Harry Potter und die Schatten der Vergangenheit - BEENDET
Moderator: Modis
- Muggelchen
- Eule
- Beiträge: 345
- Registriert: 07.06.2008 22:29
- Wohnort: Gemälde im 1. Stock
188 Enthüllungen
Der silbern glänzende Inhalt der birnenförmigen Phiole mit dem langen Hals zog Hermine in ihren Bann. Die Antworten auf ihre vielen Fragen hielt sie in den Händen. Ein Einblick in Severus‘ Vergangenheit, in das, was ihn ausmachte. Ein Kribbeln breitete sich in ihrem Magen aus. Ein Gefühl der aufgeregten Neugierde, gemischt mit Sympathien, wenn nicht sogar Zuneigung für den Mann, der ihr und vielen anderen das Leben einmal so schwer gemacht hatte. Die Taubheit in ihrem linken Arm, die durch den Schutzmechanismus des Verstecks ausgelöst worden war, war mittlerweile vergangen. Bevor Hermine das Büro verließ, sorgte sie für etwas Ordnung, auch wenn es ersichtlich bleiben würde, dass sich jemand hier zu schaffen gemacht hatte. Für Hermine war das kein Grund zur Sorge. Er sollte ruhig wissen, dass sie die Erinnerung an sich genommen hatte. Er war es gewesen, der ihr diesen Floh ins Ohr gesetzt hatte.
Die auffällig helle gläserne Phiole ließ sie unter ihrem Umhang verschwinden, bevor sie auf den durch Fackeln nur spärlich erhellten Flur schritt. Obwohl sie noch keinen Schimmer hatte, was sie erwarten würde, fühlte sie einen inneren Triumpf. Es war schon Erfolg genug, einen Teil seines Lebens mit sich zu führen. Nur wo sollte sie sich seine Vergangenheit ansehen? Severus‘ Denkarium schloss aus und auch das von Albus konnte sie nicht nutzen. Es blieb nur das von Harry, doch der würde Fragen stellen. Die Gefahr, dass Severus ihr die Phiole wieder entreißen könnte, bevor sie den Inhalt angesehen hätte, ließ sie schnurstracks zu Harrys Räumen gehen. Vielleicht, hoffte sie, waren Ginny und er noch oder wieder in der großen Halle, um mit Freunden den Abend ausklingen zu lassen. Sie ging davon aus, dass Viktors Anwesenheit Grund genug für Harry sein würde, nicht zu früh ins Bett zu gehen. Man hatte sich lange nicht gesehen.
Von den Kerkern nahm sie die Treppe hinauf ins Erdgeschoss, nur um dort auf die vielen Menschen zu treffen, die sich noch immer außerhalb der großen Halle befanden. Fast alle kannte sie mit Namen. Einer fiel ihr besonders auf, weil der sie zu beobachten schien. Es war Remus, dem nicht entgangen war, aus welcher Richtung Hermine gekommen war und in welche Richtung sie nun verschwand.
Die Räume von Harry und Ginny, fernab von neugierigen Augenpaaren, hatte sie schnell erreicht. Sie klopfte nicht, sondern öffnete die Tür, um hineinzuspähen. Niemand war hier. Das Zimmer war dunkel, als sie eintrat. Mit einem Wutsch ihres Stabes entzündete sie nur eine Lampe, damit es nicht zu hell werden würde, falls Harry und Ginny bereits im anderen Zimmer schliefen.
Da stand es, das Denkarium, dass Harry von einer Erbengemeinschaft geschenkt bekommen hatte. Mit wenigen Schritten stand sie direkt vor dem steinernen Becken, in welchem keine einzige Erinnerung schwamm. Harry schien es selten zu benutzen. Er würde es ihr bestimmt nicht verbieten, von diesem raren Gegenstand Gebrauch zu machen. Hermine atmete einmal tief durch, bevor sie in ihren Umhang griff und die Phiole an ihrem langen Hals hervorzog. Sie hatte die andere Hand schon am Korken, da fühlte sie sich plötzlich beobachtet. Erschrocken drehte sie sich um und blickte Wobbel in die Augen.
„Guten Abend, Miss Granger“, sagte der Elf vorsichtig, weil er die Anspannung zu spüren schien.
„Hallo Wobbel.“ Selbst bei diesen beiden Worten hatte ihre Stimme leicht gezittert. „Harry hätte bestimmt nichts dagegen, wenn ich …“ Sie hob die Phiole, so dass sich Wobbel den Rest denken konnte. Der Elf nickte zustimmend, auch wenn ihr sein skeptischer Blick nicht entgangen war. Er versuchte offenbar, sich den Zusammenhang zu erklären, was es mit der Erinnerung in der Phiole auf sich haben könnte.
„Dann werde ich Sie allein lassen, Miss Granger.“ Mit einem Schnipp von Daumen- und Zeigefinger war er verschwunden.
Wieder blickte Hermine nach vorn zum Becken, dann auf die Phiole. Entschlossen entfernte sie den Korken mit einem leisen Plopp. Den langen Hals bewegte sie zu ihrer Nase, um daran wie an einem guten Wein zu riechen, doch Erinnerungen besaßen keinen Geruch. Vorsichtig führte sie den gläsernen Behälter über das Becken und begann ihn langsam schräg zu halten, bis die Erinnerung mit leise schwappenden Geräuschen in das Becken glitt. Hermine fielen die verschiedenen Silbertöne des Fadens auf, so dass sie davon ausging, dass es sich um viele einzelne Erinnerungen handeln musste, die Severus in einer bestimmten Reihenfolge zusammengefügt hatte. Sehr wahrscheinlich chronologisch, dachte Hermine, denn sonst würde es keinen Sinn ergeben. Das glucksende Geräusch der Flüssigkeit, die durch den engen Hals zur Öffnung floss, übertönte Hermines aufgeregte Atmung. Rückstandslos waren die Erinnerungen nun ins Becken geflossen. Das leere Behältnis stellte Hermine auf den Boden neben sich, bevor sie ihre Hände auf den rauen Rand des Beckens legte. Ein letztes Mal atmete sie tief ein und aus. Dann senkte sie ihr Haupt, bis ihre Nase die Flüssigkeit berührte.
Hermine fand sich im ersten Stock des Eberkopfs wieder. Es war draußen so dunkel, dass es spät am Abend sein musste. Vor ihr an einer Tür, die Hand auf der Klinke ruhend, stand Severus, dessen Haare und Umhang ein feuchtes Wetter vermuten ließen. Von der Stimme, die er von drinnen vernahm, schien er verdutzt. Hermine kannte sie, denn es war die entfremdete Stimme von Trelawney, die sie schon einmal gehört hatte, als Ginny ihr die Erinnerung an die Prophezeiung gezeigt hatte. Erschrocken hielt sie sich eine Hand vor den Mund, denn sie wusste nun, was Severus da gerade belauschte.
„Hey“, hörte Hermine eine raue Stimme. Im Nu war Severus von der Tür weggetreten und fand sich Aug in Aug mit Aberforth wieder, dem Inhaber des Eberkopfes. Grantig fuhr Aberforth den jungen Mann an: „Was soll das? Meine Gäste bespitzeln? Verschwinde!“
„Ich … Ich habe nur …“
„Gelauscht hast du! Was da drinnen vor sich geht, hat dich nicht zu interessieren. Raus hier!“ Aberforth war laut geworden. Einige der Gäste von unten hatten sich an der Treppe versammelt, um nach oben zu schauen. „Verlass sofort mein Gasthaus!“
„Ich habe für das Zimmer bezahl!“, warf Severus aufgebracht zurück, während er auf das Zimmer daneben deutete. Er schien die Türen verwechselt zu haben.
„Jemanden wie dich will ich hier nicht haben.“ Hermine konnte heraushören, dass es Aberforth nicht in erster Linie darum ging, dass Severus gelauscht hatte. „Räum dein Zimmer und verschwinde!“ Der Inhaber klopfte an die Tür, hinter der sich Trelawney befinden musste.
„Aber …“ Severus wurde von Aberforth arg unterbrochen und mit einer Schimpftirade bedacht, die Hermine erröten ließ – Severus ebenfalls.
Plötzlich wurde die Tür, an der Aberforth geklopft hatte, aufgerissen. Albus stand im Türrahmen, er ließ seinen Blick über Severus schweifen. Weiter hinten im Zimmer, das konnte Hermine erkennen, stand Trelawney, die den Aufruhr mit Anspannung verfolgte.
„Er hat gelauscht!“ Der Gastwirt deutete auf Severus, der aufgeregt den Kopf schüttelte.
„Ich habe mich geirrt. Mein Zimmer ist nebenan!“, rechtfertigte er sich unter dem skeptischen Blick von Albus.
„Ist das wahr?“ Diese Frage war nicht an Severus, sondern an Aberforth gerichtet, der lediglich nickte. „Nun“, Albus strich über seinen weißen Bart, „haben Sie sich so lange geirrt, dass der Eindruck entstehen konnte, Sie hätten absichtlich mitgehört? War das Bewerbungsgespräch so interessant?“
„Ich …“ Severus fehlten die Worte. Hermine hatte ihn noch nie so unsicher erlebt. „Ich suche eine Anstellung, Professor Dumbledore. Als ich hörte, dass Sie hier wären …“
Albus hob eine Hand und unterbrach Severus. „Sie sind noch keine zwanzig Jahre, Mr. Snape. Kommen Sie in ein oder zwei Jahren nach Hogwarts.“
Severus nickte zustimmend, aber auch verabschiedend und vor allem peinlich berührt, bevor er sich in das Zimmer nebenan begab.
Der Ort der nächsten Erinnerung wechselte ohne Übergang.
Hermine befand sich in einem hellen Raum mit hoher Decke. In der Mitte stand ein runder, rotbrauner Tisch, an dem ein gutaussehender, wenngleich schon in die Jahre gekommener Mann saß. Erst auf den zweiten Blick erahnte sie, dass es sich um Tom Riddle handeln musste. Er schien auf jemanden zu warten. Die Tür öffnete sich und Severus kam herein. Er wirkte keinen Tag älter als in der Erinnerung zuvor.
„Mr. Snape“, grüßte Voldemort kühl, „setzen Sie sich.“ Severus kam der Aufforderung nach. „Sie hätten eine Information, die mich interessieren könnte, sagte Mr. Malfoy.“
Severus nickte und erzählte, ließ dabei unwichtige Einzelheiten aus, sondern gab nur den Anfang der Prophezeiung wieder, die er mitgehört hatte. Er vergaß zu erwähnen, dass sie womöglich unvollständig war.
„Ah, das ist interessant“, murmelte Voldemort. „Damit haben Sie sich Ihren Platz in meiner Runde redlich verdient. Sie haben mich nicht enttäuscht, Mr. Snape. Sie dürfen gehen.“
Severus wirkte sehr ernüchtert, als hätte er mit etwas gerechnet, das ihm verwehrt geblieben war. Hermine ging ihm nach, bis in eine Halle, in der Lucius Malfoy wartete. Der Blonde näherte sich Severus auf der Stelle.
„Und?“ Malfoy grinste bis über beide Ohren. „Was hast du bekommen? Ein Haus? Ein Verlies voller Galleonen?“
Verbittert blickte Severus ihn an. „Nichts! Und ich habe die Vermutung“, Severus‘ Stimme wurde leiser, „dass es niemals etwas geben wird.“
Severus ließ Malfoy stehen, der sich über diesen Satz wirklich Gedanken zu machen schien.
Im nächsten Moment fand sich Hermine in einer engen versifften Küche wieder, die alles andere als heimelig wirkte. Geräte aus der Muggelwelt hatten auf der Arbeitsfläche ihren festen Platz, wie ein Toaster und ein kleiner Fleischwolf. Es war weder aufgeräumt noch besonders sauber. An der Wand hing ein Abreißkalender, der als Datum den 11. April 1980 zeigte. Ein Blick durch das dreckige Fenster zeigte strahlenden Sonnenschein. Severus saß an einem Tisch über einen Brief gebeugt, ein Stapel ungeöffneter Post lag neben ihm. Auf der anderen Seite konnte Hermine eine Tageszeitung aus der Muggelwelt erkennen, die über einen Bergsteiger berichtete, der im Alleingang den Mount Everest bezwungen hatte. Sie ging um den Tisch herum zu Severus, um den Brief zu lesen, den er gerade in der Hand hielt.
„Sehr geehrter Mr. Snape,
nach Prüfung Ihrer finanziellen Lage hat die National Insurance zugestimmt, für den Pflegeheim-Aufenthalt Ihres Vaters Tobias Snape alle anfallenden Kosten zu übernehmen. Des Weiteren …“
Hermine konnte nicht alles lesen, denn Severus faltete den Brief zusammen und legte ihn beiseite. Der nächste Brief schien der zu sein, weswegen er die Erinnerung aufbewahrt hatte. Auf dem Briefumschlag konnte sie die geschwungene Handschrift einer Frau erkennen. Severus schien sehr aufgeregt, öffnete den Brief hastig und stürzte sich auf den Inhalt. Ein Blick auf den Gruß am Briefende offenbarte Hermine, warum Severus so nervös war. Er stammte von Lily.
„Hallo Severus,
vielen Dank für Deinen Brief. Das mit Deinem Vater tut mir sehr leid. Ich hoffe, er erholt sich doch noch. Hast du ihn mal von den Heilern im Mungos untersuchen lassen? Alkoholsucht dürfte in unserer Welt nicht unbekannt sein. Ich kann nur hoffen, dass er sich helfen lässt.
Nun zu etwas, dass ich bisher nicht zu schreiben gewagt habe. In den letzten Briefen wollte ich Dir schon etwas sagen, aber ich habe mich nie getraut, weil ich Dir nicht wehtun möchte. Ich werde es sowieso nicht viel länger verheimlichen können. Wir bekommen Nachwuchs.“
Es war Hermine nicht entgangen, dass Severus Hände zu zittern begannen. Wahrscheinlich las er gerade die gleiche Stelle wie sie.
„Ein Muggelarzt hat den 28. Juli als berechneten Geburtstermin genannt, das Mungos sagt, es wäre der 31. Juli. Ich lasse mich überraschen. Bei Alice hat man einen ähnlichen Termin errechnet. Beide bekommen wir einen Jungen. Ich weiß, dass ich viel von Dir verlange, Severus, aber ich wünsche mir wirklich sehr, dass Du Dich für mich freust.“
Abrupt stand Severus auf und blickte mit weit aufgerissenen Augen auf den Brief. Unruhig ging er auf und ab, las immer wieder eine bestimmte Stelle.
„Oh Merlin“, flüsterte er verzweifelt, raufte sich dabei die Haare.
Die Erinnerung endete. Es war einen Moment lang dunkel, bevor sich Hermine in einem Raum befand, den sie gut kannte. Es war Albus‘ Büro. Severus stand hier allein und wartete. Er war kalkweiß im Gesicht und Schweiß stand ihm auf der Stirn. Durch seine damals schon große Nase atmete er hörbar und aufgeregt. Sie ging dicht an ihn heran und blickte ihm in die unruhigen Augen, die nichts betrachteten, nur nervös über das Muster des Teppichs schweiften. Seine Augen waren braun.
Die Tür öffnete sich und Albus trat ein. Kein fröhliches Zwinkern war in seinen Augen auszumachen, als er den jungen Severus höflich, aber dennoch reserviert grüßte.
„Mr. Snape, ich sagte Ihnen doch bereits, dass Sie noch zu jung für eine Anstellung wären.“
„Professor … Sir …“ Die Gemälde rundherum schienen Severus einzuschüchtern, was Albus bemerkte, denn er blickte sich einmal in seinem Büro um, betrachtete dabei die Portraits der ehemaligen Direktorinnen und Direktoren.
„Wie kann ich Ihnen sonst behilflich sein, Mr. Snape?“
Es war keine Feindseligkeit, die Hermine beim Direktor vernehmen konnte, er klang aber auch nicht besonders freundlich. Eher wie jemand, der mit einer Person reden musste, die unerwünscht war. Wenn es überhaupt möglich war, wurde Severus noch viel blasser als zuvor. Hermine, die noch immer dicht an dem Bildnis seiner Erinnerung stand, bemerkte, dass er wie Espenlaub zitterte. Albus setzte sich in seinen Stuhl, bot Severus jedoch keinen Platz an.
„Mr. Snape, wenn Sie mir eine Frage beantworten würden?“ Albus wartete, bis Severus nickte, bevor er sie stellte: „Warum kommen Sie zu mir, wenn Sie mich so sehr fürchten?“
Ertappt blickte Severus zu Boden und atmete nur noch schneller. Er hatte Angst, das konnte Hermine an seiner gesamten Körpersprache sehen und wenn sie es schon erkennen konnte, dann würde es vor Albus, der über eine Menge Lebenserfahrung verfügte, nicht verborgen bleiben.
Die leicht gekrümmte Haltung, die Severus die ganze Zeit eingenommen hatte, zeugte entweder von echter Ergebenheit oder vorgetäuschtem Katzbuckeln. Hermine glaubte nicht, dass Severus sich nur einschmeicheln wollte, besonders nicht, als er mit bebender Stimme endlich mit der Sprache rausrückte.
„Sie erinnern sich an Miss Lily Evans?“
Albus nickte, verbesserte jedoch: „Mrs. Potter.“
„Ja Sir.“ Der junge Mann suchte nach richtigen Worten. „Ich befürchte, ihr Leben und das ihrer Familie sind in Gefahr.“
„Warum?“, fragte Albus wie aus der Pistole geschossen nach.
„Weil …“ Severus musste kräftig schlucken. „Jemand hat es auf sie abgesehen, auf das Kind.“
Was Severus an Selbstsicherheit fehlte, machte Albus mit seinem souveränen Auftritt wieder wett, als er mit fester Stimme fragte: „Was für ein Kind?“
„Mrs. Potter …“
Seine Stimme versagte. Hermine konnte sich denken, wie schwierig es für ihn gewesen sein musste, Lily und ihre Familie zu schützen, ohne sich dabei selbst ans Messer zu liefern. Sie fragte sich, was Harry über dieses Gespräch denken würde, sollte er jemals davon erfahren.
„Mr. Snape“, begann Albus, der sich von seinem üppig gepolsterten Stuhl erhob und sich seinem schwarz gekleideten Gast langsam näherte. Severus schien jeden Moment mit einem Fluch zu rechnen, denn er wich vor dem großgewachsenen Zauberer einen Schritt zurück. „Mr. Snape“, wiederholte Albus leise und langsam gesprochen, obwohl man auch spüren konnte, dass seine Geduld begrenzt war. „Wenn Sie schon die Strapazen auf sich genommen haben, die Gegenseite aufzusuchen“, er deutete auf sich selbst, aber vielleicht strich er auch nur über seinen Bart, „dann sollten Sie diese Gelegenheit beim Schopf packen.“ Albus legte den Kopf schräg und machte eine unmissverständliche Andeutung, indem er sagte: „Mit halben Sachen kann keiner etwas anfangen, nicht wahr?“ Weder Voldemort mit der Prophezeiung noch Albus mit den spärlichen Informationen von Severus. „Also?“
Wie fast jeder Mensch musste auch Severus nach oben schauen, um Albus ins Gesicht sehen zu können. Severus blickte in die hellblauen Augen, was ihm viel Mut abverlangte.
„Der Termin, ich meine den Geburtstermin“, Severus stockte, denn der eindringliche Blick des Direktors brachte ihn aus dem Konzept. „‘Wenn der siebte Mond stirbt‘“, zitierte er aus der Prophezeiung.
„Ah“, macht Albus wenig erstaunt. „Und Sie, Mr. Snape, sorgen sich um die Potters?“ Severus nickte, woraufhin Albus ihn streng anblickte. „Warum sollte ich Ihnen das glauben?“
„Weil …“ Severus war laut geworden, zügelte sich jedoch wieder. „Weil ich nicht möchte, dass etwas Schlimmes geschieht.“
„Das Ehepaar Potter hat Voldemort noch nicht ein einziges Mal die Stirn geboten.“ Laut Prophezeiung sollte dies dreimal geschehen. „Ich sehe weder eine Veranlassung dazu, schützend einzugreifen noch Ihnen, Mr. Snape, weiterhin Gehör zu schenken, denn das Ihre scheint mir bereits sehr ausgeprägt.“
Nun war es deutlich, dass Albus sich nicht mehr länger mit seinem Gast beschäftigen wollte. Severus blickte ernüchtert zu Boden. Von dem Gespräch hatte er offenbar mehr erwartete. Nicht nur Hermine bemerkte das, sondern auch Albus.
„Enttäuscht?“ Albus‘ Frage war mit Sarkasmus gespickt. Weil Severus sich nicht rührte, auch nichts erwiderte, nahm Albus sein Schweigen als Bejahung, so dass er bedauernd anmerkte: „Das geht mir genauso, Mr. Snape.“
Erst jetzt blickte Severus auf. In Albus‘ Augen konnte man ablesen, wie ernst er seine Worte meinte. Offenbar wusste er ganz genau, dass Severus das dunkle Mal auf dem Unterarm trug. Das war auch der Grund, warum er ihn so abweisend behandelt hatte, aber immerhin, das musste man ihm hoch anrechnen, hatte er sich überhaupt dazu überwunden, einen Todesser in seinem Büro zu empfangen.
„Noch etwas, Mr. Snape, oder darf ich Sie zur Tür begleiten?“
Severus‘ Blick huschte hin und her, als würde er sich darüber wundern, dass Albus diese Information so lapidar abgehandelt hatte, während er selbst der Furcht ausgesetzt war, Voldemort könnte Lily als Ziel auserwählen, sollte der erst einmal von der bevorstehenden Geburt erfahren. Severus folgte seinem Gastgeber zur Tür, doch als er die öffnete, ließ Severus noch eine Information fallen.
„Es könnten auch die Longbottoms gemeint sein“, murmelte er.
Lange blickte Albus ihn an, um in Severus‘ Gesicht eine Lüge ausmachen zu können, doch er fand keine. Stattdessen wurden seine Augen endlich wieder warm und mit etwas Glück könnte auch Severus das Verständnis in ihnen lesen, wie Hermine es konnte.
„Wenn Sie gewichtige Informationen haben, Mr. Snape, dann zögern Sie nicht und kommen Sie zu mir. Aber jetzt, bevor die Kinder geboren sind, werde ich nicht handeln. Das würde nur die Aufmerksamkeit auf sie ziehen und sie noch mehr in Gefahr bringen.“
Hermine konnte verstehen, dass Albus so misstrauisch war. Sie konnte auch Severus verstehen, der sich mehr von dem Gespräch erhofft hatte. Er wurde kurz dunkel, bevor Hermine wieder in der schmutzigen Küche stand und Severus dabei zusah, wie er am Herd einen Trank braute. Auf dem Tisch hinter ihm lag eine Decke, die sie sehr gut kannte. Es war das Geschenk an die Potters; die Babydecke.
Es klopfte und Severus fluchte, wollte offenbar nicht öffnen, doch es klopfte erneut. Wutentbrannt, weil er die Störung gar nicht guthieß, eilte er zur Vordertür und riss sie auf. Ein hübsch anzusehender Mann stand dort, wie Hermine feststellte. Ein Mann, dessen Gesichtszüge ihr nicht fremd waren, obwohl sie ihn nie zuvor gesehen hatte.
„Regulus, was treibt dich zu dieser späten Stunde zu mir?“
Die Augen des jungen Mannes – jünger noch als Severus – funkelten frech. In seiner Hand hielt er eine Flasche Feuerwhisky. „Ein Mitternachtsdrink, Severus.“
„Ich habe für so etwas keine Zeit.“
Severus wollte bereits die Tür schließen, da war Regulus längst an ihm vorbei ins Innere des Hauses geschlüpft. Stöhnend machte Severus seinem Gast klar, dass er eine Last darstellte, doch Regulus störte sich daran kein bisschen.
