen, die er nun mit seinem nach unten gebogenen Schnabel Hermine präsentierte. Sie ging in die Knie und nahm die Feder entgegen, bedankte sich sogar bei ihm, doch Severus verwandelte sich nicht sofort zurück. Er stand nur da und betrachtete sie. Wie schon zuvor, das konnte Hermine aus der Nähe erkennen, blickte er erst in ihre Augen, dann auf den Mund und auf ihre Wangen. Sie erschrak nicht, als er auf sie zukam. Wie in Zeitlupe legte er seinen Kopf auf ihrer Schulter ab. Sie glaubte, aber sie könnte es sich auch eingebildet haben, den Vogel seufzen zu hören, als er das Gesicht in ihren Haaren vergrub. Kleine Katzenbabys mochten die Stelle zwischen Nacken und Haaransatz ebenfalls, weil die Haare des Menschen eine Assoziation zum Fell der Mutter darstellten und das Gefühl der Geborgenheit aufkommen ließen. Hermine konnte nicht anders, als über die an den Körper gelegten Flügel zu streichen. Noch einen Moment verweilten sie so, bis der Vogel sich abrupt von ihr abwandte und Severus sich zurückverwandelte.
Der Hauch eines rötlichen Schimmers war auf seinen Wangen auszumachen, als er verlegen auf den Tisch schaute und wissen wollte: „Ist noch irgendeine Arbeit zu erledigen?“
„Nein.“ Weil er enttäuscht aussah, empfahl sie: „Poppy braucht das Skele-Wachs zwar erst nächsten Monat, aber sie wird bestimmt nichts dagegen haben, wenn sie es früher bekommt.“
Schon war Severus in seinem Element. Er holte sich die Arbeitsmittel und Zutaten an den Tisch, um mit dem komplizierten Trank zu beginnen.
„Was dagegen, wenn ich hier sitze und meine Arbeit mache?“ In Gedanken ergänzte sie: ‘Wenn ich hier sitze und rechne?‘
„Natürlich nicht.“
Im Nu hatte Hermine all ihre Unterlagen ins Labor geholt. Eine Ecke des Tisches gehörte ihr ganz allein. Dort breitete sie ihre Nachschlagewerke mit den arithmantischen Formeln aus, Zutatenlisten und natürlich ihre vielen Pergamente, auf denen sie sich Stichpunkte machte oder Berechnungen anstellte. Severus‘ Anwesenheit half ihr bei der Konzentration und stärkte zudem ihr Durchhaltevermögen.
Dank der Informationen, welche Zutaten im Ewigen See verwendet wurden, hatte Hermine einen so guten Anhaltspunkt, dass sie in dieser einen Nacht fast alle Zutaten berechnen konnte, die für ein Heilmittel notwendig waren. Nur eine fehlte und sie kam beim besten Willen nicht drauf, welche Pflanze das sein könnte. Ihr enttäuschtes Stöhnen machte Severus auf sie aufmerksam.
„Verrechnet?“, fragte er mit einem Schmunzeln.
„Nein, nicht verrechnet. Ich habe hier Werte, die ich keiner Pflanze zuordnen kann.“
„Vielleicht handelt es sich um einen organischen Stoff?“, warf er ein. „Im Ewigen See finden die Leuchtorgane des Drachenfischs Verwendung.“
„Nach der Zahl bin ich mir sicher, dass es ein pflanzlicher Stoff sein muss. Die Werte von organischen Stoffen liegen in den Zehntausendern, aber in keinem Arithmantikbuch finde ich den Zahlenwert, den ich errechnet habe. Das ist so, als hätte ich die Nummer eines Personalausweises, aber nicht den Namen der Person, nicht mal ein Foto von ihr. Ich weiß einfach nicht, wie ich die gesuchte Pflanze finden kann.“ Genervt schlug Hermine ein Buch zu und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Augen.
„Vielleicht handelt es sich um eine nicht-magische Pflanze, die erst mit Takedas spezieller Behandlung magische Wirkstoffe produziert“, vermutete Severus.
„Wenn das so wäre, dann müsste ich erst einen Anti-Alterungstrank für mich brauen, denn um alle nicht-magischen Pflanzen auf diese Weise zu ziehen und zu testen, brauche ich mehr als nur ein Leben. Ich würde sterben, bevor ich das herausfinden könnte.“
„Kannst du den Zahlenwert wenigstens einer bestimmten Pflanzengruppe zuordnen?“
Hermine stutzte, blätterte dann in ihren Unterlagen und in einem Buch. Es gab tatsächlich „von-bis“-Zahlenwerte und ihr Wert passte in eine bestimmte Gruppe.
„Ranunculales.“
„Na bitte.“ Severus schien zuversichtlich, doch Hermine konnte dieses Gefühl nicht teilen.
„Hast du eine Ahnung, wie viele Pflanzen zu den Ranunculales zählen?“ Um ihm korrekte Informationen zu geben, blätterte sie in einem Buch für Kräuterkunde, las eine Stelle und erklärte dann: „Da gibt es über fünfzig Gattungen, über 1.500 Arten. Alles in allem beinhaltet sie Sträucher, jede Menge Kräuter und sogar Lianengewächse.“ Erneut schlug sie das Buch zu. „Ich würde vielleicht nur noch hundert Jahre benötigen, anstatt 500, um die richtige Pflanze zu finden, auf die meine Zahl zutrifft.“
„Dann schätze einfach.“
Hermine machte ganz große Augen. „Schätzen?“, fragte sie nach, als hätte er gerade etwas Unmögliches vorgeschlagen. „‘Pi mal Daumen‘ ist nicht unbedingt ein Rechenweg, der mir zusagt.“
„Wie wäre es dann“, er setzte sich neben sie, „wenn du jene Pflanzen der Ranunculales streichst, die bereits mit einem festen Zahlenwert in den Büchern vertreten sind? Von den über 1.500 Arten sollten auf diese Weise einige wegfallen und du kannst am Ende mit dem arbeiten, was übrig bleibt.“
„Ah“, machte sie einsichtig, „also nach dem Ausschlussprinzip. Das gefällt mir schon besser, auch wenn ich mir sicher bin, dass eine ganze Menge Pflanzen übrig bleiben werden und wahrscheinlich alle von der Sorte, die als nicht-magisch geführt werden. Ich werde Neville fragen. Vielleicht kann er mir einen Tipp geben, wie ich am besten vorgehen kann.“ Die ganzen Pergamente ordnete sie liebevoll, währen sie murmelte: „Ein Computer wäre schön.“
Severus wusste, dass das ein Gerät aus der Muggelwelt war, das Hermine schon benutzt hatte, um Informationen über Hopkins zu sammeln. „Dann besorgt dir einen.“
Sie schnaufte. „Der würde hier nicht funktionieren. Die ganze Magie in der Winkelgasse würde stören. Ich habe keine Lust darauf, stundenlang an einer Tabelle zu arbeiten, die mit dem nächsten Aufrufezauber in unmittelbarer Umgebung zunichte gemacht wird; vielleicht noch die ganze Festplatte löscht, wie es mir bei meinen Eltern mal passiert ist. So sauer habe ich meinen Vater noch nie erlebt.“
Elektrische Geräte waren nicht so anfällig wie kompliziertere elektronische Geräte. Eine normale Lampe mit Glühbirne, die durch Strom betrieben wurde, war viel sicherer vor den unerklärlichen Entladungen der Magie als ein modernes chipgesteuertes Auto oder eben ein Computer.
„Und wenn du deine Eltern besuchst?“, schlug er vor.
„Könnte ich natürlich machen, aber ich müsste eine Menge Zeit investieren. Ich weiß nicht, ob mein Vater bereit sein wird, mir seinen PC so lange zur Verfügung zu stellen. Er macht seine Abrechnungen darüber.“ Sie atmete tief durch. „Fragen schadet wohl nicht.“
Letzteres dachte sich auch ein Erstklässler, der am nächsten Tag noch vor Unterrichtsbeginn zu Harry an den Pult kam, auf die Pflanze im Glas deutete und wissen wollte: „Was ist das, Sir?“
„Das“, Harry schaute ebenfalls zum Pfeilkraut, „ist ein Experiment, auf das ich achten möchte. Deshalb nehme ich sie mit, wohin ich auch gehe.“
Skeptisch blickte der neugierige Erstklässler auf das Glas. „Ist das ein Experiment mit Dunkler Magie?“
„Was?“ Harry schnaufte. „Natürlich nicht!“
Es läutete zum Unterricht und der Schüler ließ ihn zum Glück in Ruhe. Harry stellte das Glas neben seinen Stuhl auf den Boden, damit es zwar in seiner Nähe war, aber nicht für jeden sichtbar.
Das Gleiche tat er auch beim Mittagessen, doch als Remus neben ihm Platz nehmen wollte, stieß der versehentlich gegen das Glas und etwas Wasser schwappte über.
„Oh, entschuldige bitte.“
„Kein Problem.“ Mit beiden Händen schob er das Glas direkt unter seinen Sitz. „So, jetzt sollte es nicht mehr in Weg sein.“
Remus setzte sich, blickte Harry dabei fragend an. „Was machst du damit? Ist es das, was die Schüler sich erzählen? Das unheimliche ‘Experiment‘?“
„Wow, das ging aber schnell mit dem Informationsfluss. Aber ja“, Harry nickte, „das ist mein Experiment.“
„Aha“, machte Remus etwas verwirrt. „Und was genau …?“
Harry unterbrach. „Da darf ich nicht drüber reden.“ Er zwinkerte Remus verspielt zu, der die Antwort einfach zur Kenntnis nahm und sich von dem Rostbraten auftat.
So wie an diesem Tag verliefen auch die darauf folgenden. Die Schüler hatten sich bereits an Professor Potters komisches Experiment gewöhnt, die Kollegen – bis auf Severus – jedoch nicht. Als Harry eines morgens mit dem Glas unterm Arm ins Lehrerzimmer kam, es wie gewohnt unter seinen Stuhl abstellte und seine Unterlagen über die Noten der Schüler aus seiner Tasche zog, sprach Neville ihn an.
„Harry? Um was für ein Experiment geht es eigentlich?“
„Ähm“, Harry war verlegen, denn Neville und er waren nicht die einzigen im Raum. Da war noch Minerva, die ihn neugierig anblickte und ebenfalls auf eine Antwort zu hoffen schien, ebenso wie Filius, Albus, Aurora, Septina und auch Remus. „Das ist eine …“ Er begann von Neuem: „Ich meine, ich mache das für eine Freundin. Sie, ähm …“
Severus, der ihm genau gegenübersaß, konnte sich aufgrund seiner Erklärungsnot ein amüsiertes Schmunzeln nicht verkneifen, äußerte sich jedoch nicht zum Thema, obwohl Harry hoffte, dass ihm irgendjemand aus der Patsche helfen würde.
„Wenn ich Sie nicht so gut kennen würde“, begann Filius frech grinsend, „dann würde ich meinen, es wäre ein Ausdruck geistiger Umnachtung, wenn jemand ständig eine Blume mit sich führt.“
„Da möchte ich zustimmen“, kam es von Minerva. „Die Schüler haben mir berichtet, Sie würden sogar mit der Pflanze sprechen.“
Harry fühlte, dass er rot wurde, denn seine Wangen glühten. „Ich habe den Schülern gesagt, dass es sich um ein Experiment handelt. Es wird auch bestimmt nicht mehr lange dauern. Es tut mir ja furchtbar leid, wenn ich einen kauzigen Eindruck mache, aber ich versichere Ihnen allen, dass meine geistige Gesundheit nicht angegriffen ist.“
Severus konnte es sich nicht verkneifen zu sagen: „Jedenfalls nicht mehr als sonst auch.“
Harry bewarf Severus mit einem der in goldenes Papier eingewickelten Bonbons, die auf dem Tisch lagen. „Das ist ja wohl die Höhe, dass gerade du mir in den Rücken fällst!“, regte er sich künstlich auf. „Na warte, das zahle ich dir irgendwann heim.“ Harry versuchte, so fies wie nur möglich zu grinsen, aber darin war Severus viel besser als er.
Albus hatte die Skepsis der Lehrer und die Unterredung aufmerksam verfolgt, so dass er nun sein Urteil fällen konnte, indem er mit einem Lächeln beteuerte: „Also, auf mich wirkt alles vollkommen normal. Ganz so wie immer.“ Professor Binns stimmte dem Direktor zu, allerdings hatte er auch gar nicht mitbekommen, um was es überhaupt ging.
Nach Unterrichtsschluss kehrte Harry in seine Räume ein. Ginny fütterte gerade Nicholas und Wobbel machte nebenbei mit dem Schnippen seiner Finger in Windeseile sauber. Das runde Glasgefäß stellte er auf dem Tisch ab, bevor er sich mit einem lauten Seufzer auf die Couch warf.
„Weißt du, wie man mich nennt?“
Mit dem Löffel Kindernahrung blieb sie auf halbem Weg zum kleinen Mund stehen, den Nicholas erwartungsvoll aufgerissen hatte. „Der Pflanzenflüsterer?“
„Herrje, das ist schon bis zu dir durchgedrungen?“
„Nicht ganz, ich war nämlich diejenige, die dir den Spitznamen verpasst hat.“
„Vielen Dank auch, Ginny. Langsam halten mich wirklich alle für wunderlich.“ Er nahm die Brille von der Nase, um sie mit einem Taschentuch zu putzen, beobachtete dabei Ginny, die den Jungen fütterte. „Hat sich Hermine gemeldet? Langsam müsste die Zeit doch reichen, die ich mit dem Pfeilkraut verbracht habe.“
Ginny schüttelte den Kopf. „Immer, wenn ich sie in der Apotheke angefloht habe, war nur Snape da. Er sagte, sie wäre bei ihren Eltern.“
„Na klasse, Hermine macht sich einen schönen Tag bei ihren Eltern im Garten und mich hält man für einen verrückten Professor.“
„Ach Harry, mach dir keine Sorgen. Laut meiner letzten Umfrage unter den Mitschülern liegt Trelawney noch immer an erster Stelle, was die kauzigen Lehrer von Hogwarts betrifft. Du näherst dich ihr allerdings mit großen Schritten.“ Weil Harry ihr einen warnenden Blick zuwarf, musste Ginny lachen. „Jeder andere hätte längst aufgegeben, weil es ihm peinlich wäre.“
Wortlos verneinte Harry. „Was kümmert es mich, was die anderen von mir denken?“
„Oho“, machte Ginny, „das sah früher aber mal anders aus. Ich sage nur ‘Tagesprophet‘.“
„Das ist doch was völlig anderes.“
„Lass gut sein, Harry. Ich mag spleenige Professoren.“ Sie zwinkerte ihm frech zu. „Ich weiß auch, wie man sie noch mehr zerstreuen kann.“ Jetzt ließ sie noch die Augenbrauen auf und ab tanzen.
„Ach ja? Wie?“, fragte Harry unschuldig nach.
Ein verführerisches Lächeln zauberte sich auf ihr Gesicht. „Das zeig ich dir, wenn wir uns schlafengelegt haben.“
Demonstrativ gähnte Harry. „Habe ich schon erwähnt, wie müde ich bin? Ich glaube, ich gehe sofort ins Bett.“
Während Ginny wie versprochen bei Harry für Zerstreuung sorgte, stellte sich Severus die Frage nach dem zu Bett gehen noch lange nicht. Er musste in der Apotheke seinen Mann stehen, während Hermine ihn mit der Arbeit allein ließ und bei ihren Eltern eine Liste der Pflanzenarten am Computer erstellte. Nach über einer Woche war es um ihn so bestellt, wie es ihr in den ersten Wochen ergangen war. Er war überarbeitet. Allein waren die Aufgaben kaum noch zu bewältigen. Noch schaffte er es, Tränke und Cremes fristgemäß herzustellen, doch bald müsste der Zeitpunkt eintreten, wo er nachhinken würde. Er hoffte innig, dass Hermine vor diesem Punkt, an dem es kein Zurück mehr gab, zu ihm stoßen würde, denn sonst würden die Kunden wegen zu langer Wartezeit wegbleiben. Natürlich fragte sie ihn jeden Tag, ob er zurechtkommen würde und stets hatte er bejaht. Dass er genau wie sie die Nächte durchmachte, davon wusste sie nichts. Auch nicht davon, dass er seit Tagen weniger als zwei Stunden Schlaf pro Nacht bekam. Er putschte sich mit literweise Kaffee und einigen Wachmacher-Tränken auf. Lange würde das nicht mehr gutgehen. Seine Lider wurden immer träger, aber er riss sich zusammen. Hermine benötigte Zeit, um der Lösung näher zu kommen und wenn er ihr schon nicht bei den Berechnungen helfen konnte, dann müsste er wenigstens dafür sorgen, dass sie den Rücken frei haben würde.
Der letzte Trank für heute blubberte in einem Kessel. Danach hätte Severus knapp noch zweieinhalb Stunden Zeit, um ein wenig Schlaf zu finden, bis der Unterricht in Hogwarts beginnen würde. Er war so froh, dass er die Schule demnächst hinter sich lassen würde. Im Moment empfand er die Beschäftigung als Lehrer nur noch als Belastung.
Ihre Eltern wohnten gar nicht so weit weg von der Winkelgasse. Severus musste an Hermine denken, als er das Euphorie-Elixier für einen Kunden fertigbraute. Ein Trank, den sie beileibe nicht nötig hatte.
Ein paar Kilometer entfernt saß Hermine beim dämmrigen Licht einer Nachttischlampe am Schreibtisch ihres Vaters und hielt kurz inne, als sie das wohlige Gefühl überkam, eine ihr bekannte Person wäre im Raum, aber da war niemand. So fuhr sie mit ihrer Arbeit fort und erstellte eine Tabelle aller Pflanzen der Ordnung „Ranunculales“. Die Arten erst einmal zu finden war die zeitintensivste Tätigkeit. Sie sammelte schon seit Tagen ihre Informationen aus Büchern und aus dem Internet und nur mit dieser Kombination fand sie alle der über 1.500 Arten. Endlich notierte sie die letzte Pflanze. In den nächsten Tagen müsste sie mit dem Streichen der Pflanzen beginnen, müsste aussortieren, welche auf keinen Fall auf den Zahlenwert zutrafen, den Hermine als Zutat für den Heiltrank errechnet hatte. Diese Arbeit konnte sie mit Büchern über Trankzutaten überwinden, denn im Internet würde sie darüber rein gar nichts finden. Die Liste war fertig. Hermine hatte sich gleich zu Beginn dazu entschlossen, nur die lateinischen Namen der Pflanzen zu notieren, denn es gab für manche Blumen oder Sträucher zwei, manchmal noch mehr Namen in ihrer Sprache.
Ihre Tabelle formatierte sie noch, damit sie einen Ausdruck machen konnte. Der Tintenkopf huschte nicht gerade lautlos über das Papier. Es verwunderte sie nicht, dass sie damit ihre Eltern weckte, die im Nebenzimmer schliefen.
Es klopfte und ihr mit einem Bademantel bekleideter Vater trat ein. In der Hand hielt er eine Tasche aus Stoff.
„Es tut mir leid, Dad. Ich wusste nicht, dass der Drucker so laut ist und auch nicht, dass es schon“, sie blickte auf die Uhr und sog erschrocken Luft ein, „halb fünf morgens ist.“
„Der Wecker klingelt sowieso in einer Stunde, also was soll’s?“ Gelassen zuckte er mit den Schultern, bevor er den Chefsessel vom Arbeitsplatz seiner Frau zu Hermine hinüberrollte, damit er neben ihr Platz nehmen konnte. „Ich will dich wirklich nicht loswerden, Schatz, aber du weißt, was ein Monatsabschluss ist, oder?“
„Natürlich.“
Er nickte ruhig. „Du weißt auch, dass jetzt die Zeit ist, wo man in der Regel einen Monatsabschluss in Angriff nehmen muss?“
„Lass mich das nur noch ausdrucken, Dad. Ich verspreche …“
Sie stoppte sich, als ihr Vater seine Hand auf die ihre legte. „Ich kenne dich lang genug, um sagen zu können, dass du etwas wirklich Wichtiges hier machst.“ Er deutet auf die vielen Bücher und die Tabelle, die auf dem Monitor zu sehen war – das Fenster mit dem Druckstatus zeigte 22 von 75 Seiten an. „Du musst Papier nachlegen.“
„Wie bitte?“
„Papier! Soviel ist nicht im Drucker.“
Hermines Vater stellte die Tasche auf dem Boden ab und kümmerte sich um das Nachlegen des Papiers. Im Nu war das Fach voll und der Druckvorgang wurde nicht einmal unterbrochen.
„Was ich sagen wollte, Hermine“, er reichte ihr die Tasche, „das ist für dich.“
Völlig perplex nahm sie die schmale Tasche entgegen. Sie wog in etwa eineinhalb Kilo.
„Was ist das?“
„Mach auf, dann siehst du es.“
Mit allem Möglichen hatte sie gerechnet, aber nicht mit einem Laptop.
„Ich …“ Sie war sprachlos, was ihr Vater gut verstand.
„Ich weiß, was dir durch den Kopf geht. Es wird bei dir nicht funktionieren. Zu viel Magie. Wir haben ja gesehen“, er seufzte, „was das letzte Mal passiert ist, als du in der Nähe meines Rechners gezaubert hast. Du kannst den Laptop überall mit hinnehmen, im Sommer in einem Park sitzen und arbeiten oder irgendwo in den Highlands.“ Sie setzte gerade an, etwas zu sagen, da schien er ihre Gedanken gelesen zu haben. „Die Frage mit dem Strom, ich weiß. Da sind drei Akkus bei. Wir können das so machen, dass wir in der Küche immer zwei am Ladegerät haben. Wenn deiner leer ist, apparierst du kurz her und tauschst ihn aus. Wenn dir das alles nicht zu umständlich ist, dann gehört er dir.“
Hermine standen Tränen in den Augen. „Danke Dad!“ Sie umarmte ihn und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
„Nichts zu danken. Nachdem Severus das Geld überwiesen hat, dachte ich, könnte ich dir damit ein Geschenk machen, das du auch wirklich brauchst. Ich weiß“, er tätschelte ihren Rücken, „dass es schwer werden wird, die Technik mit der Magie zu vereinbaren, aber du bekommst das schon hin. Und jetzt“, er drückte sie von sich weg, „mach ihn an.“
„Jetzt?“
„Natürlich! Du willst doch sicherlich deine Daten mitnehmen.“
Mit einem Datenkabel konnte Hermine mit Leichtigkeit ihre Dateien vom Rechner ihres Vaters auf ihr neues Laptop kopieren. Als sie damit fertig waren, wurde gerade die 67. Seite ihrer Tabelle gedruckt.
„Weißt du, was schade ist?“ Ihr Vater legte seinen Arm um ihre Schulter. „Dass du jeden Abend hier warst, wir dich aber nur für wenige Minuten zu Gesicht bekommen haben. Das holen wir nach, Liebes. Wie wäre es mit einem gemeinsamen Urlaub? Wir laden dich ein.“
„Das ist lieb, aber ich kann im Moment nicht an Urlaub denken. Ich habe zu viel zu tun. Ich würde gern, aber im Augenblick ist es unmöglich.“
„Das Angebot steht für unbegrenzte Zeit, Minchen. Wenn du eine Pause nötig hast, dann sag einfach Bescheid.“
Mit dem Geschenk ihres Vaters apparierte Hermine zurück in ihre Wohnung, ohne daran gedacht zu haben, dass vielleicht schon die Magie der Apparation den Laptop beschädigen könnte. Sie würde es merken, wenn sie ihn das nächste Mal anschaltete. Jetzt lag all ihr Interesse darin, etwas Schlaf zu finden, als sie unten im Labor plötzlich etwas hörte.
Neugierig ging sie die Stufen hinunter und lugte in den Raum hinein, in dem Severus dabei war, die Liste mit Bestellungen durchzugehen, die er heute nicht mehr geschafft hatte.
„Severus, du bist noch hier?“ Er sah vollkommen übermüdet aus, rang sich dennoch ein schiefes Lächeln ab.
„Du verfügst über eine überaus subtile Auffassungsgabe.“
„Warst du zwischenzeitlich in Hogwarts oder hast du dir die ganze Nacht um die Ohren geschlagen?“ Er antwortete nicht. „Severus? Wächst dir das über den Kopf?“
„Ich bin in meinem Leben schon mit viel schwierigeren Aufgaben konfrontiert gewesen!“, rechtfertigte er sich.
„Das ist keine Antwort auf meine Frage!“
Für einen Moment schloss er die mit den geplatzten Äderchen überzogenen Augen. Alles an ihm wies auf Übermüdung hin: die Körpersprache, die Ringe unter den Augen, seine unpräzisen Bewegungen. Unerwartet richtete er das Wort an sie.
„Wirst du noch mehr Zeit bei deinen Eltern verbringen?“
„Nein, ich bin dort fertig.“
Sie hörte ihn erleichtert durchatmen. „Das ist schön zu hören. Ich werde mich dann verabschieden.“ Als er einige Schritte machte, torkelte er schlaftrunken.
„Du kannst auch hier übernachten“, bot sie an.
„Danke für das Angebot, aber ich ziehe ein Bett vor. Wenn die Zeit zum Schlafen schon so begrenzt ist, sollte es nicht noch an Komfort mangeln.“
„Mein Bett ist groß.“
„Das, ähm, das wäre …“
Sie wusste, was er sagen wollte. Es wäre unmoralisch, keine gute Idee oder einfach nur überstürzt, doch sie steuerte dagegen. „Wir haben schon einmal in einem Bett zusammen übernachtet und da haben wir uns nicht einmal geduzt. Da ist doch gar nichts dabei.“
Er erinnerte sich an Aberdeen und befand die jetzige Situation für genauso harmlos wie die damalige, so dass er zustimmte. In seinem ruhebedürftigen Zustand wollte er es keinesfalls auf eine Diskussion mit ihr ankommen lassen, denn die würde er verlieren. Er wollt einfach nur schlafen.
Die letzten Male hatte er vergessen, den schuleigenen Hauselfen den Auftrag zu geben, sich um seinen Kamin zu kümmern, denn erst im Hochsommer wärmten sich die Kerker so sehr auf, dass man kein Feuer mehr machen musste. Ihr Schlafzimmer hingegen war den ganzen Tag über auf natürliche Weise von der Sonne aufgeheizt worden. Hier war es auch ohne brennenden Kamin angenehm warm. Hermine hatte sich sehr schnell zu Bett begeben und schlief bereits, als er aus dem Badezimmer kam. Auch Severus benötigte nicht viel Zeit, um sich ins Traumland zu begeben. Er war todmüde.
Gerade erst war er eingeschlafen, wurde er auch schon wieder geweckt. Die einfallenden Sonnenstrahlen zeugten allerdings davon, dass er tatsächlich fest geschlafen haben musste und nur dem Gefühl erlegen war, erst vor fünf Minuten die Augen geschlossen zu haben.
„Severus, du musst aufstehen“, hörte er ihre warme Stimme. „Eine halbe Stunde nur noch, bis der Unterricht beginnt und bevor ich die Apotheke öffnen muss. Steh doch auf.“ Ein mürrisches Grummeln war die Antwort. „Ich wusste gar nicht“, schäkerte sie gut gelaunt, „dass du ein Morgenmuffel bist.“ Er murmelte daraufhin irgendwas ins Kopfkissen. „Was war das?“
Den Kopf hob er ein wenig an, damit er seinen Satz verständlich wiederholen konnte. „Bin ich nicht!“
„Ich hab Frühstück gemacht, falls du noch was essen möchtest, bevor du den lieben Kinderchen erklären musst, was man beim Tränkebrauen auf keinen Fall tun darf.“
Zu Scherzen war ihm gar nicht zumute. Verschlafen stöhnte er: „Ich spiele das erste Mal in meinem Leben ernsthaft mit dem Gedanken, mich aus vorgetäuschten Gründen krank zu melden.“
„Ja klar“, er fühlte einen leichten Schlag auf seinem Oberarm, „und wenn du das von meinem Kamin aus machst, wird Albus gleich den richtigen Eindruck von dir bekommen. Jetzt komm schon, steh auf.“
„Ist Kaffee fertig?“
„Natürlich!“
Mit dem Zauberwort „Kaffee“ hatte Hermine ihn aus dem Bett locken können. In der Küche waren beide sehr wortkarg, weil er noch nicht in Stimmung für Unterhaltungen mit komplizierten Inhalten war. Auch Hermine wollte einfach nur ihren Toast essen und Tee trinken. Nur zwei Stunden Schlaf zu bekommen machten selbst sie viel schweigsamer, als man es von ihr gewohnt war.
„Severus? Sagst du Harry bitte Bescheid, dass ich ihn heute Abend besuche? Ich möchte das Pfeilkraut abholen.“
„Werde ich tun. Ich vermute, er wird erleichtert sein.“
Hermine stutzte. „Warum das denn?“
„Weil die ganze Schule über ihn tuschelt.“ Seine Tasse Kaffe stellte Severus gemächlich auf dem Tisch ab. „War es wirklich notwendig, ihn auch tagsüber damit herumlaufen zu lassen? Ich möchte nicht, dass das auf mich zurückfällt.“
„Hat irgendwer die Vermutung angestellt, es könnte mit dir zu tun haben?“, wollte sie wissen.
„Das nicht, aber …“
„Warum regst du dich dann auf?“
„Wenn ich mich aufrege, sieht das anders aus. Ich hatte nur befürchtet, dass jeder wissen könnte, was es mit der Pflanze auf sich hat; was wir mit ihr vorhaben.“
Beruhigend schüttelte Hermine den Kopf. „Keine Sorge, von mir weiß niemand was und Harry sagt auch nichts weiter.“
„Dann bin ich erleichtert.“
Genauso erleichtert war Harry, als ihm Severus zur Mittagszeit die Nachricht überbrachte, Hermine würde das Pfeilkraut heute Abend abholen wollen.
„Auf einer Seite“, begann Harry, „ist er mir ans Herz gewachsen?“
„‘Er‘? Es heißt ‘das‘ Pfeilkraut.“
„Es heißt aber auch“, konterte Harry, „‘die‘ Pflanze, also ist sie weiblich. Ist mir eine echte Freundin geworden.“
„Du nimmst mich auf den Arm!“
„Nein, keinesfalls. Weißt du“, Harry schaute einmal liebevoll unter seinen Stuhl, „ich habe mit ihr gesprochen und nie kam eine Widerrede, geschweige denn, irgendein sarkastischer Kommentar.“ Harry grinste in sich hinein.
„Ah, verstehe. Weiß Miss Weasley von deinen tiefen Gefühlen zu der Pflanze?“
„Ha!“, machte Harry völlig unerwartet. „Also doch ‘der‘ Pflanze.“
Mit toternster Miene schaute Severus seinen jungen Kollegen an, bevor sein Blick auf den hinteren Teil von Harrys Hals fiel. Mit einer Hand hielt Severus ihn plötzlich leicht am Oberarm fest.
„Halt einen Moment still, Harry.“
Mit der anderen Hand wischte Severus etwas mit zaghaft streichenden Bewegungen von seinem Rücken. „Was? Was ist da?“ Beinahe verrenkte sich Harry den Kopf, als er nach hinten schauen wollte.
„Du hast den Schalk im Nacken“, Severus klopfte ihm noch zweimal auf den Rücken, als wollte er ein paar Fusseln entfernen. „So, jetzt ist er weg.“
Es ging nicht anders: Harry musste laut lachen. Die Köpfe der Schüler drehten sich fast zeitgleich, um zum Lehrertisch aufzublicken. Jetzt, dachten sie, hätte Professor Potter vollends seinen Verstand verloren.
Wie versprochen besuchte Hermine ihn am Abend, um das Pfeilkraut abzuholen, aber auch, um ein wenig zu plaudern. Ihren Besuch hielt sie so kurz wie möglich, denn sie war ganz erpicht darauf, die Pflanze zu testen.
„Hermine, du bist ja ganz zappelig“, stellte Harry fest, als er sie unruhig auf der Couch hin und her rutschen sah.
„Tut mir leid, ich würde am liebsten sofort nachhause und einige Tests durchführen.“
„Du musst dich wirklich nicht verpflichtet fühlen, mit uns Zeit zu verbringen. Geh ruhig. Es interessiert mich ja selbst, ob es was gebracht hat. Und ehrlich gesagt hoffe ich sehr, dass es nicht umsonst war. Manchmal kam ich mir schon reichlich dämlich vor.“ Harry lächelte, also konnte es so schlimm nicht gewesen sein, dachte Hermine.
„Dann seid ihr mich nicht böse, wenn ich gleich wieder gehe?“
Von Ginny und Harry bestärkt nahm sie das Glas mit dem Pfeilkraut und flohte in die Apotheke, wo sie schon erwartet wurde.
Verblüfft schaute Severus sie an, als sie ins Labor trat. „Schon zurück?“
„Ich konnte es nicht abwarten.“ Den rundlichen Glasbehälter mit dem Pfeilkraut stellte sie auf dem Labortisch ab, bevor sie sich den Umhang auszog, den Severus ihr freundlicherweise abnahm, um ihn aufzuhängen. „Ich möchte sofort nachsehen, inwiefern sich die Pflanze verändert hat.“
„Niemand hält dich auf. Kann ich dir behilflich sein?“
„Du brauchst einfach nur hier sein, das reicht.“
Hermine testete, notierte sich etwas, rechnete und testete nochmals. Neben ihr hatte sich Severus an der Liste versucht, die Hermine bei ihrem Vater ausgedruckt hatte. Auf jeder der 75 Seiten im Querformat waren 20 Pflanzennahmen notiert. Gleich dahinter hatte Hermine eine Spalte für Notizen freigelassen. Severus‘ Aufgabe war es, die Liste von Anfang an durchzugehen und die Pflanzen zu streichen, die in der magischen Welt bereits einen festen arithmantischen Zahlenwert besaßen und somit nicht die von ihr gesuchte Pflanze darstellen konnte. Er durchstrich eine Menge der lateinischen Namen, aber noch immer waren am Ende zu viele übrig.
Als er aufblickte, wurde sein Blick auf Hermines Zunge gelenkt, die zwischen ihren Lippen hervorlugte. Vor lauter Konzentration fiel ihr gar nicht auf, was sie für erheiternde Eigenschaften ans Tageslicht brachte. Sie rechnete, nahm dabei unbewusst die Finger zur Hilfe. An ihrem Gesichtsausdruck erkannte er, dass sie bisher mit ihrem Weg sehr zufrieden sein musste.
„Möchtest du etwas essen?“, fragte er zuvorkommend.
„Mmmh?“
„Essen! Nahrungszufuhr – du erinnerst dich sicher noch daran, dass Organismen wie der unsere Energie benötigen.“
Hermine winkte dankend ab. „Gib mir einfach einen Stärkungstrank.“
„Kommt nicht in Frage. Es ist davon abzuraten, solche Tränke häufiger anzuwenden, weil sie …“
Sie vervollständigte seinen Satz: „… sonst nicht mehr wirken. Ich weiß. Was gibt es denn zu essen?“
„Ich werde einfach sehen, was deine Vorratsschränke beinhalten.“
„Mmmh“, murmelte sie abwesend, weil sie wieder in ihren Zahlen versunken war. Sie hörte ihn nicht einmal stöhnen.
Eine Minute später – oder waren es dreißig? – kam Severus zurück ins Labor.
„Komm in die Küche“, sagte er im scharfen Befehlston, weil sie jede Bitte sicherlich überhört hätte.
„Noch einen Moment.“
„Jetzt!“
Gereizt fauchte sie: „Nicht jetzt! Ich bin knapp vor dem Ziel, Severus. Ich bin schon dabei, die Lösungswege zu notieren.“
„Wie kannst du bei der Lösung sein, wenn du nicht einmal weißt, was für eine Pflanze dir fehlt?“
„Ich habe ja ihren Zahlenwert. Damit kann ich bereits rechnen, auch wenn ich noch nicht weiß, wie sie heißt oder wo ich sie finde.“
„So kurz vor dem Ziel solltest du dir eine Verschnaufpause gönnen.“
„Du verstehst wohl nicht, was das“, sie nahm ihre Pergamente in die Hand, „bedeutet?“ Sie schien wütend, als wollte er sie ihres Lebensziels berauben.
„Ich glaube, du unterschätzt meine Auffassungsgabe, Hermine.“ Mit beiden Händen stützte er sich neben ihr auf dem Tisch ab, so dass sein Kopf dicht an ihrem war. „Das, was du in deinen Händen hältst, bedeutet Freiheit für mich und eine Menge Herzblut deinerseits.“
Seine Worte hatten bei ihr blitzartig für Ruhe innere Ruhe gesorgt. Ohne Murren ließ sie sich in die Küche führen. Mit dem ersten Bissen bemerkte sie, wie hungrig sie eigentlich war. Aus dem gemeinsamen Essen und der Unterhaltung mit ihm schöpfte sie tatsächlich wieder Kraft.
Gestärkt und voller Tatendrang rechnete sie danach weiter, bis sie am Ende die Lösung hatte. Eine Lösung, die aus Formeln zusammengesetzt war, die sie nicht verstand. Wieder und wieder überflog sie die fünf Seiten, die nach dem Gleichheitszeichen herausgekommen waren.
„So ein Mist!“, fluchte sie leise, doch er hatte sie gehört.
„Was ist jetzt wieder?“
Sie zeigte ihm die fünf Seiten, auf denen in ihrer Handschrift unzählige Zahlen und mathematischen Symbolen niedergeschrieben waren. „Das hier soll die Lösung sein! Es ist richtig gerechnet, daran zweifle ich gar nicht, aber was ist das?“
Severus überflog ihre Rechnung, stieß dabei auf einige Symbole für Körper und Ring, auch auf Mengenformeln und …
„Ist das eine Vektorrechnung?“, fragte er erstaunt, woraufhin sie nickte „Ich muss leider gestehen, dass ich damit nichts anfangen kann.“
„Prima, wenn soll ich denn jetzt fragen? Harry und Ron scheiden aus, die haben da keine Ahnung von und Neville kennt sich mit Pflanzen aus, aber nicht mit Arithmantik. Und warum zum Teufel bekomme ich eine Teillösung, die aus dem Bereich der Elementargeometrie stammt? Da kann doch was nicht stimmen.“
„Geometrie?“
„Ja, schau hier!“ Sie tippte auf ein Dreieckssymbol, hinter der mehrere Zahlen standen. Severus war vollkommen hilflos. „Sagt dir nichts, oder?“, stellte sie traurig fest.
„Wie ich schon sagte, ich bedauere sehr, dass ich hier keine Hilfe bin.“
„Macht ja nichts. Ist nur ein seltsames Gefühl, die ersehnte Lösung schwarz auf weiß zu haben und trotzdem auf der Stelle zu treten.“
Müde ordnete sie ihre Pergamente in eine Mappe ein. Es war unbefriedigend. Genauso musste sich ein Archäologe fühlen, der endlich den Eingang zu einer alten Ruinenstadt entdeckt hatte, nur um festzustellen, dass er die Tür nicht öffnen konnte, weil er die Symbole des Türmechanismus nicht verstand.
„Ich werde es nachrechnen müssen, bleibt mir ja nichts anderes übrig“, murmelte sie wütend.
„Verstehe ich recht, dass du die Lösung meines Problems bereits in deinen Händen hältst, damit aber nichts anfangen kannst?“
„So könnte man es sagen, Severus“, gab sie schweren Herzens zu. „In der Theorie ist alles fertig. In der Praxis muss ich nur noch diese eine Pflanze finden, mit deren Wert ich bereits gerechnet habe und ich muss verstehen, wie die Lösung gemeint ist.“
„Dann sind wir dicht dran?“, fragte er vorsichtig.