„Ah, braust wieder einen Trank?“ Er streckte gerade seine Hand nach dem Holzlöffel aus, da fuhr Severus ihn maßregelnd an.
„Rühr ja nichts an!“ Das Feuer unter dem Topf stellte er auf kleine Flamme, bevor er sich Regulus zuwandte. „Was willst du? Du bist in letzter Zeit nicht gerade in der Gunst des Dunklen Lords emporgestiegen, also warum sollte ich mich mit dir überhaupt noch befassen?“
Ungefragt öffnete Regulus ein paar Schranktüren, um zwei Gläser zu besorgen, die er mit dem Feuerwhisky füllte. Eines davon reichte er Severus, der skeptisch daran roch.
„Es ist nicht vergiftet, Severus.“
„Mich macht eher stutzig, dass du ein so kostenintensives Getränk mit mir teilst und dazu ohne einen mir ersichtlichen Anlass.“
„Von dem Anlass wirst du bald hören und ich wette, du wirst mir dann so eine Flasche schenken, vielleicht sogar ein ganzes Fass.“
„Das bezweifle ich“, murmelte Severus, bevor er einen Schluck nahm.
Hermine bemerkte, dass Regulus nervös schien. Er schaute einige Male aus dem Fenster hinaus in die Dunkelheit, doch zu sehen war nichts. Dann fiel sein Blick erneut auf den Topf und er schien angestrengt nachzudenken, bevor sich Erkenntnis in seinem Gesicht ausbreitete. Kurz darauf bemerkte er die Decke auf dem Tisch, die er kurzerhand mit den Fingern berührte.
„Ah, verstehe. Du willst die Decke mit dem Schutz durchtränken. Raffiniert! Narzissa wird sich freuen.“ Weil Severus sich nicht äußerte, zweifelte Regulus seine eigene Vermutung an. „Es ist gar nicht für Narzissas Kind gedacht. Das ist vielleicht noch besser.“ Regulus stürzte den letzten Schluck hinunter und atmete laut aus. „Wenn alles so läuft, wie ich es hoffe, dann brauchen wir solche Schutzvorkehrungen bald nicht mehr.“
„Was meinst du?“
Den Kopf schüttelnd winkte Regulus ab. „War nicht so wichtig. Jetzt ist es eh zu spät, dich einzuweihen. Du warst in letzter Zeit sehr beschäftigt. Ich weiß sogar, wo du neulich gewesen bist.“
Es war eine Mischung aus Angst und Wut, die man aus Severus‘ Mimik herauslesen konnte, als er auf Regulus zugestürmt kam und den jungen Mann am Schlafittchen nahm, um ihn an die Wand zu pressen. Regulus zeigte sich unbeeindruckt.
Gereizt schnaufte Severus: „Willst du mir drohen?“ Würde Regulus herumerzählen, er wäre in Hogwarts gewesen, hätte er nichts mehr zu lachen; das wusste Hermine.
„Nein, nein.“ Der junge Mann, knapp achtzehn Jahre alt, klopfte Severus vertraut auf den Oberarm. „Ich wäre der Letzte, von dem du etwas zu befürchten hättest. Du wirst bald sehen, was ich meine. Ich bin nicht hier, um dir das Leben schwerzumachen, sondern um einen mit dir zu trinken.“
„Das haben wir getan.“ Severus ließ seinen Gast wieder los, der sich gleich darauf das kurzärmelige Hemd zurechtzupfte.
„Dann will ich mich verabschieden.“ Er deutete auf die Decke. „Und viel Erfolg damit.“
Hermine erhaschte nur kurz einen Blick auf den Kalender, der in der Küche hing. Es war der 27. Mai gewesen, ein Mittwoch. Dann verschwamm die Erinnerung. Die schmutzige Küche wandelte sich in ein piekfeines Zimmer, das ganz und gar in Grün gehalten war. Es war das Zimmer, in welchem Susan und Draco geheiratet hatten. Im grünen Salon saß Lucius Malfoy, der gedankenverloren mit dem Zeigefinger über seine Lippen strich. Sein Gesicht war sehr ernst und gramerfüllt. Die Tür öffnete sich und Dobby kündigte höflich Severus an, erhielt daraufhin von seinem Herrn eine Beleidigung an den Kopf geworfen. Der Gast trat ein und Lucius, der nicht einmal sein überlegenes Grinsen aufgesetzt hatte, begrüßte ihn.
„Severus“, ein Handschlag folgte, „meine Frau erwartet dich. Ich gebe zu, dass mich ihr Verlangen, dich zu sehen, sehr überrascht, wo doch Morgen bereits der Mutter-Kind-Schutz eintritt.“
„Es konnte offensichtlich nicht mehr warten, was es auch sein mag.“
Lucius nickte. „Dann weißt du nicht, was sie möchte?“
„Nein, ich weiß genauso wenig wie du.“
„Es wird mit ihrem Cousin zusammenhängen“, vermutete der Blonde flüsternd.
Nachdenklich starrte Lucius in die Luft, bevor er sich zusammenriss und den Elf rief, damit der Severus zu Narzissa führen sollte. Lucius blieb im grünen Salon zurück, Hermine folgte Severus.
„Dobby bringt Mrs. Malfoy Ihren Gast.“
Den Elf ignorierte Narzissa. Direkt neben einem leeren Kinderbett saß sie auf einem weichen Stuhl in dem neu eingerichteten und noch nicht genutzten Zimmer, dass die Malfoys für ihr Baby ausstaffiert hatten. Narzissa wollte aufstehen, doch ihr Bauch erschwerte es ihr.
„Behalt bitte Platz, Narzissa.“
Narzissa winkte Severus zu sich heran, zauberte einen Stuhl an ihre Seite und klopfte mit einer Handfläche auf das Polster. „Setz dich doch bitte.“
Hermine ging um die beiden herum und hockte sich vor sie. Erst jetzt bemerkte sie, dass Narzissas Gesicht verweint war, die Augen rot und dick, was ihrer Schönheit jedoch keinen Abbruch tat. Eine Weile saßen die beiden einfach nur nebeneinander, bis Narzissa endlich sprach. Ihre Stimme, entgegen ihres aufgewühlten Zustands, war fest und bestimmend.
„Lucius erzählt mir nichts, aber ich weiß, dass Riddle mit seinem Tod zu tun haben muss. Regulus …“ Narzissa tupfte sich mit einem Taschentuch die Nase. „Regulus hatte irgendetwas vor. Etwas, das ‘ihm‘ nicht gefallen hat.“
„Was lässt dich das glauben?“
„Weil er mich besucht hat, Severus. Vor zwei Tagen. Er wirkte so anders, sprach davon, dass wir uns bald keine Sorgen mehr machen müssten.“
„Sorgen worüber?“, fragte Severus nach.
„Er hat nichts Genaues gesagt, aber ich wusste, er spricht von Riddle.“ Sie atmete einmal tief durch. „Regulus ist nicht auffindbar. Er ist wie vom Erdboden verschluckt.“
„Vielleicht taucht er wieder auf?“
Kraftlos schüttelte sie den Kopf. „Wird er nicht. Ich weiß, dass er tot ist. Ich spüre das.“
An Severus‘ Gesichtsausdruck erkannte Hermine, dass er ihre Meinung teilte.
„Warum sollte ich heute herkommen?“
Narzissa drehte sich zu ihm um und legte langsam eine Hand auf seinen Unterarm. „Du weißt, dass Regulus mein Lieblingscousin war.“ Severus nickte. „Ich habe ihn gebeten, der Pate meines Kindes zu werden und er hat schweren Herzens abgelehnt. Da wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Ich ahnte, dass er mit seinem Tod rechnete, sollte das, was auch immer er geplant hat, nicht den gewünschten Erfolg haben. Er legte mir nahe, dich zu fragen und deswegen bist du heute hier, Severus.“
Ungläubig schüttelte Severus den Kopf und erinnerte sie an eine Sache, indem er sagte: „Du vergisst, Narzissa, dass ich eurer nicht würdig bin.“
Ihre Hand an seinem Unterarm drückte zu. „Ich habe viel von deiner Mutter gehalten, Severus. Und ich halte noch sehr viel mehr von der Empfehlung meines verblichenen Cousins. Ich bitte dich, mir meinen Wunsch zu erfüllen. Werde der Pate meines Sohnes. Es soll dir keine finanzielle Last entstehen, dafür werde ich sorgen.“
„Ich brauche keine Almosen“, wetterte Severus zurück, der mit sich im Zwiespalt stand.
„Es sind keine, Severus, es ist ein Anteil am Besitz der Familie Malfoy, zu der du gehören wirst, wenn du die Patenschaft übernimmst. Ich werde nicht zulassen, dass Riddle mir meine Familie raubt und …“
„Narzissa“, zischte Severus warnend, „du vergisst wohl, dass ich genauso ein Todesser bin wie dein Mann und wie Regulus einer war. Sprich in meiner Gegenwart nicht so über den Dunklen Lord, wenn du uns nicht alle ins Verderben stürzen willst.“
Narzissa hielt sich am Gitter des Kinderbettes fest, um sich von ihrem Stuhl zu erheben. Sie ging einige Schritte und drehte sich abrupt um. Ihre hohe bleiche Stirn glänzte durch winzige Schweißperlen. Das Gespräch belastete sie, doch sie gab nicht auf und sagte ihm ihre Meinung, während sie mit einer Hand ihren ausgeprägten Bauch hielt.
„Ist es bei dir auch schon soweit, dass du von deiner Angst geführt wirst, anstatt von deiner Überzeugung? Das ging schnell“, sie schnaufte herablassend, „dabei trägst du es noch gar nicht so lange, dieses Brandmal, mit dem er euch wie Vieh sein Eigen nennt.“ Severus sprang von seinem Stuhl auf, doch sie verbat ihm mit einer hochgehaltenen Hand den Mund. „Er kann tun und lassen, was er möchte, doch meine Familie werde ich ihm nicht überlassen.“
„Warum fragst du dann gerade mich, wo ich ihm doch folge?“
Sie musterte Severus von oben bis unten. „Weil Regulus gesehen haben muss, dass es dir wie ihm geht oder hegst du etwa keine Zweifel? Von Lucius habe ich gehört, dass Riddle dir gegenüber bisher keines seiner mannigfaltigen Versprechen eingelöst hat, mit denen er so viele zu sich gelockt hat. Und aus Überzeugung?“ Sie schüttelte den Kopf. „Meine Schwester folgt ihm aus Überzeugung, aber nicht du. Selbst mein Mann musste erfahren, dass das Wort Riddles nicht viel Wert ist, wenn es sich um Honorierung dreht. Du wirst auch sehen, dass sehr bald niemand mehr dem anderen trauen wird, denn Riddle will, dass jeder nur ihm loyal gegenüber ist, nicht aber seine Anhänger untereinander.“
Diese Worte hatten Severus sprachlos gemacht. Nachdenklich ging er einige Schritte im Kinderzimmer umher. Hier drinnen befand sich nichts, dass an die Schrecken erinnerte, die Voldemort in der Gesellschaft verbreitete. Dieses Zimmer mit seinen warmen Farbtönen, dem vielen Kinderspielzeug und der Tapete mit schlafenden Häschen strahlte genau den Frieden aus, den Narzissa sich für ihre Familie wünschte. Und sie wollte auch, dass er ein Teil davon werden würde. Severus streckte seinen Rücken und holte tief Luft.
„Was du in diesem Zimmer gesagt hast, darfst du niemandem erzählen, Narzissa. Mit solchen Äußerungen stehst du sonst ganz schnell auf einer Liste mit Namen von Personen, deren Stunden gezählt sind.“ Er drehte sich zu ihr und wartete auf eine Zustimmung, die sie ihm mit einem Nicken gab. „Selbst deinem Mann gegenüber …“
„Lucius wird nie etwas von dem erfahren, was ich gesagt habe, das verspreche ich. Er wird mir meinen Wunsch nicht abschlagen können, dich zum Paten zu machen, auch wenn er es nicht sofort gutheißen wird. Dann darf ich mit dir rechnen?“
„Ja“, bestätigte er resignierend.
Im nächsten Moment befand sich Hermine wieder im grünen Salon. Musik spielte und viele Gäste unterhielten sich. Sie benötigte einen Moment, um Severus ausfindig zu machen, dem gerade von Narzissa ein Kind in den Arm gedrückt wurde. Draco.
Von dem Anblick ganz verzückt eilte Hermine zu ihm hinüber und erschrak fürchterlich, als sich ihr plötzlich eine schwarzhaarige Frau in den Weg stellte, deren wahnsinnigen Blick sie schon einmal aus nächster Nähe hatte sehen müssen. Bellatrix Lestrange hatte sich ihrer blonden Schwester zugewandt und ihr etwas ins Ohr geflüstert, woraufhin Narzissa sie streng anblickte, bevor sie sich wieder Severus widmete, dem anzusehen war, dass er zuvor noch nie ein Baby gehalten hatte. Hermine blickte sich im Zimmer um und erkannte einige Gesichter, auch die von anderen Todessern. Sie bemerkte, dass Lucius auf Severus zusteuerte, um ihn einige Schritte von den anderen Gästen wegzuführen. Den beiden Männern folgend lauschte Hermine aufmerksam, als Lucius seinen Kopf zu dem Kind beugte, doch in Wahrheit das Wort an Severus richtete.
„Der Dunkle Lord hat einen Auftrag für dich. Er will, dass du einen Trank braust, der verhindert, dass Inferi zu schnell verwesen. Ich frage mich allerdings, warum er zu solchen Mitteln greifen möchte. Sind wir etwa nicht stark genug, um gegen unsere Gegner anzukommen?“ Lucius streichelte Dracos Kopf und wartete auf eine Reaktion von Severus.
„Vielleicht“, flüsterte Severus zurück, „sind Inferi einfach nur leichter zu manipulieren als wir?“
Erschrocken blickte Lucius auf, schaute sich einmal um, um die anderen Gäste zu betrachten, von denen niemand ein Sterbenswörtchen mitgehört hatte, bevor er Severus zurechtwies: „Das habe ich nicht gehört und ich möchte so etwas auch nie wieder hören!“
Einen Moment lang schwieg Severus, bevor er das vorhergehende Thema wieder aufgriff. „Wann soll ich mit dem Trank beginnen? Doch nicht etwa sofort?“
„Oh nein, das würde Narzissa nicht gefallen, wenn du als heutiger Ehrengast jetzt schon gehen würdest.“
Die Erinnerung verblasste und ein finsterer Raum, ähnlich wie das Labor in den Kerkern von Hogwarts, materialisierte sich vor Hermine. Severus saß an einem Tisch, vor ihm blubberte eine grünsilberne Flüssigkeit in einem Kessel. Weder von den Zutaten her, die auf dem Tisch lagen, noch von dem Aussehen des Trankes konnte Hermine bestimmen, um was es sich handeln könnte. Da Severus zudem sehr gelangweilt aussah und sich nicht einmal um den Trank scherte, vermutete sie, dass es ein Gebräu aus wild zusammengeworfenen Zutaten war, das keinerlei Wirkung haben konnte, außer vielleicht den Magen zu verderben.
Die Szenerie gefiel ihr auf eine besondere Art und Weise, denn sie war ihr durch die Ausbildung bei ihm vertraut, auch wenn Severus hier zwanzig Jahre jünger war. Sie hatte nicht viel Zeit, um ihn anzusehen, denn es klopfte und Lucius kam herein. Severus grüßte ihn kurz angebunden und erwähnte, dass Voldemort zugestimmt hätte, Lucius dürfte ihm zur Hand gehen.
„Es war leicht, ihn zu überzeugen. Du warst in Zaubertränken der Beste deines Jahrgangs“, sagte Severus gleichgültig und erschöpft klingend. Durch einen der Gänge hinauf konnte Hermine dumpfe unmenschliche Laute vernehmen, die aus den Tiefen des Gemäuers zu kommen schienen. Inferi.
Angeekelt rümpfte Lucius die Nase, als er das Gebräu begutachtete. „Das ist absoluter Wahnsinn! Das ist abartig!“
Die zwischen beiden Männern herrschende Anspannung konnte Hermine fast schon fühlen, obwohl sie sich nur eine Erinnerung ansah. Severus schien Lucius nicht zu trauen, beinahe als würde er befürchten, mit einer zustimmenden Äußerung zu Lucius‘ negativen Anmerkung sein Todesurteil zu unterschreiben.
Ein fluchendes Gemurmel war von Lucius aus zu wahrzunehmen.
„Warum sollte ich dich eigentlich zu mir holen? Was gibt es denn heute, weshalb du es vorziehst, diesen Gestank einzuatmen?“, hörte sie Severus mit ruhiger Stimme fragen, während er nebenbei, geradezu achtlos, eine Zutat in den Kessel warf.
Sein blonder Gast schien nervös. „Ach, Narzissa hat das von mir verlangt, denn sonst … Sie hat gedroht, mich zu verlassen, wenn ich heute Abend mitgehen würde.“ Hermine hörte zu, wie Lucius versicherte, seine Äußerung hätte nichts damit zu tun, dass er Voldemort nicht treu ergeben wäre. Trotzdem riet er seinem dunkel gekleideten Freund mit leiser Stimme: „Weißt du Severus, wenn ich du wäre, dann würde ich schleunigst verschwinden!“
An den kleinen Eigenheiten von Severus‘ Mimik konnte sie erkennen, dass er Lucius nicht traute. Mürrisch und mit einer schmierigen Stimme, die Hermine schon lange nicht mehr gehört hatte, fragte Severus: „Möchtest du, dass ich ihm davon berichte, wie verräterisch du dich äußerst? Oder willst du etwa mich in eine Falle locken, um ihm das Gleiche über mich zu berichten?“
Was Narzissa vorhin gesagt hatte, dachte Hermine, war nun bereits eingetroffen. Die Anhänger Voldemorts trauten sich nicht mehr über den Weg. Jeder verdächtigte den anderen; Vertrauen war ein Fremdwort geworden. Lucius hingegen schien Severus trauen zu wollen, vielleicht weil er Pate seines Kindes war.
„Ich meine es ernst, Severus! Du hast keine Frau und keine Kinder. Du brauchst nur um das eigene Leben zu fürchten. Wäre ich in deiner Situation, dann würde ich dem Lord den Rücken kehren und …“
„Sei still, Lucius!“, unterbrach Severus gefährlich leise zischend. Er blickte sich um, als würde er davon ausgehen, beobachtet zu werden.
„Severus! Das alles hier ist doch der reine Wahnsinn, aber du kannst gehen und musst dich um niemanden sorgen. Bei Merlin, tu es doch einfach!“ Lucius erzählte, wie eindrucksvoll und ruhmreich Voldemorts Absichten früher noch gewesen wären, deswegen erstaunte es Hermine zu hören, wie Malfoy noch anfügte: „Er ist ein wahnsinniger Irrer, der …“
„GENUG!“
Severus wollte von all dem nichts hören. Vielleicht, dachte Hermine, würde ihm sonst eine Äußerung über die Lippen kommen, für die er später büßen müsste. Lucius ließ jedoch nicht locker.
„Verdammt! Du hast doch miterlebt, wie schwierig es für uns war, endlich mit einem Kind gesegnet zu werden. Ich werde Dracos und Narzissas Leben nicht aufs Spiel setzen. Nur deshalb muss ich bei ihm bleiben, aber du …“
Lucius hielt inne, obwohl er noch viel mehr sagen wollte, das konnte Hermine fühlen. Beide hatten sich vor dem Kessel positioniert und betrachteten die Bläschen, die der grünsilberne Trank warf. Wenn Lucius Klassenbester in Zaubertränken gewesen war, dachte Hermine, musste ihm ebenfalls aufgefallen sein, dass der Trank, den Severus braute, absolut nichts wert war, doch er schwieg, selbst wenn er es bemerkt haben sollte.
Es war Severus, der das Wort ergriff.
„Du hast mir immer noch nicht erzählt, was für heute Abend geplant ist.“
Der Blonde antwortete nur stockend und erklärte, dass Voldemort, nachdem Severus ihm von der Prophezeiung erzählt hatte, zu einem Entschluss gekommen wäre. Gespannt horchte Severus auf, als Lucius verriet: „Er denkt, dass er den Jungen gefunden hat.“
Von Severus hörte man ein verachtendes Schnaufen. Ungläubig schüttelte er den Kopf, schmunzelte dabei. Hermine kannte dieses Auftreten von Severus. Er tat das gern, wenn er mitteilen wollte, dass er jemanden für dumm hielt. In diesem Fall offenbar Voldemort.
Hermine konnte mit ansehen, wie die Ungläubigkeit in Severus‘ Miene allmählich der Gewissheit schwand, als er sich der todernsten Situation bewusst wurde. Kreidebleich war er, als sich ihm offenbarte, dass Lily und ihre Familie in Gefahr war.
„Das ist nicht dein Ernst? Und wen hat er auserwählt, dieser abergläubische …“
Es war auffällig, dass Lucius es vermied, Severus in die Augen zu sehen, aber er antwortete dennoch: „Er glaubt, dass es dieses Potter-Baby ist.“ Obwohl es Hermine nicht überraschen dürfte, hielt sie sich aufgeregt eine Hand vor den Mund.
„WAS?“
Selten hatte Severus die Beherrschung verloren. Sein ganzer Körper wurde von einem Zittern übermannt. Er suchte nach einer Lösung, dachte angestrengt nach, was er nun tun könnte. Mit einem Mal erhob er sich von seinem Stuhl, um hinauszustürzen, doch Lucius hielt ihn fest.
„Bleib hier, du Narr!“, schimpfte der Blonde. „Wenn er dich sieht, sind wir alle in Gefahr! Du, ich, Narzissa, Draco! Du bleibst schön hier, mein Freund!“
Hermine fuhr erschrocken zusammen, als sie mit ansehen musste, wie Severus Lucius mit geballter Faust einen Schlag ins Gesicht gab.
Wenig Zeit schien vergangen zu sein, als Hermine in Albus‘ Büro Zeuge dessen wurde, wie Severus das erste Mal eine interne Information von Voldemort an den Direktor weitergab. Severus stand die Sorge ins Gesicht geschrieben, als er Albus erzählte, wen Voldemort auserkoren hätte.
„Die Potters, heute Abend noch?“, wiederholte Albus nachdenklich, bevor er sich von Severus abwandte und sich einem der Gemälde näherte. Hermine blieb bei Severus stehen und hörte – genau wie er – nicht, was Albus dem Portrait ins Ohr flüsterte, bevor der Mann darin verschwand. Eine Weile später, kam der gemalte Zauberer zurück und richtete dem Direktor etwas aus. Albus näherte sich daraufhin wieder Severus.
„Die Information kam ein wenig zu spät, Mr. Snape. Voldemort war bereits dort, vor einer halben Stunde. Er hat angegriffen.“ Von dieser Information erschlagen geriet Severus ins Wanken, konnte nur Halt an einer Stuhllehne finden, an die er sich klammerte. Erst dann entwarnte Albus, als hätte er Severus‘ Reaktion abgewartet. „Die Potters konnten ihn jedoch in die Flucht schlagen. Sie sind momentan in Sicherheit.“
Erleichtert schloss Severus die Augen. Dabei bemerkte Hermine, wie Albus sein Gegenüber betrachtete.
„Was würde wohl Voldemort sagen“, begann Albus mit milder Stimme, so dass Severus die Augen wieder öffnete, „wenn er erfahren sollte, dass Sie deswegen bei mir waren?“
Severus spielte absichtlich die Unschuld vom Lande. „Von wem sollte er es denn erfahren?“
Albus hob erstaunt eine Augenbraue. „Das ist eine berechtigte Gegenfrage, Mr. Snape, da ich nun mal der Einzige bin, der Sie mit diesem Wissen in eine unangenehme Lage bringen könnte.“ Hermine war klar, dass Albus ihm das nur vor Augen halten wollte, jedoch nicht mit dem Gedanken spielte, Severus tatsächlich Probleme zu bereiten. „Und Ihre Frage suggeriert mir, Sie würden mir trauen. Das wiederum“, er hob einen Zeigefinger, „versetzt mich in Erstaunen.“
Gelassen ging Albus zu seinem Schreibtisch zurück und setzte sich in seinen gepolsterten Stuhl.
„Sonst noch etwas, Mr. Snape?“ Severus war perplex. Er wirkte handlungsunfähig und unsicher, als er den Kopf schüttelte. „Dann finden Sie sicher selbst hinaus.“
Irritiert von Albus‘ reserviertem Verhalten ging Severus langsam zur Tür. Hermine konnte sehen, wie sehr er nachdachte, weil sich ein Dreieck über seiner Nasenwurzel bildete. Sie selbst konnte nicht einmal erahnen, was ihm durch den Kopf gehen könnte. Plötzlich drehte er sich um.
„Professor Dumbledore?“
„Ja, Mr. Snape?“, kam wie aus der Pistole geschossen, als hätte Albus damit gerechnet, dass Severus noch etwas zu sagen hatte. Trotzdem widmet sich Albus weiterhin dem Pergament vor sich.
„Ich …“ Severus atmete einmal tief durch, bevor er all seinen Mut zusammennahm. „Der Dunkle Lord beabsichtigt, in Zukunft Inferi gegen seine Feinde einzusetzen.“
„Gegen seine Feinde, ja?“ Albus summte nachdenklich, blickte dann auf. „Unter Umständen vielleicht sogar gegen Sie, Mr. Snape?“
Hermine konnte aus nächster Nähe sehen, dass Severus nur kurz die Augen zusammenkniff und im gleichen Moment zu verstehen schien, so dass er ungewiss wiedergab: „Womöglich?“
„Wenn Sie diese Frage eindeutig bejahen können, dann werden wir uns mit Sicherheit noch einmal über den Weg laufen.“ Mit einer Feder begann der Direktor, auf seinem Pergament zu schreiben, verabschiedete sich währenddessen mit den Worten: „Auf Wiedersehen, Mr. Snape.“
Severus verließ das Büro nicht, ging stattdessen ein paar Schritte auf Albus zu. „Und wenn ich bejahen würde?“
„Dann“, Albus legte seine Feder beiseite und widmete all seine Aufmerksamkeit dem Gast, „müsste ich mir Gewissheit verschaffen, dass Sie es auch so meinen. Die Frage ist nur: Sind Sie dazu bereit?“
Severus schien nicht bereit. Seine braunen Augen huschten eingeschüchtert über das runzlige Gesicht des Professors.
„Was würde mich erwarten?“, fragte er unsicher.
„Eines kann ich Ihnen hundertprozentig versprechen, nämlich dass ich keine Versprechungen mache!“ Das erste Mal in Severus‘ Gegenwart funkelten Albus‘ Augen, wie Hermine es gewohnt war. „Ich verspreche keine Luftschlösser, auch keinen Ruhm und von Heldentum habe ich nie etwas gehalten.“
Einen Moment lang war Severus sichtlich enttäuscht. „Was hätte ich dann davon?“
Der Direktor legte seinen Kopf schräg und fixierte Severus mit seinen lebendigen Augen, bevor er leise mit seiner warmen, väterlichen Stimme erwiderte: „Ein reineres Gewissen.“
Beschämt blickte Severus zu Boden. Für Hermine war ersichtlich, dass er schon etwas auf dem Kerbholz haben musste.
„Sie müssen keine Entscheidung treffen, Mr. Snape, nicht jetzt und nicht hier. Wenn ich Ihnen aber nahe legen dürfte, sich vor Mr. Riddle in Acht zu nehmen? Er ist nämlich äußerst begabt in Legilimentik.“
Angsterfüllt riss Severus die Augen. „Wie bitte?“
„Legilimentik, Mr. Snape. Da Mr. Riddle Sie noch nicht auf Ihre Ausflüge in mein Büro hin ‘angesprochen‘ hat, nehme ich an, dass er Sie nicht sehr häufig persönlich empfängt.“
„Er kann meine Gedanken lesen?“ Blankes Entsetzen zeichnete sich in Severus‘ Gesicht ab.
„Er könnte, ja das ist richtig. Bereuen Sie jetzt Ihre Unterredungen mit mir?“
Ein paar Mal blinzelte Severus nervös, schüttelte am Ende jedoch den Kopf. Kurz darauf verließ er das Büro.
Der silbern glänzende Inhalt der birnenförmigen Phiole mit dem langen Hals zog Hermine in ihren Bann. Die Antworten auf ihre vielen Fragen hielt sie in den Händen. Ein Einblick in Severus‘ Vergangenheit, in das, was ihn ausmachte. Ein Kribbeln breitete sich in ihrem Magen aus. Ein Gefühl der aufgeregten Neugierde, gemischt mit Sympathien, wenn nicht sogar Zuneigung für den Mann, der ihr und vielen anderen das Leben einmal so schwer gemacht hatte. Die Taubheit in ihrem linken Arm, die durch den Schutzmechanismus des Verstecks ausgelöst worden war, war mittlerweile vergangen. Bevor Hermine das Büro verließ, sorgte sie für etwas Ordnung, auch wenn es ersichtlich bleiben würde, dass sich jemand hier zu schaffen gemacht hatte. Für Hermine war das kein Grund zur Sorge. Er sollte ruhig wissen, dass sie die Erinnerung an sich genommen hatte. Er war es gewesen, der ihr diesen Floh ins Ohr gesetzt hatte.
Die auffällig helle gläserne Phiole ließ sie unter ihrem Umhang verschwinden, bevor sie auf den durch Fackeln nur spärlich erhellten Flur schritt. Obwohl sie noch keinen Schimmer hatte, was sie erwarten würde, fühlte sie einen inneren Triumpf. Es war schon Erfolg genug, einen Teil seines Lebens mit sich zu führen. Nur wo sollte sie sich seine Vergangenheit ansehen? Severus‘ Denkarium schloss aus und auch das von Albus konnte sie nicht nutzen. Es blieb nur das von Harry, doch der würde Fragen stellen. Die Gefahr, dass Severus ihr die Phiole wieder entreißen könnte, bevor sie den Inhalt angesehen hätte, ließ sie schnurstracks zu Harrys Räumen gehen. Vielleicht, hoffte sie, waren Ginny und er noch oder wieder in der großen Halle, um mit Freunden den Abend ausklingen zu lassen. Sie ging davon aus, dass Viktors Anwesenheit Grund genug für Harry sein würde, nicht zu früh ins Bett zu gehen. Man hatte sich lange nicht gesehen.
Von den Kerkern nahm sie die Treppe hinauf ins Erdgeschoss, nur um dort auf die vielen Menschen zu treffen, die sich noch immer außerhalb der großen Halle befanden. Fast alle kannte sie mit Namen. Einer fiel ihr besonders auf, weil der sie zu beobachten schien. Es war Remus, dem nicht entgangen war, aus welcher Richtung Hermine gekommen war und in welche Richtung sie nun verschwand.
Die Räume von Harry und Ginny, fernab von neugierigen Augenpaaren, hatte sie schnell erreicht. Sie klopfte nicht, sondern öffnete die Tür, um hineinzuspähen. Niemand war hier. Das Zimmer war dunkel, als sie eintrat. Mit einem Wutsch ihres Stabes entzündete sie nur eine Lampe, damit es nicht zu hell werden würde, falls Harry und Ginny bereits im anderen Zimmer schliefen.
Da stand es, das Denkarium, dass Harry von einer Erbengemeinschaft geschenkt bekommen hatte. Mit wenigen Schritten stand sie direkt vor dem steinernen Becken, in welchem keine einzige Erinnerung schwamm. Harry schien es selten zu benutzen. Er würde es ihr bestimmt nicht verbieten, von diesem raren Gegenstand Gebrauch zu machen. Hermine atmete einmal tief durch, bevor sie in ihren Umhang griff und die Phiole an ihrem langen Hals hervorzog. Sie hatte die andere Hand schon am Korken, da fühlte sie sich plötzlich beobachtet. Erschrocken drehte sie sich um und blickte Wobbel in die Augen.
„Guten Abend, Miss Granger“, sagte der Elf vorsichtig, weil er die Anspannung zu spüren schien.
„Hallo Wobbel.“ Selbst bei diesen beiden Worten hatte ihre Stimme leicht gezittert. „Harry hätte bestimmt nichts dagegen, wenn ich …“ Sie hob die Phiole, so dass sich Wobbel den Rest denken konnte. Der Elf nickte zustimmend, auch wenn ihr sein skeptischer Blick nicht entgangen war. Er versuchte offenbar, sich den Zusammenhang zu erklären, was es mit der Erinnerung in der Phiole auf sich haben könnte.
„Dann werde ich Sie allein lassen, Miss Granger.“ Mit einem Schnipp von Daumen- und Zeigefinger war er verschwunden.
Wieder blickte Hermine nach vorn zum Becken, dann auf die Phiole. Entschlossen entfernte sie den Korken mit einem leisen Plopp. Den langen Hals bewegte sie zu ihrer Nase, um daran wie an einem guten Wein zu riechen, doch Erinnerungen besaßen keinen Geruch. Vorsichtig führte sie den gläsernen Behälter über das Becken und begann ihn langsam schräg zu halten, bis die Erinnerung mit leise schwappenden Geräuschen in das Becken glitt. Hermine fielen die verschiedenen Silbertöne des Fadens auf, so dass sie davon ausging, dass es sich um viele einzelne Erinnerungen handeln musste, die Severus in einer bestimmten Reihenfolge zusammengefügt hatte. Sehr wahrscheinlich chronologisch, dachte Hermine, denn sonst würde es keinen Sinn ergeben. Das glucksende Geräusch der Flüssigkeit, die durch den engen Hals zur Öffnung floss, übertönte Hermines aufgeregte Atmung. Rückstandslos waren die Erinnerungen nun ins Becken geflossen. Das leere Behältnis stellte Hermine auf den Boden neben sich, bevor sie ihre Hände auf den rauen Rand des Beckens legte. Ein letztes Mal atmete sie tief ein und aus. Dann senkte sie ihr Haupt, bis ihre Nase die Flüssigkeit berührte.
Hermine fand sich im ersten Stock des Eberkopfs wieder. Es war draußen so dunkel, dass es spät am Abend sein musste. Vor ihr an einer Tür, die Hand auf der Klinke ruhend, stand Severus, dessen Haare und Umhang ein feuchtes Wetter vermuten ließen. Von der Stimme, die er von drinnen vernahm, schien er verdutzt. Hermine kannte sie, denn es war die entfremdete Stimme von Trelawney, die sie schon einmal gehört hatte, als Ginny ihr die Erinnerung an die Prophezeiung gezeigt hatte. Erschrocken hielt sie sich eine Hand vor den Mund, denn sie wusste nun, was Severus da gerade belauschte.
„Hey“, hörte Hermine eine raue Stimme. Im Nu war Severus von der Tür weggetreten und fand sich Aug in Aug mit Aberforth wieder, dem Inhaber des Eberkopfes. Grantig fuhr Aberforth den jungen Mann an: „Was soll das? Meine Gäste bespitzeln? Verschwinde!“
„Ich … Ich habe nur …“
„Gelauscht hast du! Was da drinnen vor sich geht, hat dich nicht zu interessieren. Raus hier!“ Aberforth war laut geworden. Einige der Gäste von unten hatten sich an der Treppe versammelt, um nach oben zu schauen. „Verlass sofort mein Gasthaus!“
„Ich habe für das Zimmer bezahl!“, warf Severus aufgebracht zurück, während er auf das Zimmer daneben deutete. Er schien die Türen verwechselt zu haben.
„Jemanden wie dich will ich hier nicht haben.“ Hermine konnte heraushören, dass es Aberforth nicht in erster Linie darum ging, dass Severus gelauscht hatte. „Räum dein Zimmer und verschwinde!“ Der Inhaber klopfte an die Tür, hinter der sich Trelawney befinden musste.
„Aber …“ Severus wurde von Aberforth arg unterbrochen und mit einer Schimpftirade bedacht, die Hermine erröten ließ – Severus ebenfalls.
Plötzlich wurde die Tür, an der Aberforth geklopft hatte, aufgerissen. Albus stand im Türrahmen, er ließ seinen Blick über Severus schweifen. Weiter hinten im Zimmer, das konnte Hermine erkennen, stand Trelawney, die den Aufruhr mit Anspannung verfolgte.
„Er hat gelauscht!“ Der Gastwirt deutete auf Severus, der aufgeregt den Kopf schüttelte.
„Ich habe mich geirrt. Mein Zimmer ist nebenan!“, rechtfertigte er sich unter dem skeptischen Blick von Albus.
„Ist das wahr?“ Diese Frage war nicht an Severus, sondern an Aberforth gerichtet, der lediglich nickte. „Nun“, Albus strich über seinen weißen Bart, „haben Sie sich so lange geirrt, dass der Eindruck entstehen konnte, Sie hätten absichtlich mitgehört? War das Bewerbungsgespräch so interessant?“
„Ich …“ Severus fehlten die Worte. Hermine hatte ihn noch nie so unsicher erlebt. „Ich suche eine Anstellung, Professor Dumbledore. Als ich hörte, dass Sie hier wären …“
Albus hob eine Hand und unterbrach Severus. „Sie sind noch keine zwanzig Jahre, Mr. Snape. Kommen Sie in ein oder zwei Jahren nach Hogwarts.“
Severus nickte zustimmend, aber auch verabschiedend und vor allem peinlich berührt, bevor er sich in das Zimmer nebenan begab.
Der Ort der nächsten Erinnerung wechselte ohne Übergang.
Hermine befand sich in einem hellen Raum mit hoher Decke. In der Mitte stand ein runder, rotbrauner Tisch, an dem ein gutaussehender, wenngleich schon in die Jahre gekommener Mann saß. Erst auf den zweiten Blick erahnte sie, dass es sich um Tom Riddle handeln musste. Er schien auf jemanden zu warten. Die Tür öffnete sich und Severus kam herein. Er wirkte keinen Tag älter als in der Erinnerung zuvor.
„Mr. Snape“, grüßte Voldemort kühl, „setzen Sie sich.“ Severus kam der Aufforderung nach. „Sie hätten eine Information, die mich interessieren könnte, sagte Mr. Malfoy.“
Severus nickte und erzählte, ließ dabei unwichtige Einzelheiten aus, sondern gab nur den Anfang der Prophezeiung wieder, die er mitgehört hatte. Er vergaß zu erwähnen, dass sie womöglich unvollständig war.
„Ah, das ist interessant“, murmelte Voldemort. „Damit haben Sie sich Ihren Platz in meiner Runde redlich verdient. Sie haben mich nicht enttäuscht, Mr. Snape. Sie dürfen gehen.“
Severus wirkte sehr ernüchtert, als hätte er mit etwas gerechnet, das ihm verwehrt geblieben war. Hermine ging ihm nach, bis in eine Halle, in der Lucius Malfoy wartete. Der Blonde näherte sich Severus auf der Stelle.
„Und?“ Malfoy grinste bis über beide Ohren. „Was hast du bekommen? Ein Haus? Ein Verlies voller Galleonen?“
Verbittert blickte Severus ihn an. „Nichts! Und ich habe die Vermutung“, Severus‘ Stimme wurde leiser, „dass es niemals etwas geben wird.“
Severus ließ Malfoy stehen, der sich über diesen Satz wirklich Gedanken zu machen schien.
Im nächsten Moment fand sich Hermine in einer engen versifften Küche wieder, die alles andere als heimelig wirkte. Geräte aus der Muggelwelt hatten auf der Arbeitsfläche ihren festen Platz, wie ein Toaster und ein kleiner Fleischwolf. Es war weder aufgeräumt noch besonders sauber. An der Wand hing ein Abreißkalender, der als Datum den 11. April 1980 zeigte. Ein Blick durch das dreckige Fenster zeigte strahlenden Sonnenschein. Severus saß an einem Tisch über einen Brief gebeugt, ein Stapel ungeöffneter Post lag neben ihm. Auf der anderen Seite konnte Hermine eine Tageszeitung aus der Muggelwelt erkennen, die über einen Bergsteiger berichtete, der im Alleingang den Mount Everest bezwungen hatte. Sie ging um den Tisch herum zu Severus, um den Brief zu lesen, den er gerade in der Hand hielt.
„Sehr geehrter Mr. Snape,
nach Prüfung Ihrer finanziellen Lage hat die National Insurance zugestimmt, für den Pflegeheim-Aufenthalt Ihres Vaters Tobias Snape alle anfallenden Kosten zu übernehmen. Des Weiteren …“
Hermine konnte nicht alles lesen, denn Severus faltete den Brief zusammen und legte ihn beiseite. Der nächste Brief schien der zu sein, weswegen er die Erinnerung aufbewahrt hatte. Auf dem Briefumschlag konnte sie die geschwungene Handschrift einer Frau erkennen. Severus schien sehr aufgeregt, öffnete den Brief hastig und stürzte sich auf den Inhalt. Ein Blick auf den Gruß am Briefende offenbarte Hermine, warum Severus so nervös war. Er stammte von Lily.
„Hallo Severus,
vielen Dank für Deinen Brief. Das mit Deinem Vater tut mir sehr leid. Ich hoffe, er erholt sich doch noch. Hast du ihn mal von den Heilern im Mungos untersuchen lassen? Alkoholsucht dürfte in unserer Welt nicht unbekannt sein. Ich kann nur hoffen, dass er sich helfen lässt.
Nun zu etwas, dass ich bisher nicht zu schreiben gewagt habe. In den letzten Briefen wollte ich Dir schon etwas sagen, aber ich habe mich nie getraut, weil ich Dir nicht wehtun möchte. Ich werde es sowieso nicht viel länger verheimlichen können. Wir bekommen Nachwuchs.“
Es war Hermine nicht entgangen, dass Severus Hände zu zittern begannen. Wahrscheinlich las er gerade die gleiche Stelle wie sie.
„Ein Muggelarzt hat den 28. Juli als berechneten Geburtstermin genannt, das Mungos sagt, es wäre der 31. Juli. Ich lasse mich überraschen. Bei Alice hat man einen ähnlichen Termin errechnet. Beide bekommen wir einen Jungen. Ich weiß, dass ich viel von Dir verlange, Severus, aber ich wünsche mir wirklich sehr, dass Du Dich für mich freust.“
Abrupt stand Severus auf und blickte mit weit aufgerissenen Augen auf den Brief. Unruhig ging er auf und ab, las immer wieder eine bestimmte Stelle.
„Oh Merlin“, flüsterte er verzweifelt, raufte sich dabei die Haare.
Die Erinnerung endete. Es war einen Moment lang dunkel, bevor sich Hermine in einem Raum befand, den sie gut kannte. Es war Albus‘ Büro. Severus stand hier allein und wartete. Er war kalkweiß im Gesicht und Schweiß stand ihm auf der Stirn. Durch seine damals schon große Nase atmete er hörbar und aufgeregt. Sie ging dicht an ihn heran und blickte ihm in die unruhigen Augen, die nichts betrachteten, nur nervös über das Muster des Teppichs schweiften. Seine Augen waren braun.
Die Tür öffnete sich und Albus trat ein. Kein fröhliches Zwinkern war in seinen Augen auszumachen, als er den jungen Severus höflich, aber dennoch reserviert grüßte.
„Mr. Snape, ich sagte Ihnen doch bereits, dass Sie noch zu jung für eine Anstellung wären.“
„Professor … Sir …“ Die Gemälde rundherum schienen Severus einzuschüchtern, was Albus bemerkte, denn er blickte sich einmal in seinem Büro um, betrachtete dabei die Portraits der ehemaligen Direktorinnen und Direktoren.
„Wie kann ich Ihnen sonst behilflich sein, Mr. Snape?“
Es war keine Feindseligkeit, die Hermine beim Direktor vernehmen konnte, er klang aber auch nicht besonders freundlich. Eher wie jemand, der mit einer Person reden musste, die unerwünscht war. Wenn es überhaupt möglich war, wurde Severus noch viel blasser als zuvor. Hermine, die noch immer dicht an dem Bildnis seiner Erinnerung stand, bemerkte, dass er wie Espenlaub zitterte. Albus setzte sich in seinen Stuhl, bot Severus jedoch keinen Platz an.
„Mr. Snape, wenn Sie mir eine Frage beantworten würden?“ Albus wartete, bis Severus nickte, bevor er sie stellte: „Warum kommen Sie zu mir, wenn Sie mich so sehr fürchten?“
Ertappt blickte Severus zu Boden und atmete nur noch schneller. Er hatte Angst, das konnte Hermine an seiner gesamten Körpersprache sehen und wenn sie es schon erkennen konnte, dann würde es vor Albus, der über eine Menge Lebenserfahrung verfügte, nicht verborgen bleiben.
Die leicht gekrümmte Haltung, die Severus die ganze Zeit eingenommen hatte, zeugte entweder von echter Ergebenheit oder vorgetäuschtem Katzbuckeln. Hermine glaubte nicht, dass Severus sich nur einschmeicheln wollte, besonders nicht, als er mit bebender Stimme endlich mit der Sprache rausrückte.
„Sie erinnern sich an Miss Lily Evans?“
Albus nickte, verbesserte jedoch: „Mrs. Potter.“
„Ja Sir.“ Der junge Mann suchte nach richtigen Worten. „Ich befürchte, ihr Leben und das ihrer Familie sind in Gefahr.“
„Warum?“, fragte Albus wie aus der Pistole geschossen nach.
„Weil …“ Severus musste kräftig schlucken. „Jemand hat es auf sie abgesehen, auf das Kind.“
Was Severus an Selbstsicherheit fehlte, machte Albus mit seinem souveränen Auftritt wieder wett, als er mit fester Stimme fragte: „Was für ein Kind?“
„Mrs. Potter …“
Seine Stimme versagte. Hermine konnte sich denken, wie schwierig es für ihn gewesen sein musste, Lily und ihre Familie zu schützen, ohne sich dabei selbst ans Messer zu liefern. Sie fragte sich, was Harry über dieses Gespräch denken würde, sollte er jemals davon erfahren.
„Mr. Snape“, begann Albus, der sich von seinem üppig gepolsterten Stuhl erhob und sich seinem schwarz gekleideten Gast langsam näherte. Severus schien jeden Moment mit einem Fluch zu rechnen, denn er wich vor dem großgewachsenen Zauberer einen Schritt zurück. „Mr. Snape“, wiederholte Albus leise und langsam gesprochen, obwohl man auch spüren konnte, dass seine Geduld begrenzt war. „Wenn Sie schon die Strapazen auf sich genommen haben, die Gegenseite aufzusuchen“, er deutete auf sich selbst, aber vielleicht strich er auch nur über seinen Bart, „dann sollten Sie diese Gelegenheit beim Schopf packen.“ Albus legte den Kopf schräg und machte eine unmissverständliche Andeutung, indem er sagte: „Mit halben Sachen kann keiner etwas anfangen, nicht wahr?“ Weder Voldemort mit der Prophezeiung noch Albus mit den spärlichen Informationen von Severus. „Also?“
Wie fast jeder Mensch musste auch Severus nach oben schauen, um Albus ins Gesicht sehen zu können. Severus blickte in die hellblauen Augen, was ihm viel Mut abverlangte.