Hermine lächelte ihm aufmunternd zu. Mit Daumen und Zeigefinger zeigte sie einen Zentimeter Abstand und sagt: „So dicht, Severus!“
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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197 Zum Greifen nah
Der Tag war so grau wie der Umhang von Mr. Fogg, auch genauso feucht wie seine Stirn, auf denen Schweißperlen glänzten. Nebelschwaden schlangen sich um seine Waden. Der unruhige Blick und sein hektischer Gang waren die einzigen Anzeichen dafür, dass er etwas im Schilde führte, denn nur deswegen drehte er sich stetig um. Niemand sollte sehen, wohin er ging. Sein Ziel war die Adresse, die Sirius Black ihm genannt hatte; das Haus eines gewissen Mr. Bloom, dem Leiter der Initiative.
Als er durch die Straßen huschte, versteckte er sein Gesicht, vor allem aber die verräterische Narbe an seinem Hals, hinter dem hochgeklappten Kragen des Umhangs. Endlich hatte er die Straße gefunden. Viele Menschen waren wegen des feuchten Wetters in ihren Häusern geblieben. Nur wenige waren durch Haustiere gezwungen, das gemütliche Heim zu verlassen. Fogg hatte seinen Blick auf den gepflasterten Gehweg gerichtet und erschrak, als plötzlich ein Dackel in sein Sichtfeld kam. Der Hund knurrte. Tiere wussten, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Fogg machte einen Bogen um den Hundebesitzer und seinen Vierbeiner, hörte dabei die Worte „Er beißt nicht.“, aber darauf ankommen lassen wollte er es nicht.
Das Anwesen von Mr. Bloom konnte sich sehen lassen, dachte Fogg, als er vor dem gusseisernen Tor stand und durch die Stäbe einen Blick aufs Grundstück riskierte. Auf dem Schild links von ihm stand der vollständige Name der Initiative, darunter aufgelistet waren einige der Dienste, die sie anbot. „Rechtsberatung für diskriminierte Mitbürger“ stand an erster Stelle. Kaum war er einen Schritt näher getreten, um den Rest zu lesen, da öffnete sich das Tor. Er hätte vermutet, es würde laut quietschen, aber kein Geräusch war zu hören, außer dem Rascheln des nassen Grases, über das das Tor strich.
Ein fester Sandweg führte zu dem restaurierten Gesindehaus, in dem früher Knechte und Mägde gehaust haben mussten. Von einem dazugehörigen Herrenhaus war weit und breit allerdings keine Spur. Möglicherweise wurde es abgerissen, vermutete Fogg, oder aber es stand unter Fidelius. Das Gebäude im rustikalen Stil war bewohnt, denn in vielen Fenstern brannte Licht. Nach etlichen Schritten näherte er sich den Stufen, dann der Tür. Er hob die Hand, um zu klopfen, doch da wurde die Tür weit aufgerissen. Man hatte ihn noch nicht bemerkt, so dass er einen Schritt zur Seite tat, um im Schatten darauf zu warten, dass die Leute gehen würden.
„Vielen, vielen Dank nochmals, Mr. Black.“ Der Mann, der ein müdes Kind auf dem Arm trug, das um die zwei Jahre alt sein musste, schüttelte wie wild eine Hand. Die zur Hand dazugehörige Person konnte Fogg nicht sehen, denn die Tür verdeckte sie. Fogg beobachtete die Frau, die nach dem Mann auf die Veranda hinauskam und sich ebenfalls bedankte. Sie gehörte offenbar zu dem Herrn, denn sie strich ihm liebevoll über den Rücken – auf die gleiche Weise, erinnerte sich Fogg wehmütig, wie seine Clara es damals auch bei ihm gemacht hatte. An der anderen Hand hielt sie ein Kind, das schon gut zu Fuß war.
Ungesehen betrachtete er die kleine Familie, die den Sandweg zurück zum Tor ging. Als sie es passiert hatten und Fogg zur Seite blickte, bemerkte er, dass dort noch immer jemand stand, der wie er den Leuten hinterhergesehen hatte und dabei zufrieden lächelte. Es war Black. Sein Gesicht kannte Fogg aus Zeitungen, nur hatte er ihn noch nie im Profil gesehen. Black schien die Augen auf sich zu spüren, denn er drehte sich um und bemerkte Fogg.
„Entschuldigen Sie bitte, ich habe Sie gar nicht bemerkt.“ Black hielt dem Fremden kontaktfreudig die Hand entgegen und stellte sich vor, bevor er fragte: „Sind Sie Mr. Fogg? Wir haben einen Termin.“
„Ich …“ Fogg schüttelte nur sehr kurz die Hand des Mannes, dessen Haar er stehlen sollte. „Ja, ich bin Mr. Fogg.“
Fogg verlor nicht viele Worte. Er zögerte sogar einen Moment, als er von Sirius ins Haus hineingebeten wurde. Am Ende stand er doch im Flur und blickte sich aufmerksam um, als sein Gastgeber die Tür schloss.
„Darf ich Ihnen den Umhang abnehmen?“ Bei diesen Worten griff sich Fogg an die durch den Kragen bedeckte Kehle. „Nur“, beruhigte Sirius, „damit er ein wenig trocknen kann. Ein furchtbares Wetter, finden Sie nicht?“
„Ja“, erwiderte Fogg sehr unsicher und leise, woraufhin er ein zuversichtliches Lächeln von Sirius erntete. Auch bei dem Anblick der nun nicht mehr verdeckten Narbe am Hals verschwand dieses Lächeln nicht, nachdem Fogg sich bereitwillig den Umhang ausgezogen hatte, der von Sirius an der Garderobe untergebracht wurde. Sirius bedeutete seinem Gast, dass er ihm folgen sollte.
Auf dem Weg durch das warme und gemütliche Haus erklärte Sirius, als würde er wie vorhin schon über das Wetter reden: „Der Familienvater, der eben gegangen ist, wurde vor etlichen Jahren von einem Werwolf gebissen. Er hat danach mit seiner Frau mehrere Kinder bekommen, die alle bei den Großeltern leben mussten, weil es …“
„… verboten ist“, vervollständigte Fogg.
Sirius nickte. „Das wird sich bald ändern, Mr. Fogg. Wir können nämlich belegen, dass der Fluch nicht vererbt wird.“
„Tatsächlich nicht?“
„Nein. Haben Sie auch Kinder?“
Fogg schwieg.
Als sie in einer bäuerlich eingerichteten Küche angekommen waren, bot Sirius dem Gast einen Platz, darüber hinaus sogar noch etwas zu essen an. Fogg war sehr mager. Der Hunger übernahm die Leitung seines Sprachzentrums und bejahte unüberlegt, so dass ihm aufgetischt wurde. Deftiger Gemüseeintopf mit frisch gebackenem Brot. Im Waschbecken wurde gerade auf magische Weise Geschirr gespült, so dass Fogg annehmen musste, diese Freundlichkeit wurde jedem Gast zuteil – auch der Familie vor ihm.
Während Fogg aß und sich die vielen Informationen anhörte, mit denen sein Gastgeber ihn versorgte, betrachtete er dessen schwarzes langes Haar, das bis über die Schulter gewachsen war. Eines dieser Haare reichte aus, um sich für eine Stunde in Sirius Black verwandeln zu können. Dem Hals seines Gastgebers widmete er ebenfalls seine Aufmerksamkeit. Fogg stellte sich vor wie es sein würde, einmal nicht bei jeder Kopfbewegung die leichte Einschränkung zu spüren – das Ziehen am Hals, weil die vernarbte Haut nicht mehr nachließ, wenn er über seine Schulter sehen wollte.
„Und Sie?“
Der Löffel hielt auf halben Weg zum Mund inne, als Fogg bemerkte, dass er nicht zugehört hatte. „Wie bitte?“
„Ich fragte, ob Sie einen Beruf anstreben? Wissen Sie, es gibt ein paar Menschen, denen es egal ist, ob man ein Werwolf ist oder nicht. Ich könnte Ihnen einen Job vermitteln.“
„Wirklich?“ Man wollte Fogg bisher nicht mal als Hausmeister oder Feldarbeiter einstellen.
„Also haben Sie Interesse“, stellte erfreut Sirius fest. „Es kommt natürlich ein bisschen darauf an, was Sie im Leben alles gelernt haben, was Sie können. Waren Sie in Hogwarts?“
„Nein, ich hatte Privatunterricht.“
Verblüfft zog Sirius eine Augenbraue in die Höhe. Privatunterricht war genauso gut wie Hogwarts, nur sehr viel teurer.
„Dann war Ihre Familie reich?“
Fogg nickte und murmelte: „Ist sie noch.“
Während Fogg den Rest der Suppe mit dem Brot vom Teller fischte, war er sich des observierenden Blickes des Schwarzhaarigen bewusst. Gedankenverloren fuhr sich Sirius Black mit dem Daumen über die Lippen, während er Fogg musterte.
„Hat man Sie enteignet, nachdem Sie gebissen wurden?“ Die Frage traf Fogg so schmerzlich wie ein Cruciatus, weil er sie bejahen musste, was er nur mit einem Nicken tat. Bevor Black noch etwas fragen konnte, forderte er ihn dazu auf, diese Belange nicht mehr anzusprechen, doch Black hakte trotzdem nach. „Aber warum, Mr. Fogg? Ich frage Sie nämlich nur, weil es eine Möglichkeit gibt – schon immer gab –, auf rechtlichem Wege Ihr Eigentum zurückzuerlangen.“
Als ihm ein Ausweg aus seiner misslichen Lebenslage auf einem silbernen Tablett präsentiert wurde, begann Fogg schwer zu atmen. Das Eigentum zurückzuerlangen würde für ihn bedeuten, sich in einem – in seinem – prächtigen Herrenhaus niederlassen zu können, in dem Bedienstete jede Arbeit verrichten würden. Er könnte sich den Wolfsbanntrank sogar gegen Aufpreis nachhause liefern lassen oder gar einen eigenen Zaubertränkemeister einstellen. Er könnte wieder Gesellschaften geben, bei denen sich herausstellen würde, welche seiner Freunde trotzdem zu ihm standen. Er würde seine Frau wiedersehen. Und was für ein Spaß wäre es, ihre Eltern vom Grundstück zu verbannen, wie sie es mit ihm getan hatten, weil es angeblich das Beste für Clara sein würde?
„Mr. Fogg?“ Black klang besorgt.
„Es wäre möglich, mein Eigentum zurückzubekommen? Alles?“
„Ja, aber wenn Sie von diesem Gesetz Gebrauch machen möchten, Mr. Fogg, wird man von Ihnen erwarten, dass Sie auch Ihren gesetzlichen Pflichten nachkommen. Sie sind nicht als Werwolf registriert, oder?“ Fogg schüttelte den Kopf. „Ich werde Sie nicht dazu zwingen“, beteuerte Sirius, „auch wenn ich dazu verpflichtet bin, es zu melden. Mit einer Registrierung wird aber einiges für Sie anders werden, im positiven Sinne. Das Ministerium bezahlt für die monatlichen Tränke. Außerdem wird mit den neuen Gesetzen, die in naher Zukunft gelten werden, auch die arbeitsrechtliche Situation für Werwölfe geregelt.“
Wieder zeigte Sirius seine fachliche Kompetenz, in dem er Möglichkeiten aufzählte, die für Fogg ein besseres Leben versprechen würden, alles aber unter der Voraussetzung, dass sich der Werwolf registrieren würde. Nach einer ganzen Weile bat Sirius seinen Gast ins Wohnzimmer, indem Sid gerade noch ein paar letzte Worte an einen Kobold richtete. Dieser kleine Gast war der Grund, warum Sirius den Werwolf erst in die Küche geführt hatte.
„Ah, Duvall“, grüßte Sirius den dunkelhaarigen Herrn mit den stechend blauen Augen.
„Wir sind gleich fertig, Mr. Black.“ Duvall betrachtete den Herrn an Sirius‘ Seite, so dass Sirius es übernahm, die Männer miteinander bekannt zu machen.
Der Kobold, stellte sich heraus, war ein Mitglied des Bankvorstands von Gringotts. Duvall hatte ihn darüber informiert, dass die Bank nach der Gesetzesänderung mit viel Zulauf rechnen konnte, denn frei arbeitende Hauselfen wollten ihr Gehalt sicherlich auch gut untergebracht wissen. Der Kobold hatte zugestimmt, den Hauselfen mit geringeren Verliesführungsgebühren entgegenzukommen. Sehr bald verabschiedete sich der Kobold, dessen Name Fogg auch nach dem dritten Mal nicht auszusprechen wagte, so dass er mit Duvall und Black allein war.
Sid bot Fogg einen Platz auf der gemütlichen Couch neben sich an. Es war Sirius, der das Thema ansprach, das sie schon in der Küche angeschnitten hatten. Im Anschluss wandte sich Sid an den Gast.
„Dann möchten Sie also gern Ihr Eigentum zurück, Mr. Fogg? Das ist verständlich. Ich werde Ihnen gern helfen, den Antrag vorzubereiten. Aber erst nach Inkrafttreten der neuen Gesetze sollten Sie den Antrag einreichen. Auf diese Weise können wir verhindern, dass Ihre Verwandten das Vermögen an sichere Orte bringen und behaupten, es wäre nichts mehr zu holen. Erst nach den neuen Gesetzen wird nämlich nach Einreichung eines solchen Antrags sämtliches Kapital für beide Parteien eingefroren, bis die Sachlage geklärt ist. Deswegen ist es auch wichtig, dass Sie niemanden über Ihr Vorhaben informieren.“
Sirius warf ein: „Mr. Fogg ist noch nicht registriert.“
„Oh“, machte Sid, „dann sollten Sie das wirklich tun. Ansonsten würde man Ihnen diese Ordnungswidrigkeit negativ auslegen, den Antrag vielleicht sogar ablehnen. Es soll doch alles seinen rechten Weg gehen, nicht wahr?“
„Was muss ich dafür tun?“
„Um sich zu registrieren?“, fragte Duvall nach. Als Fogg nickte, zog er ein Formular aus einer Mappe. „Wir können es gleich tun, wenn Sie möchten. Dann wird der nächste Betrag für den Wolfsbanntrank schon vom Ministerium übernommen.“
Die Chance, die man ihm hier bot, machte Fogg sprachlos. Er überflog das Formular und nahm die ihm gereichte Feder entgegen, mit der er die Felder ausfüllte. Sein Auftrag, ein Haar von Sirius Black zu stehlen, schien nicht mehr die größte Priorität zu haben, aber dennoch hatte er dieses Vorhaben nicht vollständig abgeschrieben. Stringer würde ihm die Ohren langziehen, sollte er ohne Haar zurückkehren. Nachdem der Antrag ausgefüllt war, wurde ihm sofort ein Tränkepass überreicht, den er immer mit sich führen sollte.
Im Laufe des Abends informierten ihn die beiden Herren von der Initiative abwechselnd über seine vielen Möglichkeiten, über Jobangebote, über finanzielle Hilfen und …
„Haben Sie einen Wohnsitz, Mr. Fogg?“, fragte Sid.
„Mit einem Freund teile ich mir ein Zimmer im ‘Gehängten‘.“
Sirius verzog das Gesicht. „Den Laden gibt’s noch?“
„Was mein Kollege damit sagen möchte, ist“, Sid blickte Sirius maßregelnd an, „dass es preiswerte Unterkünfte für Menschen wie Sie gibt, die jedoch in weniger zwielichtigen Gegenden liegen und auch wesentlich besseren Service bieten.“ Sids Augen ruhten einen Augenblick auf der Garderobe des Gastes. „Und Sie könnten auch von Kleiderspenden profitieren, wenn Sie nicht über genügend finanzielle Mittel verfügen.“ Unangenehm berührt durch die Anspielung auf seine schäbige Kleidung rutschte Fogg auf seinem Platz hin und her. „Mr. Black wird Ihnen eine Liste mit Adressen geben.“
Da er noch andere Dinge zu erledigen hatte, verabschiedete sich Sid freundlich von den beiden. Sirius nahm Sids Platz direkt neben Fogg ein, um ihm Formulare und Listen mit Anlaufstellen zu überreichen. Zu jedem Pergament lieferte er Erklärungen und beantwortete offene Fragen.
„Zum Abschluss einen Sherry?“ Sirius wartete nicht einmal auf eine Zustimmung, sondern ging bereits hinüber zum Alkoholschränkchen. Während er die Gläser bereitstellte und die richtige Flasche zwischen den vielen suchte, erzählte und erzählte er. In dieser Zeit kämpfte Fogg mit sich. Er brauchte dem Gastgeber zum Abschied nur einmal freundschaftlich auf die Schulter klopfen, um an ein Haar zu gelangen. Und dann? Nicht Stringer, sondern er müsste sich in Black verwandeln, denn der Fluch seines Freundes war übergreifend – er würde auch als Sirius Black nach altem Schweiß riechen. So müsste er selbst die Gestalt eines Mannes annehmen, durch dessen Hilfe er wieder sein Grundstück, sein Haus und den Inhalt seines Verlieses erhalten könnte. Fogg seufzte und blickte zur Seite. Auf dem hellen Stoff der Rückenlehne bemerkte er ein schwarzes Haar; es war zum Greifen nahe. Instinktiv nahm er es an sich und stopfte es hinter den Tränkepass in seine Brusttasche, gerade noch rechtzeitig, bevor Black sich ihm näherte, um ihm ein Glas Sherry zu reichen.
„Auf Ihr Wohl, Mr. Fogg.“
„Nein, auf Ihr Wohl und vielen Dank für alles.“
Den Heimweg über schüttete es kräftig. Trotzdem ging Fogg einige Straßen zu Fuß, weil seine Gedanken sich überschlugen. Er könnte das Haar hier irgendwo fallen lassen, damit das Wasser am Bordstein es in den nächsten Einlaufschacht in die Kanalisation spülen würde, dann wäre die Sache vergessen, wenn es nicht noch Stringer geben würde, der auf das Geld von Hopkins hoffte. Seinen Freund konnte er nicht enttäuschen. Wenn er ihm nur sagen könnte, dass er in einigen Monaten vielleicht wieder über sein gesamtes Hab und Gut verfügen würde. Natürlich müsste sich dann auch sein Freund keine Sorgen mehr machen. So wie Stringer sich nach dem Biss um ihn gekümmert hatte, ihn versorgt und für ihn das erste Mal einen Wolfsbanntrank gestohlen hatte, so würde sich Fogg gern darum kümmern, dass der Fluch gebrochen wurde, der auf Stringer lastete. Immer wieder fuhr sich Fogg durchs nasse Haar. Er wusste nicht, was er tun sollte.
Dieses ohnmächtige Gefühl war auch Hermine nicht fremd. Sie wusste nicht weiter. Nach unzähligen Nachrechnungen war sie sich sicher, dass das Ergebnis stimmte, aber sie wurde nicht schlau daraus. Kein Buch über Arithmantik konnte weiterhelfen. So saß sie verzweifelt über ihrer fünf Seiten langen Lösung und stieß Schimpfwörter aus, die jedem anständigen Menschen die Schamesröte ins Gesicht treiben würden. Zum Glück war Severus heute nicht hier. Er benötigte nach seiner Verausgabung eine kleine Auszeit, die sie ihm natürlich nicht verwehren wollte.
„Wen kann ich nur fragen?“
Maunzend antwortete ihr Fellini, da er glaubte, sie hätte mit ihm gesprochen. Den Kater zu kraulen beruhigte sie wieder. Sein Schnurren war Balsam für ihre aufgewühlten Nerven.
Arithmantik. Hermine konnte sich nicht mal mehr daran erinnern, ob einer ihrer engen Freunde dieses Wahlfach belegt hatte. Unweigerlich musste sie an die Einzige denken, die ihr weiterhelfen könnte: Septina Vektor. Ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, ob sie damit Severus‘ Privatsphäre verletzten würde, legte Hermine ihre Berechnungen und die Lösung in eine Mappe und machte sich per Apparation auf nach Hogwarts.
Die Tore ließen sie passieren. Den Weg zum Schloss wollte sie trotz des Regens nutzen, um sich Worte zurechtzulegen, wie sie ihr Anliegen erklären könnte. Professor Vektor war nicht dumm. Aus den Werten könnte sie mit Hilfe von Tabellen mit Leichtigkeit die Dinge herausbekommen, die sich hinter den Zahlen verbargen, die Zutaten, die Feder der Animagusgestalt und wenn sie sich Mühe gab, auch die fehlende Seele, für die die Lösung stand. Sie war uneins mit sich selbst, ob sie ihren Weg fortsetzen oder lieber kehrtmachen sollte. War Severus‘ Wunsch nach Verschwiegenheit wichtiger als ein Heilmittel für ihn? Hermine verneinte innerlich, als sie den Rundbogen durchquerte, der ins Schloss führte. Dass ihre Kleidung bereits triefte, bemerkte sie erst, als Filch ihr im Eingangsbereich einen fiesen Blick zuwarf. Neben ihm stand ein Mob. Der von ihm frisch gewischte Boden war mit ihren matschigen Fußabdrücken übersät.
„Das tut mir furchtbar leid, Mr. Filch.“ Dank ihres Zauberstabs war nicht nur der Boden wieder sauber, sondern auch ihre Kleidung trocken.
Den Weg zum Klassenzimmer von Professor Vektor kannte Hermine bestens. Dort hatte sie einige der schönsten Schulstunden ihres Lebens erfahren. Der Unterricht war immer ruhig und gemütlich gewesen, aber dennoch durchstrukturiert wie der von Severus. In der Nähe des Klassenzimmers befanden sich die privaten Räume der Lehrerin. Als sie an der Tür stand, überkamen sie erneut Zweifel, ob sie Professor Vektor einweihen durfte. Bevor sie vor der einzigen Möglichkeit, die Lösung zu entschlüsseln, Reißaus nahm, klopfte sie.
„Herein!“, hörte man von drinnen. Zaghaft öffnete Hermine die Tür. Professor Vektor saß am Wohnzimmertisch und korrigierte die Hausaufgaben von Schülern. „Hermine?“, kam es zunächst erstaunt, dann viel freundlicher, „Was machen Sie denn hier? Treten Sie doch ein.“
„Guten Abend, Septina“, grüßte sie vertraut, denn während ihrer Lehre bei Severus hatte sie das Kollegium durchweg beim Vornamen nennen dürfen. „Ich hoffe, ich störe Sie nicht.“
„Nicht doch, nicht doch. Setzen Sie sich bitte. Darf ich Ihnen etwas anbieten?“
Dankend schlug Hermine das Angebot aus. „Ich würde nur gern einen Augenblick Ihrer Zeit in Anspruch nehmen. Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll.“
„Aber gern, um was geht es denn?“
Aus ihrer Tasche zog sie die Mappe mit der gesamten Berechnung, nahm aber nur die letzten fünf Seite mit der Lösung, die sie an Septina weitergab. „Ich habe da ein arithmantisches Ergebnis erhalten, aber es sagt mir einfach nichts. Alles nach dem Gleichheitszeichen ist für mich komplizierter als der Rechenweg davor.“
Septina beäugte das erste Pergament sehr aufmerksam. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie das zweite in Augenschein nahm.
„Darf ich den Rechenweg sehen?“ Weil keine Antwort kam, blickte Septina auf. Wie versteinert saß Hermine auf dem Sessel. „Hermine, ich würde gern die Rechnung sehen. Vielleicht sagt mir das Zahlenchaos dann etwas.“
„Heißt das, Sie wissen auch nicht, was es ein kann?“
Septina lächelte zuversichtlich. „Ich habe eine vage Ahnung, die ich bestätigt wissen möchte. Deswegen benötigte ich alle Unterlagen.“
Stockend griff Hermine nach der Mappe, doch sie gab sie nicht her, sondern presste sie stattdessen an ihre Brust, als würde ihr Leben davon abhängen. „Das ist sehr persönlich, Septina. Ich dürfte Ihnen nicht einmal das Ergebnis zeigen, aber die Situation ist so verfahren.“
„Sie beleidigen mich, Hermine. Den Ruf einer Klatschtante hatte ich nie inne. Ich habe nicht einmal die Vermutung laut geäußert, dass die Pflanze, die Harry ständig mit sich herumtrug, von Ihnen stammte.“ Als Hermine aufblickte, zwinkerte Septina ihr zu. „Ich habe Recht, oder? Mit der Pflanze, meine ich.“
„Ja, aber das hier“, sie strich über die lederne Mappe, „ist etwas ganz anderes.“
„Ich werde nicht herumposaunen, dass Sie meine Hilfe benötigen, Hermine. Manchmal, diese Erfahrung habe ich während des Krieges gemacht, muss man einfach vertrauen können.“
Diese Worte hatten Hermine überzeugt, so dass sie die Mappe mit ihren Berechnungen, die so viel Mühe und Zeit gekostet hatten, an Septina übergab. Als die Lehrerin für Arithmantik sie aufschlug, stutzte sie beim Anblick der Menge.
„Ein wenig“, sie blätterte, „umfangreich, Ihre Berechnungen. Aber ich bin so hocherfreut darüber, dass Sie sich nach der Schule noch mit diesem Thema befassen, dass ich Ihnen verspreche, alles komplett durchzurechnen.“
„Was?“
„Natürlich nicht jetzt, das würde ich gar nicht schaffen. Lassen Sie mir Ihre Unterlagen hier und …“
Hermine unterbrach. „Nein, das geht nicht. Ich kann das nicht einfach hier bei Ihnen lassen. Es muss einen anderen Weg geben!“
„Wie soll ich auf die Schnelle eine so komplexe Aufgabe auf ihre Richtigkeit überprüfen?“
Es war keine gute Idee gewesen, Septina um Hilfe zu bitten, denn wieder kamen die Zweifel auf, mit denen Hermine vorhin schon kämpfen musste.
Am Gesicht ihrer ehemaligen Schülerin erkannte Septina den inneren Zwiespalt an den kleinen Fältchen, die sich über ihrer Nasenwurzel gebildet hatten. Das war während der Schulzeit genauso gewesen, wenn Hermine an einer wirklich kniffligen Berechnung gesessen hatte. Aber da war noch etwas anderes an ihrem Gesichtsausdruck auszumachen. Septina glaubte zu sehen, dass Hermines Aussichtslosigkeit so groß schien, dass sie sogar bereit war, etwas zu tun, was ein Versprechen brechen würde.
„Hermine?“ Als ihr Gast aufblickte, erschrak Septina, denn in Hermines Gesicht hatte sich nun der gesamte Konflikt niedergeschlagen, den sie durchmachte. Die Augen wirkten traurig, die Mundwinkel waren nach unten gezogen und die Stirn war in Falten gelegt. Ihre ehemalige Schülerin, die jetzt Mitte zwanzig sein musste, wirkte mindestens zehn Jahre älter. „Hermine, wie kann ich Ihnen nur versichern, dass ich Ihre Berechnungen mit Respekt behandle? Haben Sie Angst, dass ich Ihnen Ihre Arbeit stehle und als meine ausgebe?“
Sie schüttelte den Kopf und schnaufte. „Nein, das ist es ganz sicher nicht. Wenn es funktioniert, dann können Sie die Berechnungen ruhig behalten, verkaufen oder ein Buch drüber schreiben, das ist mir gleich. Die Hauptsache ist nur, dass es funktioniert. Das ist so wichtig für mich und wichtig für …“
Die Befürchtung, ihre Mühen könnten doch umsonst gewesen sein, schnitten Hermine das Wort ab. Sie benötigte Hilfe, um ihre Sache beenden zu können. Gedankenverloren knabberte sie an ihrem Daumennagel. Wie ein gefangenes Tier lief sie unruhig in Septinas Wohnzimmer auf und ab, zerbrach sich dabei den Kopf darüber, welche Entscheidung sie verantworten könnte. Würde Severus erfahren, dass sie Septina eingeweiht hatte, war es nicht auszuschließen, dass er sie für diesen Vertrauensbruch nicht mehr sehen wollte. Das war nur ein kleines Übel im Vergleich zu der Chance, ihm zu einer vollständigen Seele zu verhelfen. Um ihm das zu ermöglichen, würde sie eine persönliche Niederlage in Kauf nehmen. Die Entscheidung, auch wenn sie die nur schweren Herzens fällen konnte, stand fest.
„Behalten Sie die Berechnung hier“, sagte Hermine mit zittriger Stimme. „Ich drücke Ihnen die Daumen.“
„Sollte ich Fragen haben, werde ich Sie kontaktieren, Hermine. Sie besitzen die Apotheke in der Winkelgasse, wie ich hörte?“
Zu mehr als nur einem Nicken war Hermine nicht mehr fähig. Ihr Herz schlug wie wild. Jetzt schon erwartete sie ein Donnerwetter, sollte Severus eines Tages davon erfahren. Sie warf einen letzten Blick auf die Mappe in Septinas Händen, bevor sie das Wohnzimmer verließ und sofort den Heimweg antrat. Sie durfte nicht riskieren, dass Severus sie durch Zufall hier in Hogwarts sehen würde. Ihm würde ihre niedergeschlagene Stimmung sofort auffallen und er würde sie solange nach einem Grund fragen, bis sie seiner Fragerei nicht mehr standhalten könnte.
Es kam, wie es kommen musste. Als sie die Ländereien von Hogwarts überquerte, um zum Tor zu gelangen, sah sie in der Ferne Severus und den Hund. Letzterer kam so schnell auf sie zugeprescht wie der Hogwarts-Express. Severus benötigte für die Strecke etwas länger, aber er schien sich genauso über die unerwartete Begegnung zu freuen wie sein Hund. Durch den Regen waren die unzähligen Locken in Hermines Haaren herausgewaschen und es hing schwer an ihrem Körper hinunter. Severus betrachtete es von oben bis unten.
„Was ist?“, wollte sie wissen.
„Wenn es nicht gewellt ist, geht dein Haar bis zum …“ Ein angedeutetes Lächeln war auf ihrem Gesicht zu sehen. Seit vielen Jahren hatte sie nur noch die Spitzen schneiden lassen. Offenbar war sie nicht die Einzige, die langes Haar mochte. „Warum bist du denn so durchnässt?“, fragte er, um von seinem unvollendeten Satz abzulenken.
„Möglicherweise weil es regnet?“, entgegnete sie scherzhaft.
„Das ist mir nicht entgangen, aber dagegen gibt es doch einen Zauber.“
Mit seinem Zauberstab trocknete er zunächst Hermines Kleidung und ihr Haar, bevor er einen Impervius-Zauber sprach. An den hatte sich gar nicht mehr gedacht, obwohl sie in der dritten Klasse damit Harrys Brille gegen Wasser imprägniert hatte, damit er bei strömendem Regen gegen Hufflepuff Quidditch spielen konnte. Jetzt war sie fast vollständig gegen das schlechte Wetter gefeit.
„Möchtest du uns etwas begleiten?“ Severus schaute zu Harry hinüber und Hermine folgte seinem Blick. Der Hund mochte den Regen. Aufgeregt hüpfte er im Gras umher und jagte Frösche, die vor ihm fliehen wollten.
„Ja gern.“
Sie waren keine drei Schritte nebeneinander gegangen, da fragte er bereit: „Was bedrückt dich?“
Wie sie es befürchtet hatte, fragte er mehrmals, weil sie nicht antwortete. Um ihn zum Schweigen zu bringen, nahm sie einfach seine Hand, als sie dem Hund hinterherschlenderten, der mehrmals wahllos die Richtung wechselte. Manchmal blickte Severus gen Himmel. Hermine wusste, was seine Aufmerksamkeit erlangt hatte, aber er selbst sprach es an, als er mit den Augen der einen Eule folgte, die den Weg zur Eulerei einschlug.
„Ich frage mich, wie es wäre, im Regen zu fliegen.“
„Das wirst du nur herausfinden, wenn du es mal machst.“ Sie zerrte zaghaft an seiner Hand, so dass er sie anblickte. „Kannst es jetzt mal versuchen.“
„Nein, lieber nicht auf dem Schulgelände. Jemand könnte mich sehen.“ Wachsam blickte er sich um, dann hielt er abrupt inne. „Ist das da drüben etwa …“
Hermine schaute in die gleiche Richtung und erkannte die Person. „Das ist Albus.“
Auf der Stelle ließ Severus ihre Hand los, was sie kommentieren musste. „Bin ich dir so peinlich?“
„Natürlich nicht, aber ...“ Es war neu für sie, offenbar auch für ihn, dass er nicht mehr imstande war, Sätze zu beenden, obwohl das eine Angewohnheit war, die er bei anderen Menschen verabscheute. Ohne Scheu ergriff er wieder nach ihrer Hand. „Möchtest du noch auf einen heißen Tee mit reinkommen?“
Wie schon bei Septina lehnte sie auch bei ihm dankend ab. „Ich werde lieber nachhause gehen und mal richtig ausschlafen.“
„Dann sehen wir uns Morgen?“
„Machen wir übermorgen draus. Dann hat jeder noch etwas Ruhe.“
Diese Ruhe war ihm offenbar nicht willkommen. Severus machte sich nicht einmal die Mühe, seine Enttäuschung zu verbergen. Ihr lag jedoch viel daran, den nächsten Tag damit zu verbringen, ihre Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Vielleicht, wenn sie den Mut dazu aufbringen könnte, würde sie ihm erzählen, dass sie die Berechnungen von einer weiteren Person überprüfen ließ. Sie hoffte innig, dass er wenigstens noch soweit mit ihr kooperieren würde, bis sie den Heiltrank gebraut hatte.
„Wie du meinst. Dann wünsche ich dir noch einen guten Abend, Hermine.“
„Dir auch, Severus.“
Während Hermine das schuleigene Grundstück verließ, rief Severus den Hund, um den Heimweg einzuschlagen. Albus wartete noch immer am überdachten Eingang. Je näher Severus dem Direktor kam, desto deutlicher wurde, dass er etwas in den Händen hielt. Es sah wie ein Umschlag aus.
Durch den Regen, der auf die Ziegel schlug, war es im überdachten Gang sehr laut, so dass Albus ihn nicht ansprach, sondern mit einer Handbewegung erst dazu aufforderte, ihm ins Schloss zu folgen. Im leeren Eingangsbereich kamen sie zum Halt.
„Eben ist für dich eine Eule gekommen, Severus. Sie konnte dich nicht finden und flog zu mir. Das arme Ding war völlig durchnässt.“ Severus machte die gedankliche Notiz, dass Eulen nicht wie Enten wasserabweisende Federn besaßen – seine Animagusform sicherlich auch nicht. „Hier.“ Albus überreichte ihm den großen feuchten Umschlag. Die mit Tinte geschriebene Adresse war etwas verlaufen, aber man konnte sie noch lesen. „Ich hoffe“, begann Albus, „ich habe euch nicht gestört.“ Sein Bart konnte das Schmunzeln nicht verbergen.
„Nein, Hermine wollte sowieso gerade gehen.“
Nach diesen Worten marschierte Severus in die Kerker, gefolgt von Harry, der den Eingangsbereich mit vielen großen Abdrücken seiner Pfoten verzierte. Erst vor der Tür war Severus so umsichtig, den Hund per Zauber zu trocknen und zu säubern, denn er wollte keinen Schmutz in seinen Räumen.
Den Umschlag öffnete Severus auf der Stelle. Was zum Vorschein kam, machte ihn sprachlos. Es war ein Bild, aber nicht irgendeines, sondern ein bewegtes Foto von Hermine, die – wie gerade eben – traurig dreinblickte. Sie saß auf den Stufen eines Korbflechters, von dessen handwerklichen Arbeiten sie umgeben war. Unbewusst legte Severus den Kopf schräg, während er das Bild genau musterte. Er zog die Möglichkeit in Betracht, dass ihm sie damit womöglich etwas sagen wollte, doch er fand keinen Hinweis. Nochmals nahm er den Umschlag zur Hand. Trotz der verschwommenen Tinte war ihre Handschrift auszumachen, aber er konnte sich bei bestem Willen nicht erklären, was dieses Bild für eine Bedeutung haben sollte.
Ohne damit zu rechnen, etwas zu finden, drehte er das Foto um. Tatsächlich befanden sich dort zwei Zeilen. Ihre Handschrift war eindeutig, er kannte sie in- und auswendig. In geschwungenen Buchstaben las er die Worte „Ich habe so viele Körbe von dir bekommen, damit könnte ich glatt ein eigenes Geschäft eröffnen.“. Severus blinzelte einige Male, falls seine Augen ihn getäuscht haben sollten, doch als er nochmals las, wieder und wieder, veränderte sich die Aussage des Satzes nicht. Er musste kräftig schlucken.
Die Vermutung lag nahe, dass Hermine deswegen heute hier gewesen war. Es könnte sein, vermutete er, dass sie den Brief abfangen wollte, weil sie es sich anders überlegt hatte. Oder sie wollte seine Reaktion sehen, doch dann hätte sie die Einladung nicht ausgeschlagen. Das kurze Treffen mit ihr ließ er, so gut er es noch in Erinnerung hatte, Revue passieren. Sie schien mit sich im Zwiespalt gewesen zu sein. Die ganzen Zurückweisungen seinerseits – die Körbe – waren allesamt nur einem Thema zugeordnet. Vor seinem inneren Auge sah Hermines unglücklichen Ausdruck und den, das nahm er sich fest vor, würde er das nächste Mal aus ihrem Gesicht zaubern. Oder auch erst, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen war.
Der Regen, der in vielen Teilen des Landes niederschlug, wollte sich nicht verziehen. Verdunkelnde Wolken zogen auf und ließen der Abendsonne keine Chance, sich für heute zu verabschieden.
In der Winkelgasse war scheinbar niemand mehr unterwegs, außer Hermine, die vor ihren Eingang apparierte und sich schnell vor den geöffneten Schleusen des Himmels in Sicherheit brachte.
Ein paar Ecken weiter bog Fogg gerade neben Flourish und Blotts ab und betrat die Nokturngasse, die wegen des regnerischen Wetters bestialisch stank. Feuchter Müll verströmte einen üblen Geruch. Bei Hunden war es nicht anders, dachte Fogg, denn wenn die nass wurden, rochen sie auch wesentlich unangenehmer. Der Fluch, unter dem Stringer litt, war ganz ähnlich, denn je öfter er sich wusch, desto penetranter wurde der Gestank. Mehr als einmal die Woche war zu einem heißen Bad nicht zu raten. Kurz nach dem Bad hatte man für ungefähr eine Stunde Ruhe von den Geruchsbelästigungen, doch danach begann es von Neuem und zudem viel stärker. Der Fluch war unbekannt und entsprang einem vererbten Familienbuch von Stringers Frau. Er war sicherlich zu brechen, aber damit musste sich ein Fachmann auseinander setzen.
Im Gasthaus „Der Gehängte“ angekommen betrat Fogg den leeren Schankraum. Der Wirt hatte nur wenig Licht entzündet, denn offenbar rechnete er nicht mit Gästen und wollte deswegen Kerzen sparen. Von einem Balken in der Mitte des Raumes baumelte der Geist des Gehängten. Fogg war so leise wie möglich. Eine Unterhaltung mit dem Geist wollte er auf jeden Fall vermeiden.
Am Zimmer angelangt öffnete er die Tür. Der vertraute Geruch von Stringer schlug ihm konzentriert entgegen.
„Meine Güte, warum hast du das Fenster zugemacht?“
Stringer blickte von seiner Zeitung auf. „Es regnet! Reicht es nicht, wenn es durch das Dach tropft? Die Fenster sind auch nicht dicht. Sieh mal …“ Stringer deutete auf das Fensterbrett, auf dem sich eine Wasserlache gebildet hatte.
„Hast du den Wirt benachrichtigt? Dagegen muss es doch einen Zauberspruch geben.“
„Er sagte, er hätte keine Bücher über Handwerkszauber.“ Die Zeitung legte Stringer auf den Tisch, um sich seinem Freund zuzuwenden. „Hast du das Haar?“
Fogg bejahte nicht, sondern wechselte unerwartet das Thema. „Vielleicht sollten wir aussteigen?“
„Aussteigen? Und wann glaubst du, wird uns das nächste Mal jemand so viele Pfund für einen Job bieten?“
„Jemanden zu entführen kann man schlecht als ‘Job‘ bezeichnen“, murmelte Fogg.
„Warum willst du aussteigen? Weil du das Haar nicht bekommen hast, richtig? Ich wusste, dass du es vermasseln wirst.“
Wütend griff Stringer nach einer Flasche Whiskey und bemühte sich nicht um ein Glas. Nach zwei kräftigen Schlucken knallte er die Flasche auf den Tisch, bevor er Fogg von oben bis unten betrachtete. Anstatt etwas zu sagen oder ihm Gemeinheiten an den Kopf zu werfen, setzte Stringer die Flasche erneut an seine Lippen. Erst dann fragte er erneut.
„Hast du nun ein Haar bekommen oder nicht?“
„Ja, ich habe eines“, beteuerte Fogg, der gleich darauf in seiner Brusttasche danach suchte. Als er es hinauszog, fiel dabei etwas Helles heraus.
„Was ist das?“ Stringer war schneller, als er sich bückte und den Gegenstand vom Boden auflas. Es war ein gefaltetes Stück Pergament mit dem Siegel des Ministeriums. „Was zum Teufel …?“
„Ich habe mich registriert“, offenbarte Fogg.
Stringer benötigte einen Moment, um diese Tatsache zu verarbeiten, doch dann brach sein ganzer Zorn aus. „Bist du denn von allen guten Geistern verlassen? Du warst doch derjenige, der sich über zehn Jahre gesträubt hat, seinen guten Namen in den Schmutz zu ziehen und jetzt verbringst du ein paar Stunden bei diesem bescheuerten Verein und was machst du? Lässt dich bequatschen und dich offiziell als Werwolf registrieren.“ Wutschäumend schleuderte Stringer ihm den bandneuen Tränkepass entgegen.
Auf die anfeindenden Worte ging Fogg gar nicht ein, denn er hatte im Gegensatz zu Stringer die Aussicht auf ein einigermaßen normales Leben in Reichtum. Reichtum, den er mit seinem Freund zu teilen bereit war. Zwar war Stringer sein bester Freund, aber sollte er ihm von diesen Aussichten erzählen, wäre damit zu rechnen, dass Stringer wieder alles auf die Schnelle erledigt haben wollte. Sein Freund würde wieder alles überstürzen, ihn dazu drängen, schon früher das Vermögen zurückzuholen, deswegen sagte er ihm nichts.
„Wir sollten Hopkins den Rücken kehren. Man hat mir Listen gegeben. Hier, schau …“ Aus der Innentasche seines Umhangs fischte er die Informationsblätter heraus. „Hier stehen Arbeitgeber, die auch Werwölfe einstellen. Und hier steht“, er tippte auf eine bestimmte Stelle, „dass der Wolfsbanntrank vom Ministerium bezahlt wird.“
„Wir haben ihn auch immer so bekommen, warum plötzlich einen auf ehrlich machen?“, schnauzte sein Freund ihn an.
„Ehrlich währt am längsten“, war das Einzige, was Fogg ihm entgegnete.
Stringer schnaufte ungläubig. „Wo ist das Haar?“
Widerwillig gab Fogg es ihm. „Vielleicht ist das gar nicht nötig, um an Geld zu kommen. Wir sollten abwarten.“
„Und Tee trinken? Tee, den wir uns nicht einmal kaufen könnten, hätten wir von Hopkins nicht den Vorschuss bekommen oder die Süße aus der Apotheke beklaut.“ Stringer schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe alles genau geplant. Ich habe erfahren, wann wir zuschlagen können und es passt bestens mit dem Vielsafttrank zusammen, der bald fertig sein müsste.“
„Wie kannst du irgendwas geplant haben?“
„Ich habe erfahren, wann wir Potter abfangen können, der war nämlich heute hier, mit seiner Verlobten!“
Fogg machte ganz große Augen. „Hier? Bei dir?“
„Sei nicht albern! Ich meine hier in der Winkelgasse. Haben sich wohl ihre Hochzeitsgarderobe angesehen. Die beiden kommen noch zweimal her: Einmal für eine weitere Anprobe und wenn es da nichts zu meckern gibt, um sie beim zweiten Besuch abzuholen. Wir haben zwei Chancen“, Stringer warf Fogg einen warnenden Blick zu, „also vermassel nur eine, wenn es überhaupt sein muss.“
„Ich vermassel schon nichts. Du hast doch das Haar oder etwa nicht?“
„Ja, aber du bist derjenige, der sich in Black verwandeln muss!“
Das Haar der besagten Person steckte Stringer in einen Umschlag, den er nicht versteckte, sondern in seiner Brusttasche verschwinden ließ. Fogg hatte das beobachtet.
„Traust du mir etwa nicht?“
Stringer zog ein Gesicht. „Ich traue dem Wirt nicht! Und dem Geist auch nicht. Der Vielsafttrank ist unsere einzige Chance, Potters Vertrauen nicht erst gewinnen zu müssen, damit er uns folgt, denn er vertraut seinem Patenonkel, richtig?“
Gedankenverloren nickte Fogg, als er vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen sagte: „Es ist bald Vollmond. Am dritten Juni.“
„Na, da brauchst du mich ja nicht mehr. Hast ja jetzt deinen echten Pass.“ Für Stringer war die Unterhaltung damit erledigt, so dass er sich wieder seiner Zeitung und auch der Flasche Whisky widmete.
Jetzt hieß es: warten.
Das Warten war auch für Severus nur schwer zu ertragen, aber wie versprochen kam er erst am übernächsten Tag zur Apotheke, um beim Brauen zu helfen, die frisch gelieferten Zutaten einzuräumen und sich um den Vielsafttrank zu kümmern. Hermine war im Verkaufsbereich und hatte alle Hände voll zu tun, denn die ersten Werwölfe wollten sich für die Tränke anmelden. Sie kamen wahrscheinlich so früh, weil sie nicht riskieren wollten, wegen zu vieler Reservierungen abgewiesen zu werden. Ausnahmslos jeder lobte den Geschmack des Trankes. Das war auch der Grund, warum so viele Werwölfe ihn bei ihr einnehmen wollten.
Nach 18 Uhr schloss Hermine erleichtert das Geschäft. Der Tag war anstrengend gewesen, aber das Schlimmste war, dass sie Severus noch etwas beichten musste, nämlich dass Septina sich die Berechnungen anschaute. Sie stählte ihre Nerven und wollte gerade ins Labor gehen, da kam Severus heraus und ging an ihr vorbei. Er hatte seinen Umhang übergeworfen und Harry an der Leine.
„Willst du schon gehen?“
Abrupt hielt er an und drehte sich um. „In zwei Stunden bin ich wieder da. Ich habe drei Besichtigungstermine.“
„Was den für Besichtigungstermine?“
„Zwei Wohnungen und ein Haus. Die Wohnungen sind ganz in der Nähe, das Haus außerhalb von London.“
„Darf ich mitkommen?“ Sie war neugierig, aber es interessierte sie auch sehr, auf was er bei einem Zuhause achtete.
„Von mir aus.“
Die erste Wohnung lag in der Winkelgasse, aber ziemlich am Ende, beziehungsweise an einem Ende. Die Räume lagen direkt über einer Bäckerei. Severus ahnte bereits, dass er morgens ab drei Uhr mit Lärmbelästigungen zu rechnen hätte, wenn der Bäcker mit seiner Arbeit begann. Eine junge Frau führte sie in die Wohnung. Sie war groß und ausladend – die Wohnung im ersten Stock allerdings auch. Die füllige Frau war sehr darauf erpicht, nur die positiven Aspekte zu nennen. Als Severus ein Mauseloch in der Wand ausmachte, sprach er sie darauf an.
„Probleme mit Nagern?“
Die Frau lächelte, was sie noch pausbäckiger aussehen ließ. „Hatten wir, ist aber schon lange beseitigt. Wenn Sie möchten, werden wir das Holz erneuern.“
„Und mir dann auf die Miete aufschlagen?“
Hermine griff das Thema auf. „Wie viel beträgt die Miete überhaupt?“
„860 Galleonen“, erwiderte die rundliche Dame.
Sehr erbost warf Severus ein: „Das ist mehr als manch einer verdient!“
„Die Winkelgasse ist nun einmal die beliebteste Einkaufsstraße …“
Severus fuhr ihr über den Mund. „Bitte ersparen Sie mir Belehrungen über wirtschaftliche Aspekte. Der Preis ist zu hoch und für die Wohnung nicht angemessen.“
„Wir könnten …“
Wieder schnitt er ihr das Wort ab. „Vielen Dank, ich nehme lieber Abstand von dem Angebot. Ich habe noch andere Termine.“
Den ganzen langen Weg der Winkelgasse gingen Severus und Hermine wieder zurück, bis sie am anderen Ende beim Tropfenden Kessel angelangt waren.
„Du willst doch nicht hier ein Zimmer nehmen?“, fragte sie verwundert.
„Nein, ich möchte nur nach Muggellondon gelangen. Ganz in der Nähe führt ein Squib ein Mietshaus.“
Im Tropfenden Kessel war schon kräftig Stimmung. Die Besucher der Winkelgasse ließen hier gern nach Ladenschluss ein paar Galleonen springen, um bei einem Butterbier oder Feuerwhisky den Tag ausklingen zu lassen. Hermine ging dicht hinter Severus und weil die Menschen so drängten, fühlte sie sich sicherer, als sie seinen Umhang packte.
Der Tag war so grau wie der Umhang von Mr. Fogg, auch genauso feucht wie seine Stirn, auf denen Schweißperlen glänzten. Nebelschwaden schlangen sich um seine Waden. Der unruhige Blick und sein hektischer Gang waren die einzigen Anzeichen dafür, dass er etwas im Schilde führte, denn nur deswegen drehte er sich stetig um. Niemand sollte sehen, wohin er ging. Sein Ziel war die Adresse, die Sirius Black ihm genannt hatte; das Haus eines gewissen Mr. Bloom, dem Leiter der Initiative.
Als er durch die Straßen huschte, versteckte er sein Gesicht, vor allem aber die verräterische Narbe an seinem Hals, hinter dem hochgeklappten Kragen des Umhangs. Endlich hatte er die Straße gefunden. Viele Menschen waren wegen des feuchten Wetters in ihren Häusern geblieben. Nur wenige waren durch Haustiere gezwungen, das gemütliche Heim zu verlassen. Fogg hatte seinen Blick auf den gepflasterten Gehweg gerichtet und erschrak, als plötzlich ein Dackel in sein Sichtfeld kam. Der Hund knurrte. Tiere wussten, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Fogg machte einen Bogen um den Hundebesitzer und seinen Vierbeiner, hörte dabei die Worte „Er beißt nicht.“, aber darauf ankommen lassen wollte er es nicht.
Das Anwesen von Mr. Bloom konnte sich sehen lassen, dachte Fogg, als er vor dem gusseisernen Tor stand und durch die Stäbe einen Blick aufs Grundstück riskierte. Auf dem Schild links von ihm stand der vollständige Name der Initiative, darunter aufgelistet waren einige der Dienste, die sie anbot. „Rechtsberatung für diskriminierte Mitbürger“ stand an erster Stelle. Kaum war er einen Schritt näher getreten, um den Rest zu lesen, da öffnete sich das Tor. Er hätte vermutet, es würde laut quietschen, aber kein Geräusch war zu hören, außer dem Rascheln des nassen Grases, über das das Tor strich.
Ein fester Sandweg führte zu dem restaurierten Gesindehaus, in dem früher Knechte und Mägde gehaust haben mussten. Von einem dazugehörigen Herrenhaus war weit und breit allerdings keine Spur. Möglicherweise wurde es abgerissen, vermutete Fogg, oder aber es stand unter Fidelius. Das Gebäude im rustikalen Stil war bewohnt, denn in vielen Fenstern brannte Licht. Nach etlichen Schritten näherte er sich den Stufen, dann der Tür. Er hob die Hand, um zu klopfen, doch da wurde die Tür weit aufgerissen. Man hatte ihn noch nicht bemerkt, so dass er einen Schritt zur Seite tat, um im Schatten darauf zu warten, dass die Leute gehen würden.
„Vielen, vielen Dank nochmals, Mr. Black.“ Der Mann, der ein müdes Kind auf dem Arm trug, das um die zwei Jahre alt sein musste, schüttelte wie wild eine Hand. Die zur Hand dazugehörige Person konnte Fogg nicht sehen, denn die Tür verdeckte sie. Fogg beobachtete die Frau, die nach dem Mann auf die Veranda hinauskam und sich ebenfalls bedankte. Sie gehörte offenbar zu dem Herrn, denn sie strich ihm liebevoll über den Rücken – auf die gleiche Weise, erinnerte sich Fogg wehmütig, wie seine Clara es damals auch bei ihm gemacht hatte. An der anderen Hand hielt sie ein Kind, das schon gut zu Fuß war.
Ungesehen betrachtete er die kleine Familie, die den Sandweg zurück zum Tor ging. Als sie es passiert hatten und Fogg zur Seite blickte, bemerkte er, dass dort noch immer jemand stand, der wie er den Leuten hinterhergesehen hatte und dabei zufrieden lächelte. Es war Black. Sein Gesicht kannte Fogg aus Zeitungen, nur hatte er ihn noch nie im Profil gesehen. Black schien die Augen auf sich zu spüren, denn er drehte sich um und bemerkte Fogg.
„Entschuldigen Sie bitte, ich habe Sie gar nicht bemerkt.“ Black hielt dem Fremden kontaktfreudig die Hand entgegen und stellte sich vor, bevor er fragte: „Sind Sie Mr. Fogg? Wir haben einen Termin.“
„Ich …“ Fogg schüttelte nur sehr kurz die Hand des Mannes, dessen Haar er stehlen sollte. „Ja, ich bin Mr. Fogg.“
Fogg verlor nicht viele Worte. Er zögerte sogar einen Moment, als er von Sirius ins Haus hineingebeten wurde. Am Ende stand er doch im Flur und blickte sich aufmerksam um, als sein Gastgeber die Tür schloss.
„Darf ich Ihnen den Umhang abnehmen?“ Bei diesen Worten griff sich Fogg an die durch den Kragen bedeckte Kehle. „Nur“, beruhigte Sirius, „damit er ein wenig trocknen kann. Ein furchtbares Wetter, finden Sie nicht?“
„Ja“, erwiderte Fogg sehr unsicher und leise, woraufhin er ein zuversichtliches Lächeln von Sirius erntete. Auch bei dem Anblick der nun nicht mehr verdeckten Narbe am Hals verschwand dieses Lächeln nicht, nachdem Fogg sich bereitwillig den Umhang ausgezogen hatte, der von Sirius an der Garderobe untergebracht wurde. Sirius bedeutete seinem Gast, dass er ihm folgen sollte.
Auf dem Weg durch das warme und gemütliche Haus erklärte Sirius, als würde er wie vorhin schon über das Wetter reden: „Der Familienvater, der eben gegangen ist, wurde vor etlichen Jahren von einem Werwolf gebissen. Er hat danach mit seiner Frau mehrere Kinder bekommen, die alle bei den Großeltern leben mussten, weil es …“
„… verboten ist“, vervollständigte Fogg.
Sirius nickte. „Das wird sich bald ändern, Mr. Fogg. Wir können nämlich belegen, dass der Fluch nicht vererbt wird.“
„Tatsächlich nicht?“
„Nein. Haben Sie auch Kinder?“
Fogg schwieg.
Als sie in einer bäuerlich eingerichteten Küche angekommen waren, bot Sirius dem Gast einen Platz, darüber hinaus sogar noch etwas zu essen an. Fogg war sehr mager. Der Hunger übernahm die Leitung seines Sprachzentrums und bejahte unüberlegt, so dass ihm aufgetischt wurde. Deftiger Gemüseeintopf mit frisch gebackenem Brot. Im Waschbecken wurde gerade auf magische Weise Geschirr gespült, so dass Fogg annehmen musste, diese Freundlichkeit wurde jedem Gast zuteil – auch der Familie vor ihm.
Während Fogg aß und sich die vielen Informationen anhörte, mit denen sein Gastgeber ihn versorgte, betrachtete er dessen schwarzes langes Haar, das bis über die Schulter gewachsen war. Eines dieser Haare reichte aus, um sich für eine Stunde in Sirius Black verwandeln zu können. Dem Hals seines Gastgebers widmete er ebenfalls seine Aufmerksamkeit. Fogg stellte sich vor wie es sein würde, einmal nicht bei jeder Kopfbewegung die leichte Einschränkung zu spüren – das Ziehen am Hals, weil die vernarbte Haut nicht mehr nachließ, wenn er über seine Schulter sehen wollte.
„Und Sie?“
Der Löffel hielt auf halben Weg zum Mund inne, als Fogg bemerkte, dass er nicht zugehört hatte. „Wie bitte?“
„Ich fragte, ob Sie einen Beruf anstreben? Wissen Sie, es gibt ein paar Menschen, denen es egal ist, ob man ein Werwolf ist oder nicht. Ich könnte Ihnen einen Job vermitteln.“
„Wirklich?“ Man wollte Fogg bisher nicht mal als Hausmeister oder Feldarbeiter einstellen.
„Also haben Sie Interesse“, stellte erfreut Sirius fest. „Es kommt natürlich ein bisschen darauf an, was Sie im Leben alles gelernt haben, was Sie können. Waren Sie in Hogwarts?“
„Nein, ich hatte Privatunterricht.“
Verblüfft zog Sirius eine Augenbraue in die Höhe. Privatunterricht war genauso gut wie Hogwarts, nur sehr viel teurer.
„Dann war Ihre Familie reich?“
Fogg nickte und murmelte: „Ist sie noch.“
Während Fogg den Rest der Suppe mit dem Brot vom Teller fischte, war er sich des observierenden Blickes des Schwarzhaarigen bewusst. Gedankenverloren fuhr sich Sirius Black mit dem Daumen über die Lippen, während er Fogg musterte.
„Hat man Sie enteignet, nachdem Sie gebissen wurden?“ Die Frage traf Fogg so schmerzlich wie ein Cruciatus, weil er sie bejahen musste, was er nur mit einem Nicken tat. Bevor Black noch etwas fragen konnte, forderte er ihn dazu auf, diese Belange nicht mehr anzusprechen, doch Black hakte trotzdem nach. „Aber warum, Mr. Fogg? Ich frage Sie nämlich nur, weil es eine Möglichkeit gibt – schon immer gab –, auf rechtlichem Wege Ihr Eigentum zurückzuerlangen.“
Als ihm ein Ausweg aus seiner misslichen Lebenslage auf einem silbernen Tablett präsentiert wurde, begann Fogg schwer zu atmen. Das Eigentum zurückzuerlangen würde für ihn bedeuten, sich in einem – in seinem – prächtigen Herrenhaus niederlassen zu können, in dem Bedienstete jede Arbeit verrichten würden. Er könnte sich den Wolfsbanntrank sogar gegen Aufpreis nachhause liefern lassen oder gar einen eigenen Zaubertränkemeister einstellen. Er könnte wieder Gesellschaften geben, bei denen sich herausstellen würde, welche seiner Freunde trotzdem zu ihm standen. Er würde seine Frau wiedersehen. Und was für ein Spaß wäre es, ihre Eltern vom Grundstück zu verbannen, wie sie es mit ihm getan hatten, weil es angeblich das Beste für Clara sein würde?
„Mr. Fogg?“ Black klang besorgt.
„Es wäre möglich, mein Eigentum zurückzubekommen? Alles?“
„Ja, aber wenn Sie von diesem Gesetz Gebrauch machen möchten, Mr. Fogg, wird man von Ihnen erwarten, dass Sie auch Ihren gesetzlichen Pflichten nachkommen. Sie sind nicht als Werwolf registriert, oder?“ Fogg schüttelte den Kopf. „Ich werde Sie nicht dazu zwingen“, beteuerte Sirius, „auch wenn ich dazu verpflichtet bin, es zu melden. Mit einer Registrierung wird aber einiges für Sie anders werden, im positiven Sinne. Das Ministerium bezahlt für die monatlichen Tränke. Außerdem wird mit den neuen Gesetzen, die in naher Zukunft gelten werden, auch die arbeitsrechtliche Situation für Werwölfe geregelt.“
Wieder zeigte Sirius seine fachliche Kompetenz, in dem er Möglichkeiten aufzählte, die für Fogg ein besseres Leben versprechen würden, alles aber unter der Voraussetzung, dass sich der Werwolf registrieren würde. Nach einer ganzen Weile bat Sirius seinen Gast ins Wohnzimmer, indem Sid gerade noch ein paar letzte Worte an einen Kobold richtete. Dieser kleine Gast war der Grund, warum Sirius den Werwolf erst in die Küche geführt hatte.
„Ah, Duvall“, grüßte Sirius den dunkelhaarigen Herrn mit den stechend blauen Augen.
„Wir sind gleich fertig, Mr. Black.“ Duvall betrachtete den Herrn an Sirius‘ Seite, so dass Sirius es übernahm, die Männer miteinander bekannt zu machen.
Der Kobold, stellte sich heraus, war ein Mitglied des Bankvorstands von Gringotts. Duvall hatte ihn darüber informiert, dass die Bank nach der Gesetzesänderung mit viel Zulauf rechnen konnte, denn frei arbeitende Hauselfen wollten ihr Gehalt sicherlich auch gut untergebracht wissen. Der Kobold hatte zugestimmt, den Hauselfen mit geringeren Verliesführungsgebühren entgegenzukommen. Sehr bald verabschiedete sich der Kobold, dessen Name Fogg auch nach dem dritten Mal nicht auszusprechen wagte, so dass er mit Duvall und Black allein war.
Sid bot Fogg einen Platz auf der gemütlichen Couch neben sich an. Es war Sirius, der das Thema ansprach, das sie schon in der Küche angeschnitten hatten. Im Anschluss wandte sich Sid an den Gast.
„Dann möchten Sie also gern Ihr Eigentum zurück, Mr. Fogg? Das ist verständlich. Ich werde Ihnen gern helfen, den Antrag vorzubereiten. Aber erst nach Inkrafttreten der neuen Gesetze sollten Sie den Antrag einreichen. Auf diese Weise können wir verhindern, dass Ihre Verwandten das Vermögen an sichere Orte bringen und behaupten, es wäre nichts mehr zu holen. Erst nach den neuen Gesetzen wird nämlich nach Einreichung eines solchen Antrags sämtliches Kapital für beide Parteien eingefroren, bis die Sachlage geklärt ist. Deswegen ist es auch wichtig, dass Sie niemanden über Ihr Vorhaben informieren.“
Sirius warf ein: „Mr. Fogg ist noch nicht registriert.“
„Oh“, machte Sid, „dann sollten Sie das wirklich tun. Ansonsten würde man Ihnen diese Ordnungswidrigkeit negativ auslegen, den Antrag vielleicht sogar ablehnen. Es soll doch alles seinen rechten Weg gehen, nicht wahr?“
„Was muss ich dafür tun?“
„Um sich zu registrieren?“, fragte Duvall nach. Als Fogg nickte, zog er ein Formular aus einer Mappe. „Wir können es gleich tun, wenn Sie möchten. Dann wird der nächste Betrag für den Wolfsbanntrank schon vom Ministerium übernommen.“
Die Chance, die man ihm hier bot, machte Fogg sprachlos. Er überflog das Formular und nahm die ihm gereichte Feder entgegen, mit der er die Felder ausfüllte. Sein Auftrag, ein Haar von Sirius Black zu stehlen, schien nicht mehr die größte Priorität zu haben, aber dennoch hatte er dieses Vorhaben nicht vollständig abgeschrieben. Stringer würde ihm die Ohren langziehen, sollte er ohne Haar zurückkehren. Nachdem der Antrag ausgefüllt war, wurde ihm sofort ein Tränkepass überreicht, den er immer mit sich führen sollte.
Im Laufe des Abends informierten ihn die beiden Herren von der Initiative abwechselnd über seine vielen Möglichkeiten, über Jobangebote, über finanzielle Hilfen und …
„Haben Sie einen Wohnsitz, Mr. Fogg?“, fragte Sid.
„Mit einem Freund teile ich mir ein Zimmer im ‘Gehängten‘.“
Sirius verzog das Gesicht. „Den Laden gibt’s noch?“
„Was mein Kollege damit sagen möchte, ist“, Sid blickte Sirius maßregelnd an, „dass es preiswerte Unterkünfte für Menschen wie Sie gibt, die jedoch in weniger zwielichtigen Gegenden liegen und auch wesentlich besseren Service bieten.“ Sids Augen ruhten einen Augenblick auf der Garderobe des Gastes. „Und Sie könnten auch von Kleiderspenden profitieren, wenn Sie nicht über genügend finanzielle Mittel verfügen.“ Unangenehm berührt durch die Anspielung auf seine schäbige Kleidung rutschte Fogg auf seinem Platz hin und her. „Mr. Black wird Ihnen eine Liste mit Adressen geben.“
Da er noch andere Dinge zu erledigen hatte, verabschiedete sich Sid freundlich von den beiden. Sirius nahm Sids Platz direkt neben Fogg ein, um ihm Formulare und Listen mit Anlaufstellen zu überreichen. Zu jedem Pergament lieferte er Erklärungen und beantwortete offene Fragen.
„Zum Abschluss einen Sherry?“ Sirius wartete nicht einmal auf eine Zustimmung, sondern ging bereits hinüber zum Alkoholschränkchen. Während er die Gläser bereitstellte und die richtige Flasche zwischen den vielen suchte, erzählte und erzählte er. In dieser Zeit kämpfte Fogg mit sich. Er brauchte dem Gastgeber zum Abschied nur einmal freundschaftlich auf die Schulter klopfen, um an ein Haar zu gelangen. Und dann? Nicht Stringer, sondern er müsste sich in Black verwandeln, denn der Fluch seines Freundes war übergreifend – er würde auch als Sirius Black nach altem Schweiß riechen. So müsste er selbst die Gestalt eines Mannes annehmen, durch dessen Hilfe er wieder sein Grundstück, sein Haus und den Inhalt seines Verlieses erhalten könnte. Fogg seufzte und blickte zur Seite. Auf dem hellen Stoff der Rückenlehne bemerkte er ein schwarzes Haar; es war zum Greifen nahe. Instinktiv nahm er es an sich und stopfte es hinter den Tränkepass in seine Brusttasche, gerade noch rechtzeitig, bevor Black sich ihm näherte, um ihm ein Glas Sherry zu reichen.
„Auf Ihr Wohl, Mr. Fogg.“
„Nein, auf Ihr Wohl und vielen Dank für alles.“
Den Heimweg über schüttete es kräftig. Trotzdem ging Fogg einige Straßen zu Fuß, weil seine Gedanken sich überschlugen. Er könnte das Haar hier irgendwo fallen lassen, damit das Wasser am Bordstein es in den nächsten Einlaufschacht in die Kanalisation spülen würde, dann wäre die Sache vergessen, wenn es nicht noch Stringer geben würde, der auf das Geld von Hopkins hoffte. Seinen Freund konnte er nicht enttäuschen. Wenn er ihm nur sagen könnte, dass er in einigen Monaten vielleicht wieder über sein gesamtes Hab und Gut verfügen würde. Natürlich müsste sich dann auch sein Freund keine Sorgen mehr machen. So wie Stringer sich nach dem Biss um ihn gekümmert hatte, ihn versorgt und für ihn das erste Mal einen Wolfsbanntrank gestohlen hatte, so würde sich Fogg gern darum kümmern, dass der Fluch gebrochen wurde, der auf Stringer lastete. Immer wieder fuhr sich Fogg durchs nasse Haar. Er wusste nicht, was er tun sollte.
Dieses ohnmächtige Gefühl war auch Hermine nicht fremd. Sie wusste nicht weiter. Nach unzähligen Nachrechnungen war sie sich sicher, dass das Ergebnis stimmte, aber sie wurde nicht schlau daraus. Kein Buch über Arithmantik konnte weiterhelfen. So saß sie verzweifelt über ihrer fünf Seiten langen Lösung und stieß Schimpfwörter aus, die jedem anständigen Menschen die Schamesröte ins Gesicht treiben würden. Zum Glück war Severus heute nicht hier. Er benötigte nach seiner Verausgabung eine kleine Auszeit, die sie ihm natürlich nicht verwehren wollte.
„Wen kann ich nur fragen?“
Maunzend antwortete ihr Fellini, da er glaubte, sie hätte mit ihm gesprochen. Den Kater zu kraulen beruhigte sie wieder. Sein Schnurren war Balsam für ihre aufgewühlten Nerven.
Arithmantik. Hermine konnte sich nicht mal mehr daran erinnern, ob einer ihrer engen Freunde dieses Wahlfach belegt hatte. Unweigerlich musste sie an die Einzige denken, die ihr weiterhelfen könnte: Septina Vektor. Ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, ob sie damit Severus‘ Privatsphäre verletzten würde, legte Hermine ihre Berechnungen und die Lösung in eine Mappe und machte sich per Apparation auf nach Hogwarts.
Die Tore ließen sie passieren. Den Weg zum Schloss wollte sie trotz des Regens nutzen, um sich Worte zurechtzulegen, wie sie ihr Anliegen erklären könnte. Professor Vektor war nicht dumm. Aus den Werten könnte sie mit Hilfe von Tabellen mit Leichtigkeit die Dinge herausbekommen, die sich hinter den Zahlen verbargen, die Zutaten, die Feder der Animagusgestalt und wenn sie sich Mühe gab, auch die fehlende Seele, für die die Lösung stand. Sie war uneins mit sich selbst, ob sie ihren Weg fortsetzen oder lieber kehrtmachen sollte. War Severus‘ Wunsch nach Verschwiegenheit wichtiger als ein Heilmittel für ihn? Hermine verneinte innerlich, als sie den Rundbogen durchquerte, der ins Schloss führte. Dass ihre Kleidung bereits triefte, bemerkte sie erst, als Filch ihr im Eingangsbereich einen fiesen Blick zuwarf. Neben ihm stand ein Mob. Der von ihm frisch gewischte Boden war mit ihren matschigen Fußabdrücken übersät.
„Das tut mir furchtbar leid, Mr. Filch.“ Dank ihres Zauberstabs war nicht nur der Boden wieder sauber, sondern auch ihre Kleidung trocken.
Den Weg zum Klassenzimmer von Professor Vektor kannte Hermine bestens. Dort hatte sie einige der schönsten Schulstunden ihres Lebens erfahren. Der Unterricht war immer ruhig und gemütlich gewesen, aber dennoch durchstrukturiert wie der von Severus. In der Nähe des Klassenzimmers befanden sich die privaten Räume der Lehrerin. Als sie an der Tür stand, überkamen sie erneut Zweifel, ob sie Professor Vektor einweihen durfte. Bevor sie vor der einzigen Möglichkeit, die Lösung zu entschlüsseln, Reißaus nahm, klopfte sie.
„Herein!“, hörte man von drinnen. Zaghaft öffnete Hermine die Tür. Professor Vektor saß am Wohnzimmertisch und korrigierte die Hausaufgaben von Schülern. „Hermine?“, kam es zunächst erstaunt, dann viel freundlicher, „Was machen Sie denn hier? Treten Sie doch ein.“
„Guten Abend, Septina“, grüßte sie vertraut, denn während ihrer Lehre bei Severus hatte sie das Kollegium durchweg beim Vornamen nennen dürfen. „Ich hoffe, ich störe Sie nicht.“
„Nicht doch, nicht doch. Setzen Sie sich bitte. Darf ich Ihnen etwas anbieten?“
Dankend schlug Hermine das Angebot aus. „Ich würde nur gern einen Augenblick Ihrer Zeit in Anspruch nehmen. Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll.“
„Aber gern, um was geht es denn?“
Aus ihrer Tasche zog sie die Mappe mit der gesamten Berechnung, nahm aber nur die letzten fünf Seite mit der Lösung, die sie an Septina weitergab. „Ich habe da ein arithmantisches Ergebnis erhalten, aber es sagt mir einfach nichts. Alles nach dem Gleichheitszeichen ist für mich komplizierter als der Rechenweg davor.“
Septina beäugte das erste Pergament sehr aufmerksam. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie das zweite in Augenschein nahm.
„Darf ich den Rechenweg sehen?“ Weil keine Antwort kam, blickte Septina auf. Wie versteinert saß Hermine auf dem Sessel. „Hermine, ich würde gern die Rechnung sehen. Vielleicht sagt mir das Zahlenchaos dann etwas.“
„Heißt das, Sie wissen auch nicht, was es ein kann?“
Septina lächelte zuversichtlich. „Ich habe eine vage Ahnung, die ich bestätigt wissen möchte. Deswegen benötigte ich alle Unterlagen.“
Stockend griff Hermine nach der Mappe, doch sie gab sie nicht her, sondern presste sie stattdessen an ihre Brust, als würde ihr Leben davon abhängen. „Das ist sehr persönlich, Septina. Ich dürfte Ihnen nicht einmal das Ergebnis zeigen, aber die Situation ist so verfahren.“
„Sie beleidigen mich, Hermine. Den Ruf einer Klatschtante hatte ich nie inne. Ich habe nicht einmal die Vermutung laut geäußert, dass die Pflanze, die Harry ständig mit sich herumtrug, von Ihnen stammte.“ Als Hermine aufblickte, zwinkerte Septina ihr zu. „Ich habe Recht, oder? Mit der Pflanze, meine ich.“
„Ja, aber das hier“, sie strich über die lederne Mappe, „ist etwas ganz anderes.“
„Ich werde nicht herumposaunen, dass Sie meine Hilfe benötigen, Hermine. Manchmal, diese Erfahrung habe ich während des Krieges gemacht, muss man einfach vertrauen können.“
Diese Worte hatten Hermine überzeugt, so dass sie die Mappe mit ihren Berechnungen, die so viel Mühe und Zeit gekostet hatten, an Septina übergab. Als die Lehrerin für Arithmantik sie aufschlug, stutzte sie beim Anblick der Menge.
„Ein wenig“, sie blätterte, „umfangreich, Ihre Berechnungen. Aber ich bin so hocherfreut darüber, dass Sie sich nach der Schule noch mit diesem Thema befassen, dass ich Ihnen verspreche, alles komplett durchzurechnen.“
„Was?“
„Natürlich nicht jetzt, das würde ich gar nicht schaffen. Lassen Sie mir Ihre Unterlagen hier und …“
Hermine unterbrach. „Nein, das geht nicht. Ich kann das nicht einfach hier bei Ihnen lassen. Es muss einen anderen Weg geben!“
„Wie soll ich auf die Schnelle eine so komplexe Aufgabe auf ihre Richtigkeit überprüfen?“
Es war keine gute Idee gewesen, Septina um Hilfe zu bitten, denn wieder kamen die Zweifel auf, mit denen Hermine vorhin schon kämpfen musste.
Am Gesicht ihrer ehemaligen Schülerin erkannte Septina den inneren Zwiespalt an den kleinen Fältchen, die sich über ihrer Nasenwurzel gebildet hatten. Das war während der Schulzeit genauso gewesen, wenn Hermine an einer wirklich kniffligen Berechnung gesessen hatte. Aber da war noch etwas anderes an ihrem Gesichtsausdruck auszumachen. Septina glaubte zu sehen, dass Hermines Aussichtslosigkeit so groß schien, dass sie sogar bereit war, etwas zu tun, was ein Versprechen brechen würde.
„Hermine?“ Als ihr Gast aufblickte, erschrak Septina, denn in Hermines Gesicht hatte sich nun der gesamte Konflikt niedergeschlagen, den sie durchmachte. Die Augen wirkten traurig, die Mundwinkel waren nach unten gezogen und die Stirn war in Falten gelegt. Ihre ehemalige Schülerin, die jetzt Mitte zwanzig sein musste, wirkte mindestens zehn Jahre älter. „Hermine, wie kann ich Ihnen nur versichern, dass ich Ihre Berechnungen mit Respekt behandle? Haben Sie Angst, dass ich Ihnen Ihre Arbeit stehle und als meine ausgebe?“
Sie schüttelte den Kopf und schnaufte. „Nein, das ist es ganz sicher nicht. Wenn es funktioniert, dann können Sie die Berechnungen ruhig behalten, verkaufen oder ein Buch drüber schreiben, das ist mir gleich. Die Hauptsache ist nur, dass es funktioniert. Das ist so wichtig für mich und wichtig für …“
Die Befürchtung, ihre Mühen könnten doch umsonst gewesen sein, schnitten Hermine das Wort ab. Sie benötigte Hilfe, um ihre Sache beenden zu können. Gedankenverloren knabberte sie an ihrem Daumennagel. Wie ein gefangenes Tier lief sie unruhig in Septinas Wohnzimmer auf und ab, zerbrach sich dabei den Kopf darüber, welche Entscheidung sie verantworten könnte. Würde Severus erfahren, dass sie Septina eingeweiht hatte, war es nicht auszuschließen, dass er sie für diesen Vertrauensbruch nicht mehr sehen wollte. Das war nur ein kleines Übel im Vergleich zu der Chance, ihm zu einer vollständigen Seele zu verhelfen. Um ihm das zu ermöglichen, würde sie eine persönliche Niederlage in Kauf nehmen. Die Entscheidung, auch wenn sie die nur schweren Herzens fällen konnte, stand fest.
„Behalten Sie die Berechnung hier“, sagte Hermine mit zittriger Stimme. „Ich drücke Ihnen die Daumen.“
„Sollte ich Fragen haben, werde ich Sie kontaktieren, Hermine. Sie besitzen die Apotheke in der Winkelgasse, wie ich hörte?“
Zu mehr als nur einem Nicken war Hermine nicht mehr fähig. Ihr Herz schlug wie wild. Jetzt schon erwartete sie ein Donnerwetter, sollte Severus eines Tages davon erfahren. Sie warf einen letzten Blick auf die Mappe in Septinas Händen, bevor sie das Wohnzimmer verließ und sofort den Heimweg antrat. Sie durfte nicht riskieren, dass Severus sie durch Zufall hier in Hogwarts sehen würde. Ihm würde ihre niedergeschlagene Stimmung sofort auffallen und er würde sie solange nach einem Grund fragen, bis sie seiner Fragerei nicht mehr standhalten könnte.
Es kam, wie es kommen musste. Als sie die Ländereien von Hogwarts überquerte, um zum Tor zu gelangen, sah sie in der Ferne Severus und den Hund. Letzterer kam so schnell auf sie zugeprescht wie der Hogwarts-Express. Severus benötigte für die Strecke etwas länger, aber er schien sich genauso über die unerwartete Begegnung zu freuen wie sein Hund. Durch den Regen waren die unzähligen Locken in Hermines Haaren herausgewaschen und es hing schwer an ihrem Körper hinunter. Severus betrachtete es von oben bis unten.
„Was ist?“, wollte sie wissen.
„Wenn es nicht gewellt ist, geht dein Haar bis zum …“ Ein angedeutetes Lächeln war auf ihrem Gesicht zu sehen. Seit vielen Jahren hatte sie nur noch die Spitzen schneiden lassen. Offenbar war sie nicht die Einzige, die langes Haar mochte. „Warum bist du denn so durchnässt?“, fragte er, um von seinem unvollendeten Satz abzulenken.
„Möglicherweise weil es regnet?“, entgegnete sie scherzhaft.
„Das ist mir nicht entgangen, aber dagegen gibt es doch einen Zauber.“
Mit seinem Zauberstab trocknete er zunächst Hermines Kleidung und ihr Haar, bevor er einen Impervius-Zauber sprach. An den hatte sich gar nicht mehr gedacht, obwohl sie in der dritten Klasse damit Harrys Brille gegen Wasser imprägniert hatte, damit er bei strömendem Regen gegen Hufflepuff Quidditch spielen konnte. Jetzt war sie fast vollständig gegen das schlechte Wetter gefeit.
„Möchtest du uns etwas begleiten?“ Severus schaute zu Harry hinüber und Hermine folgte seinem Blick. Der Hund mochte den Regen. Aufgeregt hüpfte er im Gras umher und jagte Frösche, die vor ihm fliehen wollten.