„Der Termin, ich meine den Geburtstermin“, Severus stockte, denn der eindringliche Blick des Direktors brachte ihn aus dem Konzept. „‘Wenn der siebte Mond stirbt‘“, zitierte er aus der Prophezeiung.
„Ah“, macht Albus wenig erstaunt. „Und Sie, Mr. Snape, sorgen sich um die Potters?“ Severus nickte, woraufhin Albus ihn streng anblickte. „Warum sollte ich Ihnen das glauben?“
„Weil …“ Severus war laut geworden, zügelte sich jedoch wieder. „Weil ich nicht möchte, dass etwas Schlimmes geschieht.“
„Das Ehepaar Potter hat Voldemort noch nicht ein einziges Mal die Stirn geboten.“ Laut Prophezeiung sollte dies dreimal geschehen. „Ich sehe weder eine Veranlassung dazu, schützend einzugreifen noch Ihnen, Mr. Snape, weiterhin Gehör zu schenken, denn das Ihre scheint mir bereits sehr ausgeprägt.“
Nun war es deutlich, dass Albus sich nicht mehr länger mit seinem Gast beschäftigen wollte. Severus blickte ernüchtert zu Boden. Von dem Gespräch hatte er offenbar mehr erwartete. Nicht nur Hermine bemerkte das, sondern auch Albus.
„Enttäuscht?“ Albus‘ Frage war mit Sarkasmus gespickt. Weil Severus sich nicht rührte, auch nichts erwiderte, nahm Albus sein Schweigen als Bejahung, so dass er bedauernd anmerkte: „Das geht mir genauso, Mr. Snape.“
Erst jetzt blickte Severus auf. In Albus‘ Augen konnte man ablesen, wie ernst er seine Worte meinte. Offenbar wusste er ganz genau, dass Severus das dunkle Mal auf dem Unterarm trug. Das war auch der Grund, warum er ihn so abweisend behandelt hatte, aber immerhin, das musste man ihm hoch anrechnen, hatte er sich überhaupt dazu überwunden, einen Todesser in seinem Büro zu empfangen.
„Noch etwas, Mr. Snape, oder darf ich Sie zur Tür begleiten?“
Severus‘ Blick huschte hin und her, als würde er sich darüber wundern, dass Albus diese Information so lapidar abgehandelt hatte, während er selbst der Furcht ausgesetzt war, Voldemort könnte Lily als Ziel auserwählen, sollte der erst einmal von der bevorstehenden Geburt erfahren. Severus folgte seinem Gastgeber zur Tür, doch als er die öffnete, ließ Severus noch eine Information fallen.
„Es könnten auch die Longbottoms gemeint sein“, murmelte er.
Lange blickte Albus ihn an, um in Severus‘ Gesicht eine Lüge ausmachen zu können, doch er fand keine. Stattdessen wurden seine Augen endlich wieder warm und mit etwas Glück könnte auch Severus das Verständnis in ihnen lesen, wie Hermine es konnte.
„Wenn Sie gewichtige Informationen haben, Mr. Snape, dann zögern Sie nicht und kommen Sie zu mir. Aber jetzt, bevor die Kinder geboren sind, werde ich nicht handeln. Das würde nur die Aufmerksamkeit auf sie ziehen und sie noch mehr in Gefahr bringen.“
Hermine konnte verstehen, dass Albus so misstrauisch war. Sie konnte auch Severus verstehen, der sich mehr von dem Gespräch erhofft hatte. Er wurde kurz dunkel, bevor Hermine wieder in der schmutzigen Küche stand und Severus dabei zusah, wie er am Herd einen Trank braute. Auf dem Tisch hinter ihm lag eine Decke, die sie sehr gut kannte. Es war das Geschenk an die Potters; die Babydecke.
Es klopfte und Severus fluchte, wollte offenbar nicht öffnen, doch es klopfte erneut. Wutentbrannt, weil er die Störung gar nicht guthieß, eilte er zur Vordertür und riss sie auf. Ein hübsch anzusehender Mann stand dort, wie Hermine feststellte. Ein Mann, dessen Gesichtszüge ihr nicht fremd waren, obwohl sie ihn nie zuvor gesehen hatte.
„Regulus, was treibt dich zu dieser späten Stunde zu mir?“
Die Augen des jungen Mannes – jünger noch als Severus – funkelten frech. In seiner Hand hielt er eine Flasche Feuerwhisky. „Ein Mitternachtsdrink, Severus.“
„Ich habe für so etwas keine Zeit.“
Severus wollte bereits die Tür schließen, da war Regulus längst an ihm vorbei ins Innere des Hauses geschlüpft. Stöhnend machte Severus seinem Gast klar, dass er eine Last darstellte, doch Regulus störte sich daran kein bisschen.
„Ah, braust wieder einen Trank?“ Er streckte gerade seine Hand nach dem Holzlöffel aus, da fuhr Severus ihn maßregelnd an.
„Rühr ja nichts an!“ Das Feuer unter dem Topf stellte er auf kleine Flamme, bevor er sich Regulus zuwandte. „Was willst du? Du bist in letzter Zeit nicht gerade in der Gunst des Dunklen Lords emporgestiegen, also warum sollte ich mich mit dir überhaupt noch befassen?“
Ungefragt öffnete Regulus ein paar Schranktüren, um zwei Gläser zu besorgen, die er mit dem Feuerwhisky füllte. Eines davon reichte er Severus, der skeptisch daran roch.
„Es ist nicht vergiftet, Severus.“
„Mich macht eher stutzig, dass du ein so kostenintensives Getränk mit mir teilst und dazu ohne einen mir ersichtlichen Anlass.“
„Von dem Anlass wirst du bald hören und ich wette, du wirst mir dann so eine Flasche schenken, vielleicht sogar ein ganzes Fass.“
„Das bezweifle ich“, murmelte Severus, bevor er einen Schluck nahm.
Hermine bemerkte, dass Regulus nervös schien. Er schaute einige Male aus dem Fenster hinaus in die Dunkelheit, doch zu sehen war nichts. Dann fiel sein Blick erneut auf den Topf und er schien angestrengt nachzudenken, bevor sich Erkenntnis in seinem Gesicht ausbreitete. Kurz darauf bemerkte er die Decke auf dem Tisch, die er kurzerhand mit den Fingern berührte.
„Ah, verstehe. Du willst die Decke mit dem Schutz durchtränken. Raffiniert! Narzissa wird sich freuen.“ Weil Severus sich nicht äußerte, zweifelte Regulus seine eigene Vermutung an. „Es ist gar nicht für Narzissas Kind gedacht. Das ist vielleicht noch besser.“ Regulus stürzte den letzten Schluck hinunter und atmete laut aus. „Wenn alles so läuft, wie ich es hoffe, dann brauchen wir solche Schutzvorkehrungen bald nicht mehr.“
„Was meinst du?“
Den Kopf schüttelnd winkte Regulus ab. „War nicht so wichtig. Jetzt ist es eh zu spät, dich einzuweihen. Du warst in letzter Zeit sehr beschäftigt. Ich weiß sogar, wo du neulich gewesen bist.“
Es war eine Mischung aus Angst und Wut, die man aus Severus‘ Mimik herauslesen konnte, als er auf Regulus zugestürmt kam und den jungen Mann am Schlafittchen nahm, um ihn an die Wand zu pressen. Regulus zeigte sich unbeeindruckt.
Gereizt schnaufte Severus: „Willst du mir drohen?“ Würde Regulus herumerzählen, er wäre in Hogwarts gewesen, hätte er nichts mehr zu lachen; das wusste Hermine.
„Nein, nein.“ Der junge Mann, knapp achtzehn Jahre alt, klopfte Severus vertraut auf den Oberarm. „Ich wäre der Letzte, von dem du etwas zu befürchten hättest. Du wirst bald sehen, was ich meine. Ich bin nicht hier, um dir das Leben schwerzumachen, sondern um einen mit dir zu trinken.“
„Das haben wir getan.“ Severus ließ seinen Gast wieder los, der sich gleich darauf das kurzärmelige Hemd zurechtzupfte.
„Dann will ich mich verabschieden.“ Er deutete auf die Decke. „Und viel Erfolg damit.“
Hermine erhaschte nur kurz einen Blick auf den Kalender, der in der Küche hing. Es war der 27. Mai gewesen, ein Mittwoch. Dann verschwamm die Erinnerung. Die schmutzige Küche wandelte sich in ein piekfeines Zimmer, das ganz und gar in Grün gehalten war. Es war das Zimmer, in welchem Susan und Draco geheiratet hatten. Im grünen Salon saß Lucius Malfoy, der gedankenverloren mit dem Zeigefinger über seine Lippen strich. Sein Gesicht war sehr ernst und gramerfüllt. Die Tür öffnete sich und Dobby kündigte höflich Severus an, erhielt daraufhin von seinem Herrn eine Beleidigung an den Kopf geworfen. Der Gast trat ein und Lucius, der nicht einmal sein überlegenes Grinsen aufgesetzt hatte, begrüßte ihn.
„Severus“, ein Handschlag folgte, „meine Frau erwartet dich. Ich gebe zu, dass mich ihr Verlangen, dich zu sehen, sehr überrascht, wo doch Morgen bereits der Mutter-Kind-Schutz eintritt.“
„Es konnte offensichtlich nicht mehr warten, was es auch sein mag.“
Lucius nickte. „Dann weißt du nicht, was sie möchte?“
„Nein, ich weiß genauso wenig wie du.“
„Es wird mit ihrem Cousin zusammenhängen“, vermutete der Blonde flüsternd.
Nachdenklich starrte Lucius in die Luft, bevor er sich zusammenriss und den Elf rief, damit der Severus zu Narzissa führen sollte. Lucius blieb im grünen Salon zurück, Hermine folgte Severus.
„Dobby bringt Mrs. Malfoy Ihren Gast.“
Den Elf ignorierte Narzissa. Direkt neben einem leeren Kinderbett saß sie auf einem weichen Stuhl in dem neu eingerichteten und noch nicht genutzten Zimmer, dass die Malfoys für ihr Baby ausstaffiert hatten. Narzissa wollte aufstehen, doch ihr Bauch erschwerte es ihr.
„Behalt bitte Platz, Narzissa.“
Narzissa winkte Severus zu sich heran, zauberte einen Stuhl an ihre Seite und klopfte mit einer Handfläche auf das Polster. „Setz dich doch bitte.“
Hermine ging um die beiden herum und hockte sich vor sie. Erst jetzt bemerkte sie, dass Narzissas Gesicht verweint war, die Augen rot und dick, was ihrer Schönheit jedoch keinen Abbruch tat. Eine Weile saßen die beiden einfach nur nebeneinander, bis Narzissa endlich sprach. Ihre Stimme, entgegen ihres aufgewühlten Zustands, war fest und bestimmend.
„Lucius erzählt mir nichts, aber ich weiß, dass Riddle mit seinem Tod zu tun haben muss. Regulus …“ Narzissa tupfte sich mit einem Taschentuch die Nase. „Regulus hatte irgendetwas vor. Etwas, das ‘ihm‘ nicht gefallen hat.“
„Was lässt dich das glauben?“
„Weil er mich besucht hat, Severus. Vor zwei Tagen. Er wirkte so anders, sprach davon, dass wir uns bald keine Sorgen mehr machen müssten.“
„Sorgen worüber?“, fragte Severus nach.
„Er hat nichts Genaues gesagt, aber ich wusste, er spricht von Riddle.“ Sie atmete einmal tief durch. „Regulus ist nicht auffindbar. Er ist wie vom Erdboden verschluckt.“
„Vielleicht taucht er wieder auf?“
Kraftlos schüttelte sie den Kopf. „Wird er nicht. Ich weiß, dass er tot ist. Ich spüre das.“
An Severus‘ Gesichtsausdruck erkannte Hermine, dass er ihre Meinung teilte.
„Warum sollte ich heute herkommen?“
Narzissa drehte sich zu ihm um und legte langsam eine Hand auf seinen Unterarm. „Du weißt, dass Regulus mein Lieblingscousin war.“ Severus nickte. „Ich habe ihn gebeten, der Pate meines Kindes zu werden und er hat schweren Herzens abgelehnt. Da wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Ich ahnte, dass er mit seinem Tod rechnete, sollte das, was auch immer er geplant hat, nicht den gewünschten Erfolg haben. Er legte mir nahe, dich zu fragen und deswegen bist du heute hier, Severus.“
Ungläubig schüttelte Severus den Kopf und erinnerte sie an eine Sache, indem er sagte: „Du vergisst, Narzissa, dass ich eurer nicht würdig bin.“
Ihre Hand an seinem Unterarm drückte zu. „Ich habe viel von deiner Mutter gehalten, Severus. Und ich halte noch sehr viel mehr von der Empfehlung meines verblichenen Cousins. Ich bitte dich, mir meinen Wunsch zu erfüllen. Werde der Pate meines Sohnes. Es soll dir keine finanzielle Last entstehen, dafür werde ich sorgen.“
„Ich brauche keine Almosen“, wetterte Severus zurück, der mit sich im Zwiespalt stand.
„Es sind keine, Severus, es ist ein Anteil am Besitz der Familie Malfoy, zu der du gehören wirst, wenn du die Patenschaft übernimmst. Ich werde nicht zulassen, dass Riddle mir meine Familie raubt und …“
„Narzissa“, zischte Severus warnend, „du vergisst wohl, dass ich genauso ein Todesser bin wie dein Mann und wie Regulus einer war. Sprich in meiner Gegenwart nicht so über den Dunklen Lord, wenn du uns nicht alle ins Verderben stürzen willst.“
Narzissa hielt sich am Gitter des Kinderbettes fest, um sich von ihrem Stuhl zu erheben. Sie ging einige Schritte und drehte sich abrupt um. Ihre hohe bleiche Stirn glänzte durch winzige Schweißperlen. Das Gespräch belastete sie, doch sie gab nicht auf und sagte ihm ihre Meinung, während sie mit einer Hand ihren ausgeprägten Bauch hielt.
„Ist es bei dir auch schon soweit, dass du von deiner Angst geführt wirst, anstatt von deiner Überzeugung? Das ging schnell“, sie schnaufte herablassend, „dabei trägst du es noch gar nicht so lange, dieses Brandmal, mit dem er euch wie Vieh sein Eigen nennt.“ Severus sprang von seinem Stuhl auf, doch sie verbat ihm mit einer hochgehaltenen Hand den Mund. „Er kann tun und lassen, was er möchte, doch meine Familie werde ich ihm nicht überlassen.“
„Warum fragst du dann gerade mich, wo ich ihm doch folge?“
Sie musterte Severus von oben bis unten. „Weil Regulus gesehen haben muss, dass es dir wie ihm geht oder hegst du etwa keine Zweifel? Von Lucius habe ich gehört, dass Riddle dir gegenüber bisher keines seiner mannigfaltigen Versprechen eingelöst hat, mit denen er so viele zu sich gelockt hat. Und aus Überzeugung?“ Sie schüttelte den Kopf. „Meine Schwester folgt ihm aus Überzeugung, aber nicht du. Selbst mein Mann musste erfahren, dass das Wort Riddles nicht viel Wert ist, wenn es sich um Honorierung dreht. Du wirst auch sehen, dass sehr bald niemand mehr dem anderen trauen wird, denn Riddle will, dass jeder nur ihm loyal gegenüber ist, nicht aber seine Anhänger untereinander.“
Diese Worte hatten Severus sprachlos gemacht. Nachdenklich ging er einige Schritte im Kinderzimmer umher. Hier drinnen befand sich nichts, dass an die Schrecken erinnerte, die Voldemort in der Gesellschaft verbreitete. Dieses Zimmer mit seinen warmen Farbtönen, dem vielen Kinderspielzeug und der Tapete mit schlafenden Häschen strahlte genau den Frieden aus, den Narzissa sich für ihre Familie wünschte. Und sie wollte auch, dass er ein Teil davon werden würde. Severus streckte seinen Rücken und holte tief Luft.
„Was du in diesem Zimmer gesagt hast, darfst du niemandem erzählen, Narzissa. Mit solchen Äußerungen stehst du sonst ganz schnell auf einer Liste mit Namen von Personen, deren Stunden gezählt sind.“ Er drehte sich zu ihr und wartete auf eine Zustimmung, die sie ihm mit einem Nicken gab. „Selbst deinem Mann gegenüber …“
„Lucius wird nie etwas von dem erfahren, was ich gesagt habe, das verspreche ich. Er wird mir meinen Wunsch nicht abschlagen können, dich zum Paten zu machen, auch wenn er es nicht sofort gutheißen wird. Dann darf ich mit dir rechnen?“
„Ja“, bestätigte er resignierend.
Im nächsten Moment befand sich Hermine wieder im grünen Salon. Musik spielte und viele Gäste unterhielten sich. Sie benötigte einen Moment, um Severus ausfindig zu machen, dem gerade von Narzissa ein Kind in den Arm gedrückt wurde. Draco.
Von dem Anblick ganz verzückt eilte Hermine zu ihm hinüber und erschrak fürchterlich, als sich ihr plötzlich eine schwarzhaarige Frau in den Weg stellte, deren wahnsinnigen Blick sie schon einmal aus nächster Nähe hatte sehen müssen. Bellatrix Lestrange hatte sich ihrer blonden Schwester zugewandt und ihr etwas ins Ohr geflüstert, woraufhin Narzissa sie streng anblickte, bevor sie sich wieder Severus widmete, dem anzusehen war, dass er zuvor noch nie ein Baby gehalten hatte. Hermine blickte sich im Zimmer um und erkannte einige Gesichter, auch die von anderen Todessern. Sie bemerkte, dass Lucius auf Severus zusteuerte, um ihn einige Schritte von den anderen Gästen wegzuführen. Den beiden Männern folgend lauschte Hermine aufmerksam, als Lucius seinen Kopf zu dem Kind beugte, doch in Wahrheit das Wort an Severus richtete.
„Der Dunkle Lord hat einen Auftrag für dich. Er will, dass du einen Trank braust, der verhindert, dass Inferi zu schnell verwesen. Ich frage mich allerdings, warum er zu solchen Mitteln greifen möchte. Sind wir etwa nicht stark genug, um gegen unsere Gegner anzukommen?“ Lucius streichelte Dracos Kopf und wartete auf eine Reaktion von Severus.
„Vielleicht“, flüsterte Severus zurück, „sind Inferi einfach nur leichter zu manipulieren als wir?“
Erschrocken blickte Lucius auf, schaute sich einmal um, um die anderen Gäste zu betrachten, von denen niemand ein Sterbenswörtchen mitgehört hatte, bevor er Severus zurechtwies: „Das habe ich nicht gehört und ich möchte so etwas auch nie wieder hören!“
Einen Moment lang schwieg Severus, bevor er das vorhergehende Thema wieder aufgriff. „Wann soll ich mit dem Trank beginnen? Doch nicht etwa sofort?“
„Oh nein, das würde Narzissa nicht gefallen, wenn du als heutiger Ehrengast jetzt schon gehen würdest.“
Die Erinnerung verblasste und ein finsterer Raum, ähnlich wie das Labor in den Kerkern von Hogwarts, materialisierte sich vor Hermine. Severus saß an einem Tisch, vor ihm blubberte eine grünsilberne Flüssigkeit in einem Kessel. Weder von den Zutaten her, die auf dem Tisch lagen, noch von dem Aussehen des Trankes konnte Hermine bestimmen, um was es sich handeln könnte. Da Severus zudem sehr gelangweilt aussah und sich nicht einmal um den Trank scherte, vermutete sie, dass es ein Gebräu aus wild zusammengeworfenen Zutaten war, das keinerlei Wirkung haben konnte, außer vielleicht den Magen zu verderben.
Die Szenerie gefiel ihr auf eine besondere Art und Weise, denn sie war ihr durch die Ausbildung bei ihm vertraut, auch wenn Severus hier zwanzig Jahre jünger war. Sie hatte nicht viel Zeit, um ihn anzusehen, denn es klopfte und Lucius kam herein. Severus grüßte ihn kurz angebunden und erwähnte, dass Voldemort zugestimmt hätte, Lucius dürfte ihm zur Hand gehen.
„Es war leicht, ihn zu überzeugen. Du warst in Zaubertränken der Beste deines Jahrgangs“, sagte Severus gleichgültig und erschöpft klingend. Durch einen der Gänge hinauf konnte Hermine dumpfe unmenschliche Laute vernehmen, die aus den Tiefen des Gemäuers zu kommen schienen. Inferi.
Angeekelt rümpfte Lucius die Nase, als er das Gebräu begutachtete. „Das ist absoluter Wahnsinn! Das ist abartig!“
Die zwischen beiden Männern herrschende Anspannung konnte Hermine fast schon fühlen, obwohl sie sich nur eine Erinnerung ansah. Severus schien Lucius nicht zu trauen, beinahe als würde er befürchten, mit einer zustimmenden Äußerung zu Lucius‘ negativen Anmerkung sein Todesurteil zu unterschreiben.
Ein fluchendes Gemurmel war von Lucius aus zu wahrzunehmen.
„Warum sollte ich dich eigentlich zu mir holen? Was gibt es denn heute, weshalb du es vorziehst, diesen Gestank einzuatmen?“, hörte sie Severus mit ruhiger Stimme fragen, während er nebenbei, geradezu achtlos, eine Zutat in den Kessel warf.
Sein blonder Gast schien nervös. „Ach, Narzissa hat das von mir verlangt, denn sonst … Sie hat gedroht, mich zu verlassen, wenn ich heute Abend mitgehen würde.“ Hermine hörte zu, wie Lucius versicherte, seine Äußerung hätte nichts damit zu tun, dass er Voldemort nicht treu ergeben wäre. Trotzdem riet er seinem dunkel gekleideten Freund mit leiser Stimme: „Weißt du Severus, wenn ich du wäre, dann würde ich schleunigst verschwinden!“
An den kleinen Eigenheiten von Severus‘ Mimik konnte sie erkennen, dass er Lucius nicht traute. Mürrisch und mit einer schmierigen Stimme, die Hermine schon lange nicht mehr gehört hatte, fragte Severus: „Möchtest du, dass ich ihm davon berichte, wie verräterisch du dich äußerst? Oder willst du etwa mich in eine Falle locken, um ihm das Gleiche über mich zu berichten?“
Was Narzissa vorhin gesagt hatte, dachte Hermine, war nun bereits eingetroffen. Die Anhänger Voldemorts trauten sich nicht mehr über den Weg. Jeder verdächtigte den anderen; Vertrauen war ein Fremdwort geworden. Lucius hingegen schien Severus trauen zu wollen, vielleicht weil er Pate seines Kindes war.
„Ich meine es ernst, Severus! Du hast keine Frau und keine Kinder. Du brauchst nur um das eigene Leben zu fürchten. Wäre ich in deiner Situation, dann würde ich dem Lord den Rücken kehren und …“
„Sei still, Lucius!“, unterbrach Severus gefährlich leise zischend. Er blickte sich um, als würde er davon ausgehen, beobachtet zu werden.
„Severus! Das alles hier ist doch der reine Wahnsinn, aber du kannst gehen und musst dich um niemanden sorgen. Bei Merlin, tu es doch einfach!“ Lucius erzählte, wie eindrucksvoll und ruhmreich Voldemorts Absichten früher noch gewesen wären, deswegen erstaunte es Hermine zu hören, wie Malfoy noch anfügte: „Er ist ein wahnsinniger Irrer, der …“
„GENUG!“
Severus wollte von all dem nichts hören. Vielleicht, dachte Hermine, würde ihm sonst eine Äußerung über die Lippen kommen, für die er später büßen müsste. Lucius ließ jedoch nicht locker.