„Ja gern.“
Sie waren keine drei Schritte nebeneinander gegangen, da fragte er bereit: „Was bedrückt dich?“
Wie sie es befürchtet hatte, fragte er mehrmals, weil sie nicht antwortete. Um ihn zum Schweigen zu bringen, nahm sie einfach seine Hand, als sie dem Hund hinterherschlenderten, der mehrmals wahllos die Richtung wechselte. Manchmal blickte Severus gen Himmel. Hermine wusste, was seine Aufmerksamkeit erlangt hatte, aber er selbst sprach es an, als er mit den Augen der einen Eule folgte, die den Weg zur Eulerei einschlug.
„Ich frage mich, wie es wäre, im Regen zu fliegen.“
„Das wirst du nur herausfinden, wenn du es mal machst.“ Sie zerrte zaghaft an seiner Hand, so dass er sie anblickte. „Kannst es jetzt mal versuchen.“
„Nein, lieber nicht auf dem Schulgelände. Jemand könnte mich sehen.“ Wachsam blickte er sich um, dann hielt er abrupt inne. „Ist das da drüben etwa …“
Hermine schaute in die gleiche Richtung und erkannte die Person. „Das ist Albus.“
Auf der Stelle ließ Severus ihre Hand los, was sie kommentieren musste. „Bin ich dir so peinlich?“
„Natürlich nicht, aber ...“ Es war neu für sie, offenbar auch für ihn, dass er nicht mehr imstande war, Sätze zu beenden, obwohl das eine Angewohnheit war, die er bei anderen Menschen verabscheute. Ohne Scheu ergriff er wieder nach ihrer Hand. „Möchtest du noch auf einen heißen Tee mit reinkommen?“
Wie schon bei Septina lehnte sie auch bei ihm dankend ab. „Ich werde lieber nachhause gehen und mal richtig ausschlafen.“
„Dann sehen wir uns Morgen?“
„Machen wir übermorgen draus. Dann hat jeder noch etwas Ruhe.“
Diese Ruhe war ihm offenbar nicht willkommen. Severus machte sich nicht einmal die Mühe, seine Enttäuschung zu verbergen. Ihr lag jedoch viel daran, den nächsten Tag damit zu verbringen, ihre Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Vielleicht, wenn sie den Mut dazu aufbringen könnte, würde sie ihm erzählen, dass sie die Berechnungen von einer weiteren Person überprüfen ließ. Sie hoffte innig, dass er wenigstens noch soweit mit ihr kooperieren würde, bis sie den Heiltrank gebraut hatte.
„Wie du meinst. Dann wünsche ich dir noch einen guten Abend, Hermine.“
„Dir auch, Severus.“
Während Hermine das schuleigene Grundstück verließ, rief Severus den Hund, um den Heimweg einzuschlagen. Albus wartete noch immer am überdachten Eingang. Je näher Severus dem Direktor kam, desto deutlicher wurde, dass er etwas in den Händen hielt. Es sah wie ein Umschlag aus.
Durch den Regen, der auf die Ziegel schlug, war es im überdachten Gang sehr laut, so dass Albus ihn nicht ansprach, sondern mit einer Handbewegung erst dazu aufforderte, ihm ins Schloss zu folgen. Im leeren Eingangsbereich kamen sie zum Halt.
„Eben ist für dich eine Eule gekommen, Severus. Sie konnte dich nicht finden und flog zu mir. Das arme Ding war völlig durchnässt.“ Severus machte die gedankliche Notiz, dass Eulen nicht wie Enten wasserabweisende Federn besaßen – seine Animagusform sicherlich auch nicht. „Hier.“ Albus überreichte ihm den großen feuchten Umschlag. Die mit Tinte geschriebene Adresse war etwas verlaufen, aber man konnte sie noch lesen. „Ich hoffe“, begann Albus, „ich habe euch nicht gestört.“ Sein Bart konnte das Schmunzeln nicht verbergen.
„Nein, Hermine wollte sowieso gerade gehen.“
Nach diesen Worten marschierte Severus in die Kerker, gefolgt von Harry, der den Eingangsbereich mit vielen großen Abdrücken seiner Pfoten verzierte. Erst vor der Tür war Severus so umsichtig, den Hund per Zauber zu trocknen und zu säubern, denn er wollte keinen Schmutz in seinen Räumen.
Den Umschlag öffnete Severus auf der Stelle. Was zum Vorschein kam, machte ihn sprachlos. Es war ein Bild, aber nicht irgendeines, sondern ein bewegtes Foto von Hermine, die – wie gerade eben – traurig dreinblickte. Sie saß auf den Stufen eines Korbflechters, von dessen handwerklichen Arbeiten sie umgeben war. Unbewusst legte Severus den Kopf schräg, während er das Bild genau musterte. Er zog die Möglichkeit in Betracht, dass ihm sie damit womöglich etwas sagen wollte, doch er fand keinen Hinweis. Nochmals nahm er den Umschlag zur Hand. Trotz der verschwommenen Tinte war ihre Handschrift auszumachen, aber er konnte sich bei bestem Willen nicht erklären, was dieses Bild für eine Bedeutung haben sollte.
Ohne damit zu rechnen, etwas zu finden, drehte er das Foto um. Tatsächlich befanden sich dort zwei Zeilen. Ihre Handschrift war eindeutig, er kannte sie in- und auswendig. In geschwungenen Buchstaben las er die Worte „Ich habe so viele Körbe von dir bekommen, damit könnte ich glatt ein eigenes Geschäft eröffnen.“. Severus blinzelte einige Male, falls seine Augen ihn getäuscht haben sollten, doch als er nochmals las, wieder und wieder, veränderte sich die Aussage des Satzes nicht. Er musste kräftig schlucken.
Die Vermutung lag nahe, dass Hermine deswegen heute hier gewesen war. Es könnte sein, vermutete er, dass sie den Brief abfangen wollte, weil sie es sich anders überlegt hatte. Oder sie wollte seine Reaktion sehen, doch dann hätte sie die Einladung nicht ausgeschlagen. Das kurze Treffen mit ihr ließ er, so gut er es noch in Erinnerung hatte, Revue passieren. Sie schien mit sich im Zwiespalt gewesen zu sein. Die ganzen Zurückweisungen seinerseits – die Körbe – waren allesamt nur einem Thema zugeordnet. Vor seinem inneren Auge sah Hermines unglücklichen Ausdruck und den, das nahm er sich fest vor, würde er das nächste Mal aus ihrem Gesicht zaubern. Oder auch erst, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen war.
Der Regen, der in vielen Teilen des Landes niederschlug, wollte sich nicht verziehen. Verdunkelnde Wolken zogen auf und ließen der Abendsonne keine Chance, sich für heute zu verabschieden.
In der Winkelgasse war scheinbar niemand mehr unterwegs, außer Hermine, die vor ihren Eingang apparierte und sich schnell vor den geöffneten Schleusen des Himmels in Sicherheit brachte.
Ein paar Ecken weiter bog Fogg gerade neben Flourish und Blotts ab und betrat die Nokturngasse, die wegen des regnerischen Wetters bestialisch stank. Feuchter Müll verströmte einen üblen Geruch. Bei Hunden war es nicht anders, dachte Fogg, denn wenn die nass wurden, rochen sie auch wesentlich unangenehmer. Der Fluch, unter dem Stringer litt, war ganz ähnlich, denn je öfter er sich wusch, desto penetranter wurde der Gestank. Mehr als einmal die Woche war zu einem heißen Bad nicht zu raten. Kurz nach dem Bad hatte man für ungefähr eine Stunde Ruhe von den Geruchsbelästigungen, doch danach begann es von Neuem und zudem viel stärker. Der Fluch war unbekannt und entsprang einem vererbten Familienbuch von Stringers Frau. Er war sicherlich zu brechen, aber damit musste sich ein Fachmann auseinander setzen.
Im Gasthaus „Der Gehängte“ angekommen betrat Fogg den leeren Schankraum. Der Wirt hatte nur wenig Licht entzündet, denn offenbar rechnete er nicht mit Gästen und wollte deswegen Kerzen sparen. Von einem Balken in der Mitte des Raumes baumelte der Geist des Gehängten. Fogg war so leise wie möglich. Eine Unterhaltung mit dem Geist wollte er auf jeden Fall vermeiden.
Am Zimmer angelangt öffnete er die Tür. Der vertraute Geruch von Stringer schlug ihm konzentriert entgegen.
„Meine Güte, warum hast du das Fenster zugemacht?“
Stringer blickte von seiner Zeitung auf. „Es regnet! Reicht es nicht, wenn es durch das Dach tropft? Die Fenster sind auch nicht dicht. Sieh mal …“ Stringer deutete auf das Fensterbrett, auf dem sich eine Wasserlache gebildet hatte.
„Hast du den Wirt benachrichtigt? Dagegen muss es doch einen Zauberspruch geben.“
„Er sagte, er hätte keine Bücher über Handwerkszauber.“ Die Zeitung legte Stringer auf den Tisch, um sich seinem Freund zuzuwenden. „Hast du das Haar?“
Fogg bejahte nicht, sondern wechselte unerwartet das Thema. „Vielleicht sollten wir aussteigen?“
„Aussteigen? Und wann glaubst du, wird uns das nächste Mal jemand so viele Pfund für einen Job bieten?“
„Jemanden zu entführen kann man schlecht als ‘Job‘ bezeichnen“, murmelte Fogg.
„Warum willst du aussteigen? Weil du das Haar nicht bekommen hast, richtig? Ich wusste, dass du es vermasseln wirst.“
Wütend griff Stringer nach einer Flasche Whiskey und bemühte sich nicht um ein Glas. Nach zwei kräftigen Schlucken knallte er die Flasche auf den Tisch, bevor er Fogg von oben bis unten betrachtete. Anstatt etwas zu sagen oder ihm Gemeinheiten an den Kopf zu werfen, setzte Stringer die Flasche erneut an seine Lippen. Erst dann fragte er erneut.
„Hast du nun ein Haar bekommen oder nicht?“
„Ja, ich habe eines“, beteuerte Fogg, der gleich darauf in seiner Brusttasche danach suchte. Als er es hinauszog, fiel dabei etwas Helles heraus.
„Was ist das?“ Stringer war schneller, als er sich bückte und den Gegenstand vom Boden auflas. Es war ein gefaltetes Stück Pergament mit dem Siegel des Ministeriums. „Was zum Teufel …?“
„Ich habe mich registriert“, offenbarte Fogg.
Stringer benötigte einen Moment, um diese Tatsache zu verarbeiten, doch dann brach sein ganzer Zorn aus. „Bist du denn von allen guten Geistern verlassen? Du warst doch derjenige, der sich über zehn Jahre gesträubt hat, seinen guten Namen in den Schmutz zu ziehen und jetzt verbringst du ein paar Stunden bei diesem bescheuerten Verein und was machst du? Lässt dich bequatschen und dich offiziell als Werwolf registrieren.“ Wutschäumend schleuderte Stringer ihm den bandneuen Tränkepass entgegen.
Auf die anfeindenden Worte ging Fogg gar nicht ein, denn er hatte im Gegensatz zu Stringer die Aussicht auf ein einigermaßen normales Leben in Reichtum. Reichtum, den er mit seinem Freund zu teilen bereit war. Zwar war Stringer sein bester Freund, aber sollte er ihm von diesen Aussichten erzählen, wäre damit zu rechnen, dass Stringer wieder alles auf die Schnelle erledigt haben wollte. Sein Freund würde wieder alles überstürzen, ihn dazu drängen, schon früher das Vermögen zurückzuholen, deswegen sagte er ihm nichts.
„Wir sollten Hopkins den Rücken kehren. Man hat mir Listen gegeben. Hier, schau …“ Aus der Innentasche seines Umhangs fischte er die Informationsblätter heraus. „Hier stehen Arbeitgeber, die auch Werwölfe einstellen. Und hier steht“, er tippte auf eine bestimmte Stelle, „dass der Wolfsbanntrank vom Ministerium bezahlt wird.“
„Wir haben ihn auch immer so bekommen, warum plötzlich einen auf ehrlich machen?“, schnauzte sein Freund ihn an.
„Ehrlich währt am längsten“, war das Einzige, was Fogg ihm entgegnete.
Stringer schnaufte ungläubig. „Wo ist das Haar?“
Widerwillig gab Fogg es ihm. „Vielleicht ist das gar nicht nötig, um an Geld zu kommen. Wir sollten abwarten.“
„Und Tee trinken? Tee, den wir uns nicht einmal kaufen könnten, hätten wir von Hopkins nicht den Vorschuss bekommen oder die Süße aus der Apotheke beklaut.“ Stringer schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe alles genau geplant. Ich habe erfahren, wann wir zuschlagen können und es passt bestens mit dem Vielsafttrank zusammen, der bald fertig sein müsste.“
„Wie kannst du irgendwas geplant haben?“
„Ich habe erfahren, wann wir Potter abfangen können, der war nämlich heute hier, mit seiner Verlobten!“
Fogg machte ganz große Augen. „Hier? Bei dir?“
„Sei nicht albern! Ich meine hier in der Winkelgasse. Haben sich wohl ihre Hochzeitsgarderobe angesehen. Die beiden kommen noch zweimal her: Einmal für eine weitere Anprobe und wenn es da nichts zu meckern gibt, um sie beim zweiten Besuch abzuholen. Wir haben zwei Chancen“, Stringer warf Fogg einen warnenden Blick zu, „also vermassel nur eine, wenn es überhaupt sein muss.“
„Ich vermassel schon nichts. Du hast doch das Haar oder etwa nicht?“
„Ja, aber du bist derjenige, der sich in Black verwandeln muss!“
Das Haar der besagten Person steckte Stringer in einen Umschlag, den er nicht versteckte, sondern in seiner Brusttasche verschwinden ließ. Fogg hatte das beobachtet.
„Traust du mir etwa nicht?“
Stringer zog ein Gesicht. „Ich traue dem Wirt nicht! Und dem Geist auch nicht. Der Vielsafttrank ist unsere einzige Chance, Potters Vertrauen nicht erst gewinnen zu müssen, damit er uns folgt, denn er vertraut seinem Patenonkel, richtig?“
Gedankenverloren nickte Fogg, als er vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen sagte: „Es ist bald Vollmond. Am dritten Juni.“
„Na, da brauchst du mich ja nicht mehr. Hast ja jetzt deinen echten Pass.“ Für Stringer war die Unterhaltung damit erledigt, so dass er sich wieder seiner Zeitung und auch der Flasche Whisky widmete.
Jetzt hieß es: warten.
Das Warten war auch für Severus nur schwer zu ertragen, aber wie versprochen kam er erst am übernächsten Tag zur Apotheke, um beim Brauen zu helfen, die frisch gelieferten Zutaten einzuräumen und sich um den Vielsafttrank zu kümmern. Hermine war im Verkaufsbereich und hatte alle Hände voll zu tun, denn die ersten Werwölfe wollten sich für die Tränke anmelden. Sie kamen wahrscheinlich so früh, weil sie nicht riskieren wollten, wegen zu vieler Reservierungen abgewiesen zu werden. Ausnahmslos jeder lobte den Geschmack des Trankes. Das war auch der Grund, warum so viele Werwölfe ihn bei ihr einnehmen wollten.
Nach 18 Uhr schloss Hermine erleichtert das Geschäft. Der Tag war anstrengend gewesen, aber das Schlimmste war, dass sie Severus noch etwas beichten musste, nämlich dass Septina sich die Berechnungen anschaute. Sie stählte ihre Nerven und wollte gerade ins Labor gehen, da kam Severus heraus und ging an ihr vorbei. Er hatte seinen Umhang übergeworfen und Harry an der Leine.
„Willst du schon gehen?“
Abrupt hielt er an und drehte sich um. „In zwei Stunden bin ich wieder da. Ich habe drei Besichtigungstermine.“
„Was den für Besichtigungstermine?“
„Zwei Wohnungen und ein Haus. Die Wohnungen sind ganz in der Nähe, das Haus außerhalb von London.“
„Darf ich mitkommen?“ Sie war neugierig, aber es interessierte sie auch sehr, auf was er bei einem Zuhause achtete.
„Von mir aus.“
Die erste Wohnung lag in der Winkelgasse, aber ziemlich am Ende, beziehungsweise an einem Ende. Die Räume lagen direkt über einer Bäckerei. Severus ahnte bereits, dass er morgens ab drei Uhr mit Lärmbelästigungen zu rechnen hätte, wenn der Bäcker mit seiner Arbeit begann. Eine junge Frau führte sie in die Wohnung. Sie war groß und ausladend – die Wohnung im ersten Stock allerdings auch. Die füllige Frau war sehr darauf erpicht, nur die positiven Aspekte zu nennen. Als Severus ein Mauseloch in der Wand ausmachte, sprach er sie darauf an.
„Probleme mit Nagern?“
Die Frau lächelte, was sie noch pausbäckiger aussehen ließ. „Hatten wir, ist aber schon lange beseitigt. Wenn Sie möchten, werden wir das Holz erneuern.“
„Und mir dann auf die Miete aufschlagen?“
Hermine griff das Thema auf. „Wie viel beträgt die Miete überhaupt?“
„860 Galleonen“, erwiderte die rundliche Dame.
Sehr erbost warf Severus ein: „Das ist mehr als manch einer verdient!“
„Die Winkelgasse ist nun einmal die beliebteste Einkaufsstraße …“
Severus fuhr ihr über den Mund. „Bitte ersparen Sie mir Belehrungen über wirtschaftliche Aspekte. Der Preis ist zu hoch und für die Wohnung nicht angemessen.“
„Wir könnten …“
Wieder schnitt er ihr das Wort ab. „Vielen Dank, ich nehme lieber Abstand von dem Angebot. Ich habe noch andere Termine.“
Den ganzen langen Weg der Winkelgasse gingen Severus und Hermine wieder zurück, bis sie am anderen Ende beim Tropfenden Kessel angelangt waren.
„Du willst doch nicht hier ein Zimmer nehmen?“, fragte sie verwundert.
„Nein, ich möchte nur nach Muggellondon gelangen. Ganz in der Nähe führt ein Squib ein Mietshaus.“
Im Tropfenden Kessel war schon kräftig Stimmung. Die Besucher der Winkelgasse ließen hier gern nach Ladenschluss ein paar Galleonen springen, um bei einem Butterbier oder Feuerwhisky den Tag ausklingen zu lassen. Hermine ging dicht hinter Severus und weil die Menschen so drängten, fühlte sie sich sicherer, als sie seinen Umhang packte.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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Rest von Kapitel 197
Die Tür nach London war schnell überwunden. Beide standen mit dem Hund auf der Straße der Muggelwelt. Severus blickte an seiner Seite hinunter und erspähte ihre Hand, die sich in seinen Umhang krallte. Hermine ließ sofort los. Gleich darauf fiel ihr etwas auf.
„Severus, dein Umhang. Wirst du nicht auffallen?“
Mit einem Wutsch seines Stabes trug er einen leichten schwarzen Mantel. Niemand auf der belebten Straße hatte die Veränderung bemerkt. Es begann wieder leicht zu nieseln.
Wegen Harry benötigten sie einige Zeit, um voranzukommen, denn der Hund schnüffelte an jeder Laterne, an jedem Papierkorb und an den Häuserwänden. Vorsichtshalber hatte Hermine, weil der Regen immer stärker wurde, aus einer weggeworfenen Zeitung im Handumdrehen einen Regenschirm gezaubert, damit es nicht auffiel, dass sie nicht nass wurden.
Als ihnen ein junges Mädchen mit einem Golden Retriever an der Leine entgegenkam, spitzte Harry aufmerksam die Ohren. Bis auf Fang und Tatze hatte er noch keinen anderen Hund gesehen. Von der Art her sahen Kuvasz und Golden Retriever nicht sehr verschieden aus. Harry war einige Zentimeter größer und schneeweiß, außerdem ungewöhnlich aufgeregt, als der beigefarbene Hund näher kam. Wie wild zog Harry an der Leine, fixierte dabei das andere Tier.
Das Mädchen, höchstens zehn Jahre alt, hatte arge Schwierigkeiten, ihren Hund zu halten und mit der anderen Hand den pinkfarbenen Regenschirm gegen den Wind auszubalancieren. Noch aus der Ferne fragte sie: „Ist Ihr Hund ein Junge?“ Hermine bejahte, woraufhin das Mädchen kommentarlos den Bürgersteig wechselte.
„Was sollte das?“, fragte Severus irritiert. Wie sein Hund blickte er zur anderen Straßenseite hinüber, auf dem der Golden Retriever temperamentvoll an der Leine zerrte, um zu Harry zu gelangen. Auch Harry zog an seiner Leine, doch Severus hatte sie fest im Griff.
„Ich nehme an, die Hundedame befindet sich gerade in der Zeit der Hitze. Deswegen die Frage von dem Mädchen, ob Harry männlich ist.“
Als sie ihren Weg fortsetzten, wurden sie durch Harrys ständige Fluchtversuche gestört, denn er schmeckte die holde Weiblichkeit noch immer mit seinem Gaumen. Seine beinah 200 Millionen Riechzellen informierten ihn darüber, wo sie sich gerade befand, aber vor allem, dass sie bereit war. Harry winselte und hoffte darauf, dass sein Herrchen versehentlich die Leine fallenlassen würde.
„Vielleicht solltest du eine Kastration in Erwägung ziehen.“
„Kommt gar nicht in Frage!“, blockte Severus sofort ab.
„Ich meinte ja auch den Hund“, scherzte Hermine mit einem Schmunzeln auf den Lippen.
„Das war mir schon klar, aber trotzdem: nein.“
„Dann besorg ihm eine Hundedame.“
„Um dann eine Zucht aufzumachen? Auf keinen Fall!“
„Vielleicht …“
Hermine kam nicht mehr dazu, ihren Satz zu beenden, denn Severus ging die Stufen eines Hauses hinauf, das äußerlich einen sehr guten Eindruck machte. Ein Herr öffnete und begrüßte beide sehr freundlich.
„Mr. Snape, Sie sind sehr pünktlich. Treten Sie bitte ein, ich zeige Ihnen die Wohnung.“
Die Räume waren fantastisch geschnitten, ein Kamin war vorhanden und der Preis war akzeptabel. Severus war kurz davor, den Vertrag zu unterschreiben, als ihm das Kleingedruckte auffiel. Als hätte man ihn persönlich beleidigt, legte Severus den Füllfederhalter beiseite und stand auf.
„Gehen wir, Hermine.“
Der Vermieter und auch Hermine waren sehr überrascht über seine plötzlich ablehnende Haltung. „Mr. Snape? Darf ich fragen was Ihnen missfällt?“
Severus drehte sich zu dem Herrn um. Seine Nasenflügel bebten kurz, was in Hermines Augen ein sicheres Anzeichen dafür war, dass er Schwierigkeiten hatte, seine Wut im Zaum zu halten. „Wann hatten Sie vor mir mitzuteilen, dass Haustiere hier nicht erwünscht sind? Stattdessen machen Sie mir alles schmackhaft, um mich zur Unterschrift zu bewegen. Mein Glück, dass ich alles lese, bevor ich unterzeichne.“
„Ist das wahr?“ Hermine griff nach dem Vertrag und stieß auf die entsprechende Vertragsklausel. Aufgebracht wandte sie sich an den Vermieter. „Sie sehen den Hund an seiner Leine und verschweigen ihm diesen Punkt? Mit so einer schlechten Vertrauensbasis kann kein gutes Mietverhältnis zustande kommen.“ Sie legte den Vertrag wieder auf den Tisch. „Auf Wiedersehen.“
Auf der Straße regte sich besonders Hermine über den Mann und seine Taktik auf.
„Der hat bestimmt keine Probleme, einen Mieter zu finden, ohne ihn an der Nase herumzuführen. Warum versucht er es überhaupt?“, meckerte sie.
„Reg dich nicht auf. Die Sache ist erledigt. Es bringt nichts, sich darüber noch Gedanken zu machen.“ Severus blieb kurz stehen, um in seiner Manteltasche nach einem Zettel zu suchen. „Wir sollten uns eine ruhige Ecke suchen, um zu apparieren.“
„Wo geht es denn hin?“ Hermine lugte auf den Zettel. „Torquay? Du sagtest doch, es liegt außerhalb von London.“
„Tut es doch auch oder etwa nicht?“
„Natürlich, genauso wie Hogwarts außerhalb von London liegt“, konterte Hermine augenrollend. „Torquay liegt ein kleines Eckchen abseits, eher in Richtung Südwesten.“
„Durch Apparation gut zu erreichen.“
„Zusammen!“
Er nahm den Hund auf den Arm und Hermine ergriff seine Schulter, damit Severus die Seit-an-Seit-Apparation durchführen konnte. Die Apparation dauerte bei der Entfernung eine Weile. Am Ende fanden sie sich in einer gut situierten Gegend wieder.
„Schick!“, war Hermines erster Eindruck, als sie die edlen Häuser mit ihren großen Gärten betrachtete. Die Straße führte bergauf. Ein Gebäude war hübscher als das andere. Da gab es Familienhäuser, Appartements und sogar ein Manor. Gleich gegenüber von dem Manor war das Gebäude, um das sich Severus bemühte.
„Gehört einer alten Zaubererfamilie“, informierte er sie. „Seit dem Krieg steht es leer und man möchte nun, dass es wieder bewohnt wird.“
„Ich ziehe gern mit ein“, schlug sie unbefangen vor. „Allein der Garten ist wundervoll.“
Ein älterer Herr empfing Severus und Hermine, tätschelte sogar den Hund und erwähnte, wie wohl der sich in dem weitläufigen Garten fühlen würde. Ein Pluspunkt, den Severus aufmerksam zur Kenntnis nahm. Das Haus, durch das sie geführt wurden, war ein Traum. Viele Räume, ein Keller, den man zum Labor umfunktionieren könnte und eine große Küche. Hermine hätte sofort zugeschlagen.
„Etwas groß für eine Person“, stellte Severus am Ende der Führung fest.
„Da behalten Sie Recht, Mr. Snape. Sich um das Haus und den Garten zu kümmern wird einige Zeit in Anspruch nehmen.“
„Wenigstens verfügt es über einen Kamin.“
Der Vermieter zögerte, rückte dann aber mit der Sprache raus: „Er ist aber nicht ans Flohnetzwerk angeschlossen.“
„Warum nicht?“
„Weil das Gebäude nach Muggelgesetzen unter Denkmalschutz steht und wir keine Veränderungen dieser Art durchführen dürfen. Mein Großvater hat das Haus von seinen Muggelvorfahren geerbt. Die Regelungen sind eindeutig: kein Flohnetzwerk, kein Fideliuszauber. Posteulen sind wegen des Schmutzes, den sie verursachen, auch nicht erwünscht. Der alte Weinkeller darf nicht verändert werden. Überhaupt sind bauliche Änderungen nicht gestattet. Sie wären auch dazu verpflichtet, den Garten ausschließlich für Zierpflanzen zu nutzen, also kein Anbau von Gemüse, wegen des äußeren Erscheinungsbildes des Grundstücks.“
„Sehr unerfreulich.“ Severus war sichtbar enttäuscht. „Sie sollten dieses Haus lieber einem Muggel anbieten, Sir. Die Einschränkungen werden ihn kaum so tief treffen wie einen Zauberer.“
„Es tut mir sehr leid, Mr. Snape.“
Nach dem letzten Besichtigungstermin entschlossen sich Hermine und Severus, wenn sie schon gerade hier der verträumten Hafenstadt Torquay waren, das wegen der Häuser an den steilen Hängen sehr an eine italienische Stadt erinnerte, etwas am Wasser entlangzuspazieren. Zum Glück regnete es hier nicht. Severus warf einen Stock, dem Harry freudig hinterherrannte; sein Spieltrieb hatte die Erinnerung an die willige Hundedame längst verdrängt. Hermine hingegen blickte auf den Ärmelkanal.
„Vor zwei Jahren ist hier irgendwo ein Schiff gesunken.“ Aufgrund ihrer Worte kam er näher an sie heran, um ebenfalls aufs Wasser zu schauen, auf dem ein paar Frachtschiffe schipperten. „Man hat erst vor kurzem das letzte Stück bergen können. Sie haben es in mehrere Teile zersägt.“
„Warum hat man es nicht unten gelassen, wenn die Bergung so lange dauerte?“
„Wenn das Wasser niedrig stand, sind andere Schiffe mit den Wrackteilen kollidiert. Es stellte eine Gefahr dar.“
„In der Zaubererwelt hätte man es in zwei, drei Tagen aus dem Wasser holen können.“
„Mag sein, dass das bei uns schneller geht. Andererseits ist es gut, dass die Kapitäne der anderen Schiffe die Bergung im Vorbeifahren immer wieder beobachten konnten. Auf diese Weise wurden sie geprägt. Kein Kapitän möchte, dass es seinem Baby genauso ergeht.“
„Haben Unfälle immer so eine Wirkung auf die Muggel?“
Hermine nickte. „Ich denke schon. Den Unfall selbst muss man gar nicht miterleben. Es reicht vollkommen, wenn man auf der Straße den gestreuten Sand sieht, mit dem die Feuerwehr das Blut eines Unfallopfers bedeckt hat. Das ruft immer eine Reaktion hervor.“
„Eine Art Mahnung also?“
Sie nickte. „Kann man so sehen. Eine Erinnerung daran, dass es immer und überall passieren kann und man stets aufpassen muss. Nach einigen Tagen wird der Sand weggefegt, aber die Erinnerung, dass dort mal etwas Schlimmes passiert ist, die bleibt noch eine Weile.“
Zusammen genossen sie den Sonnenuntergang, bis es zu kühl am Wasser wurde.
„Wir sollten gehen“, schlug Severus vor. „Ich werde später nach anderen Wohnungen suchen.“
„Schon daran gedacht, in die Wohnung über der Apotheke einzuziehen?“, fragte sie unschuldig.
„Ich glaube, die ist leider schon belegt.“
„Es ist aber noch ein Zimmer frei und es ist sehr günstig“, machte sie es ihm mit einem Schmunzeln schmackhaft.
„Günstig?“
„Ja, genau genommen umsonst.“
Für einen kurzen Augenblick spielt er mit dem Gedanken, sofort zuzusagen, denn besser konnte die Lage gar nicht sein. Es war der kürzeste Weg zu seinem Arbeitsplatz, der nur einen Stock tiefer lag. Ihn hielt jedoch etwas davon ab. Leise seufzte er.
„Hermine, meinst du nicht, es würde einen falschen Eindruck machen?“
„Was ist denn der richtige Eindruck?“
Ihre Gegenfrage hatte ihn sprachlos gemacht. Die Erinnerung an das bewegte Foto, das sie ihm geschickt hatte, drängte sich wieder in den Vordergrund. Er war sich sicher, dass sie das Angebot mit dem Zimmer nicht nur aus Nettigkeit unterbreitete. Ihre Motive hatte sie ihm offen dargelegt, ohne jegliches Versteckspiel, was er sehr begrüßte. Es war ihm in der Schule immer ein Gräuel gewesen, sich zaghaft an ein Mädchen heranzutasten, um erst herauszufinden, was sie von ihm hielt. Bei Hermine wusste er bereits, wie sie von ihm dachte.
„Was würden deine Freunde sagen?“
Sie schnaufte. „Ist das so wichtig? Dir gehören die Hälfte der Apotheke und die Hälfte der dazugehörigen Wohnung. Was sollen die schon sagen?“
Severus spitzte die Lippen, dachte nach und nickte letztendlich. „Es ist mein gutes Recht, das zu nutzen, wofür ich bezahlt habe.“
„Siehst du? Geht doch!“ Ihre Hand fand seine. „Wollen wir uns noch den Taufstein von Agatha Christie ansehen? Ich weiß in etwa, wo die Kirche liegt; ich habe darüber gelesen.“
„Machst du das immer?“
„Was?“
„Dir stets alles ansehen, immer dazulernen, egal wo du bist.“
Sie grinste. „Du warst noch nie mit mir im Urlaub. Frag mal meine Eltern.“
Die All Saints‘-Kirche hatte bereits geschlossen, aber Hermine nahm sich vor, dieses Ausflugsziel in naher Zukunft nochmals anzusteuern. Die beiden apparierten zurück nach London. Es überrascht keinen von beiden, dass es nun in Strömen regnete. Für die ganze Woche war schlechtes Wetter angesagt. Schnellen Schrittes gingen sie die Straße entlang, um zum Tropfenden Kessel zu gelangen, als sie an einem Restaurant vorbeikamen. Von der draußen präsentierten Speisekarte magisch angezogen blieb Severus stehen und warf einen Blick darauf.
„Hast du schon zu Abend gegessen?“, wollte er wissen, ohne seine Augen von den Köstlichkeiten abzuwenden, die sich ihm nur aufgrund der Beschreibungen sehr bildhaft in seinem Kopf formten.
„Nein, habe ich nicht.“
„Dann darf ich dich einladen?“
„Jetzt?“
Severus wandte seinen Blick von der Karte ab und schaute ihr in die Augen. „Ich habe jetzt Appetit.“
„Von mir aus. Ich hoffe, Hunde sind erlaubt.“ Als Severus auf ein Schild deutete, das ihre Frage beantwortete, nickte sie. „Dann mal los.“
Galant hielt er ihr die Tür auf. Auf der Stelle kam ein Keller mit einem scheinbar vom Arbeitgeber ins Gesicht gebrannten Dauerlächeln auf sie zu. Er wollte ihnen die Mäntel abnehmen. Severus zögerte. Unter seinem zu einem Mantel verzauberten Umhang trug er seinen üblichen Gehrock. Hermine nickte zuversichtlich, so dass er sich vom Keller helfen ließ, aus dem Mantel zu schlüpfen. Kommentarlos gab dieser Jacke und Mantel an die Garderobiere weiter, die längst in der Nähe stand.
„Ein Tisch für zwei oder erwarten Sie noch jemanden?“
„Für zwei“, bestätigte Severus.
„Dann bitte hier entlang.“
Vorbei an den Tischen für kleinere Grüppchen, von denen einige aufblickten, um Severus‘ außergewöhnliche Kleidung zu mustern, führte der Keller sie durch einen türlosen Durchgang in einen Nebenraum. Hier waren die Tische kleiner und durch ein Trennwandsystem voneinander separiert. Das Licht war gedimmt, denn jeder Tisch verfügte über einen Kerzenhalter. Hier und da saßen sich Pärchen gegenüber.
Nachdem die beiden Platz genommen hatten, die Kerzen vom Keller entzündet waren und sie von ihm die Karte gereicht bekamen, blickte sich Hermine erst einmal um. Einige Paare hielten sich an der Hand, andere flüsterten dem Partner etwas ins Ohr.
„Ich denke“, begann sie bedächtig, „wir vermitteln durchaus den richtigen Eindruck.“
Bevor er irgendetwas entgegnen konnte, hob sie die große Speisekarte und versteckte sich grinsend dahinter.
Das Abendessen war köstlich; die Stimmung, wie Hermine sie bezeichnete, amüsant bis romantisch, auch wenn Severus letzteres vehement abstritt. Nachdem er bezahlt hatte, gingen sie schnellen Schrittes zum Tropfenden Kessel. Es hatte nun auch noch angefangen, kräftig zu blitzten und zu donnern.
Kaum hatten sie die Winkelgasse betreten, bekam Hermine wieder ein schlechtes Gewissen wegen der Berechnung, die sie Septina überlassen hatte. Severus war sehr aufmerksam. Entweder hatte er sie ständig im Auge oder es war ihm nur durch Zufall aufgefallen, denn er als sie die Apotheke betreten hatten, sprach er sie auf ihren plötzlichen Stimmungswechsel an.
„Was ist los? Ich dachte, du hattest Spaß.“
„Ach, es geht nur um das Ergebnis, aus dem ich nicht schlau werde“, erklärte sie.
Sie war kurz davor, ihm von Septinas Hilfe zu erzählen, da schlug er vor: „Kannst du nicht jemanden fragen, der sich damit auskennt?“
„Gut, dass du das ansprichst. Ich habe nämlich schon jemanden gefragt.“
Hermine erwartete das Donnerwetter, das offenbar nur draußen tobte. Severus war die Ruhe in Person.
„Das ist doch gut. Oder kann dir die Person etwa nicht weiterhelfen?“, wollte er wissen.
„Kann ich noch nicht sagen. Die Aufgabe und auch die Lösung sind so komplex, dass ich ihr eine Woche Zeit geben musste.“
„Ihr?“, fragt er in der Hoffnung nach, einen Namen zu erfahren.
„Ich kenne niemand anderen, dem ich zutrauen würde, damit zurechtzukommen.“
„Wer ist sie?“
Jetzt war es an der Zeit, dachte Hermine, ihm die Wahrheit zu sagen.
„Septina.“ Kurz, knapp, präzise. Jetzt würde er mit dem Fluchen beginnen, doch er überraschte sie erneut. Er verhielt sich nicht mehr vorhersehbar, wie sie es ihm anfangs oft unter die Nase gerieben hatte.
„Ah“, machte er optimistisch. „Ich denke, du kannst beruhigt sein.“
Hermine traute ihren Ohren kaum. „Kann ich?“
„Natürlich, Septina ist eine Meisterin ihres Fachs. Wenn jemand helfen kann, dann sie.“
„Und es macht dir gar nichts aus?“, fragte sie vorsichtig nach.
„Warum sollte es?“
„Weil die Berechnung dich betrifft.“
Gelassen zuckte er mit den Schultern. „Sie hat eine Menge Zahlen vor Augen. In deiner Rechnung steht wohl kaum meine gesamte Lebensgeschichte.“
Dabei beließ es Hermine. In gewisser Weise hatte Severus Recht, denn die Zahlen würden nur Genaues verraten, wenn man sich die Mühe machte, die Werte wieder den Objekten zuzuordnen, für die sie standen. Hermine hatte allerdings das dumpfe Gefühl, dass Septina genau das tat, um ein besseres Verständnis für die gesamte Aufgabe zu bekommen.
Beide ließen sich im Wohnzimmer nieder. Es war ein eigenartiges Gefühl, den Abend für sich zu haben. Keine Tränke waren zu brauen, keine Berechnungen zu machen.
„Danke für das Abendessen, Severus.“
„Gern geschehen“, erwiderte er knapp. „Wegen des freien Zimmers …“ Er hielt kurz inne, um sich die Lippen zu befeuchten. „Wann könnte ich es renovieren? Ich würde das gern erledigt haben, bevor ich Hogwarts verlasse.“
„Ach, das geht schnell, wenn du Harrys Elf fragst, ob er dir dabei helfen würde. Das dauert keine Stunde und es ist komplett erneuert und eingerichtet.“
Severus schaute auf die Uhr, die an der Wand hing. Um den Elf jetzt zu rufen, war es schon zu spät. So ganz ohne Arbeit wusste er gar nicht, wie er sich ihr gegenüber verhalten sollte und bevor er etwas Falsches sagte, hielt er lieber den Mund.
„Wie geht es mit den UTZen voran? Irgendwelche Probleme mit den Schülern?“
Er war erleichtert, dass sie ein Thema gefunden hatte. „Keine Probleme meinerseits. Ich habe allerdings von Professor Binns erfahren, dass bei einigen seiner Schüler Hopfen und Malz verloren wäre.“
„Ginny hat davor auch schon Bammel. Wann werden Ginny und Draco ihre Zaubertränkeprüfung haben?“
„Einen genauen Plan habe ich noch nicht erhalten. Die ersten beiden Juni-Wochen werden recht stressig werden. Für die Schüler natürlich, nicht für mich.“
Ruhe kehrte ein. So schnell hatte Severus das Thema UTZe noch nie abgehandelt, außer damals mit Lockhart. Verzweifelt grübelte er über ein anderes Thema nach, denn er würde sich gern mit ihr unterhalten. Ihm fiel aber einfach nichts ein.
„Ich traue mich gar nicht, den Computer anzumachen, den mein Vater mir geschenkt hat.“
Wieder konnte Hermine ein Thema vorgeben. Dankbar registrierte er, dass sie seine Wortkargheit nicht als Zeichen von Ablehnung deutete. Vor zwei Jahren noch hätte er alles Mögliche getan, um lapidaren Gesprächen wie diesen aus dem Weg zu gehen, aber jetzt war es angenehm, mit ihr hier zu sitzen und sich einfach nur zu unterhalten, egal über was.
„Warum traust du dich nicht? Wegen der Magie?“
Sie nickte. „Ich habe Angst, dass er sofort kaputtgeht.“
Sich an ein Gespräch erinnernd, dass er mit ihr einmal geführt hatte, erwähnte er: „Du sagtest einmal, dass das Gerät deiner Vaters unbrauchbar wurde, als du in der Nähe einen Aufrufezauber angewandt hast.“
„Richtig, er konnte ihn danach wegwerfen. Da war alles durchgeschmort.“
„Du selbst bist auch magisch, aber allein deine Anwesenheit hat nichts ausgerichtet.“ Er blickte sie fragend an, bis sie seine Aussage bestätigte. „Dann wirst du nur nicht mit dem Stab zaubern dürfen, aber du solltest es benutzen können. Das Gerät sollte keinen Schaden davontragen. Es wäre einen Versuch wert.“
Sie nickte. „Das wäre aber ein teurer Versuch.“
„Man wird es sonst nie herausfinden.“
Das Gefühl des Vertrauens gewann Oberhand. Die beiden konnten sich gelassen über alles Mögliche unterhalten und so ging es auch die nächsten Tage. Immer, wenn sie die Arbeit beendet hatten, ließen sie sich im Wohnzimmer nieder, um sich bei einem Tee oder Glas Wein zu unterhalten, wie sie es damals während ihrer Ausbildung bei ihm schon getan hatten. Nur an einem Abend hatten sie einen weiteren Gast. Wobbel war so hilfsbereit, das freie Zimmer ganz nach Severus‘ Wünschen zu gestalten. Wie Hermine es vorausgesagt hatte, benötigte der Hauself nicht einmal eine ganze Stunde.
Die Woche, die sie Septina gegeben hatte, war schnell vergangen. Hermine hatte sich über das Flohnetzwerk bei ihr gemeldet und wurde sofort eingeladen, persönlich vorbeizukommen. Natürlich schlug Hermine das Angebot nicht aus, denn die Neugierde war viel zu groß.
„Hermine, guten Abend. Nehmen Sie doch Platz.“
„Sie haben die Werte wieder umgerechnet oder? Sie wissen genau, welche Zahl für was steht.“ Es war Hermine rausgerutscht, aber sie musste es wissen – musste wissen, ob Septina genau wusste, wessen Seelenkern sie zum Wachsen bringen wollte.
Septina nickte freundlich. „Anders war es nicht möglich, die Lösung zu entschlüsseln, aber es ist mir am Ende gelungen. Allerdings …“
Die lange Pause mochte Hermine gar nicht. Diese Pause konnte alles Mögliche bedeuten, auch das Ende aller Hoffnungen. Hermine spürte das pochende Herz in ihrem Brustkorb so heftig toben, als wollte es ausbrechen.
„Spannen Sie mich nicht auf die Folter!“ Der scharfe Ton passte nicht zur sonst so ausgeglichenen Hermine.
„Ganz ruhig, meine Gute. Warten Sie noch einen Moment, dann erklären wir Ihnen, was das alles zu bedeuten hat.“
Erst nickte Hermine erleichtert, dann stockte sie. „‘Wir‘? Was meinen Sie damit?“
„Ich sagte doch, Sie möchten bitte einen Moment warten.“
Es klopfte. Hermines Atmung wurde immer heftiger. Alles deutete darauf hin, dass Septina noch jemanden eingeweiht haben musste. Der Gast, der nun eintrat, war Hermine genauso bekannt wie Septina selbst. Es handelte sich um Professor Aurora Sinistra. Die Lehrerin für Astronomie führte eine Menge Unterlagen mit sich, darunter auch große zusammengerollte Papiere, die so aussahen wie die Sternenkarten, die Hermine noch vom Unterricht in Erinnerung hatte.
„Was hat das zu bedeuten?“ Aufgebracht fasste sich Hermine an die Stirn, gleich darauf legte sie dieselbe Hand über ihren Mund.
„Setzen Sie sich bitte endlich“, forderte Septina ihren Gast ein wenig energischer auf. Aurora hingegen war der Bitte sofort nachgekommen.
Hermine fühlte sich betrogen. „Ich habe Ihnen vertraut!“
„Das können Sie noch immer“, versicherte Septina, die sich Hermine genähert hatte und sie zaghaft am Oberarm berührte, um sie zur Couch zu führen. „Nehmen Sie Platz und hören Sie einfach zu. Es gibt einen Grund, warum Sie die Lösung nicht verstanden haben. Das war der gleiche Grund, warum ich das arithmantische Ergebnis auch nicht sofort entschlüsseln konnte.“
„Was für einen Grund?“ Das aufgeregte Herz begann zu flattern, Hermines Stimme war zittrig. „Oh Merlin, haben Sie einen Drink für mich? Irgendwas!“
Im Moment hielt sich die Aufregung darüber, dass Septina offenbar noch ihre Kollegin Aurora eingeweiht hatte, die Waage mit der Information, das Ergebnis nun endlich entschlüsselt zu haben. Was war schon ein kleiner Nervenzusammenbruch im Vergleich zu einer Seele für Severus? Sie könnte ihn heilen, könnte die Wirkung des Ewigen Sees rückgängig machen. Ihr war danach, einen Freudenschrei auszustoßen, doch ihre Kehle war wie zugeschnürt.
Jemand hielt ihr ein Glas unter die Nase, dessen Inhalt sehr scharf roch. Hermine griff zu und leerte es in drei großen Schlucken. Erst beim nächsten Atemzug spürte sie das Kratzen im Hals und das Verlangen zu husten. Eine Hand schlug ihr zaghaft auf den Rücken, bis sie sich wieder erholt hatte.
„Bekomme ich noch einen?“, fragte Hermine höflich.
„Später. Ich möchte, dass Sie alles verstehen, was wir Ihnen mitzuteilen haben. Das Thema, wie Sie sich denken können, ist nicht gerade leichte Kost.“
Hermine blickte zu Aurora hinüber, dann zu Septina. „Sie beide haben daran gearbeitet?“
Nickend stimmte Septina zu. „Es war nicht zu vermeiden und Sie werden auch gleich verstehen, was ich meine. Lassen Sie uns erklären, was die Lösung beinhaltet.“
Diesmal ergriff Aurora das Wort. „Septina hatte eine Vermutung, die ich bestätigen konnte. Ihr Ergebnis, Hermine, ist nicht vollständig arithmatischen Inhalts.“
„Nicht?“
Hier erklärte Septina: „Sie haben die Zahlenwerte einiger Zutaten errechnet, richtig?“ Hermine nickte, so dass Septina fortfuhr. „Für die Feder der Animagusgestalt haben Sie den Wert 414,40 errechnet. Der Wert für …“, Septina zögerte, bis sie die Bedeutung des Wertes völlig wegließ und nur die Zahl nannte. „1294,2 steht, wie der Wert der Feder auch, für etwas ganz anderes.“
Der große Wert war der, den Hermine für Severus‘ Seelenkern errechnet hatte. Es war kein Wunder, dass Septina es nicht aussprechen wollte. In Hermines Augen war es schon schlimm genug, dass sie es wusste.
„Die Werte stehen für etwas anderes?“, fragte Hermine nach. „Für was?“
Aurora meldete sich wieder zu Wort. „Die Zahl vor dem Komma steht jeweils für den Quadratgrad, die hinter dem Komma für den Rang.“ Die Begriffe waren Hermine nicht fremd, aber noch formte sich keine einleuchtende Erklärung in ihren Gedanken. Sie hing Aurora an den Lippen, bekam selbst kein einziges Wort heraus. „Sie wissen schon: Raumwinkel“, half ihr die Lehrerin auf die Sprünge. „Die von Ihnen errechneten Werte sind übergreifend und stehen zusätzlich für Sternbilder.“
Hermine blinzelte ein paar Male, bevor sie fragte: „Bekomme ich bitte noch einen Schluck zu trinken?“
Offenbar sah man ihr an, dass sie noch etwas nötig hatte, denn Septina füllte ihr Glas ohne Widerspruch auf. Dieses Mal nippte Hermine genüsslich an dem Alkohol und atmete mehrmals durch, bevor sie sich, jetzt viel ruhiger, wieder den beiden Lehrerinnen widmete. Eine Sache interessierte Hermine ganz besonders.
„Was bedeuten die geometrischen Formen in der Lösung?“ Die hatten ihr die meisten Kopfschmerzen bereitet.
„Gut, dass Sie das fragen, Hermine.“ Aurora nahm eine der großen Rollen in die Hand.
Zusammen mit Septinas Hilfe wurde der Tisch abgeräumt, damit die Karte – zumindest dachte Hermine, dass es eine wäre – ausgebreitet werden konnte. Um eine astronomische Sternenkarte handelte es sich nicht. Stattdessen konnte man eine geometrische Form darauf erkennen. Ein Dreieck, dessen Ecken in drei gleichgroßen Kreisen mundeten. In den drei Linien, die diese Kreise verbanden, waren nochmal je zwei kleinere Kreise gezeichnet.
„Was ist das?“, wollte Hermine wissen, als sie sich darüber beugte. Überall neben, unter und über der präzise gezeichneten Form erkannte sie Auroras Handschrift, die sie seit der Schulzeit nicht mehr gesehen hatte.
„Das, Hermine, ist ein Teil der Lösung“, offenbarte Aurora stolz.
Hermine öffnete mehrmals den Mund, doch es hatte ihr die Sprache verschlagen. Stattdessen las sie die Schrift bei den Pfeilen, die zu jeweils einem der neun Kreise führten. An einem stand „Pfeilkraut“, an einem anderen „Zuckerbüsche“ – die Zutaten.
„Ein Teil der Lösung?“, murmelte Hermine und dann, wie aus heiterem Himmel, hatte sie die Antwort. „Eine Bauanleitung!“
„Richtig! Das hier habe ich in einem Maßstab von 1:5 gezeichnet. Man kann es als eine Konstruktion für einen ungewöhnlichen Blumenkasten sehen. Ein Gebilde, in welchem verschiedene Zutaten gemeinsam, aber doch voneinander getrennt gezogen werden.“ Aurora deutete auf die vielen Kreise. „Dank der Berechnungen habe ich bei allen Vertiefungen bereits die Reihenfolge der Pflanzen bestimmen können, in der sie gesät werden müssen. Ich habe mir erlaubt, gleich die Namen der Pflanzen daneben zu schreiben und nicht ihre Zahlenwerte – nur bei einer konnte ich das nicht, da hatte ich nur den Wert.“
„Mir fehlt eine Pflanze. Mehr als ihren Wert habe ich nicht.“ Als Hermine das zugab, hörte man, wie sehr sie das bedauerte.
Septina strich ihr über den Rücken. „Kopf hoch, Hermine. Wenn Sie das alles schon geschafft haben – und ich muss zugeben, dass das eine Glanzleistung ist –, wird es an einer Pflanze bestimmt nicht scheitern. Sie werden Sie schon noch finden, da bin ich ganz sicher.“
Ihrer Kollegin stimmte Aurora zu, bevor sie Hermine noch in andere Aspekte der Lösung einweihte. „Diese Bauanleitung ist aber nur die Spitze des Eisbergs, Hermine. Es gibt noch viel mehr zu beachten. Nicht nur die Aneinanderreihung der Pflanzen ist wichtig, sondern auch der Einfluss, dem sie laut der Lösung unterliegen müssen.“
„Einfluss? Jetzt ist der Moment gekommen, wo ich nicht mehr folgen kann“, gab Hermine resignierend zu.
„Mir ging es nicht anders“, offenbarte Septina mitfühlend, „aber Aurora kann alles ganz fantastisch erklären.“
Das Glas ließ Hermine auf ihr Knie sinken, als sie die Augen schloss. Nach einem kurzen Augenblick fragte sie: „Was ist mit Einfluss gemeint?“
Aus ihren Unterlagen fischte Aurora eine Mappe heraus, die sie aufschlug. Sie blätterte nicht lange darin herum, bis sie fand, was sie gesucht hatte.
„Mit Einfluss meine ich, dass bestimmte Pflanzen einem bestimmten Sternzeichen zugeordnet sind. Das Pfeilkraut beispielsweise ist dem Löwen zugeordnet, die Feder dem Steinbock. Ich habe noch Fische, Zwillinge und Jungfrau errechnet, wobei das Sternbild Jungfrau mit dem Endergebnis übereinstimmt, also mit dem Trank, der gebraut werden soll.“
Hermine runzelte die Stirn. „Inwiefern stimmt das Endergebnis mit dem Sternbild Jungfrau überein? Entschuldigen Sie bitte, wenn ich solche dummen Fragen stelle.“
„Das sind keine dummen Fragen“, versicherte Septina. „Das war genau die Frage, die ich mir ebenfalls gestellt habe, als ich mit Aurora alles durchgegangen bin.“
Die Lehrerin für Astronomie übernahm die Erklärung. „Ihr Endergebnis ist die Zahl 1294,2 – wie ich vorhin schon sagte, steht die Zahl vor dem Komma für den Quadratgrad, die danach für den Rang. Der Quadratgrad des Sternbilds Jungfrau ist 1294, der Rang ist die 2, Sie verstehen? Beim Wert der Feder ist es genauso. Die Zahl 414,40 setzt sich aus Quadratgrad und Rang des Sternzeichens Steinbock zusammen. Auf diese Weise war die gesamte Rechnung verschlüsselt und zwar in astronomischen Kombinationen, die auch arithmantischen Sinn ergeben. Ich hätte die Rechnung allein genauso wenig lösen können wie Septina oder Sie. Hier war Zusammenarbeit gefordert.“
Überfordert von den vielen Informationen lehnte sich Hermine zurück. In ihrem Kopf formte sich ein Zahlenwirrwarr, das es aufzuflechten galt.
Von Aurora bekam Hermine eine Liste gereicht. Aurora deutete auf das Pergament und erklärte: „Diese Sternzeichen sind, wie Sie der Tabelle entnehmen können, den dort genannten Pflanzen zugeschrieben.“
„Ich bin im Moment ganz erschlagen“, wimmerte Hermine. „Ich sehe nur noch Zahlen.“
Septina lachte freundlich. „Wenn Sie eine Nacht drüber geschlafen haben, sehen Sie das Ganze viel gelassener. Was glauben Sie, wie ich aus dem Häuschen war, als Aurora meine Vermutung bestätigte, es handele sich um eine fachübergreifende Rechnung?“ Aufmunternd zwinkerte Septina ihr zu.
Einmal musste Hermine tief durchatmen, bevor sie die Liste mit den Sternbildern und den Zutaten hob und sich auf die Schrift konzentrierte. Das Pfeilkraut und der Löwe. Unweigerlich musste sie an Harry denken, der sich liebevoll um das Pfeilkraut gekümmert hatte. Durch seine Hilfe hatte die Pflanze einen bis dato nicht gelisteten Wirkstoff produziert, den sie für den Heiltrank benötigte. Harry! Hermines Augen fixierten das Wort Löwe, das neben der Pflanze stand. Harry war ein Löwe und das nicht nur, weil er ein Gryffindor war. Sein Geburtstag, Löwe war sein Sternzeichen!
Aufgeregt schnappte Hermine nach Luft. Sie überschlug sich fast, als sie fragte: „Kann es sein, dass hier Astronomie und Astrologie miteinander verschmelzen?“
Septina bestätigte ihre Vermutung. „Astrologie ist, wie Sie wissen, ein kleiner Bestandteil der Artithmantik und wird für das Wahrsagen benötigt. Astronomie hingegen ist rein wissenschaftlich. Nichtsdestotrotz kennen beide Fächer diese Sternbilder, nur dass sie in der Astrologie als Tierkreiszeichen bezeichnet werden, mit denen man unter anderem Horoskope erstellt. Trotzdem gibt es sie am Himmel; sie zählen zu beiden Fachrichtungen. Warum fragen Sie?“
„Weil ich glaube zu wissen, warum die Pflanzen bestimmten Sternbildern zugeordnet sind, die zufälligerweise auch für Tierkreiszeichen stehen.“
„Mmmh“, machte Septina nachdenklich. „Meinen Sie, dass sich Personen, die im entsprechenden Tierkreiszeichen geboren wurden, um die jeweiligen Pflanzen kümmern müssen?“
„Genau das denke ich“, bestätigte Hermine, die das Gefühl hatte, jeden Moment in Ohnmacht zu fallen.
Erinnerungen an Takedas Gewächshaus überfluteten sie. Die Pflanzen, die die Magie des japanischen Professors aufgenommen hatten. Das sichtbare Loch im Kreis der Gewächse, nachdem Takeda eines umgetopft hatte. Die auf andere Pflanzen überspringende Magie und die miteinander verschmolzene Einheit, die sie bildeten. Die Magie der Bäume, die sich nach den Vögeln streckte. Auf einmal erinnerte sie sich an die Tentakel von Dracos Magie, die sich vorsichtig an Harrys herangetastet hatten.
„Alles macht Sinn“, murmelte Hermine ehrfürchtig.
Aurora musste zustimmen. „Der Gedanke klingt plausibel und deckt sich mit allen Berechnungen. Ich muss aber zugeben, dass ich nicht einmal eine Vermutung habe, warum Personen mit bestimmten Sternzeichen sich um ihnen zugeteilte Pflanzen kümmern sollen.“
„Ich weiß es aber“, versicherte Hermine. Die beiden Damen waren ganz Ohr und deswegen erklärte sie ihnen so kurz wie nur möglich, was sie mit ihrem Farbtrank alles in Erfahrung gebracht hatte.
„Ganz erstaunlich!“, lobte Septina.
Ihr leeres Glas stellte Hermine auf den Tisch, bevor sie sich nochmals die Zeichnung von dem Blumenkasten ansah, an dem auch die genauen Maße zu finden waren.
„Ihr errechnetes Ergebnis war so umfangreich“, begann Septina, „weil alles darin sehr genau beschrieben wird. Angefangen vom Bau des Blumenkastens, der Reihenfolge der Aussaat und die Einwirkung der Sternbilder bis hin zur Verarbeitung der Zutaten. Am Ende steht natürlich der eigentliche, sehr exakt beschriebene Brauprozess.“ Septina legte eine Hand auf Hermines Unterarm und lächelte warm. „In diesem Sinne haben Sie eine wirklich fantastische Arithmantikarbeit vorgelegt, die nicht korrekter hätte sein können.“
Leise, fast wimmernd, erwiderte Hermine: „Ich durfte doch keinen Fehler machen.“
„Sie haben sich meine Worte offenbar sehr eingeprägt.“
Hermine nickte Septina zu und wiederholte, was sie damals im Arithmantikunterricht schon immer befolgt hatte: „Schätzungen sind etwas für Anfänger.“
„Sie, Hermine, haben gar nicht mehr geschätzt, haben nichts dem Zufall überlassen. Könnte ich Ihnen noch eine Note geben, dann wäre diese Arbeit ein ‘Ohnegleichen mit Auszeichnung‘, das entspricht einem ‘Phänomenal‘, nur habe ich diese Note während meiner gesamten Zeit als Lehrerin hier noch nie vergeben.“
Man mochte es kaum glauben, aber diese Note, auch wenn sie niemals schriftlich in ihrem Lebenslauf auftauchen würde, machte Hermine wieder glücklich. Nur eine Sache bedrückte sie noch und das war die fehlende Zutat.
„Ich werde mich morgen gründlich damit auseinander setzen.“ Hermine deutete auf die vielen Unterlagen von Aurora und Septina, die beide bereits wieder zusammenlegten, damit Hermine sie mitnehmen konnte. „Im Moment qualmt mein Kopf.“
„Das verstehen wir“, beruhigten die beiden Lehrerinnen. „Es ging uns genauso. Wir haben jeden Abend bis tief in die Nacht hier gesessen und gerechnet.“
Das kam Hermine mehr als nur bekannt vor. „Vielen Dank, vielen, vielen Dank! Ihre Mühe weiß ich wirklich zu schätzen. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie erleichtert ich bin.“
Als sie Septinas Räume verließ, war sie auf einer Seite tatsächlich erleichtert, auf der anderen aber tief betrübt, diese eine Pflanze bisher noch nicht gefunden zu haben.
Zuhause kramte sie in ihrer geräumigen Tasche, bis sie ihr Notizbuch aufspürte. Sie schlug die letzte beschriebene Seite auf und blätterte dann einige zurück, bis sie sie fand: die Prophezeiung.
„Ein jettschwarzes Symbol auf schneeweißem Grund kann nicht allein durch die Geheimnisse des Willens und seiner Gewalt schwinden. Feuer verzehrt, ein Brand erneuert. Erst nach dieser Reinigung wird seine Flamme es finden, das tränende Herz, um damit seine Wunden zu heilen“, las Hermine leise.
Noch lange grübelte sie über die Worte nach.
„Muss Fawkes erst brennen?“, fragte sie laut in den Raum hinein.
Die Tür nach London war schnell überwunden. Beide standen mit dem Hund auf der Straße der Muggelwelt. Severus blickte an seiner Seite hinunter und erspähte ihre Hand, die sich in seinen Umhang krallte. Hermine ließ sofort los. Gleich darauf fiel ihr etwas auf.
„Severus, dein Umhang. Wirst du nicht auffallen?“
Mit einem Wutsch seines Stabes trug er einen leichten schwarzen Mantel. Niemand auf der belebten Straße hatte die Veränderung bemerkt. Es begann wieder leicht zu nieseln.
Wegen Harry benötigten sie einige Zeit, um voranzukommen, denn der Hund schnüffelte an jeder Laterne, an jedem Papierkorb und an den Häuserwänden. Vorsichtshalber hatte Hermine, weil der Regen immer stärker wurde, aus einer weggeworfenen Zeitung im Handumdrehen einen Regenschirm gezaubert, damit es nicht auffiel, dass sie nicht nass wurden.
Als ihnen ein junges Mädchen mit einem Golden Retriever an der Leine entgegenkam, spitzte Harry aufmerksam die Ohren. Bis auf Fang und Tatze hatte er noch keinen anderen Hund gesehen. Von der Art her sahen Kuvasz und Golden Retriever nicht sehr verschieden aus. Harry war einige Zentimeter größer und schneeweiß, außerdem ungewöhnlich aufgeregt, als der beigefarbene Hund näher kam. Wie wild zog Harry an der Leine, fixierte dabei das andere Tier.
Das Mädchen, höchstens zehn Jahre alt, hatte arge Schwierigkeiten, ihren Hund zu halten und mit der anderen Hand den pinkfarbenen Regenschirm gegen den Wind auszubalancieren. Noch aus der Ferne fragte sie: „Ist Ihr Hund ein Junge?“ Hermine bejahte, woraufhin das Mädchen kommentarlos den Bürgersteig wechselte.
„Was sollte das?“, fragte Severus irritiert. Wie sein Hund blickte er zur anderen Straßenseite hinüber, auf dem der Golden Retriever temperamentvoll an der Leine zerrte, um zu Harry zu gelangen. Auch Harry zog an seiner Leine, doch Severus hatte sie fest im Griff.
„Ich nehme an, die Hundedame befindet sich gerade in der Zeit der Hitze. Deswegen die Frage von dem Mädchen, ob Harry männlich ist.“
Als sie ihren Weg fortsetzten, wurden sie durch Harrys ständige Fluchtversuche gestört, denn er schmeckte die holde Weiblichkeit noch immer mit seinem Gaumen. Seine beinah 200 Millionen Riechzellen informierten ihn darüber, wo sie sich gerade befand, aber vor allem, dass sie bereit war. Harry winselte und hoffte darauf, dass sein Herrchen versehentlich die Leine fallenlassen würde.
„Vielleicht solltest du eine Kastration in Erwägung ziehen.“
„Kommt gar nicht in Frage!“, blockte Severus sofort ab.
„Ich meinte ja auch den Hund“, scherzte Hermine mit einem Schmunzeln auf den Lippen.
„Das war mir schon klar, aber trotzdem: nein.“
„Dann besorg ihm eine Hundedame.“
„Um dann eine Zucht aufzumachen? Auf keinen Fall!“
„Vielleicht …“
Hermine kam nicht mehr dazu, ihren Satz zu beenden, denn Severus ging die Stufen eines Hauses hinauf, das äußerlich einen sehr guten Eindruck machte. Ein Herr öffnete und begrüßte beide sehr freundlich.
„Mr. Snape, Sie sind sehr pünktlich. Treten Sie bitte ein, ich zeige Ihnen die Wohnung.“
Die Räume waren fantastisch geschnitten, ein Kamin war vorhanden und der Preis war akzeptabel. Severus war kurz davor, den Vertrag zu unterschreiben, als ihm das Kleingedruckte auffiel. Als hätte man ihn persönlich beleidigt, legte Severus den Füllfederhalter beiseite und stand auf.
„Gehen wir, Hermine.“
Der Vermieter und auch Hermine waren sehr überrascht über seine plötzlich ablehnende Haltung. „Mr. Snape? Darf ich fragen was Ihnen missfällt?“
Severus drehte sich zu dem Herrn um. Seine Nasenflügel bebten kurz, was in Hermines Augen ein sicheres Anzeichen dafür war, dass er Schwierigkeiten hatte, seine Wut im Zaum zu halten. „Wann hatten Sie vor mir mitzuteilen, dass Haustiere hier nicht erwünscht sind? Stattdessen machen Sie mir alles schmackhaft, um mich zur Unterschrift zu bewegen. Mein Glück, dass ich alles lese, bevor ich unterzeichne.“
„Ist das wahr?“ Hermine griff nach dem Vertrag und stieß auf die entsprechende Vertragsklausel. Aufgebracht wandte sie sich an den Vermieter. „Sie sehen den Hund an seiner Leine und verschweigen ihm diesen Punkt? Mit so einer schlechten Vertrauensbasis kann kein gutes Mietverhältnis zustande kommen.“ Sie legte den Vertrag wieder auf den Tisch. „Auf Wiedersehen.“
Auf der Straße regte sich besonders Hermine über den Mann und seine Taktik auf.
„Der hat bestimmt keine Probleme, einen Mieter zu finden, ohne ihn an der Nase herumzuführen. Warum versucht er es überhaupt?“, meckerte sie.
„Reg dich nicht auf. Die Sache ist erledigt. Es bringt nichts, sich darüber noch Gedanken zu machen.“ Severus blieb kurz stehen, um in seiner Manteltasche nach einem Zettel zu suchen. „Wir sollten uns eine ruhige Ecke suchen, um zu apparieren.“
„Wo geht es denn hin?“ Hermine lugte auf den Zettel. „Torquay? Du sagtest doch, es liegt außerhalb von London.“
„Tut es doch auch oder etwa nicht?“
„Natürlich, genauso wie Hogwarts außerhalb von London liegt“, konterte Hermine augenrollend. „Torquay liegt ein kleines Eckchen abseits, eher in Richtung Südwesten.“
„Durch Apparation gut zu erreichen.“
„Zusammen!“
Er nahm den Hund auf den Arm und Hermine ergriff seine Schulter, damit Severus die Seit-an-Seit-Apparation durchführen konnte. Die Apparation dauerte bei der Entfernung eine Weile. Am Ende fanden sie sich in einer gut situierten Gegend wieder.
„Schick!“, war Hermines erster Eindruck, als sie die edlen Häuser mit ihren großen Gärten betrachtete. Die Straße führte bergauf. Ein Gebäude war hübscher als das andere. Da gab es Familienhäuser, Appartements und sogar ein Manor. Gleich gegenüber von dem Manor war das Gebäude, um das sich Severus bemühte.
„Gehört einer alten Zaubererfamilie“, informierte er sie. „Seit dem Krieg steht es leer und man möchte nun, dass es wieder bewohnt wird.“
„Ich ziehe gern mit ein“, schlug sie unbefangen vor. „Allein der Garten ist wundervoll.“
Ein älterer Herr empfing Severus und Hermine, tätschelte sogar den Hund und erwähnte, wie wohl der sich in dem weitläufigen Garten fühlen würde. Ein Pluspunkt, den Severus aufmerksam zur Kenntnis nahm. Das Haus, durch das sie geführt wurden, war ein Traum. Viele Räume, ein Keller, den man zum Labor umfunktionieren könnte und eine große Küche. Hermine hätte sofort zugeschlagen.
„Etwas groß für eine Person“, stellte Severus am Ende der Führung fest.
„Da behalten Sie Recht, Mr. Snape. Sich um das Haus und den Garten zu kümmern wird einige Zeit in Anspruch nehmen.“
„Wenigstens verfügt es über einen Kamin.“
Der Vermieter zögerte, rückte dann aber mit der Sprache raus: „Er ist aber nicht ans Flohnetzwerk angeschlossen.“
„Warum nicht?“
„Weil das Gebäude nach Muggelgesetzen unter Denkmalschutz steht und wir keine Veränderungen dieser Art durchführen dürfen. Mein Großvater hat das Haus von seinen Muggelvorfahren geerbt. Die Regelungen sind eindeutig: kein Flohnetzwerk, kein Fideliuszauber. Posteulen sind wegen des Schmutzes, den sie verursachen, auch nicht erwünscht. Der alte Weinkeller darf nicht verändert werden. Überhaupt sind bauliche Änderungen nicht gestattet. Sie wären auch dazu verpflichtet, den Garten ausschließlich für Zierpflanzen zu nutzen, also kein Anbau von Gemüse, wegen des äußeren Erscheinungsbildes des Grundstücks.“
„Sehr unerfreulich.“ Severus war sichtbar enttäuscht. „Sie sollten dieses Haus lieber einem Muggel anbieten, Sir. Die Einschränkungen werden ihn kaum so tief treffen wie einen Zauberer.“
„Es tut mir sehr leid, Mr. Snape.“
Nach dem letzten Besichtigungstermin entschlossen sich Hermine und Severus, wenn sie schon gerade hier der verträumten Hafenstadt Torquay waren, das wegen der Häuser an den steilen Hängen sehr an eine italienische Stadt erinnerte, etwas am Wasser entlangzuspazieren. Zum Glück regnete es hier nicht. Severus warf einen Stock, dem Harry freudig hinterherrannte; sein Spieltrieb hatte die Erinnerung an die willige Hundedame längst verdrängt. Hermine hingegen blickte auf den Ärmelkanal.
„Vor zwei Jahren ist hier irgendwo ein Schiff gesunken.“ Aufgrund ihrer Worte kam er näher an sie heran, um ebenfalls aufs Wasser zu schauen, auf dem ein paar Frachtschiffe schipperten. „Man hat erst vor kurzem das letzte Stück bergen können. Sie haben es in mehrere Teile zersägt.“
„Warum hat man es nicht unten gelassen, wenn die Bergung so lange dauerte?“
„Wenn das Wasser niedrig stand, sind andere Schiffe mit den Wrackteilen kollidiert. Es stellte eine Gefahr dar.“
„In der Zaubererwelt hätte man es in zwei, drei Tagen aus dem Wasser holen können.“
„Mag sein, dass das bei uns schneller geht. Andererseits ist es gut, dass die Kapitäne der anderen Schiffe die Bergung im Vorbeifahren immer wieder beobachten konnten. Auf diese Weise wurden sie geprägt. Kein Kapitän möchte, dass es seinem Baby genauso ergeht.“
„Haben Unfälle immer so eine Wirkung auf die Muggel?“
Hermine nickte. „Ich denke schon. Den Unfall selbst muss man gar nicht miterleben. Es reicht vollkommen, wenn man auf der Straße den gestreuten Sand sieht, mit dem die Feuerwehr das Blut eines Unfallopfers bedeckt hat. Das ruft immer eine Reaktion hervor.“
„Eine Art Mahnung also?“
Sie nickte. „Kann man so sehen. Eine Erinnerung daran, dass es immer und überall passieren kann und man stets aufpassen muss. Nach einigen Tagen wird der Sand weggefegt, aber die Erinnerung, dass dort mal etwas Schlimmes passiert ist, die bleibt noch eine Weile.“
Zusammen genossen sie den Sonnenuntergang, bis es zu kühl am Wasser wurde.
„Wir sollten gehen“, schlug Severus vor. „Ich werde später nach anderen Wohnungen suchen.“
„Schon daran gedacht, in die Wohnung über der Apotheke einzuziehen?“, fragte sie unschuldig.
„Ich glaube, die ist leider schon belegt.“
„Es ist aber noch ein Zimmer frei und es ist sehr günstig“, machte sie es ihm mit einem Schmunzeln schmackhaft.
„Günstig?“
„Ja, genau genommen umsonst.“
Für einen kurzen Augenblick spielt er mit dem Gedanken, sofort zuzusagen, denn besser konnte die Lage gar nicht sein. Es war der kürzeste Weg zu seinem Arbeitsplatz, der nur einen Stock tiefer lag. Ihn hielt jedoch etwas davon ab. Leise seufzte er.
„Hermine, meinst du nicht, es würde einen falschen Eindruck machen?“
„Was ist denn der richtige Eindruck?“
Ihre Gegenfrage hatte ihn sprachlos gemacht. Die Erinnerung an das bewegte Foto, das sie ihm geschickt hatte, drängte sich wieder in den Vordergrund. Er war sich sicher, dass sie das Angebot mit dem Zimmer nicht nur aus Nettigkeit unterbreitete. Ihre Motive hatte sie ihm offen dargelegt, ohne jegliches Versteckspiel, was er sehr begrüßte. Es war ihm in der Schule immer ein Gräuel gewesen, sich zaghaft an ein Mädchen heranzutasten, um erst herauszufinden, was sie von ihm hielt. Bei Hermine wusste er bereits, wie sie von ihm dachte.
„Was würden deine Freunde sagen?“
Sie schnaufte. „Ist das so wichtig? Dir gehören die Hälfte der Apotheke und die Hälfte der dazugehörigen Wohnung. Was sollen die schon sagen?“
Severus spitzte die Lippen, dachte nach und nickte letztendlich. „Es ist mein gutes Recht, das zu nutzen, wofür ich bezahlt habe.“
„Siehst du? Geht doch!“ Ihre Hand fand seine. „Wollen wir uns noch den Taufstein von Agatha Christie ansehen? Ich weiß in etwa, wo die Kirche liegt; ich habe darüber gelesen.“
„Machst du das immer?“
„Was?“
„Dir stets alles ansehen, immer dazulernen, egal wo du bist.“
Sie grinste. „Du warst noch nie mit mir im Urlaub. Frag mal meine Eltern.“
Die All Saints‘-Kirche hatte bereits geschlossen, aber Hermine nahm sich vor, dieses Ausflugsziel in naher Zukunft nochmals anzusteuern. Die beiden apparierten zurück nach London. Es überrascht keinen von beiden, dass es nun in Strömen regnete. Für die ganze Woche war schlechtes Wetter angesagt. Schnellen Schrittes gingen sie die Straße entlang, um zum Tropfenden Kessel zu gelangen, als sie an einem Restaurant vorbeikamen. Von der draußen präsentierten Speisekarte magisch angezogen blieb Severus stehen und warf einen Blick darauf.
„Hast du schon zu Abend gegessen?“, wollte er wissen, ohne seine Augen von den Köstlichkeiten abzuwenden, die sich ihm nur aufgrund der Beschreibungen sehr bildhaft in seinem Kopf formten.
„Nein, habe ich nicht.“
„Dann darf ich dich einladen?“
„Jetzt?“
Severus wandte seinen Blick von der Karte ab und schaute ihr in die Augen. „Ich habe jetzt Appetit.“
„Von mir aus. Ich hoffe, Hunde sind erlaubt.“ Als Severus auf ein Schild deutete, das ihre Frage beantwortete, nickte sie. „Dann mal los.“
Galant hielt er ihr die Tür auf. Auf der Stelle kam ein Keller mit einem scheinbar vom Arbeitgeber ins Gesicht gebrannten Dauerlächeln auf sie zu. Er wollte ihnen die Mäntel abnehmen. Severus zögerte. Unter seinem zu einem Mantel verzauberten Umhang trug er seinen üblichen Gehrock. Hermine nickte zuversichtlich, so dass er sich vom Keller helfen ließ, aus dem Mantel zu schlüpfen. Kommentarlos gab dieser Jacke und Mantel an die Garderobiere weiter, die längst in der Nähe stand.
„Ein Tisch für zwei oder erwarten Sie noch jemanden?“
„Für zwei“, bestätigte Severus.
„Dann bitte hier entlang.“
Vorbei an den Tischen für kleinere Grüppchen, von denen einige aufblickten, um Severus‘ außergewöhnliche Kleidung zu mustern, führte der Keller sie durch einen türlosen Durchgang in einen Nebenraum. Hier waren die Tische kleiner und durch ein Trennwandsystem voneinander separiert. Das Licht war gedimmt, denn jeder Tisch verfügte über einen Kerzenhalter. Hier und da saßen sich Pärchen gegenüber.
Nachdem die beiden Platz genommen hatten, die Kerzen vom Keller entzündet waren und sie von ihm die Karte gereicht bekamen, blickte sich Hermine erst einmal um. Einige Paare hielten sich an der Hand, andere flüsterten dem Partner etwas ins Ohr.
„Ich denke“, begann sie bedächtig, „wir vermitteln durchaus den richtigen Eindruck.“
Bevor er irgendetwas entgegnen konnte, hob sie die große Speisekarte und versteckte sich grinsend dahinter.
Das Abendessen war köstlich; die Stimmung, wie Hermine sie bezeichnete, amüsant bis romantisch, auch wenn Severus letzteres vehement abstritt. Nachdem er bezahlt hatte, gingen sie schnellen Schrittes zum Tropfenden Kessel. Es hatte nun auch noch angefangen, kräftig zu blitzten und zu donnern.
Kaum hatten sie die Winkelgasse betreten, bekam Hermine wieder ein schlechtes Gewissen wegen der Berechnung, die sie Septina überlassen hatte. Severus war sehr aufmerksam. Entweder hatte er sie ständig im Auge oder es war ihm nur durch Zufall aufgefallen, denn er als sie die Apotheke betreten hatten, sprach er sie auf ihren plötzlichen Stimmungswechsel an.
„Was ist los? Ich dachte, du hattest Spaß.“
„Ach, es geht nur um das Ergebnis, aus dem ich nicht schlau werde“, erklärte sie.
Sie war kurz davor, ihm von Septinas Hilfe zu erzählen, da schlug er vor: „Kannst du nicht jemanden fragen, der sich damit auskennt?“
„Gut, dass du das ansprichst. Ich habe nämlich schon jemanden gefragt.“
Hermine erwartete das Donnerwetter, das offenbar nur draußen tobte. Severus war die Ruhe in Person.
„Das ist doch gut. Oder kann dir die Person etwa nicht weiterhelfen?“, wollte er wissen.
„Kann ich noch nicht sagen. Die Aufgabe und auch die Lösung sind so komplex, dass ich ihr eine Woche Zeit geben musste.“
„Ihr?“, fragt er in der Hoffnung nach, einen Namen zu erfahren.
„Ich kenne niemand anderen, dem ich zutrauen würde, damit zurechtzukommen.“
„Wer ist sie?“
Jetzt war es an der Zeit, dachte Hermine, ihm die Wahrheit zu sagen.
„Septina.“ Kurz, knapp, präzise. Jetzt würde er mit dem Fluchen beginnen, doch er überraschte sie erneut. Er verhielt sich nicht mehr vorhersehbar, wie sie es ihm anfangs oft unter die Nase gerieben hatte.
„Ah“, machte er optimistisch. „Ich denke, du kannst beruhigt sein.“
Hermine traute ihren Ohren kaum. „Kann ich?“
„Natürlich, Septina ist eine Meisterin ihres Fachs. Wenn jemand helfen kann, dann sie.“
„Und es macht dir gar nichts aus?“, fragte sie vorsichtig nach.
„Warum sollte es?“
„Weil die Berechnung dich betrifft.“
Gelassen zuckte er mit den Schultern. „Sie hat eine Menge Zahlen vor Augen. In deiner Rechnung steht wohl kaum meine gesamte Lebensgeschichte.“
Dabei beließ es Hermine. In gewisser Weise hatte Severus Recht, denn die Zahlen würden nur Genaues verraten, wenn man sich die Mühe machte, die Werte wieder den Objekten zuzuordnen, für die sie standen. Hermine hatte allerdings das dumpfe Gefühl, dass Septina genau das tat, um ein besseres Verständnis für die gesamte Aufgabe zu bekommen.