„Verdammt! Du hast doch miterlebt, wie schwierig es für uns war, endlich mit einem Kind gesegnet zu werden. Ich werde Dracos und Narzissas Leben nicht aufs Spiel setzen. Nur deshalb muss ich bei ihm bleiben, aber du …“
Lucius hielt inne, obwohl er noch viel mehr sagen wollte, das konnte Hermine fühlen. Beide hatten sich vor dem Kessel positioniert und betrachteten die Bläschen, die der grünsilberne Trank warf. Wenn Lucius Klassenbester in Zaubertränken gewesen war, dachte Hermine, musste ihm ebenfalls aufgefallen sein, dass der Trank, den Severus braute, absolut nichts wert war, doch er schwieg, selbst wenn er es bemerkt haben sollte.
Es war Severus, der das Wort ergriff.
„Du hast mir immer noch nicht erzählt, was für heute Abend geplant ist.“
Der Blonde antwortete nur stockend und erklärte, dass Voldemort, nachdem Severus ihm von der Prophezeiung erzählt hatte, zu einem Entschluss gekommen wäre. Gespannt horchte Severus auf, als Lucius verriet: „Er denkt, dass er den Jungen gefunden hat.“
Von Severus hörte man ein verachtendes Schnaufen. Ungläubig schüttelte er den Kopf, schmunzelte dabei. Hermine kannte dieses Auftreten von Severus. Er tat das gern, wenn er mitteilen wollte, dass er jemanden für dumm hielt. In diesem Fall offenbar Voldemort.
Hermine konnte mit ansehen, wie die Ungläubigkeit in Severus‘ Miene allmählich der Gewissheit schwand, als er sich der todernsten Situation bewusst wurde. Kreidebleich war er, als sich ihm offenbarte, dass Lily und ihre Familie in Gefahr war.
„Das ist nicht dein Ernst? Und wen hat er auserwählt, dieser abergläubische …“
Es war auffällig, dass Lucius es vermied, Severus in die Augen zu sehen, aber er antwortete dennoch: „Er glaubt, dass es dieses Potter-Baby ist.“ Obwohl es Hermine nicht überraschen dürfte, hielt sie sich aufgeregt eine Hand vor den Mund.
„WAS?“
Selten hatte Severus die Beherrschung verloren. Sein ganzer Körper wurde von einem Zittern übermannt. Er suchte nach einer Lösung, dachte angestrengt nach, was er nun tun könnte. Mit einem Mal erhob er sich von seinem Stuhl, um hinauszustürzen, doch Lucius hielt ihn fest.
„Bleib hier, du Narr!“, schimpfte der Blonde. „Wenn er dich sieht, sind wir alle in Gefahr! Du, ich, Narzissa, Draco! Du bleibst schön hier, mein Freund!“
Hermine fuhr erschrocken zusammen, als sie mit ansehen musste, wie Severus Lucius mit geballter Faust einen Schlag ins Gesicht gab.
Wenig Zeit schien vergangen zu sein, als Hermine in Albus‘ Büro Zeuge dessen wurde, wie Severus das erste Mal eine interne Information von Voldemort an den Direktor weitergab. Severus stand die Sorge ins Gesicht geschrieben, als er Albus erzählte, wen Voldemort auserkoren hätte.
„Die Potters, heute Abend noch?“, wiederholte Albus nachdenklich, bevor er sich von Severus abwandte und sich einem der Gemälde näherte. Hermine blieb bei Severus stehen und hörte – genau wie er – nicht, was Albus dem Portrait ins Ohr flüsterte, bevor der Mann darin verschwand. Eine Weile später, kam der gemalte Zauberer zurück und richtete dem Direktor etwas aus. Albus näherte sich daraufhin wieder Severus.
„Die Information kam ein wenig zu spät, Mr. Snape. Voldemort war bereits dort, vor einer halben Stunde. Er hat angegriffen.“ Von dieser Information erschlagen geriet Severus ins Wanken, konnte nur Halt an einer Stuhllehne finden, an die er sich klammerte. Erst dann entwarnte Albus, als hätte er Severus‘ Reaktion abgewartet. „Die Potters konnten ihn jedoch in die Flucht schlagen. Sie sind momentan in Sicherheit.“
Erleichtert schloss Severus die Augen. Dabei bemerkte Hermine, wie Albus sein Gegenüber betrachtete.
„Was würde wohl Voldemort sagen“, begann Albus mit milder Stimme, so dass Severus die Augen wieder öffnete, „wenn er erfahren sollte, dass Sie deswegen bei mir waren?“
Severus spielte absichtlich die Unschuld vom Lande. „Von wem sollte er es denn erfahren?“
Albus hob erstaunt eine Augenbraue. „Das ist eine berechtigte Gegenfrage, Mr. Snape, da ich nun mal der Einzige bin, der Sie mit diesem Wissen in eine unangenehme Lage bringen könnte.“ Hermine war klar, dass Albus ihm das nur vor Augen halten wollte, jedoch nicht mit dem Gedanken spielte, Severus tatsächlich Probleme zu bereiten. „Und Ihre Frage suggeriert mir, Sie würden mir trauen. Das wiederum“, er hob einen Zeigefinger, „versetzt mich in Erstaunen.“
Gelassen ging Albus zu seinem Schreibtisch zurück und setzte sich in seinen gepolsterten Stuhl.
„Sonst noch etwas, Mr. Snape?“ Severus war perplex. Er wirkte handlungsunfähig und unsicher, als er den Kopf schüttelte. „Dann finden Sie sicher selbst hinaus.“
Irritiert von Albus‘ reserviertem Verhalten ging Severus langsam zur Tür. Hermine konnte sehen, wie sehr er nachdachte, weil sich ein Dreieck über seiner Nasenwurzel bildete. Sie selbst konnte nicht einmal erahnen, was ihm durch den Kopf gehen könnte. Plötzlich drehte er sich um.
„Professor Dumbledore?“
„Ja, Mr. Snape?“, kam wie aus der Pistole geschossen, als hätte Albus damit gerechnet, dass Severus noch etwas zu sagen hatte. Trotzdem widmet sich Albus weiterhin dem Pergament vor sich.
„Ich …“ Severus atmete einmal tief durch, bevor er all seinen Mut zusammennahm. „Der Dunkle Lord beabsichtigt, in Zukunft Inferi gegen seine Feinde einzusetzen.“
„Gegen seine Feinde, ja?“ Albus summte nachdenklich, blickte dann auf. „Unter Umständen vielleicht sogar gegen Sie, Mr. Snape?“
Hermine konnte aus nächster Nähe sehen, dass Severus nur kurz die Augen zusammenkniff und im gleichen Moment zu verstehen schien, so dass er ungewiss wiedergab: „Womöglich?“
„Wenn Sie diese Frage eindeutig bejahen können, dann werden wir uns mit Sicherheit noch einmal über den Weg laufen.“ Mit einer Feder begann der Direktor, auf seinem Pergament zu schreiben, verabschiedete sich währenddessen mit den Worten: „Auf Wiedersehen, Mr. Snape.“
Severus verließ das Büro nicht, ging stattdessen ein paar Schritte auf Albus zu. „Und wenn ich bejahen würde?“
„Dann“, Albus legte seine Feder beiseite und widmete all seine Aufmerksamkeit dem Gast, „müsste ich mir Gewissheit verschaffen, dass Sie es auch so meinen. Die Frage ist nur: Sind Sie dazu bereit?“
Severus schien nicht bereit. Seine braunen Augen huschten eingeschüchtert über das runzlige Gesicht des Professors.
„Was würde mich erwarten?“, fragte er unsicher.
„Eines kann ich Ihnen hundertprozentig versprechen, nämlich dass ich keine Versprechungen mache!“ Das erste Mal in Severus‘ Gegenwart funkelten Albus‘ Augen, wie Hermine es gewohnt war. „Ich verspreche keine Luftschlösser, auch keinen Ruhm und von Heldentum habe ich nie etwas gehalten.“
Einen Moment lang war Severus sichtlich enttäuscht. „Was hätte ich dann davon?“
Der Direktor legte seinen Kopf schräg und fixierte Severus mit seinen lebendigen Augen, bevor er leise mit seiner warmen, väterlichen Stimme erwiderte: „Ein reineres Gewissen.“
Beschämt blickte Severus zu Boden. Für Hermine war ersichtlich, dass er schon etwas auf dem Kerbholz haben musste.
„Sie müssen keine Entscheidung treffen, Mr. Snape, nicht jetzt und nicht hier. Wenn ich Ihnen aber nahe legen dürfte, sich vor Mr. Riddle in Acht zu nehmen? Er ist nämlich äußerst begabt in Legilimentik.“
Angsterfüllt riss Severus die Augen. „Wie bitte?“
„Legilimentik, Mr. Snape. Da Mr. Riddle Sie noch nicht auf Ihre Ausflüge in mein Büro hin ‘angesprochen‘ hat, nehme ich an, dass er Sie nicht sehr häufig persönlich empfängt.“
„Er kann meine Gedanken lesen?“ Blankes Entsetzen zeichnete sich in Severus‘ Gesicht ab.
„Er könnte, ja das ist richtig. Bereuen Sie jetzt Ihre Unterredungen mit mir?“
Ein paar Mal blinzelte Severus nervös, schüttelte am Ende jedoch den Kopf. Kurz darauf verließ er das Büro.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
~ Muggelchen.net ~
~ Muggelchen.net ~
- Muggelchen
- Eule
- Beiträge: 345
- Registriert: 07.06.2008 22:29
- Wohnort: Gemälde im 1. Stock
Rest von Kapitel 188
Im nächsten Moment befand sich Hermine erneut im Schulleiterbüro. In dem Augenblick, als Severus klopfen wollte, hatte Albus bereits die Tür geöffnet.
„Treten Sie ein, Mr. Snape.“
Ohne den Direktor zu grüßen sprudelte es aus einem sehr angespannten Severus heraus: „Morgen Nacht gegen zwei Uhr will der Dunkle Lord die Potters angreifen.“
„Ah“, machte Albus gelassen und deutete auf eine Couch. „Nehmen Sie doch bitte Platz.“
„Haben Sie nicht gehört?“
„Natürlich habe ich! Kein Grund für Sie, die Stimme zu erheben.“
Nochmals deutete er auf die Couch und Severus kam der Aufforderung nach. Aufgeregt spielten seine Finger miteinander, was er selbst gar nicht für voll zu nehmen schien. Er beobachtete – genau wie Hermine – wie Albus mit einem der vielen Gemälde sprach.
Diese eine Erinnerung war sehr kurz gewesen, doch die nächste folgte gleich im Anschluss. Es musste Herbst sein, denn Hermine bemerkte die typische Halloween-Dekoration, mit der Albus gern schon etwas früher seine Räume verschönerte. Wieder trat Severus ein, doch diesmal öffnete sich die Tür wie von Geisterhand.
„Mr. Snape“, sagte Albus sehr ernst, „Sie haben sicherlich erfahren, dass einige Ihrer ‘Freunde‘ festgenommen wurden.“
„Das sind keine Freunde“, widersprach Severus empört.
Albus ging auf die Anmerkung gar nicht ein. „Mr. Karkaroff hat Namen genannt, Mr. Snape. Namen von Todessern, um seine eigene Haut zu retten. Bedauerlicherweise“, Albus erhob sich und näherte sich seinem Gast, „war Ihr Name darunter.“
Was das zu bedeuten hatte, war Hermine klar. Jeden Moment würden die Auroren kommen und ihn mitnehmen, damit er in Askaban, das zu dieser Zeit noch von Dementoren bewacht wurde, auf eine Verhandlung warten konnte. Dementsprechend geschockt war Severus über diese Information.
Der Direktor war bei Severus angelangt.
„Ich bin im Nachhinein froh darüber, dass ich schon vor einiger Zeit wichtige Personen im Ministerium darüber informiert habe, mit Ihnen als mein Verbindungsmann in Kontakt zu stehen.“
„Sie haben was?“
„Sie sollten auch froh darüber sein, Mr. Snape, denn nur so konnte ich Sie vor dem Gefängnis bewahren, indem ich beteuerte, dass Sie in meinen Diensten stehen.“ Albus legte eine Hand auf Severus Schulter. „Tun Sie das?“ Die Augen blickten ernst über die silberne Halbmondbrille. „Stehen Sie in meinen Diensten?“ Severus‘ Stimme war so leise, dass sich Hermine zu ihm beugen musste, so wie Albus es tat.
„Sie sagten einmal, wenn ich bejahen würde, müssten Sie sich Gewissheit verschaffen, dass ich es auch so meine. Wie …? Was würden Sie tun?“ Severus zögerte einen Moment, bevor er – halb als Vorschlag, halb als Frage – die Vermutung äußerte: „Veritaserum?“
„Nein, etwas Anderes. Doch zuvor müssen Sie sich darüber im Klaren sein, was Sie möchten.“
„Ich …“ Severus schluckte kräftig. „Ich möchte bejahen.“
„Dann nehmen Sie bitte Platz, Mr. Snape.“
Gespannt hockte sich Hermine vor Severus und Albus. Dass sie sich währenddessen mitten im Kaffeetischchen der Erinnerung befand, nahm sie nicht einmal wahr. So dicht konnte sie am besten verfolgen, was Albus tun würde, um Severus‘ Loyalität zu überprüfen.
„Sie sind angespannt, Mr. Snape. Fürchten Sie sich nicht. Wenn ich Ihnen vertrauen soll, müssen Sie erst mir vertrauen.“
Severus atmete mehrere Mal ein und aus, bevor er sich Albus zuwandte und nickte, obwohl es unklar war, was nun geschehen würde. Als Albus seinen Stab zog, krallten sich Severus‘ Hände in den flauschigen Stoff der Couch, doch er blieb sitzen und blickte den Direktor an. Es war keine Furcht vor dem alten Zauberer, sondern die Angst vor dem Unbekannten; vor der Ungewissheit, was nun folgen würde.
„Legilimens“, flüsterte Albus.
Im ersten Moment schien Severus nicht zu spüren, was mit ihm geschah, doch dann, das konnte sie an seinem Gesichtsausdruck erkennen, musste er die Präsenz des Direktors in seinem Kopf fühlen und er war schockiert. In diesem Augenblick erinnerte sich Hermine sehr genau daran, wie sie sich gefühlt hatte, als Severus vor über einem Jahr unerlaubt in ihre Gedanken eingedrungen war. Die Situation hier war jedoch von Hause aus viel angespannter und bedeutsamer. Hermine bemerkte, dass Severus begann, sich gegen die mentale Intrusion zu sträuben. Auch dem Direktor war das nicht entgangen, doch er ließ nicht von seinem Vorhaben ab.
„Wehren Sie sich nicht, Mr. Snape, sonst bereitet es Schmerzen“, erklärte Albus mit sanftmütiger Stimme.
Das Wimmern, das Severus entwich, berührte nur Hermine, nicht aber Albus, der zielsicher überprüfen wollte, ob sein Gegenüber vertrauenswürdig genug war, um ihn unter seinen persönlichen Schutz zu stellen. Zwiespältig betrachtete Hermine das Szenario. Sie hatte Mitleid mit dem jungen Severus, sah aber wie Albus die Notwendigkeit, die intimsten Gedanken kennen zu lernen, denn im Moment stellte dieser ehemalige Schüler für den Direktor nur einen Todesser dar, über dessen Aufrichtigkeit er überhaupt nichts wusste.
„Nicht …“, flehte Severus mit glasigem Blick. „Nicht das, bitte nicht.“ Er atmete heftig und stockend.
Es konnte alles Mögliche sein, was Albus sich gerade ansah. Nichts, absolut nichts sollte vor dem Direktor verborgen bleiben, egal wie unangenehm es für Severus sein musste. Das errötete Gesicht und die langsam aufsteigenden Tränen verrieten, dass das, was Albus gerade betrachtete, Severus mehr als nur peinlich sein musste.
Der Direktor blieb völlig gelassen.
„Wir spielen hier mit offenen Karten, Mr. Snape“, beruhigte er ihn, „und im Gegenzug werde ich Ihnen später beibringen, wie Sie sich mit Okklumentik verteidigen können.“ Von den Worten wurde Severus nicht entspannter, doch er ließ es über sich ergehen.
Noch schnell erhaschte Hermine den Blick auf eine Uhr, bevor diese Erinnerung der Zeit wegen gekürzt worden war. Ganze sechs Stunden später saßen die beiden noch immer auf der Couch, in deren weiche Kissen Severus bereits erschöpft eingesunken war, doch er hielt weiterhin tapfer den Blickkontakt mit Albus aufrecht.
Der schwarz gekleidete Mann auf der Couch, vor dem Hermine in der Schule Respekt hatte – keine Angst –, war hier alles andere als furchteinflößend. Seine in sich zusammengesunkene Körperhaltung zeugte von Verwundbarkeit. Severus war für Albus ein offenes Buch, in dessen Seiten der Direktor nach und nach blätterte, damit sich ihm das Leben seines Gastes offenbaren würde. Schutzlos war er den wissbegierigen Blicken des mächtigen Zauberers ausgesetzt, doch Hermine erkannte auch, dass Severus es von sich aus zuließ. Es gab nichts Privates mehr, keine einzige Intimität, die er verbergen konnte. Severus‘ Bereitschaft, alles von sich freiwillig bloßzulegen, stellte selbst für Hermine, auch wenn sie über Albus‘ Methode gespaltener Meinung war, den unumstößlichen Beweis für dessen Gesinnung dar.
Albus, nicht einmal halb so entkräftet wie Severus, beendete die Legilimentik. Beide saßen schweigend nebeneinander. Nach dem anstrengenden Erlebnis war Severus völlig außer Atem. Die Müdigkeit ließ seine Lider immer schwerer werden.
„Eine Tasse Kaffee, Severus?“, fragte Albus, was Hermine erstaunte, denn er nannte ihn einfach beim Vornamen. Im nächsten Moment war ihr jedoch klar, dass so eine Intimität, wie die beiden Männer sie gerade erlebt hatten, sämtliche persönliche Hürden hinter sich gelassen haben mussten. Geschwächt nickte Severus und ließ sich von Albus bedienen. Nachdem der Direktor ihm eine Tasse gereicht hatte, empfahl er: „Finde dich jeden Abend bei mir ein, Severus. Ich werde dich lehren, deinen Geist zu verschließen.“
Zu erzählen hatten sie sich wenig, jetzt wo Albus so viel über Severus wusste. Sicherlich nicht alles, dachte Hermine, aber die wichtigsten Momente, die Schlüsselerlebnisse, die maßgebenden Entscheidungen. Albus allerdings wollte eine Sache noch klären.
„Der Neue von Voldemorts Anhängern …“ Severus horchte auf. „Kannst du herausfinden, wer das ist?“
Severus zögerte einen Moment, schien sich in Gedanken auszumalen, wie er es anstellen konnte, bevor er nickte. „Ich denke schon.“
„Gut, gut! Ich muss das wissen.“
In der nächsten, sehr kurzen Erinnerung hatte Severus den Direktor vor dem nächsten Angriff auf die Potters warnen können. Den Namen des neuen Todessers hatte Severus allerdings noch nicht herausbekommen können.
„Kein Name, Severus?“ Der junge Mann schüttelte den Kopf. „Nun, da sich der erste Teil der Prophezeiung erfüllt hat und sie ihm dreimal die Stirn boten, werde ich die kleine Familie wohl unter einen besonderen Schutzzauber stellen müssen.“
Zwischen der nächsten Erinnerung verging viel Zeit, die Hermine in der Dunkelheit verbrachte. Vielleicht deutete das an, dass einige Monate dazwischen lagen. Das Licht, das die neue Erinnerung mit sich brachte, blendete sie fast.
Mit sicherem Schritt betrat Severus das Büro des Schulleiters. Er trug das erste Mal die Kleidung, die Hermine von ihm kannte.
„Ah, Severus“, grüßte Albus. „Gut zu wissen, dass alles geklappt hat. Ist er skeptisch geworden?“
„Keinesfalls“, verneinte Severus, „im Gegenteil. Dank deiner Empfehlung, das Bewerbungsgespräch zu erwähnen, das ich zwischen Trelawney und dir mitgehört habe und im Anschluss beiläufig zu bedauern, dass man von weder von dir noch vom Orden Informationen erhalten könnte, kam ihm – wie geplant – die Idee, mich hier als Lehrer einzusetzen.“
„Das ist wunderbar, ganz wunderbar“, freute sich Albus, der sich Severus mit einem Schälchen saurer Drops näherte. „Der Vertrag ist fertig. Wir haben nun beinahe schon Mitte August.“ August 1981, dachte Hermine. „Die Schule beginnt im September. Wir haben Zeit genug, dich in deine Aufgaben einzuarbeiten.“
„Was ist mein Gebiet? Verteidigung gegen die Dunklen Künste?“ Severus klang äußerst enthusiastisch.
Albus schüttelte jedoch den Kopf. „Das möchte ich zu deiner Sicherheit nicht riskieren, Severus. Voldemort könnte sonst noch den Gedanken hegen, dich dazu zu missbrauchen, den Kindern böse Dinge einzuimpfen. Nein, mein Freund, dich habe ich für Zaubertränke eingeteilt.“
Severus schien nur ein wenig enttäuscht zu sein, doch die Erklärung des Direktors war ihm offenbar Grund genug, kein Widerwort zu geben. „Dann also Zaubertränke, kann mir nur recht sein.“
„Hast du noch immer nicht herausfinden können, wer dieser mysteriöse Todesser ist?“ Severus musste verneinen. „Ich frage mich, warum Voldemort aus dessen Identität so ein Geheimnis macht. Ist es womöglich jemand aus dem Ministerium? Oder jemand, der mir nahe steht?“ Albus seufzte. „Ich fürchte, ich male mir wieder die schlimmsten Dinge aus.“
Das Bild verschwamm vor Hermines Augen und es wurde schwarz – so lange, dass Hermine glaubte, Severus‘ Erinnerung wäre beendet, doch das war sie noch lange nicht. Hermine war längst mittendrin, denn als sich ihre Augen an die Finsternis gewöhnt hatten, sah sie Severus in seinem Bett in den Kerkern liegen. Er schlief tief und fest. Erst das laute Zischen des Kamins im Wohnzimmer weckte ihn. Severus war aufgestanden, um dem Gast – wer auch immer ihn um diese Uhrzeit anzuflohen traute – einige Beleidigungen entgegenzuwerfen. Er kniete sich neben den Kamin. Hermine konnte im Feuer ein ihr bekanntes Gesicht ausmachen.
„Lucius“, zischte er durch zusammengebissene Zähne. Der Blonde hielt sofort eine Hand empor, um sich Gehör zu verschaffen.
„Ich bin es dir schuldig“, er hob arrogant den Kopf, „vielleicht aber auch nicht. Lass mich dir nur sagen, dass heute die Nacht gekommen ist, in der der Dunkle Lord die Potters zum vierten Mal aufsuchen wird, diesmal allein. Ich habe es nur durch Zufall erfahren.“ Für einen Moment hörte Severus auf zu atmen, was Lucius als Anlass nahm zu erklären: „Ein gewisser Mr. Pettigrew, wir kennen ihn aus der Schule, war der neue Todesser, dessen Identität uns fast ein Jahr unbekannt war. Er war Geheimniswahrer für die Potters, Severus.“ Lucius beugte sich ein wenig aus dem Feuer heraus. Hermine konnte hören, was er Severus ins Ohr flüsterte. „Was das zu bedeuten hat, weißt du, aber du weißt es nicht von mir, verstanden?“
Severus geriet in Panik. Nachdem er sein Gespräch beendet hatte, versuchte er vergeblich, Albus zu kontaktieren, aber weder der noch Minerva waren zu erreichen. Hermine vermutete, dass die sich gerade mit den anderen Ordensmitgliedern trafen.