Beide ließen sich im Wohnzimmer nieder. Es war ein eigenartiges Gefühl, den Abend für sich zu haben. Keine Tränke waren zu brauen, keine Berechnungen zu machen.
„Danke für das Abendessen, Severus.“
„Gern geschehen“, erwiderte er knapp. „Wegen des freien Zimmers …“ Er hielt kurz inne, um sich die Lippen zu befeuchten. „Wann könnte ich es renovieren? Ich würde das gern erledigt haben, bevor ich Hogwarts verlasse.“
„Ach, das geht schnell, wenn du Harrys Elf fragst, ob er dir dabei helfen würde. Das dauert keine Stunde und es ist komplett erneuert und eingerichtet.“
Severus schaute auf die Uhr, die an der Wand hing. Um den Elf jetzt zu rufen, war es schon zu spät. So ganz ohne Arbeit wusste er gar nicht, wie er sich ihr gegenüber verhalten sollte und bevor er etwas Falsches sagte, hielt er lieber den Mund.
„Wie geht es mit den UTZen voran? Irgendwelche Probleme mit den Schülern?“
Er war erleichtert, dass sie ein Thema gefunden hatte. „Keine Probleme meinerseits. Ich habe allerdings von Professor Binns erfahren, dass bei einigen seiner Schüler Hopfen und Malz verloren wäre.“
„Ginny hat davor auch schon Bammel. Wann werden Ginny und Draco ihre Zaubertränkeprüfung haben?“
„Einen genauen Plan habe ich noch nicht erhalten. Die ersten beiden Juni-Wochen werden recht stressig werden. Für die Schüler natürlich, nicht für mich.“
Ruhe kehrte ein. So schnell hatte Severus das Thema UTZe noch nie abgehandelt, außer damals mit Lockhart. Verzweifelt grübelte er über ein anderes Thema nach, denn er würde sich gern mit ihr unterhalten. Ihm fiel aber einfach nichts ein.
„Ich traue mich gar nicht, den Computer anzumachen, den mein Vater mir geschenkt hat.“
Wieder konnte Hermine ein Thema vorgeben. Dankbar registrierte er, dass sie seine Wortkargheit nicht als Zeichen von Ablehnung deutete. Vor zwei Jahren noch hätte er alles Mögliche getan, um lapidaren Gesprächen wie diesen aus dem Weg zu gehen, aber jetzt war es angenehm, mit ihr hier zu sitzen und sich einfach nur zu unterhalten, egal über was.
„Warum traust du dich nicht? Wegen der Magie?“
Sie nickte. „Ich habe Angst, dass er sofort kaputtgeht.“
Sich an ein Gespräch erinnernd, dass er mit ihr einmal geführt hatte, erwähnte er: „Du sagtest einmal, dass das Gerät deiner Vaters unbrauchbar wurde, als du in der Nähe einen Aufrufezauber angewandt hast.“
„Richtig, er konnte ihn danach wegwerfen. Da war alles durchgeschmort.“
„Du selbst bist auch magisch, aber allein deine Anwesenheit hat nichts ausgerichtet.“ Er blickte sie fragend an, bis sie seine Aussage bestätigte. „Dann wirst du nur nicht mit dem Stab zaubern dürfen, aber du solltest es benutzen können. Das Gerät sollte keinen Schaden davontragen. Es wäre einen Versuch wert.“
Sie nickte. „Das wäre aber ein teurer Versuch.“
„Man wird es sonst nie herausfinden.“
Das Gefühl des Vertrauens gewann Oberhand. Die beiden konnten sich gelassen über alles Mögliche unterhalten und so ging es auch die nächsten Tage. Immer, wenn sie die Arbeit beendet hatten, ließen sie sich im Wohnzimmer nieder, um sich bei einem Tee oder Glas Wein zu unterhalten, wie sie es damals während ihrer Ausbildung bei ihm schon getan hatten. Nur an einem Abend hatten sie einen weiteren Gast. Wobbel war so hilfsbereit, das freie Zimmer ganz nach Severus‘ Wünschen zu gestalten. Wie Hermine es vorausgesagt hatte, benötigte der Hauself nicht einmal eine ganze Stunde.
Die Woche, die sie Septina gegeben hatte, war schnell vergangen. Hermine hatte sich über das Flohnetzwerk bei ihr gemeldet und wurde sofort eingeladen, persönlich vorbeizukommen. Natürlich schlug Hermine das Angebot nicht aus, denn die Neugierde war viel zu groß.
„Hermine, guten Abend. Nehmen Sie doch Platz.“
„Sie haben die Werte wieder umgerechnet oder? Sie wissen genau, welche Zahl für was steht.“ Es war Hermine rausgerutscht, aber sie musste es wissen – musste wissen, ob Septina genau wusste, wessen Seelenkern sie zum Wachsen bringen wollte.
Septina nickte freundlich. „Anders war es nicht möglich, die Lösung zu entschlüsseln, aber es ist mir am Ende gelungen. Allerdings …“
Die lange Pause mochte Hermine gar nicht. Diese Pause konnte alles Mögliche bedeuten, auch das Ende aller Hoffnungen. Hermine spürte das pochende Herz in ihrem Brustkorb so heftig toben, als wollte es ausbrechen.
„Spannen Sie mich nicht auf die Folter!“ Der scharfe Ton passte nicht zur sonst so ausgeglichenen Hermine.
„Ganz ruhig, meine Gute. Warten Sie noch einen Moment, dann erklären wir Ihnen, was das alles zu bedeuten hat.“
Erst nickte Hermine erleichtert, dann stockte sie. „‘Wir‘? Was meinen Sie damit?“
„Ich sagte doch, Sie möchten bitte einen Moment warten.“
Es klopfte. Hermines Atmung wurde immer heftiger. Alles deutete darauf hin, dass Septina noch jemanden eingeweiht haben musste. Der Gast, der nun eintrat, war Hermine genauso bekannt wie Septina selbst. Es handelte sich um Professor Aurora Sinistra. Die Lehrerin für Astronomie führte eine Menge Unterlagen mit sich, darunter auch große zusammengerollte Papiere, die so aussahen wie die Sternenkarten, die Hermine noch vom Unterricht in Erinnerung hatte.
„Was hat das zu bedeuten?“ Aufgebracht fasste sich Hermine an die Stirn, gleich darauf legte sie dieselbe Hand über ihren Mund.
„Setzen Sie sich bitte endlich“, forderte Septina ihren Gast ein wenig energischer auf. Aurora hingegen war der Bitte sofort nachgekommen.
Hermine fühlte sich betrogen. „Ich habe Ihnen vertraut!“
„Das können Sie noch immer“, versicherte Septina, die sich Hermine genähert hatte und sie zaghaft am Oberarm berührte, um sie zur Couch zu führen. „Nehmen Sie Platz und hören Sie einfach zu. Es gibt einen Grund, warum Sie die Lösung nicht verstanden haben. Das war der gleiche Grund, warum ich das arithmantische Ergebnis auch nicht sofort entschlüsseln konnte.“
„Was für einen Grund?“ Das aufgeregte Herz begann zu flattern, Hermines Stimme war zittrig. „Oh Merlin, haben Sie einen Drink für mich? Irgendwas!“
Im Moment hielt sich die Aufregung darüber, dass Septina offenbar noch ihre Kollegin Aurora eingeweiht hatte, die Waage mit der Information, das Ergebnis nun endlich entschlüsselt zu haben. Was war schon ein kleiner Nervenzusammenbruch im Vergleich zu einer Seele für Severus? Sie könnte ihn heilen, könnte die Wirkung des Ewigen Sees rückgängig machen. Ihr war danach, einen Freudenschrei auszustoßen, doch ihre Kehle war wie zugeschnürt.
Jemand hielt ihr ein Glas unter die Nase, dessen Inhalt sehr scharf roch. Hermine griff zu und leerte es in drei großen Schlucken. Erst beim nächsten Atemzug spürte sie das Kratzen im Hals und das Verlangen zu husten. Eine Hand schlug ihr zaghaft auf den Rücken, bis sie sich wieder erholt hatte.
„Bekomme ich noch einen?“, fragte Hermine höflich.
„Später. Ich möchte, dass Sie alles verstehen, was wir Ihnen mitzuteilen haben. Das Thema, wie Sie sich denken können, ist nicht gerade leichte Kost.“
Hermine blickte zu Aurora hinüber, dann zu Septina. „Sie beide haben daran gearbeitet?“
Nickend stimmte Septina zu. „Es war nicht zu vermeiden und Sie werden auch gleich verstehen, was ich meine. Lassen Sie uns erklären, was die Lösung beinhaltet.“
Diesmal ergriff Aurora das Wort. „Septina hatte eine Vermutung, die ich bestätigen konnte. Ihr Ergebnis, Hermine, ist nicht vollständig arithmatischen Inhalts.“
„Nicht?“
Hier erklärte Septina: „Sie haben die Zahlenwerte einiger Zutaten errechnet, richtig?“ Hermine nickte, so dass Septina fortfuhr. „Für die Feder der Animagusgestalt haben Sie den Wert 414,40 errechnet. Der Wert für …“, Septina zögerte, bis sie die Bedeutung des Wertes völlig wegließ und nur die Zahl nannte. „1294,2 steht, wie der Wert der Feder auch, für etwas ganz anderes.“
Der große Wert war der, den Hermine für Severus‘ Seelenkern errechnet hatte. Es war kein Wunder, dass Septina es nicht aussprechen wollte. In Hermines Augen war es schon schlimm genug, dass sie es wusste.
„Die Werte stehen für etwas anderes?“, fragte Hermine nach. „Für was?“
Aurora meldete sich wieder zu Wort. „Die Zahl vor dem Komma steht jeweils für den Quadratgrad, die hinter dem Komma für den Rang.“ Die Begriffe waren Hermine nicht fremd, aber noch formte sich keine einleuchtende Erklärung in ihren Gedanken. Sie hing Aurora an den Lippen, bekam selbst kein einziges Wort heraus. „Sie wissen schon: Raumwinkel“, half ihr die Lehrerin auf die Sprünge. „Die von Ihnen errechneten Werte sind übergreifend und stehen zusätzlich für Sternbilder.“
Hermine blinzelte ein paar Male, bevor sie fragte: „Bekomme ich bitte noch einen Schluck zu trinken?“
Offenbar sah man ihr an, dass sie noch etwas nötig hatte, denn Septina füllte ihr Glas ohne Widerspruch auf. Dieses Mal nippte Hermine genüsslich an dem Alkohol und atmete mehrmals durch, bevor sie sich, jetzt viel ruhiger, wieder den beiden Lehrerinnen widmete. Eine Sache interessierte Hermine ganz besonders.
„Was bedeuten die geometrischen Formen in der Lösung?“ Die hatten ihr die meisten Kopfschmerzen bereitet.
„Gut, dass Sie das fragen, Hermine.“ Aurora nahm eine der großen Rollen in die Hand.
Zusammen mit Septinas Hilfe wurde der Tisch abgeräumt, damit die Karte – zumindest dachte Hermine, dass es eine wäre – ausgebreitet werden konnte. Um eine astronomische Sternenkarte handelte es sich nicht. Stattdessen konnte man eine geometrische Form darauf erkennen. Ein Dreieck, dessen Ecken in drei gleichgroßen Kreisen mundeten. In den drei Linien, die diese Kreise verbanden, waren nochmal je zwei kleinere Kreise gezeichnet.
„Was ist das?“, wollte Hermine wissen, als sie sich darüber beugte. Überall neben, unter und über der präzise gezeichneten Form erkannte sie Auroras Handschrift, die sie seit der Schulzeit nicht mehr gesehen hatte.
„Das, Hermine, ist ein Teil der Lösung“, offenbarte Aurora stolz.
Hermine öffnete mehrmals den Mund, doch es hatte ihr die Sprache verschlagen. Stattdessen las sie die Schrift bei den Pfeilen, die zu jeweils einem der neun Kreise führten. An einem stand „Pfeilkraut“, an einem anderen „Zuckerbüsche“ – die Zutaten.
„Ein Teil der Lösung?“, murmelte Hermine und dann, wie aus heiterem Himmel, hatte sie die Antwort. „Eine Bauanleitung!“
„Richtig! Das hier habe ich in einem Maßstab von 1:5 gezeichnet. Man kann es als eine Konstruktion für einen ungewöhnlichen Blumenkasten sehen. Ein Gebilde, in welchem verschiedene Zutaten gemeinsam, aber doch voneinander getrennt gezogen werden.“ Aurora deutete auf die vielen Kreise. „Dank der Berechnungen habe ich bei allen Vertiefungen bereits die Reihenfolge der Pflanzen bestimmen können, in der sie gesät werden müssen. Ich habe mir erlaubt, gleich die Namen der Pflanzen daneben zu schreiben und nicht ihre Zahlenwerte – nur bei einer konnte ich das nicht, da hatte ich nur den Wert.“
„Mir fehlt eine Pflanze. Mehr als ihren Wert habe ich nicht.“ Als Hermine das zugab, hörte man, wie sehr sie das bedauerte.
Septina strich ihr über den Rücken. „Kopf hoch, Hermine. Wenn Sie das alles schon geschafft haben – und ich muss zugeben, dass das eine Glanzleistung ist –, wird es an einer Pflanze bestimmt nicht scheitern. Sie werden Sie schon noch finden, da bin ich ganz sicher.“
Ihrer Kollegin stimmte Aurora zu, bevor sie Hermine noch in andere Aspekte der Lösung einweihte. „Diese Bauanleitung ist aber nur die Spitze des Eisbergs, Hermine. Es gibt noch viel mehr zu beachten. Nicht nur die Aneinanderreihung der Pflanzen ist wichtig, sondern auch der Einfluss, dem sie laut der Lösung unterliegen müssen.“
„Einfluss? Jetzt ist der Moment gekommen, wo ich nicht mehr folgen kann“, gab Hermine resignierend zu.
„Mir ging es nicht anders“, offenbarte Septina mitfühlend, „aber Aurora kann alles ganz fantastisch erklären.“
Das Glas ließ Hermine auf ihr Knie sinken, als sie die Augen schloss. Nach einem kurzen Augenblick fragte sie: „Was ist mit Einfluss gemeint?“
Aus ihren Unterlagen fischte Aurora eine Mappe heraus, die sie aufschlug. Sie blätterte nicht lange darin herum, bis sie fand, was sie gesucht hatte.
„Mit Einfluss meine ich, dass bestimmte Pflanzen einem bestimmten Sternzeichen zugeordnet sind. Das Pfeilkraut beispielsweise ist dem Löwen zugeordnet, die Feder dem Steinbock. Ich habe noch Fische, Zwillinge und Jungfrau errechnet, wobei das Sternbild Jungfrau mit dem Endergebnis übereinstimmt, also mit dem Trank, der gebraut werden soll.“
Hermine runzelte die Stirn. „Inwiefern stimmt das Endergebnis mit dem Sternbild Jungfrau überein? Entschuldigen Sie bitte, wenn ich solche dummen Fragen stelle.“
„Das sind keine dummen Fragen“, versicherte Septina. „Das war genau die Frage, die ich mir ebenfalls gestellt habe, als ich mit Aurora alles durchgegangen bin.“
Die Lehrerin für Astronomie übernahm die Erklärung. „Ihr Endergebnis ist die Zahl 1294,2 – wie ich vorhin schon sagte, steht die Zahl vor dem Komma für den Quadratgrad, die danach für den Rang. Der Quadratgrad des Sternbilds Jungfrau ist 1294, der Rang ist die 2, Sie verstehen? Beim Wert der Feder ist es genauso. Die Zahl 414,40 setzt sich aus Quadratgrad und Rang des Sternzeichens Steinbock zusammen. Auf diese Weise war die gesamte Rechnung verschlüsselt und zwar in astronomischen Kombinationen, die auch arithmantischen Sinn ergeben. Ich hätte die Rechnung allein genauso wenig lösen können wie Septina oder Sie. Hier war Zusammenarbeit gefordert.“
Überfordert von den vielen Informationen lehnte sich Hermine zurück. In ihrem Kopf formte sich ein Zahlenwirrwarr, das es aufzuflechten galt.
Von Aurora bekam Hermine eine Liste gereicht. Aurora deutete auf das Pergament und erklärte: „Diese Sternzeichen sind, wie Sie der Tabelle entnehmen können, den dort genannten Pflanzen zugeschrieben.“
„Ich bin im Moment ganz erschlagen“, wimmerte Hermine. „Ich sehe nur noch Zahlen.“
Septina lachte freundlich. „Wenn Sie eine Nacht drüber geschlafen haben, sehen Sie das Ganze viel gelassener. Was glauben Sie, wie ich aus dem Häuschen war, als Aurora meine Vermutung bestätigte, es handele sich um eine fachübergreifende Rechnung?“ Aufmunternd zwinkerte Septina ihr zu.
Einmal musste Hermine tief durchatmen, bevor sie die Liste mit den Sternbildern und den Zutaten hob und sich auf die Schrift konzentrierte. Das Pfeilkraut und der Löwe. Unweigerlich musste sie an Harry denken, der sich liebevoll um das Pfeilkraut gekümmert hatte. Durch seine Hilfe hatte die Pflanze einen bis dato nicht gelisteten Wirkstoff produziert, den sie für den Heiltrank benötigte. Harry! Hermines Augen fixierten das Wort Löwe, das neben der Pflanze stand. Harry war ein Löwe und das nicht nur, weil er ein Gryffindor war. Sein Geburtstag, Löwe war sein Sternzeichen!
Aufgeregt schnappte Hermine nach Luft. Sie überschlug sich fast, als sie fragte: „Kann es sein, dass hier Astronomie und Astrologie miteinander verschmelzen?“
Septina bestätigte ihre Vermutung. „Astrologie ist, wie Sie wissen, ein kleiner Bestandteil der Artithmantik und wird für das Wahrsagen benötigt. Astronomie hingegen ist rein wissenschaftlich. Nichtsdestotrotz kennen beide Fächer diese Sternbilder, nur dass sie in der Astrologie als Tierkreiszeichen bezeichnet werden, mit denen man unter anderem Horoskope erstellt. Trotzdem gibt es sie am Himmel; sie zählen zu beiden Fachrichtungen. Warum fragen Sie?“
„Weil ich glaube zu wissen, warum die Pflanzen bestimmten Sternbildern zugeordnet sind, die zufälligerweise auch für Tierkreiszeichen stehen.“
„Mmmh“, machte Septina nachdenklich. „Meinen Sie, dass sich Personen, die im entsprechenden Tierkreiszeichen geboren wurden, um die jeweiligen Pflanzen kümmern müssen?“
„Genau das denke ich“, bestätigte Hermine, die das Gefühl hatte, jeden Moment in Ohnmacht zu fallen.
Erinnerungen an Takedas Gewächshaus überfluteten sie. Die Pflanzen, die die Magie des japanischen Professors aufgenommen hatten. Das sichtbare Loch im Kreis der Gewächse, nachdem Takeda eines umgetopft hatte. Die auf andere Pflanzen überspringende Magie und die miteinander verschmolzene Einheit, die sie bildeten. Die Magie der Bäume, die sich nach den Vögeln streckte. Auf einmal erinnerte sie sich an die Tentakel von Dracos Magie, die sich vorsichtig an Harrys herangetastet hatten.
„Alles macht Sinn“, murmelte Hermine ehrfürchtig.
Aurora musste zustimmen. „Der Gedanke klingt plausibel und deckt sich mit allen Berechnungen. Ich muss aber zugeben, dass ich nicht einmal eine Vermutung habe, warum Personen mit bestimmten Sternzeichen sich um ihnen zugeteilte Pflanzen kümmern sollen.“
„Ich weiß es aber“, versicherte Hermine. Die beiden Damen waren ganz Ohr und deswegen erklärte sie ihnen so kurz wie nur möglich, was sie mit ihrem Farbtrank alles in Erfahrung gebracht hatte.
„Ganz erstaunlich!“, lobte Septina.
Ihr leeres Glas stellte Hermine auf den Tisch, bevor sie sich nochmals die Zeichnung von dem Blumenkasten ansah, an dem auch die genauen Maße zu finden waren.
„Ihr errechnetes Ergebnis war so umfangreich“, begann Septina, „weil alles darin sehr genau beschrieben wird. Angefangen vom Bau des Blumenkastens, der Reihenfolge der Aussaat und die Einwirkung der Sternbilder bis hin zur Verarbeitung der Zutaten. Am Ende steht natürlich der eigentliche, sehr exakt beschriebene Brauprozess.“ Septina legte eine Hand auf Hermines Unterarm und lächelte warm. „In diesem Sinne haben Sie eine wirklich fantastische Arithmantikarbeit vorgelegt, die nicht korrekter hätte sein können.“
Leise, fast wimmernd, erwiderte Hermine: „Ich durfte doch keinen Fehler machen.“
„Sie haben sich meine Worte offenbar sehr eingeprägt.“
Hermine nickte Septina zu und wiederholte, was sie damals im Arithmantikunterricht schon immer befolgt hatte: „Schätzungen sind etwas für Anfänger.“
„Sie, Hermine, haben gar nicht mehr geschätzt, haben nichts dem Zufall überlassen. Könnte ich Ihnen noch eine Note geben, dann wäre diese Arbeit ein ‘Ohnegleichen mit Auszeichnung‘, das entspricht einem ‘Phänomenal‘, nur habe ich diese Note während meiner gesamten Zeit als Lehrerin hier noch nie vergeben.“
Man mochte es kaum glauben, aber diese Note, auch wenn sie niemals schriftlich in ihrem Lebenslauf auftauchen würde, machte Hermine wieder glücklich. Nur eine Sache bedrückte sie noch und das war die fehlende Zutat.
„Ich werde mich morgen gründlich damit auseinander setzen.“ Hermine deutete auf die vielen Unterlagen von Aurora und Septina, die beide bereits wieder zusammenlegten, damit Hermine sie mitnehmen konnte. „Im Moment qualmt mein Kopf.“
„Das verstehen wir“, beruhigten die beiden Lehrerinnen. „Es ging uns genauso. Wir haben jeden Abend bis tief in die Nacht hier gesessen und gerechnet.“
Das kam Hermine mehr als nur bekannt vor. „Vielen Dank, vielen, vielen Dank! Ihre Mühe weiß ich wirklich zu schätzen. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie erleichtert ich bin.“
Als sie Septinas Räume verließ, war sie auf einer Seite tatsächlich erleichtert, auf der anderen aber tief betrübt, diese eine Pflanze bisher noch nicht gefunden zu haben.
Zuhause kramte sie in ihrer geräumigen Tasche, bis sie ihr Notizbuch aufspürte. Sie schlug die letzte beschriebene Seite auf und blätterte dann einige zurück, bis sie sie fand: die Prophezeiung.
„Ein jettschwarzes Symbol auf schneeweißem Grund kann nicht allein durch die Geheimnisse des Willens und seiner Gewalt schwinden. Feuer verzehrt, ein Brand erneuert. Erst nach dieser Reinigung wird seine Flamme es finden, das tränende Herz, um damit seine Wunden zu heilen“, las Hermine leise.
Noch lange grübelte sie über die Worte nach.
„Muss Fawkes erst brennen?“, fragte sie laut in den Raum hinein.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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198 Die Jungfrau und der Steinbock
Die Liste mit den vielen Pflanzenarten der Ordnung „Ranunculales“ war Severus endlich durch. Über 1.500 Kräuter, Büsche und Lianen hatte er nachgeschlagen und deren Werte überprüft. Er konnte zwar eine Menge der von Hermine notierten Pflanzen streichen, weil sie alle bereits einen festen Wert in der Arithmantik besaßen, aber es waren noch viel zu viele übrig. Eine von den 323 nicht magischen Pflanzen musste die fehlende Zutat für den Heiltrank darstellen. Hermine müsste mit jeder einzelnen Pflanze einen Test machen, indem sie diese erst nach Takedas Anleitung liebevoll großzog und dann den Wert bestimmte. Eine Aufgabe, die Jahre dauern würde.
Gestresst schloss Severus die Augen. Das Licht in den Kerkern tat ihm nicht gut. Früher hatte er sich kaum an der spärlichen Beleuchtung gestört, die die Fackeln oder die paar Öllampen von sich gaben. Durch die täglichen Spaziergänge mit seinem Hund und durch die Arbeit in der Apotheke war er mittlerweile helles Licht gewohnt. Tageslicht. Das Flackern der Kerzen beeinträchtige seine Stimmung. Die tanzenden Schatten an den kalten Steinwänden taten ihr Übriges, um seine Laune auf den Nullpunkt sinken zu lassen.
Missgelaunt durch die Atmosphäre und die Tatsache, dass es noch so viele Pflanzen waren, die als fehlende Zutat in Frage kamen, räumte er die Pergamente zusammen. Er hatte genug von dieser Schule, von diesen Kerkern. Es zog ihn nach draußen. Den Hund nahm er mit, als er die Stufen hinauf ins Erdgeschoss stieg, um etwas frische Luft zu schnappen, sich vielleicht unter einem Baum zu setzen und zu warten, bis es nicht mehr zu früh war, um Hermine aufzusuchen.
Die Unwetter der vergangenen Tage machte es draußen trotz Sonnenschein sehr ungemütlich. Überall war der Boden mit Pfützen übersät, die Erde war matschig. Den Spaziergang hielt er kurz, obwohl Harry sich prächtig amüsierte, aber Severus wollte sich nicht länger die Schuhe schmutzig machen. Nachdem der Hund seinem Bedürfnis nachgekommen war, ging Severus mit ihm zurück in die Kerker, um zur Apotheke zu flohen. Sollte Hermine noch nicht wach sein, könnte er sich die Zeit auch selbst vertreiben, vielleicht mit einem Band aus ihrem Bücherregal. Er würde es sogar hinten im Garten lesen, aber nur, wenn es einen Platz im Schatten gab. Außerdem hatte Severus Hunger. Ein Frühstück in der Apotheke versprach zudem die ersehnte Ruhe vor den ganzen Schülern, die sich wegen der UTZe kurz vor oder schon mitten in einer Nervenkrise befanden.
Er fand Hermine im Labor vor, als er vorsichtig hineinlugte. Da sie so konzentriert las und sich sogar Stichpunkte mit der Feder machte, wollte er sie nicht stören. In der Küche schlug er ein paar Eier in die Pfanne und schnitt sich etwas vom Toastbrot ab. Das konnte zwar mit dem Frühstück der Hauselfen in Hogwarts nicht mithalten, aber es war selbstgemacht.
Als die einfache Mahlzeit zubereitet war, wagte er es, Hermine zu stören.
„Hermine?“ Sie blickte auf. „Appetit auf ein paar Eier?“
„Guten Morgen, Severus“, erwiderte sie mit fröhlichem Gesicht. „Ja gern.“
In der Küche ließ sie sich von ihm bedienen. Auch Tee und Kaffee waren gemacht und das Rührei verströmte einen appetitanregenden Duft.
„Ich wusste gar nicht“, sie hielt kurz inne, weil sie den üppig gefüllten Teller beäugte, „dass du gern kochst.“ Gleich darauf kostete sie von dem deftig gewürzten Frühstück.
„Ich kochte nicht gern“, offenbarte er, als er gegenüber von ihr Platz nahm. Weil sie ihn verwundert anschaute, versuchte er zu erklären: „Ich empfinde es als lästig. Nur weil ich es gut kann, heißt das nicht, dass ich es gern mache. Es ist eher zu vergleichen mit dem Unterricht in Hogwarts oder mit dem Saubermachen – es musst getan werden.“
„Saubermachen kann aber jeder.“ Sie nahm noch einen Happen in den Mund, kaute und schluckte. Ein wonniger Seufzer entwicht ihr. „Wenn ich so kochen könnte, würde ich es gern machen.“
„Ich könnte es dir beibringen, Hermine, aber weil das nicht gerade mein Steckenpferd ist, musst du damit rechnen, dass ich ein sehr ungeduldiger Lehrer sein werde.“
„Meine Eltern haben es mir nie beigebracht und Molly hat sich an mir die Zähne ausgebissen. Wie hast du kochen gelernt?“
Severus zögerte. „Gar nicht, ich habe es mir von meiner Mutter abgeschaut. Nachdem sie gestorben ist, blieb diese Arbeit an mir hängen.“
„Inwiefern?“
„In den Ferien musste ich Zuhause selbst kochen, wenn ich etwas anderes außer Dosenessen, Porridge oder dünnen Suppen haben wollte. Mein Vater konnte ebenfalls kochen und das gar nicht mal schlecht, er war nur die meiste Zeit nicht mal mehr dazu in der Lage, aufrecht zu gehen.“
„Weil er betrunken war“, ahnte Hermine laut und Severus nickte ihr zustimmend zu. „Hör mal, du musst hier nicht kochen, wenn du das nicht gern machst. Ich könnte mich doch darum küm…“
Mit hochgehaltener Hand unterbrach er sie. „Nein, das ist nicht notwendig.“
„So schlimm schmeckt das nicht, was aus meinen Töpfen kommt.“
„Ich sagte, es ist nicht notwendig.“
Er ließ nicht mit sich diskutieren. Vorgetäuscht eingeschnappt widmete sie sich ihrem Frühstück. Nach einer Weile wollte sie ihn über die Fortschritte in Kenntnis setzen.
„Die Lösung ist übrigens entschlüsselt“, sagte sie nebenher, als hätte sie nur ein belangloses Thema angesprochen. Severus hingegen war ganz Ohr. „Septina musste noch jemanden fragen, weil das von mir errechnete Ergebnis nicht komplett arithmantisch war.“
„Wie ist das möglich?“
„Da fragst du mich zu viel. Septina meinte, dass sie meine Berechnung für sehr kompliziert, aber auch für vorbildlich durchgeführt hält.“ Gegen das stolze Grinsen konnte Hermine nichts tun. „Die Lösung war zusätzlich astronomisch und astrologisch angehaucht. Meine Zutatenwerte waren identisch mit den astronomischen Maßangaben für die Ausdehnung von Himmelsobjekten.“
Severus stutzte. „Und wie exakt ist diese Übereinstimmung?“
„Sehr exakt, Severus. Ich hab alles nachgeprüft. Das gesamte Himmelsgewölbe beherbergt auf 88 Sternbildern verteilt über 41.000 dieser Quadratgrade! Es wäre schon ein seltsamer Zufall, dass die nicht nur mit den Werten für die Zutaten übereinstimmen, sondern darüber hinaus auch noch die Daten für eine Bauanleitung liefern.“
Diese Information überforderte ihn. „Hermine, ich befürchte, du hast mich nicht ganz auf dem Laufenden gehalten. Was für eine Bauanleitung?“
„Ich hab es auch erst erfahren und wollte mich deswegen in die Materie einarbeiten, bevor ich in die Verlegenheit komme, mich bei einer Erklärung dir gegenüber völlig zu blamieren.“
„Um dich zu blamieren reicht es völlig aus, wenn du einmal für mich kochst.“
Sie gab ihm an seinem Oberarm einen leichten Stoß mit dem Handrücken. „Das wird mir ewig nachhängen, oder? Da hat Harry ja ganze Arbeit geleistet, meine Künste in ein schlechtes Licht zu rücken, dabei hat er nur einen einzigen Keks von mir gekostet.“
Einer seiner Mundwinkel zuckte amüsiert. „Zurück zum ‘Sternbild des steinharten Kekses‘.“ Warnend kniff sie bei seiner Überleitung die Augen zusammen, woran er sich nicht störte. „Du sprachst von einer Bauanleitung.“
„Korrekt. Du hast ja gesehen, dass ich auch geometrische Formen errechnet habe. Mit Hilfe aller Zahlen hat Aurora ein Konstrukt zu Papier gebracht, das man auch als Multi-Blumentopf bezeichnen kann. Komm mit, ich zeig es dir.“
Ihre Unterlagen waren im Nu aus Küche und Labor zusammengesucht. Die Kanne Kaffee musste mit, als sie ihn ins Wohnzimmer bat. Auf dem viel zu kleinen Tisch breitete Hermine die von Aurora gezeichnete Bauanleitung aus, die Severus aufmerksam musterte.
„Ein dreieckiges Gebilde, in dem mehrere Pflanzen gezogen werden“, murmelte er, als ihm die Pfeile aufgefallen waren, die jeweils auf einen der insgesamt neun Vertiefungen deuteten.
„Ich bin im Moment dabei, mich mit magischer Schreinerei auseinander zu setzen, um ihn zu bauen.“
„Tatsächlich?“, fragte er, als würde er ihr ein handwerkliches Geschick gar nicht zutrauen.
„Ja, ich habe mir zwei Bücher gekauft, in denen alles drin ist, was ich für einen Bau dieser Größenanordnung benötige.“
„Darf ich mal sehen?“ Seine Frage hatte Hermines Bewegungen einfrieren lassen. „Hermine? Darf ich die Bücher bitte mal sehen?“
„Nein, die sind doch überhaupt nicht wichtig! Lass mich den Kasten einfach bauen, ich mache da schon keinen Fehler.“
„Vielleicht möchte ich dir ja helfen? Ich kenne keine Handwerkszauber und würde gern einen Blick hineinwerfen.“
Die beiden Bücher hatte er längst unter einem Stapel Pergamente entdeckt. Es war ihm jedoch ein Rätsel, warum sie sich so sträubte.
„Nun, wenn du sie mir nicht gibst …“ Ohne dass sie etwas dagegen tun konnte, langte er hinüber und zog die beiden Bücher hervor. Einen Augenblick betrachtete er ihre erröteten Wangen. Es war ein Anblick, der bei ihm Anklang fand. Gleich darauf schaute er sich die Titel an. Er verzog das Gesicht, als er sie mit hörbarer Geringschätzung laut vorlas: „‘Werkeln im Wohnbereich‘ und ‘Zimmern mit Zaubern‘?“ Ein Seufzer entwich ihm. „Beide sind von unserem ‘geschätzten‘ Gilderoy Lockhart verfasst.“
Sofort ging Hermine in den Selbstverteidigungsmodus über, als sie beteuerte: „Er hat die Zaubersprüche ja nicht selbst erfunden, sondern nur zusammengetragen! Die Bücher stehen im Handwerksbereich noch immer unter den Top Ten, genau wie seine Bücher mit Haushaltstipps! Das hat man mir jedenfalls bei Flourish und Blotts gesagt.“
„Und wenn ich daherkommen sollte und die wirkungsvollsten Schutzzauber gegen Dunkle Magie aufliste – die ich nicht einmal selbst erfunden haben –, sie auch noch in einem Buch zusammenfasse, dann ist es genauso wenig eine Meisterleistung wie die Bücher von Lockhart.“
Hermine zuckte mit den Schultern. „Es gibt noch kein solches Buch wie du es beschreibst, Severus. Das wäre eine Marktlücke.“
„Führe mich nicht in Versuchung, Hermine.“
„Nur keine Sorge, das würde bei mir ganz anders aussehen.“ Frech zwinkerte sie ihm zu, bevor sie sich wieder den Unterlagen widmete. „Die Werte für den Kasten stehen für den normalen Feldahorn. Es wird also nicht schwer werden, auch nicht besonders teuer, das Holz zu bekommen. Dank der gesammelten Zaubersprüche fürs Hobeln, Zuschneiden und dergleichen wird der Blumenkasten im Nu fertig sein.“
„Fehlt nur noch eine Pflanze oder hast du sie schon gefunden?“, fragte er hoffnungsvoll.
„Leider noch nicht, aber ich bin zuversichtlich. Ich werde erst einmal alles vorbereiten und zwischendurch fleißig weitersuchen.“ Hermine blickte ihm direkt in die Augen. „Mit der Liste schon weitergekommen?“
„Es stehen nur noch die Pflanzen darauf, die potenzielle Kandidaten darstellen. Trotzdem sind es zu viele, um daraus irgendetwas zu erkennen.“
Sie nickte. „Ich werde Neville mal die Liste geben. Vielleicht kann er etwas dazu sagen. Ich freue mich übrigens jetzt schon drauf, wenn ich ein paar Freunde darum bitten werde, sie mögen sich wie Harry um bestimmte Pflanzen kümmern.“
Hier riss er für einen kurzen Moment die Augen weit auf, um seine Überraschung kundzutun. „Was meinst du damit wieder?“
„Die Pflanzen müssen von Menschen umsorgt werden, die in einem bestimmten Tierkreiszeichen geboren wurden. Das Pfeilkraut ist dem Löwen zugeordnet. Es war purer Zufall, dass Harry sich bereits um diese Pflanze gekümmert hat“, erklärte sie gelassen.
Von ihrer Ruhe hatte Severus momentan nichts inne. „Wer muss denn noch mit einbezogen werden?“
„Mach dir da mal keine Sorgen. Die werden schon keine Fragen stellen, wenn ich sie darum bitte.“
„Sprich endlich!“, forderte er.
Einen Seufzer konnte sie nicht unterdrücken, bevor sie ihm alles erklärte. „Harry ist vom Sternzeichen Löwe.“
„Ja, das sagtest du bereits.“
Sie nahm eines der Papiere von Aurora zu Hilfe. Darauf waren die Sternzeichen notiert und dahinter die Pflanzen.
„Heißt also, Harry kümmert sich um diese Pflanzen“, sie tippe auf entsprechende Stelle auf dem Pergament. „Dracos Sternzeichen ist Zwillinge, er übernimmt diese hier.“
„Wer ist Fische?“
„Da musste ich wirklich eine Weile überlegen. Ich weiß zwar, wer wann Geburtstag hat, aber ich habe die Daten nicht im Kopf, wann ein Tierkreiszeichen endet und ein neues beginnt. Zum Glück steht in jeder Tageszeitung ein Horoskop. Das Symbol für dieses Tierkreiszeichen sind zwei Fische, die in entgegengesetzte Richtungen schwimmen. Ein Fischemann ist hin und hergerissen, hat aber ein sehr ausgeprägtes Gespür für seine Mitmenschen.“
Hermine stockte, weil sie nicht mehr weiterwusste, zauberte sich aber per Aufrufezauber den letzten Tagespropheten an den Tisch und schlug die Seite mit den Horoskopen auf.
„Ja, hier, Fische – 20. Februar - 20. März: Seine Persönlichkeit ist einfühlsam, er ist empfänglich für die Probleme seiner Freunde. Er sieht durch Schutzmauern hindurch und erkennt den wahren Kern eines Menschen. Er ist ein romantischer Träumer, der sich wegen der inneren Zerrissenheit nach einem Gleichgewicht seines eigenen Gemüts sehnt. Seine Hilfsbereitschaft, die auch in vollkommener Aufopferung enden kann, macht ihn zu einem treuen Freund, zu einem perfekten Trostspender. Er hat wegen dieser Eigenschaften fast keine Feinde. Fischemänner sind überaus vorsichtig und sehr schüchtern. Aus Beziehungen möchten sie sich oft herauswinden. Aber gerade die Neigungen des Fisches, durch sein sensibles Wesen in Selbstzweifeln zu ertrinken, kann von einem Partner ferngehalten werden.“
„Es reicht“, warf Severus ein, „ich habe eine Ahnung, von wem wir hier sprechen.“
„Ich habe doch nur die Beschreibung von einem Tierkreiszeichen vorgelesen, Severus. Von wem also sprechen wir denn deiner Meinung nach?“
„Lupin!“
„Der Punkt geht an dich! Es ist irgendwie unheimlich, dass die Beschreibung so gut passt. Das Element der Fische ist natürlich das Wasser. Das der Zwillinge ist die Luft.“
„Hat das eine wichtige Bedeutung?“ Eine Augenbraue wanderte gen Haaransatz. „Ich frage nur, weil mich dieses Thema in der Regel langweilt.“
Sie warf ihm einen Blick zu, der besagte, dass er nicht ungeduldig sein sollte. „Das Element des Löwen, also von Harry, ist das Feuer, beziehungsweise ist sein Planet die Sonne. Fällt dir dabei nichts auf?“
Er kniff die Augen zusammen und grübelte nach.