Er griff sich seinen Umhang und seinen Zauberstab, bevor er vor die Tore Hogwarts sprintete. Hermine folgte ihm. Obwohl es sich nur um eine seine Erinnerung handelte, kam sie außer Atem und ihr Herz schlug wie wild. Womöglich bildete sie sich das nur ein oder aber die bevorstehende Szenerie versetzte sie in Hochspannung. Sie wollte nicht sehen, was kommen würde, aber sie musste es sehen. Severus apparierte. In wenigen Sekunden fand sie sich mitten in der Nacht in einem Dorf wieder.
In der Dunkelheit huschte Severus über ein paar Straßen, bis er an ein leeres Grundstück kam. Das eiserne Tor stand offen. Dahinter verbarg sich nichts, bis es plötzlich einen lauten Knall gab, der den Boden erschütterte. Mit einem Male zeichnete sich ein Haus auf dem Grundstück ab. Fensterscheiben waren zerbarst und Dachziegel rieselten zu Boden. Aus einem der Fenster stieg Rauch auf.
Mit gezogenem Zauberstab rannte Severus zur Haustür, die nur angelehnt war – Hermine immer hinterher. Plötzlich blieb Severus vor ihr stehen und sie lief versehentlich durch ihn hindurch. Der Grund für Severus‘ abrupten Halt war der regungslose Körper von James Potter. Dessen Brille lag über den leblosen Augen, die nie wieder durch das Glas hindurchsehen würden. Sein Zauberstab qualmte noch vom letzten Zauberspruch, mit dem er Voldemort aufhalten wollte.
Vor lauter Schreck hielt sich Hermine beide Hände vor den Mund. Sie hatte Bilder von ihm gesehen. Bilder, die Harry von Freunden bekommen hatte. Doch hier, in der so gut erhaltenen Erinnerung, wurde ihr erst bewusst, wie ähnlich Harry seinem Vater war. Als sie sich für den Bruchteil einer Sekunde vorstellte, dass nicht James, sondern Harry hier liegen würde, fühlte sie einen stechenden Schmerz in ihrer Brust.
Hinter sich hörte sie Severus heftig atmen. Sie drehte sich zu ihm um und beobachtete ihn dabei, wie er die Gegend mit den Augen absuchte, den Zauberstab zum Angriff erhoben. Er konnte nicht wissen, dass Voldemort durch seinen eigenen Todesfluch, der von Harry abgeprallt war, seinen Körper getötet hatte. Severus rechnete mit ihm, mit seinem Feind. In Windeseile hatte er die unteren Zimmer überprüft, bevor er die Treppe nach oben stürzte. Eine Tür nach der anderen öffnete er. Um den Lärm, den er verursachte, machte er sich keine Gedanken mehr. Wäre Voldemort hier, würde Severus längst tot neben James Potter am Boden liegen.
Ein Kind wimmerte und Severus hielt inne, lauschte und steuerte flugs die Tür an, hinter der das Geräusch zu hören war. Er öffnete die elfenbeinfarbene Tür, doch über die Schwelle trat er nicht. Hermine konnte nichts sehen.
„Nein“, hauchte er ungläubig.
Das Weinen des Kindes wurde lauter, so dass Hermine zaghaft durch Severus hindurchging, um das Zimmer betreten zu können. Lose eingewickelt in die ihr bekannte Babydecke saß der kleine Harry am Boden, direkt neben seiner Mutter, deren glasige Augen funkelndes Leben vorgaukelten, weil sich noch Tränen in ihnen befanden, die durch eine flackernde Lampe wie ein kleiner Sternenhimmel glitzerten. Harry weinte noch lauter, schrie aus vollem Hals, so dass sich Hermine neben ihn hockte und eigene Tränen nicht zurückhalten wollte.
„Nicht weinen, kleiner Harry“, flüsterte sie tröstend, obwohl sie wusste, dass er sie nicht hören konnte. Sie konnte jedoch nicht einfach teilnahmslos zusehen, als wäre es ein trauriger Film. Ihre Worte an Harry sollten auch ihr eigenes Herz beruhigen, doch es gelang ihr nicht. „Shht“, machte sie, bevor sich ihre Kehle zusammenschnürte. Den Schmerz ihres Freundes teilte sie wie selbstverständlich und sie wollte es ertragen, für ihn und mit ihm, auch wenn es ihr so schwer fiel. Die großen grünen Augen mit ihren feuchten Wimpern blickten plötzlich auf.
Lautlos hatte sich Severus neben sie gehockt. Auch ihm stand der Schmerz ins Gesicht geschrieben. Seine Augen verweilten auf Lilys und waren genauso leblos wie die ihren, weil mit ihr ein Teil von ihm gestorben war.
„Nein“, wiederholte er leise und immerfort. Seine Finger streckten sich nach ihrem blassen Gesicht, aber er konnte sich nicht dazu überwinden, ihre fahle Haut zu berühren. „Warum?“ Diese gehauchte Frage blieb vom Universum, von Gott, von diesem Schlafzimmer und von dem kleinen Jungen unbeantwortet; selbst Hermine kannte die Antwort nicht, aber aus Kriegszeiten kannte sie den Schmerz, den sie mit sich brachte.
Zitternde Hände vergruben sich in schwarzen Haaren, die Severus nun raufte, um seinem Leid Erleichterung zu verschaffen. Er zog so fest an ihnen, dass Hermine es nicht mehr mit ansehen konnte, doch genau das war es, was er von ihr verlangte. Sie sollte sich das alles ansehen, sollte fühlen und verstehen, was in ihm vorging. Severus wollte, dass sie auch diesen schweren Abschnitt seines Lebens kennen lernte.
In der Trauer war die Zeit war nicht fassbar. Sekunden oder Minuten waren vergangen, als Severus endlich wieder Regung zeigte. Er wandte seinen Kopf und blickte auf das Kind am Boden. Mit einem Schritt war er bei Harry und kniete sich nieder, um ihn zu nehmen. Hermine vernahm ein Murmeln und hörte Worte wie „Sicherheit“, die im kindlichen Gehör keinen Halt fanden. Mit dem wimmernden Harry im Arm wollte Severus aufstehen, doch Lilys steife Hand hatte die Decke gepackt. Severus erstarrte. In seinen Zügen konnte Hermine eine Seltsamkeit ausmachen, die ihr einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Die tote Hand, die sich an die Decke des Kindes klammerte, schien zu rufen „Geh nicht!“ und Severus, von Schmerz und Trauer schon längst auf einem schmalen Pfad angelangt, auf welchem ein einziger Fehltritt den Verlust des gesundes Geistes bedeuten würde, war von der Gelassenheit des Todes so fasziniert, dass er Lily aus leidenschaftlicher Ergebenheit folgen wollte.
Die Babydecke, das wusste Hermine nun, hatte ihn an seinen Wunsch erinnert, seinem eigenen Leben ein Ende zu bereiten.
Von draußen, laut und deutlich, war ein tief brummendes, knatterndes Geräusch zu hören. Licht schien für einen Moment durchs Fenster, so dass Severus wieder zu sich kam und den Jungen absetzte. Vorsichtig schlich er zum Fenster und spähte hinaus. Hermine tat es ihm gleich und erblickte unten, vor dem Tor, ein Motorrad. Eine Gestalt in einem Umhang war bereits auf dem Weg zum Haus. Nun auf das eigene Wohl bedacht suchte Severus nach einem Versteck, fand aber keines. Sollte er apparieren, würde er in seinem aufgewühlten Zustand in tausend Stücke zersplintern. Unten hörte man bereits Schritte, dann eine männliche Stimme, die ergriffen den Namen des Toten rief, der dort zu finden war. Aufgeschreckt blickte sich Severus im Schlafzimmer um und – die Schritte kamen bereits die Stufen hinauf – entdeckte den Tarnumhang auf dem Bett, den er sich griff und noch rechtzeitig überwarf. Die Tür wurde so stark aufgeworfen, dass sie gegen Wand schlug und zurückprallte.
„Lily, oh Merlin nein, Lily.“
Der junge Sirius eilte zu der Toten hinüber und kniete sich nieder. Was Severus nicht gewagt hatte, stellte für ihn keine Hürde dar. Er fühlte ihren Puls und begann nach kurzer Zeit zu schluchzen. Seine Hände fuhren über ihre blassen Wangen und die fast getrockneten Tränen, bevor er ihre Augen schloss und sich nicht schämte, dabei offen zu weinen.
Harrys Patenonkel so aufgelöst zu erleben, trieb auch Hermine wieder die Tränen in die Augen. Mit verschwommener Sicht suchte sie im Zimmer nach Severus, doch da er den Tarnumhang trug, war es unmöglich ihn auszumachen. An der Wand entlang floh sie vor dem Übermaß an Trauer, die sie zu erdrücken drohte, bis sie mit einem Male bei Severus unter dem Umhang stand. Er beobachtete das sich ihm bietende Szenario. Dabei ignorierte er die eigenen Tränen, die er nur zu weinen bereit war, da sie niemand sehen konnte.
Zusammen mit Severus beobachtete sie durch den Schleier des Tarnumhangs hindurch, wie Sirius den kleinen Harry auf den Arm nahm. Die frische Wunde am Kopf des Kindes tupfte er mit einem Taschentuch ab, bevor er die eigene Qual hinunterschluckte, um Harry Trost zu spenden. Er verließ das Haus in Godric’s Hollow. Kaum hatte man das Geräusch des abfliegenden Motorrads vernommen, sank Severus mit dem Rücken an der Wand kraftlos zu Boden. Sein Blick war starr auf Lily gerichtet, bis das Ende der Erinnerung die Dunkelheit brachte.
Hermine fand für sich eine kurze Verschnaufpause, bevor die nächste Erinnerung begann. Ihr Herz schlug so stark, dass sie es in ihrer Kehle und den Schläfen fühlte. Sie fragte sich, ob es möglich war zu weinen, während man die Nase in ein Denkarium getaucht hatte und sie wollte bejahen. So viel hatte sie bereits gesehen. Dinge, die erklärten, wer Severus war und was sein Leben ausmachte. Bisher konnte sie alles verkraften, aber nur mit Mühe und indem sie sich stetig einredete, dass dies alles schon geschehen wäre und die Ereignisse unabänderliche Tatsachen darstellten.
In den Kerkern in Hogwarts sah sie, wie sich die Tür von Severus Räumen wie von Geisterhand öffnete. Er trug noch immer den Tarnumhang, den er erst wieder ablegte, als die Tür von innen geschlossen war. Der Umhang fiel achtlos zu Boden. In der Mitte des Raumes stand Severus so regungslos, als wäre er von einem Petrificus Totalus getroffen worden. Das Einzige, was sich bewegte, war ein Schweißtropfen, der von der Schläfe hinunter bis zum Hals wanderte, um vom Kragen aufgesogen zu werden. Nicht einmal seine Augen bewegten sich, weil er sich, wie Hermine vermutete, in einem Schockzustand befand. Seine Haut war fahl, seine Atmung flach. Nach einer Weile schloss er die Augen, presste sie in der Hoffnung fest zusammen, auf diese Weise den Schmerz zu vertreiben oder gar die Zeit umzukehren, um alles ungeschehen zu machen.
Sein sonst so klarblickender Verstand, vom Gram nun vollkommen unterhöhlt, trieb ihn zu einem Schränkchen, das er mit einem Zauberspruch öffnete. Der ganze Unterarm verschwand, als er ihn in die Schublade tauchte, um etwas zu suchen. Hermine sah, wie er ein winziges braunes Fläschchen in der Hand hielt, das er mit gewaltiger Sehnsucht in den Augen betrachtete. Ihre Aufforderung, es nicht zu trinken, blieb ungehört, denn er entkorkte das Fläschchen und stürzte den Inhalt hinunter. Severus begann zu torkeln. Die Erinnerung verschwamm, doch sie konnte noch sehen, wie sich die Tür öffnete und Albus hineingestürmt kam.
Severus lag in einem Bett, das Hermine noch nie gesehen hatte. Sie versuchte, seine Hand zu berühren, wie sie es schon oft bei Harry oder Ron getan hatte, wenn die im Krankenflügel liegen mussten, doch ihre Finger gingen durch seine hindurch. Er erwachte dennoch und blinzelte verstört, weil ihm der Ort genauso unbekannt war wie ihr.
Durch die leise geöffnete Tür trat Albus herein. Hermine ahnte, dass dieses Zimmer dem Direktor gehören musste. Er setzte sich zu Severus ans Bett, doch kein Wort kam über seine Lippen, als er den jungen Mann musterte. Seine Augen sprachen jedoch Bände. Sie schienen zu sagen „Nicht noch einmal, Severus!“. Severus verstand diese nicht laut gesprochenen Worte, denn er nickte kaum merklich. Erleichtert atmete Albus aus.
Die beruhigende Wirkung von Gesellschaft verspürte selbst Hermine, obwohl sie ein ungesehener Gast in dieser Erinnerung war. Sie konnte Albus ansehen, dass ihm viele Fragen auf der Zunge brannten, doch wegen Severus‘ bedenklichem Gemütszustand stellte er keine einzige.
Als die Erinnerung vorüberging, fand sie Severus in den Kerkern an einem Tisch sitzend. Sein Gesicht war in den Händen vergraben. Vor ihm lag ein Buch, das Hermine nicht kannte. Ihr Blick flitzte über die Schrift der aufgeschlagenen Seite. Die Zutaten waren ihr nicht fremd. Es war die Anleitung zur Herstellung des Ewigen Sees.
Als die Tür sich ohne Vorankündigung öffnete, schlug Severus das Buch erschrocken zu. Albus, der sich bereits dem Tisch näherte, sah noch, wie Severus einige Pergamente auf das Buch legte, damit der Titel nicht zu lesen wäre.
„Wie geht es dir?“, fragte der Direktor fürsorglich, doch Severus antwortete nicht. „Für zwei Wochen haben wir die Schule geschlossen. Die Kinder sollen mit ihren Eltern den Frieden feiern können.“ Severus sah den Direktor nicht an, der mit ernster Stimme die Frage stellte: „Wie konnte Voldemort sterben, nur weil er ein Kind töten wollte?“
Deprimiert schüttelte Severus den Kopf. Das Gespräch mit Albus nagte an seinen Nerven. Mit so einer Gemütsverstimmung hatte Hermine ihn bereits einmal kennen gelernt, doch so schlimm wie hier war es nie gewesen. Severus‘ Gesicht war völlig ausdruckslos, seine Bewegungen wie eingeschlafen. Er hatte sich aufgegeben.
„Was, wenn er nicht tot ist?“ Aufgrund von Albus‘ Worten blickte Severus auf, so dass der Direktor genauer wurde: „Es gibt Möglichkeiten, viele Möglichkeiten, um dem Tod zu entgehen.“ Severus sagte kein Mucks, fragte stattdessen mit seiner Mimik, so dass Albus antwortete: „Ich spreche von Möglichkeiten, die man in so einem schwarzen Buch finden könnte, wie du es gerade unter dem Berg an Pergamenten vor mir verborgen zu halten hoffst.“ Ertappt blickte Severus zu dem Buch hinüber, verlor dabei noch immer kein Wort, weswegen Albus seufzte. „Severus.“ Er sprach mit seiner väterlichen Stimme. „Wie kann ich dir helfen, damit du nicht im Gram ertrinkst?“ Unmerklich schüttelte der junge Mann den Kopf, womit er all seine Hoffnungslosigkeit zum Ausdruck brachte. In Severus‘ Augen gab es keine Hilfe. „Und wenn ich dir versichere, dass ich weiß, wie sich ein zersprungenes Herz anfühlt?“
Endlich blickte Severus auf und sagte seine ersten Worte mit einer erschreckenden Verachtung, die er seinem eigenen Leben entgegenbrachte: „Wenn es doch nur so wäre! Wenn es entzwei wäre, dann würde ich es nicht mehr ertragen müssen! Aber so …?“ Seine Hände machte eine verzweifelte Geste. „So weitermachen, wie bisher? Das kann ich nicht, wo doch alles starb, was mir das Wichtigste war.“
Die Leere in seinen braunen Augen schien unheilbar. Hermine wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber sie erinnerte sich daran, dass Severus ungefähr sieben Wochen nach Lilys Tod den Trank genommen haben musste und in dieser Zeit seine Räume kaum verlassen haben soll.
Sich zu Severus beugend flüsterte Albus weise: „So etwas verheilt nicht von heute auf Morgen. Manchmal begleitet uns dieser Schmerz das ganze Leben lang.“
„Das ganze Leben?“ Von diesem Gedanken war Severus entsetzt und wahrscheinlich, glaubte Hermine, hatte er in diesem Moment den Entschluss gefasst, dem Schmerz ein für allemal ein Ende zu bereiten.
„Wenn Voldemort Vorkehrungen getroffen haben sollte, Severus, dann werde ich dich brauchen.“
„Was kümmert’s mich noch?“, fragte er aufgebend.
„Ihr Tod wäre belanglos, wenn du dich nun aus diesem Leben davonstehlen würdest.“ Severus schien nicht zuzuhören, weswegen Albus ihn hart an der Schulter packte. „Was mit Voldemort geschehen ist, weiß niemand! Er ist verschwunden. Doch ich kenne sein Verlangen zu den Dunklen Künsten, seine krankhafte Furcht vor dem Tod. Wenn es nicht sein Ende war …“
„Ich würde ihm nicht mehr gegenübertreten können“, unterbrach Severus. „Nicht mit dieser Schuld, mit diesem Hass auf ihn.“
„Um das Rätsel um Voldemorts Verschwinden lösen zu können, werde ich viel Zeit benötigen, aber wenn – stell dir vor – wenn er wiederkehren würde, was wäre dein größter Wunsch?“
Severus fletschte die Zähne. „Ihn ins Jenseits zu befördern!“
„Und genau das wird niemand von uns können, nicht wenn es nach der Prophezeiung geht, Severus. Voldemort hat den Jungen als Ebenbürtigen gezeichnet, aber Voldemort ist nicht durch dessen Hand gestorben. Das möchte ich einem nicht kalkulierbarem, magischen Zufall zuschreiben, nämlich der Macht, die der Dunkle Lord nicht kennt.“
Severus‘ Hände zitterten und er fragte flüsternd: „Du glaubst wirklich, er kehrt zurück?“
Mit seiner Hand drückte Albus einmal Severus‘ Schulter, bevor er von ihr abließ. Dann nickte er. „Die Hälfte der Prophezeiung hat sich erfüllt. Ich wäre ein Narr, würde ich glauben, die andere Hälfte würde sich in Luft auflösen.“
„Aber …“ Sein Gesicht vergrub Severus wie zu Anfang der Erinnerung in seinen Händen. „Ich halte es nicht aus, Albus. Ich will es nicht aushalten, nicht mein ganzes Leben lang.“
„Versprich mir, Severus, nichts Unüberlegtes zu tun.“ In freundschaftlicher Geste legte er eine Hand auf Severus‘ Rücken. „Du bist beurlaubt. Nimm dir Zeit für dich.“
Nebelschwaden umgaben Hermine und einen Moment später stand sie in Severus‘ unaufgeräumten Labor. Die Dampfschwaden aus dem Kessel, in dem Severus eine helle Flüssigkeit rührte, schlugen ihr ins und auch durchs Gesicht hindurch. Aufgeschlagen neben ihm auf dem Tisch lag das Buch mit der Anleitung für den Ewigen See. Er war entschlossen, seine Empfindungen abzutöten. Jeder seiner Handgriffe war präzise, jede Zutat korrekt vorbereitet.
Das gesamte Rezept für den Ewigen See hatte sie in Windeseile gelesen, auch die Anmerkungen des Heilers, der dieses Buch verfasst hatte.
Mit einer Kelle füllte Severus einen Kelch mit dem Ewigen See, an dem er nur kurz roch, bevor er sich an den Kopf fasste und die Augen schloss. Severus hatte einmal erwähnt, erinnerte sich Hermine, dass allein die Dämpfe des Trankes zerstörerische Auswirkungen haben könnten, weswegen er dagegen war, dass sie ihn braute.
Bevor Severus den Trank einnehmen konnte, wurde vollkommen unerwartet die verschlossene Tür durch einen Zauber aufgeworfen. Hermine hatte Albus noch nie so wutentbrannt erlebt.
„Ich sagte doch“, Albus kam näher, „du sollst nichts Unüberlegtes tun!“
„Was ich hier gebraut habe, ist wohl bedacht“, erklärte Severus gleichgültig.
„Aber keineswegs vernünftig! Bist du dem ausgesetzt“, er blickte auf den Kelch, „wenn auch nur kurz, dann hast du für immer alles verloren! Es gibt keine Heilung dagegen. Ich rate dir dringend davon ab, Severus.“
„Es ist die einzige Möglichkeit, meinen klaren Verstand wiederzuerlangen.“
„Unfug!“ Albus war laut geworden. „Du fürchtest dich davor, mit diesen Qualen leben zu müssen. Dabei bist du nicht der Einzige, der etwas Ähnliches erfahren musste und du weißt das.“
Severus wirkte verloren. Verloren wie ein Kind, das sich durch ein dunkles Haus tastete, weil ihm mit Lilys Tod das Licht genommen wurde.
Die Stimme des Direktors war milde geworden. „Das ist keine Lösung, Severus. Die Seele zu töten ist genauso verderblich, wie dem Körper das Leben zu nehmen.“
„Bedeutet mein Versprechen an dich, alles in meiner Macht stehende zu unternehmen, damit eine mögliche Rückkehr des Dunklen Lords verhindert wird, denn überhaupt nichts?“, wollte Severus wissen. „Ich habe mich dazu durchgerungen und mich bereit erklärt, die anderen im Auge zu behalten und da willst du mir diese eine Entscheidung, die das überhaupt ermöglichen kann, auch noch nehmen? Ohne das“, er hielt den Kelch in die Höhe, „bin ich keine Hilfe für dich. Ich wäre nur noch Treibgut von einem einst prächtigen Schiff, das an den Klippen zerschellte.“
„Du bist noch so jung, Severus. Du kannst es mit der Zeit überwinden.“
Severus schüttelte den Kopf. „Ich weiß, dass das nicht möglich sein wird. Dazu habe ich sie viel zu viele Jahre verehrt. Du sagst, ich wäre jung und trotzdem waren es bereits über dreizehn Jahre, Albus, in denen sich alles um sie drehte. Zwei Drittel meines Lebens sind längst tot. Zu wissen, dass es durch meine Schuld soweit kommen konn…“ Severus schluckte kräftig, doch er konnte seinen Kummer nicht verbergen, genauso wenig den Schluchzer, der ihm versehentlich entwich. „Und so wie jetzt wird es immer sein“, erklärte er gequält. „Gedanken an sie werden mich auch in Zukunft aus dem Gleichgewicht bringen. Sag mir, wie ich da noch von Nutzen sein kann, wenn die kleinste Erwähnung mich zu einem gebrochen Mann macht?“
„Du wirst noch weniger von Nutzen sein, wenn du dich deiner Seele beraubst, denn damit beraubst du dich auch der Gefühle, die dir überhaupt die Motivation geben, die Todesser auszuhorchen und Voldemorts Rückkehr zu verhindern. Du wärst nur noch eine leere Hülle, der alles vollkommen gleichgültig wäre.“ Albus war enttäuscht von Severus und machte keinen Hehl daraus. „Bevor du das da trinkst“, er deutete auf den Kelch in Severus‘ Hand, „verlasse bitte die Schule. Ich möchte den Kindern den Anblick eines wandelnden Leichnams ersparen.“
Paralysiert starrte Severus den Direktor an, bevor er dem Vorschlag nachkommen wollte und bereits an Albus vorüberging, doch der hielt ihn auf.
„Ich werde dich nicht davon abhalten können, nicht wahr?“ Hermine hörte heraus, dass Albus sich dessen sicher war. Seit der langen Legilimentik-Sitzung kannte er Severus mehr als nur gut. „Du würdest in einem Krankenhaus landen, Severus, denn mit diesem Trank wärst du zu nichts mehr fähig! Ist es das, was du sein möchtest? Jemand, der komplett hilflos ist? Du hast eine Menge Fehler in deinem Leben gemacht, das weiß ich, aber dieser würde deinen Fehltritten nur noch die Krone aufsetzen. Wenn es nach Einnahme des Trankes nichts mehr geben würde, das noch dein Interesse weckt, würdest du ihren Tod mit Füßen treten! Sie starb, um ihren Sohn zu retten. Du stirbst, um der Trauer zu entfliehen.“
Einen Moment lang sammelte sich Severus. Beide Männer sahen sich die ganze Zeit über nicht an.
„Was soll ich tun?“ Flehend erbat er eine Antwort vom Direktor.
Albus drehte sich zu Severus um und strich über seinen langen Bart, während er seinen jungen Freund musterte.
„Zwei Tränke, Severus. Einer, der die Seele zerreißt, doch zuvor ein anderer, der den Kern bewahrt.“
Unerwartet zog Albus ein Buch aus seinem Umhang. Ein Buch, das Hermine bestens kannte und lange studiert hatte. Es trug den Titel „Geistreiches“.
„Kapitel zehn“, sagte Albus, bevor er das Buch ohne einen weiteren Kommentar auf den Tisch legte und an Severus vorbei nach draußen ging.
Neugierig näherte sich Severus dem Buch, stellte seinen Kelch mit dem Ewigen See auf dem Tisch ab, um Kapitel zehn aufzuschlagen. Dieses Kapitel kannte Hermine in- und auswendig. Es hieß „Schützende Hände“ und behandelte die Herstellung verschiedener Schutztränke für einzelne Bereiche des Geistes und des Herzens.
Severus hatte sich an den Tisch gesetzt und er las und las, während die Erinnerung verblasste.
Im nächsten Abschnitt seiner Erinnerungen sah sie ihn an einen Tisch im Labor stehen. Vor ihm befanden sich zwei Kelche. Innerlich flehte Hermine, er sollte es nicht tun, aber bereits Geschehenes ließ sich nicht aufhalten.
Als Severus den ersten Kelch in die Hand nahm, blickte er mehrmals zur Tür hinüber, weil er mit Albus zu rechnen schien, der immer auf unerklärliche Weise wusste, was in seiner Schule vor sich ging. Albus kam nicht, um ihn aufzuhalten und so leerte er den Kelch mit dem Schutztrank, der den Kern seiner Seele bewahren sollte. Für einen Moment – und das brachte Hermine das erste Mal zum Lächeln – erstrahlte Severus in gleißender Farbenpracht, bevor das Licht wieder sanfter wurde. An seinem Brustbein hatte sich ein heller Lichtschein gebildet, der nach und nach erlosch. Bis auf diesen visuellen Effekt war keine Auswirkung zu sehen.
Mit erschreckender Gelassenheit griff Severus nach dem anderen Kelch, der den Ewigen See beinhaltete. Sein Gesichtsausdruck zeugte noch immer von seiner schweren Gemütserkrankung. Von ihrer Arbeit im Mungos war Hermine sich darüber bewusst, dass man solchen Menschen nur helfen konnte, wenn sie bereit waren, Hilfe anzunehmen. Gegen die Gleichgültigkeit, die diese Menschen innehatten, kam man schwerlich an. Hermine war sich sicher, dass Albus mehrmals mit Severus gesprochen haben musste, auch wenn nicht alle Unterredungen in dieser Sammlung von Erinnerungen gezeigt wurden.
Von der fixen Idee, den Ewigen See einzunehmen, war Severus nicht abzubringen. Er war entschlossen, kein Leid mehr spüren zu wollen, nahm dafür auch in Kauf, nicht einmal mehr Freude empfinden zu können.
Severus trank den Ewigen See in einem Zug leer und knallte den Kelch auf den Tisch. Dann wartete er, wartete auf die eintretende Wirkung, aber die blieb aus. Nach kurzer Zeit begann er damit, seinen Labortisch aufzuräumen, doch da, völlig überraschend, krallten sich beide Hände in den Stoff der Kleidung, die seine Brust bedeckte und er beugte sich nach vorn und schnaufte. Sein Gesicht war schmerzerfüllt und sehr bald, weil er es nicht mehr ertragen konnte, schrie er. Hermine fuhr bei diesem Schmerzensschrei zusammen. Es blieb nicht bei dem einen.
Ein unirdisch klingendes Geräusch, ähnlich eines Peitschenhiebs, erfüllte das ganze Laboratorium und Severus warf gleich darauf den Kopf nach hinten. Er presste die Zähne zusammen, doch der unterdrückte Schrei schlich sich in Form eines gurgelnden Lauts die Kehle hinauf. Ein weiterer Peitschenhieb und Severus schrie abermals auf. Seinen gesamten Oberkörper legte er auf dem Labortisch ab. Er umfasste sich mit seinen Armen, als wollte er seine Brust schützen, atmete dabei stoßartig. Erneut hallte ein Peitschenknall durch die Kerker, nur viel lauter und unheilvoller, und es klang so, als hätte dieser Hieb etwas zerrissen.
„OH GOTT“, schrie er aus voller Kehle. „Hilf mir“, flüsterte er gleich darauf winselnd. Nicht einmal Gott leistete ihm Beistand, wo Severus doch in diesem Moment das Kostbarste aller himmlischen Geschenke respektlos zerstörte.
Severus sank zu Boden und krümmte sich. Er rollte sich zusammen, versuchte eine Schonhaltung einzunehmen, mit der dieser Schmerz erträglich war, doch es fand sich keine.
Von diesem Anblick bis ins Tiefste ihres eigenen Herzens ergriffen kniete sich Hermine auf den Boden neben Severus, der noch immer von einer unermesslichen Qual heimgesucht wurde und sich wie in einem Todeskampf wandte. Beim nächsten zischenden Knall, der direkt aus Severus‘ Brustkorb zu kommen schien, bäumte er sich auf, als würde er mit einem Cruciatus gefoltert werden. Hermine hörte seine Zähne knirschen, so sehr presste er die Kiefer zusammen. Die Finger seine Hände krümmten sich ebenso wie sein ganzer Körper, der zusätzlich von einem unkontrollierbarem Zittern befallen wurde. Durch den nicht enden wollenden Schmerz rannen ihm durch fest geschlossene Augen Tränen an den Schläfen hinunter.
Mit einem lauten Krach wie von einem einschlagenden Blitz riss der Trank nun den ersten Teil der Seele sichtbar heraus. Hermine erschrak fürchterlich, weil Severus wie am Spieß schrie, als etwas strahlend Weißes sich aus seiner Brust löste. Ein großer Teil der Seele, vielleicht nur sichtbar wegen des zuvor eingenommenen Schutztrankes, flackerte unruhig einige Zentimeter über Severus hin und her; schien Halt zu suchen, der ihm jedoch vergönnt war. Severus öffnete gerade noch rechtzeitig die Augen, um mit ansehen zu müssen, wie sich das Heiligste seines Selbst in Luft auszulösen drohte. Kraftlos griff er nach dem nebelhaften Schemen. Seine Augen spiegelten das Entsetzen darüber wider, was er angerichtet hatte. Er schien die Ausmaße seines Fehlers erst in diesem Moment begriffen zu haben – in einem Moment, in dem es bereits zu spät war.
„Aufhören“, murmelte er gegeißelt. Der sterbende Teil seiner Seele schlang sich hilfesuchend um seine Hand, die er zurück an seine Brust führte, doch anstatt wieder von ihm aufgenommen zu werden, zersetzte sich der Seelenteil in der Luft und verging rückstandslos.
Einen Augenblick war Ruhe. Hermine hörte nur ihr eigenes Schluchzen. Mit einem Ausdruck der Fassungslosigkeit lag Severus auf dem steinernen Boden seines Labors und starrte mit nun sehr viel dunkleren Augen zur Decke hinauf. Schmerzen hatte er momentan offenbar keine. Hermine spürte, wie ihre Unterlippe zitterte und heiße Tränen aus ihren Augen quollen. Severus‘ Leid hatte ihr sehr zugesetzt. Hätte sie vor zwanzig Jahren schon gelebt und ihn gekannt, hätte sie alles in ihrer Macht stehende getan, um diese Gemütsverstümmelung zu verhindern, doch wenn Albus ihn schon nicht hatte abhalten können, dann wäre es unwahrscheinlich, dass sie es geschafft hätte.
Gerade hatte ihr Herz wieder einen erträglichen Rhythmus gefunden, tönte erneut ein reißendes Geräusch durch den Raum und Severus‘ Qual begann von Neuem. Immer wieder versuchte er, die losgelösten Seelenteile zu greifen und dazu zu bringen, nicht fortzugehen, doch jedes einzelne erstarb; manche von ihnen in seinen Händen. Hermine weinte offen. Die stockende Atmung schüttelte ihren Körper. Sie hatte sich nicht vorstellen können, auch nicht nach Alastors Bericht über einen Gefangenen, der von einem Dementor den Kuss erhalten hatte, wie herzzerreißend und grausam es selbst für den Betrachter sein würde, der Verschandelung einer Seele beizuwohnen. Seine Seele, das wusste Hermine nun, war verloren. Die Teile zurückzuholen war unmöglich und als sie sich darüber klar wurde, weinte sie nur noch mehr.
Der letzte weiß schimmernde Teil seiner Seele züngelte über Severus‘ Brust umher und versuchte sich, ähnlich wie die Magie, mit kleinen Armen irgendwo festzuhalten, doch der Ewige See wusste dies zu verhindern. Das strahlende Weiß verblasste, wie auch nach Lilys Tod Severus‘ Hoffnung verblasst war. Obwohl nun alles vorüber war, blieb Severus am Boden liegen. Schwer atmend blickte er erneut zur gewölbten Decke; diesmal mit pechschwarzen Augen.
Innerlich flehte Hermine, dass die Erinnerungen endlich ein Ende finden würden, denn mehr könnte sie nicht ertragen. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie das bereits Gesehene verkraftete. Sie spürte ihre heißen Tränen und sie wusste, dass sie auch in Wirklichkeit weinen musste.
Von dem Gespräch mit Albus und Severus bekam sie nur noch wenig mit. Zu sehr war sie von der Qual eingenommen, die Severus in ihren Augen gerade eben – in Realität vor über zwanzig Jahren – ertragen hatte. Albus‘ Anmerkung, dass Lucius Malfoy freigelassen worden wäre und Severus‘ nun disziplinierte und besonnene Art, dem Observationsvorschlag des Direktors zuzustimmen, erfasste sie nur bruchstückhaft.
Als es erneut dunkel wurde und keine weitere Erinnerung zu kommen schien, ließ Hermine in Gedanken von dem Gesehenen los, doch in Wirklichkeit löste sich ihr Griff vom Becken des Denkariums und sie fiel heulend und schluchzend rücklings zu Boden. Vor lauter Tränen konnte sie nichts sehen, konnte nicht einmal aufstehen, weil ihr diese schrecklichen Erinnerungen die Kraft geraubt hatten. Was sich ihr offenbart hatte, wollte sie aber unbedingt durchstehen, wollte es überwinden, denn nur so wäre sie in der Lage, ihm helfen zu können.
Unerwartet, aber dennoch ersehnt, fühlte sie Hände auf ihren Schultern, die sie in eine sitzende Position brachten. Ihr war egal, wer ihr in dieser Stunde beistand und so vergrub sie ihr Gesicht in dem schwarzen Umhang, den sie in ihrem eingeschränkten Blickfeld sehen konnte. Worte des Trostes rieselten auf sie hernieder, doch nur der Tonfall sorgte für die Erleichterung des Herzens, denn die Worte selbst verstand sie nicht. Sie spürte ein Taschentuch an ihrer Nase, mit dem derjenige sie säuberte. Gleich darauf wischte die gleiche Hand mit dem Taschentuch über eine Stelle am Umhang, auf der sie ein unangenehmes Sekret hinterlassen hatte. Hermine blickte auf und sah in die besorgten Augen von Harry, der noch immer einen Arm um ihre Schultern gelegt hatte und sie an sich presste. Plötzlich fühlte sie Lippen an ihrer Schläfe. Ginny hatte ihr eine Kuss gegeben und sich neben sie gehockt. Im Arm hielt sich Nicholas, bei dessen Anblick Hermine wieder heftig zu weinen begann, weil er sie an den kleinen Harry erinnerte.
Dass ihre beiden Freunde sich Zeichen gaben, damit Ginny ins Schlafzimmer gehen sollte, bekam Hermine nicht mit. Hermine ließ sich halten, ließ sich trösten und sammelte aus dieser Zuneigung neue Kraft. Die stockende Atmung hatte ihr Schwindel bereitet.
„Lass mich einen Moment liegen“, hauchte sie erschöpft. „Mir ist schwindelig, mir ist schlecht.“
Ihr Kopf landete auf einem weichen Kissen, das Harry von der Couch genommen haben musste. Sie lag auf dem Boden, die Augen auf die silbern funkelnden Muster gerichtet, die von den sich langsam bewegenden Erinnerungen im Denkarium an die Decke projiziert wurden und eine seltsam beschwichtigende Wirkung auf sie hatten. Harry blieb bei ihr. Er hielt ihre Hand und sagte kein Wort. Langsam wurde ihre Atmung ausgewogener. Harrys Daumen streichelte ihren Handrücken in einem gleichbleibenden Tempo.
Das Geräusch der Tür, die von einem zornigen Severus aufgeworfen wurde, hörte Hermine nicht. Auch nicht die beschwichtigenden Worte von Draco, der Severus gefolgt war, nachdem der bemerkt hatte, dass jemand in sein Büro eingedrungen war. Selbst Harrys ermahnenden Worte nahm sie in ihrem tranceähnlichen Zustand, der von der Sehnsucht nach Ausgeglichenheit herbeigeführt worden war, nur als leises Surren wahr.
Severus und Draco waren auf der Stelle still, als sie Hermine am Boden liegen sahen und die Situation als ernst einstuften. Voller Sorge ging Severus einen Schritt auf sie zu, stieß dabei mit dem Fuß an die leere langhalsige Phiole, die neben dem Denkarium abgestellt war. Nur er schien in diesem Augenblick zu wissen, was tatsächlich geschehen war und es war seine Schuld, dass sie sich in diesem Zustand befand.
Als er ihre unbeweglichen Augen erblickte, die im silbernen Licht des Denkariums glitzerten, waren die Erinnerungen an Lilys leblosen Körper so überwältigend stark, dass er sich mit vor Furcht ganz steifen Gliedern neben Hermine kniete. Was er damals bei Lily nicht gewagt hatte, fiel ihm bei Hermine leicht, und er berührte mit den Fingerspitzen zaghaft ihre vom Schreck ganz bleiche Wange. Ihre Augen waren nicht tot, sondern lebendiger denn je und blinzelten ein paar Mal und suchten umher, bis sie Severus erblickten.
Von all den Gefühlen, denen Severus an diesem Abend durch Harrys Magie ausgesetzt war, löste der Blick in Hermines Augen etwas in ihm aus, das er seit langer Zeit nicht mehr gespürt hatte.
Im nächsten Moment befand sich Hermine erneut im Schulleiterbüro. In dem Augenblick, als Severus klopfen wollte, hatte Albus bereits die Tür geöffnet.
„Treten Sie ein, Mr. Snape.“
Ohne den Direktor zu grüßen sprudelte es aus einem sehr angespannten Severus heraus: „Morgen Nacht gegen zwei Uhr will der Dunkle Lord die Potters angreifen.“
„Ah“, machte Albus gelassen und deutete auf eine Couch. „Nehmen Sie doch bitte Platz.“
„Haben Sie nicht gehört?“
„Natürlich habe ich! Kein Grund für Sie, die Stimme zu erheben.“
Nochmals deutete er auf die Couch und Severus kam der Aufforderung nach. Aufgeregt spielten seine Finger miteinander, was er selbst gar nicht für voll zu nehmen schien. Er beobachtete – genau wie Hermine – wie Albus mit einem der vielen Gemälde sprach.
Diese eine Erinnerung war sehr kurz gewesen, doch die nächste folgte gleich im Anschluss. Es musste Herbst sein, denn Hermine bemerkte die typische Halloween-Dekoration, mit der Albus gern schon etwas früher seine Räume verschönerte. Wieder trat Severus ein, doch diesmal öffnete sich die Tür wie von Geisterhand.
„Mr. Snape“, sagte Albus sehr ernst, „Sie haben sicherlich erfahren, dass einige Ihrer ‘Freunde‘ festgenommen wurden.“
„Das sind keine Freunde“, widersprach Severus empört.
Albus ging auf die Anmerkung gar nicht ein. „Mr. Karkaroff hat Namen genannt, Mr. Snape. Namen von Todessern, um seine eigene Haut zu retten. Bedauerlicherweise“, Albus erhob sich und näherte sich seinem Gast, „war Ihr Name darunter.“
Was das zu bedeuten hatte, war Hermine klar. Jeden Moment würden die Auroren kommen und ihn mitnehmen, damit er in Askaban, das zu dieser Zeit noch von Dementoren bewacht wurde, auf eine Verhandlung warten konnte. Dementsprechend geschockt war Severus über diese Information.
Der Direktor war bei Severus angelangt.
„Ich bin im Nachhinein froh darüber, dass ich schon vor einiger Zeit wichtige Personen im Ministerium darüber informiert habe, mit Ihnen als mein Verbindungsmann in Kontakt zu stehen.“
„Sie haben was?“
„Sie sollten auch froh darüber sein, Mr. Snape, denn nur so konnte ich Sie vor dem Gefängnis bewahren, indem ich beteuerte, dass Sie in meinen Diensten stehen.“ Albus legte eine Hand auf Severus Schulter. „Tun Sie das?“ Die Augen blickten ernst über die silberne Halbmondbrille. „Stehen Sie in meinen Diensten?“ Severus‘ Stimme war so leise, dass sich Hermine zu ihm beugen musste, so wie Albus es tat.
„Sie sagten einmal, wenn ich bejahen würde, müssten Sie sich Gewissheit verschaffen, dass ich es auch so meine. Wie …? Was würden Sie tun?“ Severus zögerte einen Moment, bevor er – halb als Vorschlag, halb als Frage – die Vermutung äußerte: „Veritaserum?“
„Nein, etwas Anderes. Doch zuvor müssen Sie sich darüber im Klaren sein, was Sie möchten.“
„Ich …“ Severus schluckte kräftig. „Ich möchte bejahen.“
„Dann nehmen Sie bitte Platz, Mr. Snape.“
Gespannt hockte sich Hermine vor Severus und Albus. Dass sie sich währenddessen mitten im Kaffeetischchen der Erinnerung befand, nahm sie nicht einmal wahr. So dicht konnte sie am besten verfolgen, was Albus tun würde, um Severus‘ Loyalität zu überprüfen.
„Sie sind angespannt, Mr. Snape. Fürchten Sie sich nicht. Wenn ich Ihnen vertrauen soll, müssen Sie erst mir vertrauen.“
Severus atmete mehrere Mal ein und aus, bevor er sich Albus zuwandte und nickte, obwohl es unklar war, was nun geschehen würde. Als Albus seinen Stab zog, krallten sich Severus‘ Hände in den flauschigen Stoff der Couch, doch er blieb sitzen und blickte den Direktor an. Es war keine Furcht vor dem alten Zauberer, sondern die Angst vor dem Unbekannten; vor der Ungewissheit, was nun folgen würde.
„Legilimens“, flüsterte Albus.
Im ersten Moment schien Severus nicht zu spüren, was mit ihm geschah, doch dann, das konnte sie an seinem Gesichtsausdruck erkennen, musste er die Präsenz des Direktors in seinem Kopf fühlen und er war schockiert. In diesem Augenblick erinnerte sich Hermine sehr genau daran, wie sie sich gefühlt hatte, als Severus vor über einem Jahr unerlaubt in ihre Gedanken eingedrungen war. Die Situation hier war jedoch von Hause aus viel angespannter und bedeutsamer. Hermine bemerkte, dass Severus begann, sich gegen die mentale Intrusion zu sträuben. Auch dem Direktor war das nicht entgangen, doch er ließ nicht von seinem Vorhaben ab.
„Wehren Sie sich nicht, Mr. Snape, sonst bereitet es Schmerzen“, erklärte Albus mit sanftmütiger Stimme.
Das Wimmern, das Severus entwich, berührte nur Hermine, nicht aber Albus, der zielsicher überprüfen wollte, ob sein Gegenüber vertrauenswürdig genug war, um ihn unter seinen persönlichen Schutz zu stellen. Zwiespältig betrachtete Hermine das Szenario. Sie hatte Mitleid mit dem jungen Severus, sah aber wie Albus die Notwendigkeit, die intimsten Gedanken kennen zu lernen, denn im Moment stellte dieser ehemalige Schüler für den Direktor nur einen Todesser dar, über dessen Aufrichtigkeit er überhaupt nichts wusste.
„Nicht …“, flehte Severus mit glasigem Blick. „Nicht das, bitte nicht.“ Er atmete heftig und stockend.
Es konnte alles Mögliche sein, was Albus sich gerade ansah. Nichts, absolut nichts sollte vor dem Direktor verborgen bleiben, egal wie unangenehm es für Severus sein musste. Das errötete Gesicht und die langsam aufsteigenden Tränen verrieten, dass das, was Albus gerade betrachtete, Severus mehr als nur peinlich sein musste.
Der Direktor blieb völlig gelassen.
„Wir spielen hier mit offenen Karten, Mr. Snape“, beruhigte er ihn, „und im Gegenzug werde ich Ihnen später beibringen, wie Sie sich mit Okklumentik verteidigen können.“ Von den Worten wurde Severus nicht entspannter, doch er ließ es über sich ergehen.
Noch schnell erhaschte Hermine den Blick auf eine Uhr, bevor diese Erinnerung der Zeit wegen gekürzt worden war. Ganze sechs Stunden später saßen die beiden noch immer auf der Couch, in deren weiche Kissen Severus bereits erschöpft eingesunken war, doch er hielt weiterhin tapfer den Blickkontakt mit Albus aufrecht.
Der schwarz gekleidete Mann auf der Couch, vor dem Hermine in der Schule Respekt hatte – keine Angst –, war hier alles andere als furchteinflößend. Seine in sich zusammengesunkene Körperhaltung zeugte von Verwundbarkeit. Severus war für Albus ein offenes Buch, in dessen Seiten der Direktor nach und nach blätterte, damit sich ihm das Leben seines Gastes offenbaren würde. Schutzlos war er den wissbegierigen Blicken des mächtigen Zauberers ausgesetzt, doch Hermine erkannte auch, dass Severus es von sich aus zuließ. Es gab nichts Privates mehr, keine einzige Intimität, die er verbergen konnte. Severus‘ Bereitschaft, alles von sich freiwillig bloßzulegen, stellte selbst für Hermine, auch wenn sie über Albus‘ Methode gespaltener Meinung war, den unumstößlichen Beweis für dessen Gesinnung dar.
Albus, nicht einmal halb so entkräftet wie Severus, beendete die Legilimentik. Beide saßen schweigend nebeneinander. Nach dem anstrengenden Erlebnis war Severus völlig außer Atem. Die Müdigkeit ließ seine Lider immer schwerer werden.