„Die Prophezeiung fällt mir dabei ein und ehrlich gesagt mag ich den Wortlaut in diesem Zusammenhang ganz und gar nicht.“
„An die Prophezeiung habe ich gar nicht gedacht“, gestand Hermine.
„Inwieweit sollte mir sonst etwas auffallen? Oder spielst du darauf an, dass diese Elemente auch genau die sind, mit denen man Pflanzen zum wachsen bringt?“
„Noch ein Punkt für dich, Severus!“
„Kann ich diese Punkte auch irgendwann einlösen oder sind die nur imaginär?“
„Wenn du genug beisammen hast, dann lasse ich mir etwas einfallen“, scherzte sie. „Natürlich gibt es nur vier Elemente, aber in der Rechnung hätten auch welche doppelt oder dreifach vorkommen können. Ich denke nicht, dass es Zufall ist, dass alle einmal vertreten sind.“
„Alle? Es fehlt aber noch ein Element, Erde!“
„Und da kommen wir beide ins Spiel“, sie legte einen Arm und seine Schulter, „wobei du nur ein paar Federn lassen musst, nicht mehr.“
Einen Augenblick länger als erwartet ließ sie ihren Arm dort, wo er war, bevor sie sich den anderen Zeitschriften zuwandte. Sie blätterte in einer Zeitschrift, die das Format des Klitterers hatte.
„Bei diesen Horoskopen muss ich sagen, stimmt die Beschreibung der Personen sehr genau. Bei Draco scheinen früher seine negativen Eigenschaften dominiert zu haben: unzuverlässig, launisch, unehrlich, oberflächlich. Ich erkenne sein damaliges Ich sehr gut wieder. Heute sieht es natürlich anders aus: schnelle Auffassungsgabe, freundlich, modern, mitfühlend, sprachgewandt. So sehe ich ihn heute auch.“
„Können wir wieder zum Thema zurückkommen oder muss ich noch mehr Punkte sammeln?“
„Ich bin Jungfrau“, sagte sie völlig unvorhergesehen, so dass Severus der Mund offen stand. Weil auch ihr die Zweideutigkeit im Nachhinein nicht entgangen war, machte sie deutlich: „Natürlich als Tierkreiszeichen.“
Sein Mund schnappte zu und man hörte ihn einmal schlucken, bevor er trocken erwiderte: „Jede andere Erklärung hätte auch meine Einschätzung von Mr. Weasleys Persönlichkeit zunichtegemacht. Was hat die Jungfrau bei der ganzen Angelegenheit für eine besondere Aufgabe?“
„Den Trank zu brauen, vorher die Pflanzen zu ziehen und dafür zu sorgen, dass sie unter dem richtigen Einfluss stehen.“ Sie blätterte in einer der Zeitschriften und hielt sie ihm unter die Nase, tippte dabei auf eine bestimmte Stelle. „Hier, lies mal! Die Übereinstimmung finde ich ganz außergewöhnlich, aber das Beste ist der Schluss.“
Es war eine Abhandlung über das Tierkreiszeichen Jungfrau, die zum Glück nicht allzu lang war. Er tat ihr den Gefallen und las still für sich.
‘Die ordnungsliebende Jungfrau ist für ihren scharfen Verstand und ihren Arbeitseifer bekannt, beobachtet zudem ihre Umwelt sehr kritisch und hinterfragt alles und jeden. Durch ihr Pflichtbewusstsein und ihre Pünktlichkeit gilt sie häufig als Streber, kann aber Sympathie erwecken, wenn sie auf weniger perfekte Mitmenschen eingeht und nicht mit ihrem Wissen prahlt. Durch den Merkur besitzt sie ausgeprägte und intellektuelle Fähigkeiten, wodurch die Basis für Vernunft und methodische Analyse geschaffen ist. Zufälle und Unordnung verabscheut sie, nur bei systematischer und durchstrukturierter Arbeit fühlt sie sich wohl. Ihr Auge für Details lässt sie Aufgaben erledigen, die andere als lästig empfinden. Fehler will sie immer vermeiden, sucht und analysiert sie daher bei sich selbst und bei anderen. Mit ihrer beeindruckenden Allgemeinbildung und ihrem wachen Geist ist sie darüber hinaus ein begehrter Gesprächspartner und ein hervorragender Ratgeber. Die Jungfrau ist immerzu erpicht darauf, ihren Geist zu schulen, entpuppt sich dabei nicht selten als Klassenbeste. Selbst mit einem Partner soll alles geregelt ablaufen, auch wenn sie keinesfalls auf einen Mann angewiesen ist. Sie ist selbstsicher und lässt sich nicht blenden, behält immer einen klaren Kopf, um ihre Beziehung objektiv zu beurteilen. Hinter dieser kühl wirkenden Strategie verbirgt sich jedoch eine romantische Seele, die nicht verletzt werden will. Bei Kollegen und Freunden bevorzugt sie glasklare Aussagen. In der Partnerschaft schätzt sie vernünftige Kompromisse. Der Jungfrau wird das Element Erde zugeordnet, ihre Farben sind goldbraun und gelb, ihre Pflanze der Weinstock. Sie mag Himbeeren und Kräutertees, Diskussionen und Dokumentationen. Ihre Wohnung richtet sie zweckdienlich mit einer unverkennbaren Liebe zum Detail ein.‘
Severus stutzte einen Moment und blickte sich im Wohnzimmer um. Das Bücherregal machte beinahe die halbe Möblierung aus. Auf einem Schränkchen stand als Blickfang angeordnet ihr Bonsai-Bäumchen. Kitschiges war kaum vorhanden und wenn doch, dann aus dem elterlichen Haus. Severus las noch den letzten Satz in Gedanken.
‘Tiere, die man mit der Jungfrau in Zusammenhang bringt, sind kleinere Haustiere wie Katzen, Kaninchen und Kniesel, aber auch außergewöhnliche, wie den Drachen oder den Sekretärvogel.“
Spätestens jetzt war der Moment gekommen, in welchem er zumindest versuchen wollte, der von ihm immer so abwertend behandelten und mit Vorurteilen gesehenen Astrologie vielleicht doch eine Chance zu geben. Aber nur unter der Voraussetzung, dass er seine Sprache wiederlangen würde.
„Das ist …“ Noch immer fehlten im die Worte.
„Genau so ging es mir auch. Mir sind die Augen rausgefallen, als ich die Zeitungen von Luna durchgegangen bin.“
Bevor er nachdenken konnte, fragte aus einem Reflex heraus: „Du hast Miss Lovegood darüber informiert?“
„Nein Severus, ich wusste nur, dass der Klitterer mal einige Ausgaben herausgebracht hat, die sich sehr ausführlich mit Astrologie und Sternzeichen befassten. Die habe ich bei ihr angefordert und auch bekommen.“
Die Zeitschrift, in der er gelesen hatte, nahm sie ihm einfach aus der Hand, obwohl es auf der nächsten Seite mit dem Tierkreiszeichen Jungfrau noch weiterging. Als sie den Klitterer weglegen wollte, schnappte er ihn sich.
„Ich war noch nicht fertig.“
„Den Rest brauchst du nicht lesen“, machte sie ihm weis. „Da steht nichts Interessantes.“
„Darf ich das bitte selbst beurteilen?“
„Es ist nicht wichtig!“
Ohne auf ihr seltsam sträubendes Verhalten einzugehen entriss er ihr kurzerhand das Magazin und blätterte zu der Seite, die er eben noch gelesen hatte. Hermine wollte es ihm vermiesen.
„Du glaubst doch gar nicht an so einen Humbug.“
Severus schnaufte. „Wer hat mir denn eben vor Augen gehalten, wie genau so eine Beschreibung sein kann?“
Als wäre es die beste Art zu kontern, zog sie eine andere Zeitschrift aus dem Stapel. „Dann lese ich eben über den Steinbock.“
„Mach doch.“
Beide lasen über das Tierkreiszeichen des anderen. Als er Hermine schnaufen hörte, fragte er, was sie so amüsieren würde.
„Hier steht es endlich mal schwarz auf weiß: Du bist stur!“
„Unsinn!“, entgegnete er trotzig.
„Soll ich vorlesen?“, fragte Hermine mit einer hochgezogenen Augenbraue, die ihm verriet, dass sie es auch tun würde, sollte er verneinen. „Also, hier steht: ‘Auf der positiven Seiten des Steinbockmannes stehen dank Saturn seine Willensstärke und Ernsthaftigkeit, aber es befinden sich auch viele sture Schwarzseher unter ihnen.“ Mit einer eingelegten Pause wollte sie das Vorgelesene dramatisch untermalen, was er mit einem gelangweilten Gesichtsausdruck kommentierte. Sie las sogleich weiter: „‘Ganz wie das Tier überwindet er steile Wege mit überlegten Sprüngen. Geduld und Gründlichkeit nehmen bei ihm den gleichen Stellenwert ein wie die Konzentration. Ist er sich einer Sache sicher langt er zu und bleibt bei seiner Entscheidung, denn ein dauerhafter Erfolg ist ihm wichtig. Mit bemerkenswerter Zielstrebigkeit erkämpft er sich auf der Karriereleiter den Weg nach oben. Er sucht sich eine Partnerin …“
„Ich denke, ich habe genug gehört. Das ist alles Hokuspokus.“ Der erhoffte Erfolg, sie am Weiterlesen zu hindern, blieb aus.
Hermine wiederholte den letzten Satz: „‘Er sucht sich eine Partnerin, die ihn dabei begleitet. Der Steinbock kann sich menschenfreundlich geben, obwohl er meist kühl und wortkarg auftritt. Selten ist er ein gesehener Gast bei Gesellschaften jeder Art.‘“
„Siehst du? Wenn es sogar in den Sternen steht, dass ich mich auf Hochzeiten und dergleichen nicht wohl fühle, willst du da noch wiedersprechen?“, hielt er ihr mit einem Schmunzeln vor Augen.
„Herrje, Severus. Eben war es noch Unsinn, was hier geschrieben steht, und plötzlich versteckst du dich hinter astrologischen Aussagen. Man nimmt eben nur die Passagen, die man für seine Zwecke auslegen kann, richtig? Mal sehen, was hier noch steht. ‘Seine Ernsthaftigkeit legt er nie vollkommen ab. Gut geeignet ist er für tiefsinnige Gespräche. Seine Zurückhaltung und Unfähigkeit, offen zu reden, sorgt häufig für Missverständnisse.‘“
„Das ist eine Frechheit und auch eine Lüge!“
„Es passt doch wunderbar“, verteidigte sie die Beschreibung im Klitterer. „Aber es kommt noch besser: ‘Positiv wirkt sich der weiche Kern aus, den meist nur eine Partnerin unter der harten Schale entdeckt.‘“
„Ich höre mir das nicht länger an!“
Beleidigt stand Severus auf und wollte gerade das Wohnzimmer verlassen, da vernahm er ihre Stimme, die weiter vorlas. Er blieb stehen, denn in Wahrheit wollte er es hören.
„‘Steinböcke nehmen die Liebe äußerst ernst. Von der Partnerin fordert er bedingungslose Treue, die auch ihn selbst auszeichnet. Ehen mit ihm sind dauerhaft, was am Durchhaltevermögen des Steinbocks liegt. Ihm wird das Element der Erde zugeordnet, seine Farben sind allgemein dunkel gehalten; Schwarz oder Dunkelblau. Er mag deftiges Essen und bittere Getränke, Berufslektüre, Sach- und Wissensbücher. Die Wohnung ist mit soliden Möbeln eingerichtet, wirkt dadurch etwas nüchtern. Tiere, die man mit dem Steinbock in Zusammenhang bringt, sind Huftiere wie Rehe, Esel und Pferd. Seine Pflanze ist die Birke.‘“ Hermine blickte von der Zeitschrift auf. „Was hältst du von dem Teil?“
„Ich habe Appetit auf etwas Deftiges bekommen“, erwiderte er, bevor er nach unten zur Küche ging.
Dem Hund gab er etwas zu fressen und weil er gerade dabei war, dem Kniesel auch. Severus dachte über Astrologie nach und wie sehr er dieses Getue verabscheute. Astrologie wurde gern als Humbug gesehen, genauso wie Wahrsagen, aber meist von Muggelgeborenen, die das Thema nur aus ihrer Welt kannten. In der Magischen Welt hatten Wahrsagen, Kartenlegen oder Teeblätter-Lesen eine ganz andere Bedeutung, vor allem aber waren es brauchbare und anerkannte Methoden zur Zukunftsdeutung, denn sonst würde Hogwarts diese Dinge nicht lehren.
Wütend öffnete er den Vorratsschrank und griff sich den Schimmelkäse. Es war einer von der Sorte, bei dem Hermine immer die Nase rümpfte. Auf einer Seite war es ihm unangenehm, dass die Beschreibung des Steinbocks so gut auf ihn zutraf. Die der Jungfrau war für Hermine ebenso treffend. Er fragte sich, ob man das dem Zufall zuschreiben könnte, doch dass selbst Remus bei den Fischen zu erkennen war, machte ihn am Ende stutzig. Besonders aber schwirrte eine Zeile in seinem Kopf umher. Es handelte sich um die letzte Zeile, die bei der Jungfrau stand, denn dort wurde das Thema behandelt, welches andere Sternzeichen perfekt zu ihr passen würde.
„Es war doch nur Spaß“, hörte er sie von der Tür aus reumütig sagen. „War doch nicht ernst gemeint. Mich interessieren Horoskope und Tierkreiszeichen überhaupt nicht.“ Sie kam einige Schritte näher an ihn heran und es wurde schwer, sie weiterhin zu ignorieren. „Ich finde trotzdem lustig, wie alles zu passen scheint. Wahrscheinlich hat man die Beschreibungen der Eigenschaften so allgemein gehalten, dass sie auf jeden zutreffen würden. Was bei der Jungfrau steht, passt nämlich auch wunderbar zu dir.“
„In der Welt der Astrologie gibt es nur zwölf Tierkreiszeichen.“ Gemächlich schnitt er den weichen Käse und legte ihn auf sein Brot. „Man kann nicht alle Menschen der Welt in nur zwölf Kategorien einteilen.“
Mit dem fertigen Brot in der Hand drehte er sich zu ihr. Wie erwartet rümpfte sie die Nase beim Anblick des Schimmelkäses.
„Ich könnte wetten, als du die Vorratskammer aufgemacht hast, ist er“, sie nickte zum Käse, „dir schon freudig entgegengelaufen.“
„Da kannst du Recht haben.“
Gemeinsam nahmen sie am Küchentisch Platz. Hermine hatte einige der Unterlagen und Zeitschriften mitgenommen.
„Während du isst, kann ich dir noch etwas Interessantes erklären.“
„Nein“, winkte er ab, „ich habe genug von Sternzeichen und Astrologie.“
„Es geht um Harrys Sternzeichen, um den Löwen. Das ist wirklich lesenswert.“
Er seufzte. „Gut, dann lies vor.“
Damit er in Ruhe essen konnte, kam sie seiner Bitte nach und las: „Der Löwe-Mann ist die Lebensbejahung in Person. Das Kind der Sonne strahlt Wärme und Freude aus und verfügt dank seines Charismas über ausgezeichnete Führungskräfte. Wie das Tier bewegt auch er sich in seinem Leben frei und selbstbewusst. Wenn der Löwe brüllt, horcht jeder auf, denn sein Wort hat Gewicht.“
Unweigerlich musste Hermine an Harrys Auftritte denken, als Phönixorden und DA noch eins waren. Keines der älteren Mitglieder hatte sein Wort je angezweifelt. Severus hingegen hatte Bilder der Ordensverleihung vor Augen, wo Harry mit seiner Rede jeden zum Schweigen gebracht hatte.
Hermine las weiter: „Von seiner Großherzigkeit profitieren alle; er hat ein Herz aus Gold. Dank seines feurigen Planeten verfügt er über unglaubliche Energien, die ihn zu einer wahren Lichtgestalt heranwachsen lassen. Sein Einsatz für die Schwächeren ist in materieller und auch emotionaler Hinsicht schier grenzenlos uneigennützig. Hat er erst seine Maske mit negativen Eigenschaften abgelegt, wird er die Umwelt mit seiner Herzenswärme fluten. Einschränkungen in seinem Handeln sind dem Löwen zuwider.“
Mit hoch gehaltener Hand unterbrach Severus sie und bestätigte: „Mit seinen nächtlichen Wanderungen über das Schulgelände hat er seine Abneigung gegen Einschränkungen, sprich Schulregeln, schon sehr früh zum Ausdruck gebracht.“
„Ich war ja manchmal auch mit dabei, als wir zum Beispiel mitten in der Nacht hinter Professor Quirrell her waren.“
„Dafür verdient ihr heute noch eine Tracht Prügel und zwar alle drei! Das zeigt mal wieder, wie ignorant und unbelehrbar Gryffindors sind.“
Hermine schnaufte. „Nicht alle. Neville wollte uns einmal aufhalten. Tut mir heute noch leid, dass ich an ihm meinen ersten Petrificus Totalus ausprobiert habe. Albus hat ihm dafür sogar Punkte gegeben, dass er sich uns in den Weg gestellt hat, erinnerst du dich?“
Seine Zähne knirschten. Verbissen nickte er. „Ich erinnere mich nur zu gut. Slytherin hat in diesem Jahr den Hauspokal abtreten müssen.“ Er seufzte, bevor er sie dazu aufforderte weiterzulesen, was sie auch tat.
„Der Löwe setzt seinen Kopf durch, denn er muss sich frei entfalten, damit er ein Lichtgeber werden kann wie sein Planet. Durch seine mit der Zeit gewonnenen Ausgeglichenheit und seinen schöpferischen Fähigkeiten eignet er sich bestens als Kindergärtner oder Lehrer, ist aber auch als Künstler ein As, denn er hat einen Blick für Motive und ein Gehör für Klänge. Er braucht keine feste Hand, die ihn führt, aber eine starke Frau an seiner Seite ist dennoch herzlich willkommen. Der Löwe will eine gleichwertige Partnerin haben, mit der er zusammen sein Heim verteidigt. Das Element Feuer steht für den Löwen, seine Farben sind daher Gold und Leuchtweiß. Seine Pflanzen sind die Palme, der Goldregen und natürlich die Sonnenblume. Er mag seine Mahlzeiten herzhaft, auch fruchtig oder mit vielen Kräutern, trinkt dazu Rotwein oder Kürbissaft. Die Wohnung des Löwen ist prunkvoll eingerichtet, wobei sehr auf Farbenprächtigkeit geachtet wird. Löwen lesen gern Abenteuerromane, sind wenig philosophisch interessiert. Dem Sternzeichen Löwe wird neben sämtlichen katzenartigen Raubtieren auch einige Adlerarten zugeordnet, aber auch der Hirsch, Drache oder gar der Goldfisch.“
Langsam klappte Hermine den Klitterer zu. Severus verspeiste gerade den letzten Happen seines Brotes, als die goldene Sonne aus seinem Traum wieder sehr präsent wurde, doch er teilte seine Gedanken nicht Hermine mit, genau wie es im Klitterer für den Steinbock geschrieben stand. Innerlich seufzte er. Er konnte tatsächlich nicht offen über alles reden, egal wie vertraut er mit Hermine war. Insgesamt hatte er ein ungutes Gefühl, denn wenn die Prophezeiung von Sibyll wahr werden sollte, würde er sich auf etwas gefasst machen müssen. Trotz seiner eingedämmten Fähigkeit, emotional reagieren zu können, spürte er den Atem der Furcht in seinem Nacken. Gänsehaut. Er schüttelte sich.
„Ist dir kalt?“ Hermine blickte neben sich auf das Thermometer. „Es sind 22 Grad.“
„Nein.“ Natürlich sprach er nicht an, was ihn bedrückte. „Ich habe nur gerade feststellen müssen, dass der Goldregen, den man dem Löwen zuspricht, eine Zutat im Heiltrank ist.“
„Wieder einer dieser Zufälle. Langsam glaube ich wirklich nicht mehr daran.“
Ein Themenwechsel musste her, dachte Severus. Astrologie gefiel ihm nicht, weil er sich in diesem Fach nicht auskannte und die erfahrenen Einzelheiten mit ihrer hohen Trefferquote Unbehagen bereiteten. Vermeiden wollte er unbedingt das dazugehörige Thema des perfekten Partners. Solche Gespräche lagen ihm ganz und gar nicht.
„Hat der Halunke gesagt, wann er den Vielsafttrank abholen möchte?“ Der Themenwechsel war perfekt eingeleitet. Hermine erschauerte beim Gedanken an den Überfall und an den üblen Geruch des Mannes.
„Nein, hat er nicht. Er meinte nur, wir sehen uns in einem Monat.“
„Er scheint zu wissen, wie lange der Brauvorgang dauert. Vielleicht hat er das schon öfters getan?“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe ihm gesagt, es dauert einen Monat.“
„Ah“, machte Severus erleichtert. „Dann besteht wenigstens die Möglichkeit, dass du ihn auf eine spätere Uhrzeit vertröstest, wo ich auf jeden Fall hier bin. Ich möchte dich ungern mit diesem Mann allein wissen.“
„Machst dir Sorgen um mich?“ Ihre nette Schäkerei untermalte sie mit einem Zwinkern. Severus behielt seine ernste Miene bei.
„Ich habe lediglich erfahren müssen, dass man die Apotheke nicht allein führen kann. Nur ungern möchte ich dich verlieren und mich mit einem anderen Tränkemeister zusammentun.“
Ihren Schmollmund fand er ganz entzückend, als sie beleidigt sagte: „Das hättest du aber auch netter sagen können.“
„Dann versuche ich es auf andere Weise: Wir beide haben eine so präzise aufeinander abgestimmte Arbeitsweise entwickelt, dass ich sie nicht missen möchte.“
Ihr Lächeln kam zurück, sogar ein wenig verlegen. „Geht mir auch so“, gab Hermine offen zu. „Ich werde jetzt ein paar Bretter aus Feldahorn bestellen.“
„Wo willst du den Kasten bauen?“
„Darüber habe ich mir auch schon Gedanken gemacht. Hogwarts wäre perfekt. Am besten bei Neville in einem der wenig genutzten Gewächshäuser.“
Die Idee wägte Severus einen Moment ab, bevor er dagegenhielt: „Ich werde ab Juli hier sein.“
„Ja schon, aber Remus und Harry sind in Hogwarts. Außerdem kann Neville sich um die Pflege kümmern, wenn wir arbeiten. Draco wird die Schule zu der Zeit sehr wahrscheinlich hinter sich gebracht, wird aber sicherlich nach Hogwarts kommen, um seine Aufgabe zu erfüllen. Ich finde, Hogwarts ist der beste Platz dafür.“
Er hatte sie überredet. „Wie du meinst.“
In den nächsten Tagen war Hermine damit beschäftigt, Remus, Harry und Draco für ihr Projekt zu gewinnen. Bei Draco machte sie den Anfang. Der hatte anfangs gestutzt, als sie ihn darum bat, in einem der Gewächshäuser in Hogwarts regelmäßig eine Blume zu berühren. Er schien sogar kurz davor, sie ins Mungos einweisen zu wollen, doch ihre Erklärung, dass die Magie der Personen auf Pflanzen übergehen konnte, diese dadurch unentdeckte magische Wirkstoffe entfalteten, überzeugten ihn.
Im grünen Salon saßen sich Hermine und Draco gegenüber. Er war der perfekte Gastgeber, achtete immer darauf, dass sie zu trinken hatte und sich rundum wohl fühlte.
„Muss ich auf irgendetwas achten?“, wollte er wissen.
„Nein, es reicht fast schon, die Pflanze regelmäßig zu berühren. Man muss sie nicht einmal streicheln oder mit ihr reden, aber das macht der Professor gern, der mir seine Entdeckung mitgeteilt hat.“
Ihre Erklärungen imponierten ihm. „Das alles wird durch deinen Farbtrank sichtbar? Selbst bei Pflanzen?“
Nickend stimmte sie zu. „Das war unglaublich, das hättest du sehen müssen! Die ganzen Büsche und Blumen haben eine magische Einheit gebildet. Als Takeda eine Wasserpflanze berührt hatte, begann auch sie zu leuchten. Das Pfeilkraut, um das sich Harry gekümmert hat, leuchtet noch immer. Offenbar vergeht die übertragene Magie nicht.“
„Weiß jemand davon?“
„Wovon?“, fragte Hermine nach.
„Von deinen Entdeckungen mit den Pflanzen und der Magie?“ Weil sie den Kopf schüttelte, zog er erstaunt beide Augenbrauen in die Höhe. Gelassen schlug er ein Bein über das andere. „Benötigst du Werbefläche?“
„Was bitte?“
„Werbefläche. Ich habe da einige Zeitungen an der Hand, da könnte ich bestimmt etwas arrangieren. Für dich zum Freundschaftspreis, vielleicht sogar umsonst. Ich bin sowieso der Meinung, dass du aus der Apotheke nicht das Beste herausholst. Mit deinem Vanille-Wolfsbanntrank hättest du längst den Markt an dich gerissen!“
„Ich will den Markt gar nicht an mich reißen, Draco. Schon jetzt stürmen die Leute den Laden, wenn der Vollmond nahe ist.“
„Ah“, machte er, als wäre er erleuchtet worden. „Mundpropaganda! Selbst da könnte ich dir helfen, dass man sogar an Orten von dir spricht, wo du noch nicht bekannt bist.“
„Draco, ist das eine Art Geschäftsgespräch, das wir hier gerade führen?“
„Ja, warum denn nicht? Wie sieht es mit deiner Buchführung aus? Schaffst du das allein?“
Hermine war sich nicht sicher, ob Draco von ihr eine Gegenleistung für seine Mithilfe erwartete – das wäre typisch Slytherin. Andererseits kannte sie ihn heute viel besser.
„Warum fragst du?“
Er setzte sich wieder aufrecht hin. „Ich vermittle in Zusammenarbeit mit der Initiative für die Forderung eines … Du weißt, welche Initiative ich meine, du bist dort Mitglied. Ich vermittle Jobs für benachteiligte Bürger. Das wäre doch ganz in deinem Interesse, oder?“
Jetzt dachte Hermine ernsthaft über das Angebot nach. Weder sie noch Severus mochten die anfallende Buchführung, doch wie das Saubermachen oder Kochen gehörte es zum Leben dazu.
„Ein Squib vielleicht?“ Er wollte es ihr schmackhaft machen. „Einer, der in der Muggelwelt eine Ausbildung absolviert hat? Vielleicht ein Werwolf oder eine andere Person, die aus nicht nachvollziehbaren Gründen aus der Gesellschaft verbannt wurde?“
„Draco, stopp! Ich muss solche Dinge mit Severus besprechen. Ich kann nicht einfach jemanden einstellen.“
Er nickte. „Gut, berede es mit ihm, aber mach das auch! Noch hast du freie Auswahl. Die Kandidaten überprüfe ich persönlich.“
„Was springt für dich dabei heraus?“, fragte sie unverblümt. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass du aus reiner Herzensgüte Jobs vermittelst.“
„Einmalig 100 Galleonen von dir, wovon die Hälfte an die Initiative geht, die Hälfte in mein Geschäft fließt.“
Das war logisch, dachte sie. „Was machst du eigentlich geschäftlich? Ich habe gehört, du bist der alleinige Sponsor von Eintracht Pfützensee.“
„Deren Trikots übrigens alle dein Logo tragen könnten, aber das nur nebenbei erwähnt.“ Ein charmantes Lächeln zierte sein spitzes, blasses Gesicht. „Ich mache alles, was Vorteile verspricht, aber ich haue niemanden übers Ohr, falls man das von mir erwarten sollte. Besprich es einfach mit Severus. Ihr wisst ja, wo ihr mich findet.“ Er nahm einen Schluck Tee. „Zurück zu den Pflanzen. Ich muss nur regelmäßig in einem der Gewächshäuser ein bisschen Zeit mit einer Pflanze verbringen und ihr magisches Leben einhauchen?“
„So ähnlich, ja. Harry hat es auf die harte Tour gemacht, weil ich dachte, die Pflanze muss ständig bei einem sein. Eine neue Erkenntnis von Takeda besagt aber, dass es hauptsächlich regelmäßiger Kontakt über einen bestimmten Zeitraum sein muss, aber ein inniger Kontakt. Auch hat er geschrieben, dass der Pflanze die Magie wieder entzogen wird, wenn man selbst schlechte Laune hat. Bleib also lieber Zuhause, wenn du verstimmt bist, sonst war die Arbeit umsonst.“
„Die Aufgabe hört sich leicht an. Wann geht es los?“
„Ich werde rechtzeitig Bescheid geben, denn eine Pflanze fehlt mir noch. Sie müssen aber zusammen gezogen werden.“
Ihr trüber Blick war nicht zu übersehen, weswegen Draco fragte: „Warum machst du das eigentlich?“
Erschrocken blickte sie auf. „Was?“
„Einen skurrilen Blumenkasten bauen, Pflanzen ziehen und diese von Menschen betutteln lassen. Was für einen Sinn hat das?“
Zwiespalt. Ein Gefühl, das Hermine in den letzten Wochen mehrmals durchleben musste. Draco war einigermaßen mit dem Thema vertraut, hatte bei seinem Patenonkel selbst diese sichtbaren Veränderungen wahrgenommen.
„Ich will Severus helfen, wieder vollständig zu werden“, flüsterte sie so leise, als würde sie befürchten, das Universum würde ihren Plan zunichte machen, sollte sie es laut aussprechen.
„Vollständig? Hat das mit seinen Gefühlen zu tun?“ Hermine nickte. Mehr wollte sie nicht zugeben. „Dann machst du die Pflanzen zu Zutaten, die normalerweise gar keine sein können?“
„Auf einige von ihnen trifft das zu. Andere besitzen eigene Magie, die noch beeinflusst werden muss.“
„Hast du schon einmal darüber nachgedacht, über dieses Thema ein Buch zu schreiben? Ich habe da zwei Verlage an der Hand …“
„Du tust es schon wieder“, unterbrach sie höflich.
„Tut mir leid, Hermine. Ich habe kürzlich von meinem alten Herrn gelernt, keine Gelegenheit außen vorzulassen.“
„Du bist ein gelehriger Schüler“, brachte sie lachend heraus.
Eine dritte Stimme stimmte unerwartet zu: „In der Tat, das ist er.“
Im Türrahmen stand Lucius, der einen Moment zögerte, den Raum zu betreten, sich aber ins Gedächtnis zu rufen schien, dass es auch sein Haus war.
„Guten Tag, Mr. Malfoy“, grüßte Hermine höflich distanziert.
„Miss Granger.“ Lucius verbeugte sich galant, wenn auch nicht sehr tief. „Ich vernahm den Namen eines alten Freundes.“ Ohne einen einzigen Schlenker schnürte Lucius wie ein Fuchs hinüber zu seinem Sohn und Hermine. „Was fehlt ihm denn?“
„Das ist privat, Mr. Malfoy.“
Er schenkte ihr ein nicht ernst gemeintes Lächeln, legte dabei den Kopf leicht schräg. Wäre er nicht von so eigennütziger Persönlichkeit, könnte er mit Leichtigkeit Frauen um den Finger wickeln, dachte Hermine.
„Miss Granger, Severus und ich sind zwar nicht immer einer Meinung, besonders nicht in Bezug auf Frauen“, er musterte sie von oben bis unten, „aber dennoch empfinde ich eine ganz besondere Kameradschaft für ihn.“
„Dann, Mr. Malfoy, sollten Sie ernsthaft in Erwägung ziehen, Severus einen Besuch abzustatten und ihn selbst nach seinem Wohlbefinden zu fragen.“
„Vielleicht werde ich das sogar tun.“
Die Liste mit den vielen Pflanzenarten der Ordnung „Ranunculales“ war Severus endlich durch. Über 1.500 Kräuter, Büsche und Lianen hatte er nachgeschlagen und deren Werte überprüft. Er konnte zwar eine Menge der von Hermine notierten Pflanzen streichen, weil sie alle bereits einen festen Wert in der Arithmantik besaßen, aber es waren noch viel zu viele übrig. Eine von den 323 nicht magischen Pflanzen musste die fehlende Zutat für den Heiltrank darstellen. Hermine müsste mit jeder einzelnen Pflanze einen Test machen, indem sie diese erst nach Takedas Anleitung liebevoll großzog und dann den Wert bestimmte. Eine Aufgabe, die Jahre dauern würde.
Gestresst schloss Severus die Augen. Das Licht in den Kerkern tat ihm nicht gut. Früher hatte er sich kaum an der spärlichen Beleuchtung gestört, die die Fackeln oder die paar Öllampen von sich gaben. Durch die täglichen Spaziergänge mit seinem Hund und durch die Arbeit in der Apotheke war er mittlerweile helles Licht gewohnt. Tageslicht. Das Flackern der Kerzen beeinträchtige seine Stimmung. Die tanzenden Schatten an den kalten Steinwänden taten ihr Übriges, um seine Laune auf den Nullpunkt sinken zu lassen.
Missgelaunt durch die Atmosphäre und die Tatsache, dass es noch so viele Pflanzen waren, die als fehlende Zutat in Frage kamen, räumte er die Pergamente zusammen. Er hatte genug von dieser Schule, von diesen Kerkern. Es zog ihn nach draußen. Den Hund nahm er mit, als er die Stufen hinauf ins Erdgeschoss stieg, um etwas frische Luft zu schnappen, sich vielleicht unter einem Baum zu setzen und zu warten, bis es nicht mehr zu früh war, um Hermine aufzusuchen.
Die Unwetter der vergangenen Tage machte es draußen trotz Sonnenschein sehr ungemütlich. Überall war der Boden mit Pfützen übersät, die Erde war matschig. Den Spaziergang hielt er kurz, obwohl Harry sich prächtig amüsierte, aber Severus wollte sich nicht länger die Schuhe schmutzig machen. Nachdem der Hund seinem Bedürfnis nachgekommen war, ging Severus mit ihm zurück in die Kerker, um zur Apotheke zu flohen. Sollte Hermine noch nicht wach sein, könnte er sich die Zeit auch selbst vertreiben, vielleicht mit einem Band aus ihrem Bücherregal. Er würde es sogar hinten im Garten lesen, aber nur, wenn es einen Platz im Schatten gab. Außerdem hatte Severus Hunger. Ein Frühstück in der Apotheke versprach zudem die ersehnte Ruhe vor den ganzen Schülern, die sich wegen der UTZe kurz vor oder schon mitten in einer Nervenkrise befanden.
Er fand Hermine im Labor vor, als er vorsichtig hineinlugte. Da sie so konzentriert las und sich sogar Stichpunkte mit der Feder machte, wollte er sie nicht stören. In der Küche schlug er ein paar Eier in die Pfanne und schnitt sich etwas vom Toastbrot ab. Das konnte zwar mit dem Frühstück der Hauselfen in Hogwarts nicht mithalten, aber es war selbstgemacht.
Als die einfache Mahlzeit zubereitet war, wagte er es, Hermine zu stören.
„Hermine?“ Sie blickte auf. „Appetit auf ein paar Eier?“
„Guten Morgen, Severus“, erwiderte sie mit fröhlichem Gesicht. „Ja gern.“
In der Küche ließ sie sich von ihm bedienen. Auch Tee und Kaffee waren gemacht und das Rührei verströmte einen appetitanregenden Duft.
„Ich wusste gar nicht“, sie hielt kurz inne, weil sie den üppig gefüllten Teller beäugte, „dass du gern kochst.“ Gleich darauf kostete sie von dem deftig gewürzten Frühstück.
„Ich kochte nicht gern“, offenbarte er, als er gegenüber von ihr Platz nahm. Weil sie ihn verwundert anschaute, versuchte er zu erklären: „Ich empfinde es als lästig. Nur weil ich es gut kann, heißt das nicht, dass ich es gern mache. Es ist eher zu vergleichen mit dem Unterricht in Hogwarts oder mit dem Saubermachen – es musst getan werden.“
„Saubermachen kann aber jeder.“ Sie nahm noch einen Happen in den Mund, kaute und schluckte. Ein wonniger Seufzer entwicht ihr. „Wenn ich so kochen könnte, würde ich es gern machen.“
„Ich könnte es dir beibringen, Hermine, aber weil das nicht gerade mein Steckenpferd ist, musst du damit rechnen, dass ich ein sehr ungeduldiger Lehrer sein werde.“
„Meine Eltern haben es mir nie beigebracht und Molly hat sich an mir die Zähne ausgebissen. Wie hast du kochen gelernt?“
Severus zögerte. „Gar nicht, ich habe es mir von meiner Mutter abgeschaut. Nachdem sie gestorben ist, blieb diese Arbeit an mir hängen.“
„Inwiefern?“
„In den Ferien musste ich Zuhause selbst kochen, wenn ich etwas anderes außer Dosenessen, Porridge oder dünnen Suppen haben wollte. Mein Vater konnte ebenfalls kochen und das gar nicht mal schlecht, er war nur die meiste Zeit nicht mal mehr dazu in der Lage, aufrecht zu gehen.“
„Weil er betrunken war“, ahnte Hermine laut und Severus nickte ihr zustimmend zu. „Hör mal, du musst hier nicht kochen, wenn du das nicht gern machst. Ich könnte mich doch darum küm…“
Mit hochgehaltener Hand unterbrach er sie. „Nein, das ist nicht notwendig.“
„So schlimm schmeckt das nicht, was aus meinen Töpfen kommt.“
„Ich sagte, es ist nicht notwendig.“
Er ließ nicht mit sich diskutieren. Vorgetäuscht eingeschnappt widmete sie sich ihrem Frühstück. Nach einer Weile wollte sie ihn über die Fortschritte in Kenntnis setzen.
„Die Lösung ist übrigens entschlüsselt“, sagte sie nebenher, als hätte sie nur ein belangloses Thema angesprochen. Severus hingegen war ganz Ohr. „Septina musste noch jemanden fragen, weil das von mir errechnete Ergebnis nicht komplett arithmantisch war.“
„Wie ist das möglich?“
„Da fragst du mich zu viel. Septina meinte, dass sie meine Berechnung für sehr kompliziert, aber auch für vorbildlich durchgeführt hält.“ Gegen das stolze Grinsen konnte Hermine nichts tun. „Die Lösung war zusätzlich astronomisch und astrologisch angehaucht. Meine Zutatenwerte waren identisch mit den astronomischen Maßangaben für die Ausdehnung von Himmelsobjekten.“
Severus stutzte. „Und wie exakt ist diese Übereinstimmung?“
„Sehr exakt, Severus. Ich hab alles nachgeprüft. Das gesamte Himmelsgewölbe beherbergt auf 88 Sternbildern verteilt über 41.000 dieser Quadratgrade! Es wäre schon ein seltsamer Zufall, dass die nicht nur mit den Werten für die Zutaten übereinstimmen, sondern darüber hinaus auch noch die Daten für eine Bauanleitung liefern.“
Diese Information überforderte ihn. „Hermine, ich befürchte, du hast mich nicht ganz auf dem Laufenden gehalten. Was für eine Bauanleitung?“
„Ich hab es auch erst erfahren und wollte mich deswegen in die Materie einarbeiten, bevor ich in die Verlegenheit komme, mich bei einer Erklärung dir gegenüber völlig zu blamieren.“
„Um dich zu blamieren reicht es völlig aus, wenn du einmal für mich kochst.“
Sie gab ihm an seinem Oberarm einen leichten Stoß mit dem Handrücken. „Das wird mir ewig nachhängen, oder? Da hat Harry ja ganze Arbeit geleistet, meine Künste in ein schlechtes Licht zu rücken, dabei hat er nur einen einzigen Keks von mir gekostet.“
Einer seiner Mundwinkel zuckte amüsiert. „Zurück zum ‘Sternbild des steinharten Kekses‘.“ Warnend kniff sie bei seiner Überleitung die Augen zusammen, woran er sich nicht störte. „Du sprachst von einer Bauanleitung.“
„Korrekt. Du hast ja gesehen, dass ich auch geometrische Formen errechnet habe. Mit Hilfe aller Zahlen hat Aurora ein Konstrukt zu Papier gebracht, das man auch als Multi-Blumentopf bezeichnen kann. Komm mit, ich zeig es dir.“
Ihre Unterlagen waren im Nu aus Küche und Labor zusammengesucht. Die Kanne Kaffee musste mit, als sie ihn ins Wohnzimmer bat. Auf dem viel zu kleinen Tisch breitete Hermine die von Aurora gezeichnete Bauanleitung aus, die Severus aufmerksam musterte.
„Ein dreieckiges Gebilde, in dem mehrere Pflanzen gezogen werden“, murmelte er, als ihm die Pfeile aufgefallen waren, die jeweils auf einen der insgesamt neun Vertiefungen deuteten.
„Ich bin im Moment dabei, mich mit magischer Schreinerei auseinander zu setzen, um ihn zu bauen.“
„Tatsächlich?“, fragte er, als würde er ihr ein handwerkliches Geschick gar nicht zutrauen.
„Ja, ich habe mir zwei Bücher gekauft, in denen alles drin ist, was ich für einen Bau dieser Größenanordnung benötige.“
„Darf ich mal sehen?“ Seine Frage hatte Hermines Bewegungen einfrieren lassen. „Hermine? Darf ich die Bücher bitte mal sehen?“
„Nein, die sind doch überhaupt nicht wichtig! Lass mich den Kasten einfach bauen, ich mache da schon keinen Fehler.“
„Vielleicht möchte ich dir ja helfen? Ich kenne keine Handwerkszauber und würde gern einen Blick hineinwerfen.“
Die beiden Bücher hatte er längst unter einem Stapel Pergamente entdeckt. Es war ihm jedoch ein Rätsel, warum sie sich so sträubte.
„Nun, wenn du sie mir nicht gibst …“ Ohne dass sie etwas dagegen tun konnte, langte er hinüber und zog die beiden Bücher hervor. Einen Augenblick betrachtete er ihre erröteten Wangen. Es war ein Anblick, der bei ihm Anklang fand. Gleich darauf schaute er sich die Titel an. Er verzog das Gesicht, als er sie mit hörbarer Geringschätzung laut vorlas: „‘Werkeln im Wohnbereich‘ und ‘Zimmern mit Zaubern‘?“ Ein Seufzer entwich ihm. „Beide sind von unserem ‘geschätzten‘ Gilderoy Lockhart verfasst.“
Sofort ging Hermine in den Selbstverteidigungsmodus über, als sie beteuerte: „Er hat die Zaubersprüche ja nicht selbst erfunden, sondern nur zusammengetragen! Die Bücher stehen im Handwerksbereich noch immer unter den Top Ten, genau wie seine Bücher mit Haushaltstipps! Das hat man mir jedenfalls bei Flourish und Blotts gesagt.“
„Und wenn ich daherkommen sollte und die wirkungsvollsten Schutzzauber gegen Dunkle Magie aufliste – die ich nicht einmal selbst erfunden haben –, sie auch noch in einem Buch zusammenfasse, dann ist es genauso wenig eine Meisterleistung wie die Bücher von Lockhart.“
Hermine zuckte mit den Schultern. „Es gibt noch kein solches Buch wie du es beschreibst, Severus. Das wäre eine Marktlücke.“
„Führe mich nicht in Versuchung, Hermine.“
„Nur keine Sorge, das würde bei mir ganz anders aussehen.“ Frech zwinkerte sie ihm zu, bevor sie sich wieder den Unterlagen widmete. „Die Werte für den Kasten stehen für den normalen Feldahorn. Es wird also nicht schwer werden, auch nicht besonders teuer, das Holz zu bekommen. Dank der gesammelten Zaubersprüche fürs Hobeln, Zuschneiden und dergleichen wird der Blumenkasten im Nu fertig sein.“
„Fehlt nur noch eine Pflanze oder hast du sie schon gefunden?“, fragte er hoffnungsvoll.
„Leider noch nicht, aber ich bin zuversichtlich. Ich werde erst einmal alles vorbereiten und zwischendurch fleißig weitersuchen.“ Hermine blickte ihm direkt in die Augen. „Mit der Liste schon weitergekommen?“
„Es stehen nur noch die Pflanzen darauf, die potenzielle Kandidaten darstellen. Trotzdem sind es zu viele, um daraus irgendetwas zu erkennen.“
Sie nickte. „Ich werde Neville mal die Liste geben. Vielleicht kann er etwas dazu sagen. Ich freue mich übrigens jetzt schon drauf, wenn ich ein paar Freunde darum bitten werde, sie mögen sich wie Harry um bestimmte Pflanzen kümmern.“
Hier riss er für einen kurzen Moment die Augen weit auf, um seine Überraschung kundzutun. „Was meinst du damit wieder?“
„Die Pflanzen müssen von Menschen umsorgt werden, die in einem bestimmten Tierkreiszeichen geboren wurden. Das Pfeilkraut ist dem Löwen zugeordnet. Es war purer Zufall, dass Harry sich bereits um diese Pflanze gekümmert hat“, erklärte sie gelassen.
Von ihrer Ruhe hatte Severus momentan nichts inne. „Wer muss denn noch mit einbezogen werden?“
„Mach dir da mal keine Sorgen. Die werden schon keine Fragen stellen, wenn ich sie darum bitte.“
„Sprich endlich!“, forderte er.
Einen Seufzer konnte sie nicht unterdrücken, bevor sie ihm alles erklärte. „Harry ist vom Sternzeichen Löwe.“
„Ja, das sagtest du bereits.“
Sie nahm eines der Papiere von Aurora zu Hilfe. Darauf waren die Sternzeichen notiert und dahinter die Pflanzen.
„Heißt also, Harry kümmert sich um diese Pflanzen“, sie tippe auf entsprechende Stelle auf dem Pergament. „Dracos Sternzeichen ist Zwillinge, er übernimmt diese hier.“
„Wer ist Fische?“
„Da musste ich wirklich eine Weile überlegen. Ich weiß zwar, wer wann Geburtstag hat, aber ich habe die Daten nicht im Kopf, wann ein Tierkreiszeichen endet und ein neues beginnt. Zum Glück steht in jeder Tageszeitung ein Horoskop. Das Symbol für dieses Tierkreiszeichen sind zwei Fische, die in entgegengesetzte Richtungen schwimmen. Ein Fischemann ist hin und hergerissen, hat aber ein sehr ausgeprägtes Gespür für seine Mitmenschen.“
Hermine stockte, weil sie nicht mehr weiterwusste, zauberte sich aber per Aufrufezauber den letzten Tagespropheten an den Tisch und schlug die Seite mit den Horoskopen auf.
„Ja, hier, Fische – 20. Februar - 20. März: Seine Persönlichkeit ist einfühlsam, er ist empfänglich für die Probleme seiner Freunde. Er sieht durch Schutzmauern hindurch und erkennt den wahren Kern eines Menschen. Er ist ein romantischer Träumer, der sich wegen der inneren Zerrissenheit nach einem Gleichgewicht seines eigenen Gemüts sehnt. Seine Hilfsbereitschaft, die auch in vollkommener Aufopferung enden kann, macht ihn zu einem treuen Freund, zu einem perfekten Trostspender. Er hat wegen dieser Eigenschaften fast keine Feinde. Fischemänner sind überaus vorsichtig und sehr schüchtern. Aus Beziehungen möchten sie sich oft herauswinden. Aber gerade die Neigungen des Fisches, durch sein sensibles Wesen in Selbstzweifeln zu ertrinken, kann von einem Partner ferngehalten werden.“
„Es reicht“, warf Severus ein, „ich habe eine Ahnung, von wem wir hier sprechen.“
„Ich habe doch nur die Beschreibung von einem Tierkreiszeichen vorgelesen, Severus. Von wem also sprechen wir denn deiner Meinung nach?“
„Lupin!“
„Der Punkt geht an dich! Es ist irgendwie unheimlich, dass die Beschreibung so gut passt. Das Element der Fische ist natürlich das Wasser. Das der Zwillinge ist die Luft.“
„Hat das eine wichtige Bedeutung?“ Eine Augenbraue wanderte gen Haaransatz. „Ich frage nur, weil mich dieses Thema in der Regel langweilt.“
Sie warf ihm einen Blick zu, der besagte, dass er nicht ungeduldig sein sollte. „Das Element des Löwen, also von Harry, ist das Feuer, beziehungsweise ist sein Planet die Sonne. Fällt dir dabei nichts auf?“
Er kniff die Augen zusammen und grübelte nach.
„Die Prophezeiung fällt mir dabei ein und ehrlich gesagt mag ich den Wortlaut in diesem Zusammenhang ganz und gar nicht.“
„An die Prophezeiung habe ich gar nicht gedacht“, gestand Hermine.
„Inwieweit sollte mir sonst etwas auffallen? Oder spielst du darauf an, dass diese Elemente auch genau die sind, mit denen man Pflanzen zum wachsen bringt?“
„Noch ein Punkt für dich, Severus!“
„Kann ich diese Punkte auch irgendwann einlösen oder sind die nur imaginär?“
„Wenn du genug beisammen hast, dann lasse ich mir etwas einfallen“, scherzte sie. „Natürlich gibt es nur vier Elemente, aber in der Rechnung hätten auch welche doppelt oder dreifach vorkommen können. Ich denke nicht, dass es Zufall ist, dass alle einmal vertreten sind.“
„Alle? Es fehlt aber noch ein Element, Erde!“
„Und da kommen wir beide ins Spiel“, sie legte einen Arm und seine Schulter, „wobei du nur ein paar Federn lassen musst, nicht mehr.“
Einen Augenblick länger als erwartet ließ sie ihren Arm dort, wo er war, bevor sie sich den anderen Zeitschriften zuwandte. Sie blätterte in einer Zeitschrift, die das Format des Klitterers hatte.
„Bei diesen Horoskopen muss ich sagen, stimmt die Beschreibung der Personen sehr genau. Bei Draco scheinen früher seine negativen Eigenschaften dominiert zu haben: unzuverlässig, launisch, unehrlich, oberflächlich. Ich erkenne sein damaliges Ich sehr gut wieder. Heute sieht es natürlich anders aus: schnelle Auffassungsgabe, freundlich, modern, mitfühlend, sprachgewandt. So sehe ich ihn heute auch.“
„Können wir wieder zum Thema zurückkommen oder muss ich noch mehr Punkte sammeln?“
„Ich bin Jungfrau“, sagte sie völlig unvorhergesehen, so dass Severus der Mund offen stand. Weil auch ihr die Zweideutigkeit im Nachhinein nicht entgangen war, machte sie deutlich: „Natürlich als Tierkreiszeichen.“
Sein Mund schnappte zu und man hörte ihn einmal schlucken, bevor er trocken erwiderte: „Jede andere Erklärung hätte auch meine Einschätzung von Mr. Weasleys Persönlichkeit zunichtegemacht. Was hat die Jungfrau bei der ganzen Angelegenheit für eine besondere Aufgabe?“
„Den Trank zu brauen, vorher die Pflanzen zu ziehen und dafür zu sorgen, dass sie unter dem richtigen Einfluss stehen.“ Sie blätterte in einer der Zeitschriften und hielt sie ihm unter die Nase, tippte dabei auf eine bestimmte Stelle. „Hier, lies mal! Die Übereinstimmung finde ich ganz außergewöhnlich, aber das Beste ist der Schluss.“
Es war eine Abhandlung über das Tierkreiszeichen Jungfrau, die zum Glück nicht allzu lang war. Er tat ihr den Gefallen und las still für sich.
‘Die ordnungsliebende Jungfrau ist für ihren scharfen Verstand und ihren Arbeitseifer bekannt, beobachtet zudem ihre Umwelt sehr kritisch und hinterfragt alles und jeden. Durch ihr Pflichtbewusstsein und ihre Pünktlichkeit gilt sie häufig als Streber, kann aber Sympathie erwecken, wenn sie auf weniger perfekte Mitmenschen eingeht und nicht mit ihrem Wissen prahlt. Durch den Merkur besitzt sie ausgeprägte und intellektuelle Fähigkeiten, wodurch die Basis für Vernunft und methodische Analyse geschaffen ist. Zufälle und Unordnung verabscheut sie, nur bei systematischer und durchstrukturierter Arbeit fühlt sie sich wohl. Ihr Auge für Details lässt sie Aufgaben erledigen, die andere als lästig empfinden. Fehler will sie immer vermeiden, sucht und analysiert sie daher bei sich selbst und bei anderen. Mit ihrer beeindruckenden Allgemeinbildung und ihrem wachen Geist ist sie darüber hinaus ein begehrter Gesprächspartner und ein hervorragender Ratgeber. Die Jungfrau ist immerzu erpicht darauf, ihren Geist zu schulen, entpuppt sich dabei nicht selten als Klassenbeste. Selbst mit einem Partner soll alles geregelt ablaufen, auch wenn sie keinesfalls auf einen Mann angewiesen ist. Sie ist selbstsicher und lässt sich nicht blenden, behält immer einen klaren Kopf, um ihre Beziehung objektiv zu beurteilen. Hinter dieser kühl wirkenden Strategie verbirgt sich jedoch eine romantische Seele, die nicht verletzt werden will. Bei Kollegen und Freunden bevorzugt sie glasklare Aussagen. In der Partnerschaft schätzt sie vernünftige Kompromisse. Der Jungfrau wird das Element Erde zugeordnet, ihre Farben sind goldbraun und gelb, ihre Pflanze der Weinstock. Sie mag Himbeeren und Kräutertees, Diskussionen und Dokumentationen. Ihre Wohnung richtet sie zweckdienlich mit einer unverkennbaren Liebe zum Detail ein.‘
Severus stutzte einen Moment und blickte sich im Wohnzimmer um. Das Bücherregal machte beinahe die halbe Möblierung aus. Auf einem Schränkchen stand als Blickfang angeordnet ihr Bonsai-Bäumchen. Kitschiges war kaum vorhanden und wenn doch, dann aus dem elterlichen Haus. Severus las noch den letzten Satz in Gedanken.
‘Tiere, die man mit der Jungfrau in Zusammenhang bringt, sind kleinere Haustiere wie Katzen, Kaninchen und Kniesel, aber auch außergewöhnliche, wie den Drachen oder den Sekretärvogel.“
Spätestens jetzt war der Moment gekommen, in welchem er zumindest versuchen wollte, der von ihm immer so abwertend behandelten und mit Vorurteilen gesehenen Astrologie vielleicht doch eine Chance zu geben. Aber nur unter der Voraussetzung, dass er seine Sprache wiederlangen würde.
„Das ist …“ Noch immer fehlten im die Worte.
„Genau so ging es mir auch. Mir sind die Augen rausgefallen, als ich die Zeitungen von Luna durchgegangen bin.“
Bevor er nachdenken konnte, fragte aus einem Reflex heraus: „Du hast Miss Lovegood darüber informiert?“
„Nein Severus, ich wusste nur, dass der Klitterer mal einige Ausgaben herausgebracht hat, die sich sehr ausführlich mit Astrologie und Sternzeichen befassten. Die habe ich bei ihr angefordert und auch bekommen.“
Die Zeitschrift, in der er gelesen hatte, nahm sie ihm einfach aus der Hand, obwohl es auf der nächsten Seite mit dem Tierkreiszeichen Jungfrau noch weiterging. Als sie den Klitterer weglegen wollte, schnappte er ihn sich.
„Ich war noch nicht fertig.“
„Den Rest brauchst du nicht lesen“, machte sie ihm weis. „Da steht nichts Interessantes.“
„Darf ich das bitte selbst beurteilen?“
„Es ist nicht wichtig!“
Ohne auf ihr seltsam sträubendes Verhalten einzugehen entriss er ihr kurzerhand das Magazin und blätterte zu der Seite, die er eben noch gelesen hatte. Hermine wollte es ihm vermiesen.
„Du glaubst doch gar nicht an so einen Humbug.“
Severus schnaufte. „Wer hat mir denn eben vor Augen gehalten, wie genau so eine Beschreibung sein kann?“
Als wäre es die beste Art zu kontern, zog sie eine andere Zeitschrift aus dem Stapel. „Dann lese ich eben über den Steinbock.“
„Mach doch.“
Beide lasen über das Tierkreiszeichen des anderen. Als er Hermine schnaufen hörte, fragte er, was sie so amüsieren würde.
„Hier steht es endlich mal schwarz auf weiß: Du bist stur!“
„Unsinn!“, entgegnete er trotzig.
„Soll ich vorlesen?“, fragte Hermine mit einer hochgezogenen Augenbraue, die ihm verriet, dass sie es auch tun würde, sollte er verneinen. „Also, hier steht: ‘Auf der positiven Seiten des Steinbockmannes stehen dank Saturn seine Willensstärke und Ernsthaftigkeit, aber es befinden sich auch viele sture Schwarzseher unter ihnen.“ Mit einer eingelegten Pause wollte sie das Vorgelesene dramatisch untermalen, was er mit einem gelangweilten Gesichtsausdruck kommentierte. Sie las sogleich weiter: „‘Ganz wie das Tier überwindet er steile Wege mit überlegten Sprüngen. Geduld und Gründlichkeit nehmen bei ihm den gleichen Stellenwert ein wie die Konzentration. Ist er sich einer Sache sicher langt er zu und bleibt bei seiner Entscheidung, denn ein dauerhafter Erfolg ist ihm wichtig. Mit bemerkenswerter Zielstrebigkeit erkämpft er sich auf der Karriereleiter den Weg nach oben. Er sucht sich eine Partnerin …“
„Ich denke, ich habe genug gehört. Das ist alles Hokuspokus.“ Der erhoffte Erfolg, sie am Weiterlesen zu hindern, blieb aus.
Hermine wiederholte den letzten Satz: „‘Er sucht sich eine Partnerin, die ihn dabei begleitet. Der Steinbock kann sich menschenfreundlich geben, obwohl er meist kühl und wortkarg auftritt. Selten ist er ein gesehener Gast bei Gesellschaften jeder Art.‘“
„Siehst du? Wenn es sogar in den Sternen steht, dass ich mich auf Hochzeiten und dergleichen nicht wohl fühle, willst du da noch wiedersprechen?“, hielt er ihr mit einem Schmunzeln vor Augen.
„Herrje, Severus. Eben war es noch Unsinn, was hier geschrieben steht, und plötzlich versteckst du dich hinter astrologischen Aussagen. Man nimmt eben nur die Passagen, die man für seine Zwecke auslegen kann, richtig? Mal sehen, was hier noch steht. ‘Seine Ernsthaftigkeit legt er nie vollkommen ab. Gut geeignet ist er für tiefsinnige Gespräche. Seine Zurückhaltung und Unfähigkeit, offen zu reden, sorgt häufig für Missverständnisse.‘“
„Das ist eine Frechheit und auch eine Lüge!“
„Es passt doch wunderbar“, verteidigte sie die Beschreibung im Klitterer. „Aber es kommt noch besser: ‘Positiv wirkt sich der weiche Kern aus, den meist nur eine Partnerin unter der harten Schale entdeckt.‘“
„Ich höre mir das nicht länger an!“
Beleidigt stand Severus auf und wollte gerade das Wohnzimmer verlassen, da vernahm er ihre Stimme, die weiter vorlas. Er blieb stehen, denn in Wahrheit wollte er es hören.
„‘Steinböcke nehmen die Liebe äußerst ernst. Von der Partnerin fordert er bedingungslose Treue, die auch ihn selbst auszeichnet. Ehen mit ihm sind dauerhaft, was am Durchhaltevermögen des Steinbocks liegt. Ihm wird das Element der Erde zugeordnet, seine Farben sind allgemein dunkel gehalten; Schwarz oder Dunkelblau. Er mag deftiges Essen und bittere Getränke, Berufslektüre, Sach- und Wissensbücher. Die Wohnung ist mit soliden Möbeln eingerichtet, wirkt dadurch etwas nüchtern. Tiere, die man mit dem Steinbock in Zusammenhang bringt, sind Huftiere wie Rehe, Esel und Pferd. Seine Pflanze ist die Birke.‘“ Hermine blickte von der Zeitschrift auf. „Was hältst du von dem Teil?“
„Ich habe Appetit auf etwas Deftiges bekommen“, erwiderte er, bevor er nach unten zur Küche ging.
Dem Hund gab er etwas zu fressen und weil er gerade dabei war, dem Kniesel auch. Severus dachte über Astrologie nach und wie sehr er dieses Getue verabscheute. Astrologie wurde gern als Humbug gesehen, genauso wie Wahrsagen, aber meist von Muggelgeborenen, die das Thema nur aus ihrer Welt kannten. In der Magischen Welt hatten Wahrsagen, Kartenlegen oder Teeblätter-Lesen eine ganz andere Bedeutung, vor allem aber waren es brauchbare und anerkannte Methoden zur Zukunftsdeutung, denn sonst würde Hogwarts diese Dinge nicht lehren.
Wütend öffnete er den Vorratsschrank und griff sich den Schimmelkäse. Es war einer von der Sorte, bei dem Hermine immer die Nase rümpfte. Auf einer Seite war es ihm unangenehm, dass die Beschreibung des Steinbocks so gut auf ihn zutraf. Die der Jungfrau war für Hermine ebenso treffend. Er fragte sich, ob man das dem Zufall zuschreiben könnte, doch dass selbst Remus bei den Fischen zu erkennen war, machte ihn am Ende stutzig. Besonders aber schwirrte eine Zeile in seinem Kopf umher. Es handelte sich um die letzte Zeile, die bei der Jungfrau stand, denn dort wurde das Thema behandelt, welches andere Sternzeichen perfekt zu ihr passen würde.
„Es war doch nur Spaß“, hörte er sie von der Tür aus reumütig sagen. „War doch nicht ernst gemeint. Mich interessieren Horoskope und Tierkreiszeichen überhaupt nicht.“ Sie kam einige Schritte näher an ihn heran und es wurde schwer, sie weiterhin zu ignorieren. „Ich finde trotzdem lustig, wie alles zu passen scheint. Wahrscheinlich hat man die Beschreibungen der Eigenschaften so allgemein gehalten, dass sie auf jeden zutreffen würden. Was bei der Jungfrau steht, passt nämlich auch wunderbar zu dir.“
„In der Welt der Astrologie gibt es nur zwölf Tierkreiszeichen.“ Gemächlich schnitt er den weichen Käse und legte ihn auf sein Brot. „Man kann nicht alle Menschen der Welt in nur zwölf Kategorien einteilen.“
Mit dem fertigen Brot in der Hand drehte er sich zu ihr. Wie erwartet rümpfte sie die Nase beim Anblick des Schimmelkäses.
„Ich könnte wetten, als du die Vorratskammer aufgemacht hast, ist er“, sie nickte zum Käse, „dir schon freudig entgegengelaufen.“
„Da kannst du Recht haben.“
Gemeinsam nahmen sie am Küchentisch Platz. Hermine hatte einige der Unterlagen und Zeitschriften mitgenommen.
„Während du isst, kann ich dir noch etwas Interessantes erklären.“
„Nein“, winkte er ab, „ich habe genug von Sternzeichen und Astrologie.“
„Es geht um Harrys Sternzeichen, um den Löwen. Das ist wirklich lesenswert.“
Er seufzte. „Gut, dann lies vor.“
Damit er in Ruhe essen konnte, kam sie seiner Bitte nach und las: „Der Löwe-Mann ist die Lebensbejahung in Person. Das Kind der Sonne strahlt Wärme und Freude aus und verfügt dank seines Charismas über ausgezeichnete Führungskräfte. Wie das Tier bewegt auch er sich in seinem Leben frei und selbstbewusst. Wenn der Löwe brüllt, horcht jeder auf, denn sein Wort hat Gewicht.“
Unweigerlich musste Hermine an Harrys Auftritte denken, als Phönixorden und DA noch eins waren. Keines der älteren Mitglieder hatte sein Wort je angezweifelt. Severus hingegen hatte Bilder der Ordensverleihung vor Augen, wo Harry mit seiner Rede jeden zum Schweigen gebracht hatte.
Hermine las weiter: „Von seiner Großherzigkeit profitieren alle; er hat ein Herz aus Gold. Dank seines feurigen Planeten verfügt er über unglaubliche Energien, die ihn zu einer wahren Lichtgestalt heranwachsen lassen. Sein Einsatz für die Schwächeren ist in materieller und auch emotionaler Hinsicht schier grenzenlos uneigennützig. Hat er erst seine Maske mit negativen Eigenschaften abgelegt, wird er die Umwelt mit seiner Herzenswärme fluten. Einschränkungen in seinem Handeln sind dem Löwen zuwider.“
Mit hoch gehaltener Hand unterbrach Severus sie und bestätigte: „Mit seinen nächtlichen Wanderungen über das Schulgelände hat er seine Abneigung gegen Einschränkungen, sprich Schulregeln, schon sehr früh zum Ausdruck gebracht.“
„Ich war ja manchmal auch mit dabei, als wir zum Beispiel mitten in der Nacht hinter Professor Quirrell her waren.“
„Dafür verdient ihr heute noch eine Tracht Prügel und zwar alle drei! Das zeigt mal wieder, wie ignorant und unbelehrbar Gryffindors sind.“
Hermine schnaufte. „Nicht alle. Neville wollte uns einmal aufhalten. Tut mir heute noch leid, dass ich an ihm meinen ersten Petrificus Totalus ausprobiert habe. Albus hat ihm dafür sogar Punkte gegeben, dass er sich uns in den Weg gestellt hat, erinnerst du dich?“
Seine Zähne knirschten. Verbissen nickte er. „Ich erinnere mich nur zu gut. Slytherin hat in diesem Jahr den Hauspokal abtreten müssen.“ Er seufzte, bevor er sie dazu aufforderte weiterzulesen, was sie auch tat.
„Der Löwe setzt seinen Kopf durch, denn er muss sich frei entfalten, damit er ein Lichtgeber werden kann wie sein Planet. Durch seine mit der Zeit gewonnenen Ausgeglichenheit und seinen schöpferischen Fähigkeiten eignet er sich bestens als Kindergärtner oder Lehrer, ist aber auch als Künstler ein As, denn er hat einen Blick für Motive und ein Gehör für Klänge. Er braucht keine feste Hand, die ihn führt, aber eine starke Frau an seiner Seite ist dennoch herzlich willkommen. Der Löwe will eine gleichwertige Partnerin haben, mit der er zusammen sein Heim verteidigt. Das Element Feuer steht für den Löwen, seine Farben sind daher Gold und Leuchtweiß. Seine Pflanzen sind die Palme, der Goldregen und natürlich die Sonnenblume. Er mag seine Mahlzeiten herzhaft, auch fruchtig oder mit vielen Kräutern, trinkt dazu Rotwein oder Kürbissaft. Die Wohnung des Löwen ist prunkvoll eingerichtet, wobei sehr auf Farbenprächtigkeit geachtet wird. Löwen lesen gern Abenteuerromane, sind wenig philosophisch interessiert. Dem Sternzeichen Löwe wird neben sämtlichen katzenartigen Raubtieren auch einige Adlerarten zugeordnet, aber auch der Hirsch, Drache oder gar der Goldfisch.“
Langsam klappte Hermine den Klitterer zu. Severus verspeiste gerade den letzten Happen seines Brotes, als die goldene Sonne aus seinem Traum wieder sehr präsent wurde, doch er teilte seine Gedanken nicht Hermine mit, genau wie es im Klitterer für den Steinbock geschrieben stand. Innerlich seufzte er. Er konnte tatsächlich nicht offen über alles reden, egal wie vertraut er mit Hermine war. Insgesamt hatte er ein ungutes Gefühl, denn wenn die Prophezeiung von Sibyll wahr werden sollte, würde er sich auf etwas gefasst machen müssen. Trotz seiner eingedämmten Fähigkeit, emotional reagieren zu können, spürte er den Atem der Furcht in seinem Nacken. Gänsehaut. Er schüttelte sich.
„Ist dir kalt?“ Hermine blickte neben sich auf das Thermometer. „Es sind 22 Grad.“
„Nein.“ Natürlich sprach er nicht an, was ihn bedrückte. „Ich habe nur gerade feststellen müssen, dass der Goldregen, den man dem Löwen zuspricht, eine Zutat im Heiltrank ist.“
„Wieder einer dieser Zufälle. Langsam glaube ich wirklich nicht mehr daran.“
Ein Themenwechsel musste her, dachte Severus. Astrologie gefiel ihm nicht, weil er sich in diesem Fach nicht auskannte und die erfahrenen Einzelheiten mit ihrer hohen Trefferquote Unbehagen bereiteten. Vermeiden wollte er unbedingt das dazugehörige Thema des perfekten Partners. Solche Gespräche lagen ihm ganz und gar nicht.
„Hat der Halunke gesagt, wann er den Vielsafttrank abholen möchte?“ Der Themenwechsel war perfekt eingeleitet. Hermine erschauerte beim Gedanken an den Überfall und an den üblen Geruch des Mannes.
„Nein, hat er nicht. Er meinte nur, wir sehen uns in einem Monat.“
„Er scheint zu wissen, wie lange der Brauvorgang dauert. Vielleicht hat er das schon öfters getan?“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe ihm gesagt, es dauert einen Monat.“
„Ah“, machte Severus erleichtert. „Dann besteht wenigstens die Möglichkeit, dass du ihn auf eine spätere Uhrzeit vertröstest, wo ich auf jeden Fall hier bin. Ich möchte dich ungern mit diesem Mann allein wissen.“
„Machst dir Sorgen um mich?“ Ihre nette Schäkerei untermalte sie mit einem Zwinkern. Severus behielt seine ernste Miene bei.
„Ich habe lediglich erfahren müssen, dass man die Apotheke nicht allein führen kann. Nur ungern möchte ich dich verlieren und mich mit einem anderen Tränkemeister zusammentun.“
Ihren Schmollmund fand er ganz entzückend, als sie beleidigt sagte: „Das hättest du aber auch netter sagen können.“
„Dann versuche ich es auf andere Weise: Wir beide haben eine so präzise aufeinander abgestimmte Arbeitsweise entwickelt, dass ich sie nicht missen möchte.“
Ihr Lächeln kam zurück, sogar ein wenig verlegen. „Geht mir auch so“, gab Hermine offen zu. „Ich werde jetzt ein paar Bretter aus Feldahorn bestellen.“
„Wo willst du den Kasten bauen?“
„Darüber habe ich mir auch schon Gedanken gemacht. Hogwarts wäre perfekt. Am besten bei Neville in einem der wenig genutzten Gewächshäuser.“
Die Idee wägte Severus einen Moment ab, bevor er dagegenhielt: „Ich werde ab Juli hier sein.“
„Ja schon, aber Remus und Harry sind in Hogwarts. Außerdem kann Neville sich um die Pflege kümmern, wenn wir arbeiten. Draco wird die Schule zu der Zeit sehr wahrscheinlich hinter sich gebracht, wird aber sicherlich nach Hogwarts kommen, um seine Aufgabe zu erfüllen. Ich finde, Hogwarts ist der beste Platz dafür.“
Er hatte sie überredet. „Wie du meinst.“
In den nächsten Tagen war Hermine damit beschäftigt, Remus, Harry und Draco für ihr Projekt zu gewinnen. Bei Draco machte sie den Anfang. Der hatte anfangs gestutzt, als sie ihn darum bat, in einem der Gewächshäuser in Hogwarts regelmäßig eine Blume zu berühren. Er schien sogar kurz davor, sie ins Mungos einweisen zu wollen, doch ihre Erklärung, dass die Magie der Personen auf Pflanzen übergehen konnte, diese dadurch unentdeckte magische Wirkstoffe entfalteten, überzeugten ihn.
Im grünen Salon saßen sich Hermine und Draco gegenüber. Er war der perfekte Gastgeber, achtete immer darauf, dass sie zu trinken hatte und sich rundum wohl fühlte.
„Muss ich auf irgendetwas achten?“, wollte er wissen.
„Nein, es reicht fast schon, die Pflanze regelmäßig zu berühren. Man muss sie nicht einmal streicheln oder mit ihr reden, aber das macht der Professor gern, der mir seine Entdeckung mitgeteilt hat.“
Ihre Erklärungen imponierten ihm. „Das alles wird durch deinen Farbtrank sichtbar? Selbst bei Pflanzen?“
Nickend stimmte sie zu. „Das war unglaublich, das hättest du sehen müssen! Die ganzen Büsche und Blumen haben eine magische Einheit gebildet. Als Takeda eine Wasserpflanze berührt hatte, begann auch sie zu leuchten. Das Pfeilkraut, um das sich Harry gekümmert hat, leuchtet noch immer. Offenbar vergeht die übertragene Magie nicht.“
„Weiß jemand davon?“
„Wovon?“, fragte Hermine nach.
„Von deinen Entdeckungen mit den Pflanzen und der Magie?“ Weil sie den Kopf schüttelte, zog er erstaunt beide Augenbrauen in die Höhe. Gelassen schlug er ein Bein über das andere. „Benötigst du Werbefläche?“
„Was bitte?“
„Werbefläche. Ich habe da einige Zeitungen an der Hand, da könnte ich bestimmt etwas arrangieren. Für dich zum Freundschaftspreis, vielleicht sogar umsonst. Ich bin sowieso der Meinung, dass du aus der Apotheke nicht das Beste herausholst. Mit deinem Vanille-Wolfsbanntrank hättest du längst den Markt an dich gerissen!“
„Ich will den Markt gar nicht an mich reißen, Draco. Schon jetzt stürmen die Leute den Laden, wenn der Vollmond nahe ist.“
„Ah“, machte er, als wäre er erleuchtet worden. „Mundpropaganda! Selbst da könnte ich dir helfen, dass man sogar an Orten von dir spricht, wo du noch nicht bekannt bist.“
„Draco, ist das eine Art Geschäftsgespräch, das wir hier gerade führen?“
„Ja, warum denn nicht? Wie sieht es mit deiner Buchführung aus? Schaffst du das allein?“
Hermine war sich nicht sicher, ob Draco von ihr eine Gegenleistung für seine Mithilfe erwartete – das wäre typisch Slytherin. Andererseits kannte sie ihn heute viel besser.
„Warum fragst du?“
Er setzte sich wieder aufrecht hin. „Ich vermittle in Zusammenarbeit mit der Initiative für die Forderung eines … Du weißt, welche Initiative ich meine, du bist dort Mitglied. Ich vermittle Jobs für benachteiligte Bürger. Das wäre doch ganz in deinem Interesse, oder?“
Jetzt dachte Hermine ernsthaft über das Angebot nach. Weder sie noch Severus mochten die anfallende Buchführung, doch wie das Saubermachen oder Kochen gehörte es zum Leben dazu.
„Ein Squib vielleicht?“ Er wollte es ihr schmackhaft machen. „Einer, der in der Muggelwelt eine Ausbildung absolviert hat? Vielleicht ein Werwolf oder eine andere Person, die aus nicht nachvollziehbaren Gründen aus der Gesellschaft verbannt wurde?“
„Draco, stopp! Ich muss solche Dinge mit Severus besprechen. Ich kann nicht einfach jemanden einstellen.“
Er nickte. „Gut, berede es mit ihm, aber mach das auch! Noch hast du freie Auswahl. Die Kandidaten überprüfe ich persönlich.“
„Was springt für dich dabei heraus?“, fragte sie unverblümt. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass du aus reiner Herzensgüte Jobs vermittelst.“
„Einmalig 100 Galleonen von dir, wovon die Hälfte an die Initiative geht, die Hälfte in mein Geschäft fließt.“
Das war logisch, dachte sie. „Was machst du eigentlich geschäftlich? Ich habe gehört, du bist der alleinige Sponsor von Eintracht Pfützensee.“
„Deren Trikots übrigens alle dein Logo tragen könnten, aber das nur nebenbei erwähnt.“ Ein charmantes Lächeln zierte sein spitzes, blasses Gesicht. „Ich mache alles, was Vorteile verspricht, aber ich haue niemanden übers Ohr, falls man das von mir erwarten sollte. Besprich es einfach mit Severus. Ihr wisst ja, wo ihr mich findet.“ Er nahm einen Schluck Tee. „Zurück zu den Pflanzen. Ich muss nur regelmäßig in einem der Gewächshäuser ein bisschen Zeit mit einer Pflanze verbringen und ihr magisches Leben einhauchen?“
„So ähnlich, ja. Harry hat es auf die harte Tour gemacht, weil ich dachte, die Pflanze muss ständig bei einem sein. Eine neue Erkenntnis von Takeda besagt aber, dass es hauptsächlich regelmäßiger Kontakt über einen bestimmten Zeitraum sein muss, aber ein inniger Kontakt. Auch hat er geschrieben, dass der Pflanze die Magie wieder entzogen wird, wenn man selbst schlechte Laune hat. Bleib also lieber Zuhause, wenn du verstimmt bist, sonst war die Arbeit umsonst.“
„Die Aufgabe hört sich leicht an. Wann geht es los?“
„Ich werde rechtzeitig Bescheid geben, denn eine Pflanze fehlt mir noch. Sie müssen aber zusammen gezogen werden.“
Ihr trüber Blick war nicht zu übersehen, weswegen Draco fragte: „Warum machst du das eigentlich?“
Erschrocken blickte sie auf. „Was?“
„Einen skurrilen Blumenkasten bauen, Pflanzen ziehen und diese von Menschen betutteln lassen. Was für einen Sinn hat das?“
Zwiespalt. Ein Gefühl, das Hermine in den letzten Wochen mehrmals durchleben musste. Draco war einigermaßen mit dem Thema vertraut, hatte bei seinem Patenonkel selbst diese sichtbaren Veränderungen wahrgenommen.
„Ich will Severus helfen, wieder vollständig zu werden“, flüsterte sie so leise, als würde sie befürchten, das Universum würde ihren Plan zunichte machen, sollte sie es laut aussprechen.
„Vollständig? Hat das mit seinen Gefühlen zu tun?“ Hermine nickte. Mehr wollte sie nicht zugeben. „Dann machst du die Pflanzen zu Zutaten, die normalerweise gar keine sein können?“
„Auf einige von ihnen trifft das zu. Andere besitzen eigene Magie, die noch beeinflusst werden muss.“
„Hast du schon einmal darüber nachgedacht, über dieses Thema ein Buch zu schreiben? Ich habe da zwei Verlage an der Hand …“
„Du tust es schon wieder“, unterbrach sie höflich.
„Tut mir leid, Hermine. Ich habe kürzlich von meinem alten Herrn gelernt, keine Gelegenheit außen vorzulassen.“
„Du bist ein gelehriger Schüler“, brachte sie lachend heraus.
Eine dritte Stimme stimmte unerwartet zu: „In der Tat, das ist er.“
Im Türrahmen stand Lucius, der einen Moment zögerte, den Raum zu betreten, sich aber ins Gedächtnis zu rufen schien, dass es auch sein Haus war.
„Guten Tag, Mr. Malfoy“, grüßte Hermine höflich distanziert.
„Miss Granger.“ Lucius verbeugte sich galant, wenn auch nicht sehr tief. „Ich vernahm den Namen eines alten Freundes.“ Ohne einen einzigen Schlenker schnürte Lucius wie ein Fuchs hinüber zu seinem Sohn und Hermine. „Was fehlt ihm denn?“
„Das ist privat, Mr. Malfoy.“
Er schenkte ihr ein nicht ernst gemeintes Lächeln, legte dabei den Kopf leicht schräg. Wäre er nicht von so eigennütziger Persönlichkeit, könnte er mit Leichtigkeit Frauen um den Finger wickeln, dachte Hermine.
„Miss Granger, Severus und ich sind zwar nicht immer einer Meinung, besonders nicht in Bezug auf Frauen“, er musterte sie von oben bis unten, „aber dennoch empfinde ich eine ganz besondere Kameradschaft für ihn.“
„Dann, Mr. Malfoy, sollten Sie ernsthaft in Erwägung ziehen, Severus einen Besuch abzustatten und ihn selbst nach seinem Wohlbefinden zu fragen.“
„Vielleicht werde ich das sogar tun.“
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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