„Eine Tasse Kaffee, Severus?“, fragte Albus, was Hermine erstaunte, denn er nannte ihn einfach beim Vornamen. Im nächsten Moment war ihr jedoch klar, dass so eine Intimität, wie die beiden Männer sie gerade erlebt hatten, sämtliche persönliche Hürden hinter sich gelassen haben mussten. Geschwächt nickte Severus und ließ sich von Albus bedienen. Nachdem der Direktor ihm eine Tasse gereicht hatte, empfahl er: „Finde dich jeden Abend bei mir ein, Severus. Ich werde dich lehren, deinen Geist zu verschließen.“
Zu erzählen hatten sie sich wenig, jetzt wo Albus so viel über Severus wusste. Sicherlich nicht alles, dachte Hermine, aber die wichtigsten Momente, die Schlüsselerlebnisse, die maßgebenden Entscheidungen. Albus allerdings wollte eine Sache noch klären.
„Der Neue von Voldemorts Anhängern …“ Severus horchte auf. „Kannst du herausfinden, wer das ist?“
Severus zögerte einen Moment, schien sich in Gedanken auszumalen, wie er es anstellen konnte, bevor er nickte. „Ich denke schon.“
„Gut, gut! Ich muss das wissen.“
In der nächsten, sehr kurzen Erinnerung hatte Severus den Direktor vor dem nächsten Angriff auf die Potters warnen können. Den Namen des neuen Todessers hatte Severus allerdings noch nicht herausbekommen können.
„Kein Name, Severus?“ Der junge Mann schüttelte den Kopf. „Nun, da sich der erste Teil der Prophezeiung erfüllt hat und sie ihm dreimal die Stirn boten, werde ich die kleine Familie wohl unter einen besonderen Schutzzauber stellen müssen.“
Zwischen der nächsten Erinnerung verging viel Zeit, die Hermine in der Dunkelheit verbrachte. Vielleicht deutete das an, dass einige Monate dazwischen lagen. Das Licht, das die neue Erinnerung mit sich brachte, blendete sie fast.
Mit sicherem Schritt betrat Severus das Büro des Schulleiters. Er trug das erste Mal die Kleidung, die Hermine von ihm kannte.
„Ah, Severus“, grüßte Albus. „Gut zu wissen, dass alles geklappt hat. Ist er skeptisch geworden?“
„Keinesfalls“, verneinte Severus, „im Gegenteil. Dank deiner Empfehlung, das Bewerbungsgespräch zu erwähnen, das ich zwischen Trelawney und dir mitgehört habe und im Anschluss beiläufig zu bedauern, dass man von weder von dir noch vom Orden Informationen erhalten könnte, kam ihm – wie geplant – die Idee, mich hier als Lehrer einzusetzen.“
„Das ist wunderbar, ganz wunderbar“, freute sich Albus, der sich Severus mit einem Schälchen saurer Drops näherte. „Der Vertrag ist fertig. Wir haben nun beinahe schon Mitte August.“ August 1981, dachte Hermine. „Die Schule beginnt im September. Wir haben Zeit genug, dich in deine Aufgaben einzuarbeiten.“
„Was ist mein Gebiet? Verteidigung gegen die Dunklen Künste?“ Severus klang äußerst enthusiastisch.
Albus schüttelte jedoch den Kopf. „Das möchte ich zu deiner Sicherheit nicht riskieren, Severus. Voldemort könnte sonst noch den Gedanken hegen, dich dazu zu missbrauchen, den Kindern böse Dinge einzuimpfen. Nein, mein Freund, dich habe ich für Zaubertränke eingeteilt.“
Severus schien nur ein wenig enttäuscht zu sein, doch die Erklärung des Direktors war ihm offenbar Grund genug, kein Widerwort zu geben. „Dann also Zaubertränke, kann mir nur recht sein.“
„Hast du noch immer nicht herausfinden können, wer dieser mysteriöse Todesser ist?“ Severus musste verneinen. „Ich frage mich, warum Voldemort aus dessen Identität so ein Geheimnis macht. Ist es womöglich jemand aus dem Ministerium? Oder jemand, der mir nahe steht?“ Albus seufzte. „Ich fürchte, ich male mir wieder die schlimmsten Dinge aus.“
Das Bild verschwamm vor Hermines Augen und es wurde schwarz – so lange, dass Hermine glaubte, Severus‘ Erinnerung wäre beendet, doch das war sie noch lange nicht. Hermine war längst mittendrin, denn als sich ihre Augen an die Finsternis gewöhnt hatten, sah sie Severus in seinem Bett in den Kerkern liegen. Er schlief tief und fest. Erst das laute Zischen des Kamins im Wohnzimmer weckte ihn. Severus war aufgestanden, um dem Gast – wer auch immer ihn um diese Uhrzeit anzuflohen traute – einige Beleidigungen entgegenzuwerfen. Er kniete sich neben den Kamin. Hermine konnte im Feuer ein ihr bekanntes Gesicht ausmachen.
„Lucius“, zischte er durch zusammengebissene Zähne. Der Blonde hielt sofort eine Hand empor, um sich Gehör zu verschaffen.
„Ich bin es dir schuldig“, er hob arrogant den Kopf, „vielleicht aber auch nicht. Lass mich dir nur sagen, dass heute die Nacht gekommen ist, in der der Dunkle Lord die Potters zum vierten Mal aufsuchen wird, diesmal allein. Ich habe es nur durch Zufall erfahren.“ Für einen Moment hörte Severus auf zu atmen, was Lucius als Anlass nahm zu erklären: „Ein gewisser Mr. Pettigrew, wir kennen ihn aus der Schule, war der neue Todesser, dessen Identität uns fast ein Jahr unbekannt war. Er war Geheimniswahrer für die Potters, Severus.“ Lucius beugte sich ein wenig aus dem Feuer heraus. Hermine konnte hören, was er Severus ins Ohr flüsterte. „Was das zu bedeuten hat, weißt du, aber du weißt es nicht von mir, verstanden?“
Severus geriet in Panik. Nachdem er sein Gespräch beendet hatte, versuchte er vergeblich, Albus zu kontaktieren, aber weder der noch Minerva waren zu erreichen. Hermine vermutete, dass die sich gerade mit den anderen Ordensmitgliedern trafen.
Er griff sich seinen Umhang und seinen Zauberstab, bevor er vor die Tore Hogwarts sprintete. Hermine folgte ihm. Obwohl es sich nur um eine seine Erinnerung handelte, kam sie außer Atem und ihr Herz schlug wie wild. Womöglich bildete sie sich das nur ein oder aber die bevorstehende Szenerie versetzte sie in Hochspannung. Sie wollte nicht sehen, was kommen würde, aber sie musste es sehen. Severus apparierte. In wenigen Sekunden fand sie sich mitten in der Nacht in einem Dorf wieder.
In der Dunkelheit huschte Severus über ein paar Straßen, bis er an ein leeres Grundstück kam. Das eiserne Tor stand offen. Dahinter verbarg sich nichts, bis es plötzlich einen lauten Knall gab, der den Boden erschütterte. Mit einem Male zeichnete sich ein Haus auf dem Grundstück ab. Fensterscheiben waren zerbarst und Dachziegel rieselten zu Boden. Aus einem der Fenster stieg Rauch auf.
Mit gezogenem Zauberstab rannte Severus zur Haustür, die nur angelehnt war – Hermine immer hinterher. Plötzlich blieb Severus vor ihr stehen und sie lief versehentlich durch ihn hindurch. Der Grund für Severus‘ abrupten Halt war der regungslose Körper von James Potter. Dessen Brille lag über den leblosen Augen, die nie wieder durch das Glas hindurchsehen würden. Sein Zauberstab qualmte noch vom letzten Zauberspruch, mit dem er Voldemort aufhalten wollte.
Vor lauter Schreck hielt sich Hermine beide Hände vor den Mund. Sie hatte Bilder von ihm gesehen. Bilder, die Harry von Freunden bekommen hatte. Doch hier, in der so gut erhaltenen Erinnerung, wurde ihr erst bewusst, wie ähnlich Harry seinem Vater war. Als sie sich für den Bruchteil einer Sekunde vorstellte, dass nicht James, sondern Harry hier liegen würde, fühlte sie einen stechenden Schmerz in ihrer Brust.
Hinter sich hörte sie Severus heftig atmen. Sie drehte sich zu ihm um und beobachtete ihn dabei, wie er die Gegend mit den Augen absuchte, den Zauberstab zum Angriff erhoben. Er konnte nicht wissen, dass Voldemort durch seinen eigenen Todesfluch, der von Harry abgeprallt war, seinen Körper getötet hatte. Severus rechnete mit ihm, mit seinem Feind. In Windeseile hatte er die unteren Zimmer überprüft, bevor er die Treppe nach oben stürzte. Eine Tür nach der anderen öffnete er. Um den Lärm, den er verursachte, machte er sich keine Gedanken mehr. Wäre Voldemort hier, würde Severus längst tot neben James Potter am Boden liegen.
Ein Kind wimmerte und Severus hielt inne, lauschte und steuerte flugs die Tür an, hinter der das Geräusch zu hören war. Er öffnete die elfenbeinfarbene Tür, doch über die Schwelle trat er nicht. Hermine konnte nichts sehen.
„Nein“, hauchte er ungläubig.
Das Weinen des Kindes wurde lauter, so dass Hermine zaghaft durch Severus hindurchging, um das Zimmer betreten zu können. Lose eingewickelt in die ihr bekannte Babydecke saß der kleine Harry am Boden, direkt neben seiner Mutter, deren glasige Augen funkelndes Leben vorgaukelten, weil sich noch Tränen in ihnen befanden, die durch eine flackernde Lampe wie ein kleiner Sternenhimmel glitzerten. Harry weinte noch lauter, schrie aus vollem Hals, so dass sich Hermine neben ihn hockte und eigene Tränen nicht zurückhalten wollte.
„Nicht weinen, kleiner Harry“, flüsterte sie tröstend, obwohl sie wusste, dass er sie nicht hören konnte. Sie konnte jedoch nicht einfach teilnahmslos zusehen, als wäre es ein trauriger Film. Ihre Worte an Harry sollten auch ihr eigenes Herz beruhigen, doch es gelang ihr nicht. „Shht“, machte sie, bevor sich ihre Kehle zusammenschnürte. Den Schmerz ihres Freundes teilte sie wie selbstverständlich und sie wollte es ertragen, für ihn und mit ihm, auch wenn es ihr so schwer fiel. Die großen grünen Augen mit ihren feuchten Wimpern blickten plötzlich auf.
Lautlos hatte sich Severus neben sie gehockt. Auch ihm stand der Schmerz ins Gesicht geschrieben. Seine Augen verweilten auf Lilys und waren genauso leblos wie die ihren, weil mit ihr ein Teil von ihm gestorben war.
„Nein“, wiederholte er leise und immerfort. Seine Finger streckten sich nach ihrem blassen Gesicht, aber er konnte sich nicht dazu überwinden, ihre fahle Haut zu berühren. „Warum?“ Diese gehauchte Frage blieb vom Universum, von Gott, von diesem Schlafzimmer und von dem kleinen Jungen unbeantwortet; selbst Hermine kannte die Antwort nicht, aber aus Kriegszeiten kannte sie den Schmerz, den sie mit sich brachte.
Zitternde Hände vergruben sich in schwarzen Haaren, die Severus nun raufte, um seinem Leid Erleichterung zu verschaffen. Er zog so fest an ihnen, dass Hermine es nicht mehr mit ansehen konnte, doch genau das war es, was er von ihr verlangte. Sie sollte sich das alles ansehen, sollte fühlen und verstehen, was in ihm vorging. Severus wollte, dass sie auch diesen schweren Abschnitt seines Lebens kennen lernte.
In der Trauer war die Zeit war nicht fassbar. Sekunden oder Minuten waren vergangen, als Severus endlich wieder Regung zeigte. Er wandte seinen Kopf und blickte auf das Kind am Boden. Mit einem Schritt war er bei Harry und kniete sich nieder, um ihn zu nehmen. Hermine vernahm ein Murmeln und hörte Worte wie „Sicherheit“, die im kindlichen Gehör keinen Halt fanden. Mit dem wimmernden Harry im Arm wollte Severus aufstehen, doch Lilys steife Hand hatte die Decke gepackt. Severus erstarrte. In seinen Zügen konnte Hermine eine Seltsamkeit ausmachen, die ihr einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Die tote Hand, die sich an die Decke des Kindes klammerte, schien zu rufen „Geh nicht!“ und Severus, von Schmerz und Trauer schon längst auf einem schmalen Pfad angelangt, auf welchem ein einziger Fehltritt den Verlust des gesundes Geistes bedeuten würde, war von der Gelassenheit des Todes so fasziniert, dass er Lily aus leidenschaftlicher Ergebenheit folgen wollte.
Die Babydecke, das wusste Hermine nun, hatte ihn an seinen Wunsch erinnert, seinem eigenen Leben ein Ende zu bereiten.
Von draußen, laut und deutlich, war ein tief brummendes, knatterndes Geräusch zu hören. Licht schien für einen Moment durchs Fenster, so dass Severus wieder zu sich kam und den Jungen absetzte. Vorsichtig schlich er zum Fenster und spähte hinaus. Hermine tat es ihm gleich und erblickte unten, vor dem Tor, ein Motorrad. Eine Gestalt in einem Umhang war bereits auf dem Weg zum Haus. Nun auf das eigene Wohl bedacht suchte Severus nach einem Versteck, fand aber keines. Sollte er apparieren, würde er in seinem aufgewühlten Zustand in tausend Stücke zersplintern. Unten hörte man bereits Schritte, dann eine männliche Stimme, die ergriffen den Namen des Toten rief, der dort zu finden war. Aufgeschreckt blickte sich Severus im Schlafzimmer um und – die Schritte kamen bereits die Stufen hinauf – entdeckte den Tarnumhang auf dem Bett, den er sich griff und noch rechtzeitig überwarf. Die Tür wurde so stark aufgeworfen, dass sie gegen Wand schlug und zurückprallte.
„Lily, oh Merlin nein, Lily.“
Der junge Sirius eilte zu der Toten hinüber und kniete sich nieder. Was Severus nicht gewagt hatte, stellte für ihn keine Hürde dar. Er fühlte ihren Puls und begann nach kurzer Zeit zu schluchzen. Seine Hände fuhren über ihre blassen Wangen und die fast getrockneten Tränen, bevor er ihre Augen schloss und sich nicht schämte, dabei offen zu weinen.
Harrys Patenonkel so aufgelöst zu erleben, trieb auch Hermine wieder die Tränen in die Augen. Mit verschwommener Sicht suchte sie im Zimmer nach Severus, doch da er den Tarnumhang trug, war es unmöglich ihn auszumachen. An der Wand entlang floh sie vor dem Übermaß an Trauer, die sie zu erdrücken drohte, bis sie mit einem Male bei Severus unter dem Umhang stand. Er beobachtete das sich ihm bietende Szenario. Dabei ignorierte er die eigenen Tränen, die er nur zu weinen bereit war, da sie niemand sehen konnte.
Zusammen mit Severus beobachtete sie durch den Schleier des Tarnumhangs hindurch, wie Sirius den kleinen Harry auf den Arm nahm. Die frische Wunde am Kopf des Kindes tupfte er mit einem Taschentuch ab, bevor er die eigene Qual hinunterschluckte, um Harry Trost zu spenden. Er verließ das Haus in Godric’s Hollow. Kaum hatte man das Geräusch des abfliegenden Motorrads vernommen, sank Severus mit dem Rücken an der Wand kraftlos zu Boden. Sein Blick war starr auf Lily gerichtet, bis das Ende der Erinnerung die Dunkelheit brachte.
Hermine fand für sich eine kurze Verschnaufpause, bevor die nächste Erinnerung begann. Ihr Herz schlug so stark, dass sie es in ihrer Kehle und den Schläfen fühlte. Sie fragte sich, ob es möglich war zu weinen, während man die Nase in ein Denkarium getaucht hatte und sie wollte bejahen. So viel hatte sie bereits gesehen. Dinge, die erklärten, wer Severus war und was sein Leben ausmachte. Bisher konnte sie alles verkraften, aber nur mit Mühe und indem sie sich stetig einredete, dass dies alles schon geschehen wäre und die Ereignisse unabänderliche Tatsachen darstellten.
In den Kerkern in Hogwarts sah sie, wie sich die Tür von Severus Räumen wie von Geisterhand öffnete. Er trug noch immer den Tarnumhang, den er erst wieder ablegte, als die Tür von innen geschlossen war. Der Umhang fiel achtlos zu Boden. In der Mitte des Raumes stand Severus so regungslos, als wäre er von einem Petrificus Totalus getroffen worden. Das Einzige, was sich bewegte, war ein Schweißtropfen, der von der Schläfe hinunter bis zum Hals wanderte, um vom Kragen aufgesogen zu werden. Nicht einmal seine Augen bewegten sich, weil er sich, wie Hermine vermutete, in einem Schockzustand befand. Seine Haut war fahl, seine Atmung flach. Nach einer Weile schloss er die Augen, presste sie in der Hoffnung fest zusammen, auf diese Weise den Schmerz zu vertreiben oder gar die Zeit umzukehren, um alles ungeschehen zu machen.
Sein sonst so klarblickender Verstand, vom Gram nun vollkommen unterhöhlt, trieb ihn zu einem Schränkchen, das er mit einem Zauberspruch öffnete. Der ganze Unterarm verschwand, als er ihn in die Schublade tauchte, um etwas zu suchen. Hermine sah, wie er ein winziges braunes Fläschchen in der Hand hielt, das er mit gewaltiger Sehnsucht in den Augen betrachtete. Ihre Aufforderung, es nicht zu trinken, blieb ungehört, denn er entkorkte das Fläschchen und stürzte den Inhalt hinunter. Severus begann zu torkeln. Die Erinnerung verschwamm, doch sie konnte noch sehen, wie sich die Tür öffnete und Albus hineingestürmt kam.
Severus lag in einem Bett, das Hermine noch nie gesehen hatte. Sie versuchte, seine Hand zu berühren, wie sie es schon oft bei Harry oder Ron getan hatte, wenn die im Krankenflügel liegen mussten, doch ihre Finger gingen durch seine hindurch. Er erwachte dennoch und blinzelte verstört, weil ihm der Ort genauso unbekannt war wie ihr.
Durch die leise geöffnete Tür trat Albus herein. Hermine ahnte, dass dieses Zimmer dem Direktor gehören musste. Er setzte sich zu Severus ans Bett, doch kein Wort kam über seine Lippen, als er den jungen Mann musterte. Seine Augen sprachen jedoch Bände. Sie schienen zu sagen „Nicht noch einmal, Severus!“. Severus verstand diese nicht laut gesprochenen Worte, denn er nickte kaum merklich. Erleichtert atmete Albus aus.
Die beruhigende Wirkung von Gesellschaft verspürte selbst Hermine, obwohl sie ein ungesehener Gast in dieser Erinnerung war. Sie konnte Albus ansehen, dass ihm viele Fragen auf der Zunge brannten, doch wegen Severus‘ bedenklichem Gemütszustand stellte er keine einzige.
Als die Erinnerung vorüberging, fand sie Severus in den Kerkern an einem Tisch sitzend. Sein Gesicht war in den Händen vergraben. Vor ihm lag ein Buch, das Hermine nicht kannte. Ihr Blick flitzte über die Schrift der aufgeschlagenen Seite. Die Zutaten waren ihr nicht fremd. Es war die Anleitung zur Herstellung des Ewigen Sees.
Als die Tür sich ohne Vorankündigung öffnete, schlug Severus das Buch erschrocken zu. Albus, der sich bereits dem Tisch näherte, sah noch, wie Severus einige Pergamente auf das Buch legte, damit der Titel nicht zu lesen wäre.
„Wie geht es dir?“, fragte der Direktor fürsorglich, doch Severus antwortete nicht. „Für zwei Wochen haben wir die Schule geschlossen. Die Kinder sollen mit ihren Eltern den Frieden feiern können.“ Severus sah den Direktor nicht an, der mit ernster Stimme die Frage stellte: „Wie konnte Voldemort sterben, nur weil er ein Kind töten wollte?“
Deprimiert schüttelte Severus den Kopf. Das Gespräch mit Albus nagte an seinen Nerven. Mit so einer Gemütsverstimmung hatte Hermine ihn bereits einmal kennen gelernt, doch so schlimm wie hier war es nie gewesen. Severus‘ Gesicht war völlig ausdruckslos, seine Bewegungen wie eingeschlafen. Er hatte sich aufgegeben.
„Was, wenn er nicht tot ist?“ Aufgrund von Albus‘ Worten blickte Severus auf, so dass der Direktor genauer wurde: „Es gibt Möglichkeiten, viele Möglichkeiten, um dem Tod zu entgehen.“ Severus sagte kein Mucks, fragte stattdessen mit seiner Mimik, so dass Albus antwortete: „Ich spreche von Möglichkeiten, die man in so einem schwarzen Buch finden könnte, wie du es gerade unter dem Berg an Pergamenten vor mir verborgen zu halten hoffst.“ Ertappt blickte Severus zu dem Buch hinüber, verlor dabei noch immer kein Wort, weswegen Albus seufzte. „Severus.“ Er sprach mit seiner väterlichen Stimme. „Wie kann ich dir helfen, damit du nicht im Gram ertrinkst?“ Unmerklich schüttelte der junge Mann den Kopf, womit er all seine Hoffnungslosigkeit zum Ausdruck brachte. In Severus‘ Augen gab es keine Hilfe. „Und wenn ich dir versichere, dass ich weiß, wie sich ein zersprungenes Herz anfühlt?“
Endlich blickte Severus auf und sagte seine ersten Worte mit einer erschreckenden Verachtung, die er seinem eigenen Leben entgegenbrachte: „Wenn es doch nur so wäre! Wenn es entzwei wäre, dann würde ich es nicht mehr ertragen müssen! Aber so …?“ Seine Hände machte eine verzweifelte Geste. „So weitermachen, wie bisher? Das kann ich nicht, wo doch alles starb, was mir das Wichtigste war.“
Die Leere in seinen braunen Augen schien unheilbar. Hermine wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber sie erinnerte sich daran, dass Severus ungefähr sieben Wochen nach Lilys Tod den Trank genommen haben musste und in dieser Zeit seine Räume kaum verlassen haben soll.
Sich zu Severus beugend flüsterte Albus weise: „So etwas verheilt nicht von heute auf Morgen. Manchmal begleitet uns dieser Schmerz das ganze Leben lang.“
„Das ganze Leben?“ Von diesem Gedanken war Severus entsetzt und wahrscheinlich, glaubte Hermine, hatte er in diesem Moment den Entschluss gefasst, dem Schmerz ein für allemal ein Ende zu bereiten.
„Wenn Voldemort Vorkehrungen getroffen haben sollte, Severus, dann werde ich dich brauchen.“
„Was kümmert’s mich noch?“, fragte er aufgebend.
„Ihr Tod wäre belanglos, wenn du dich nun aus diesem Leben davonstehlen würdest.“ Severus schien nicht zuzuhören, weswegen Albus ihn hart an der Schulter packte. „Was mit Voldemort geschehen ist, weiß niemand! Er ist verschwunden. Doch ich kenne sein Verlangen zu den Dunklen Künsten, seine krankhafte Furcht vor dem Tod. Wenn es nicht sein Ende war …“
„Ich würde ihm nicht mehr gegenübertreten können“, unterbrach Severus. „Nicht mit dieser Schuld, mit diesem Hass auf ihn.“
„Um das Rätsel um Voldemorts Verschwinden lösen zu können, werde ich viel Zeit benötigen, aber wenn – stell dir vor – wenn er wiederkehren würde, was wäre dein größter Wunsch?“
Severus fletschte die Zähne. „Ihn ins Jenseits zu befördern!“
„Und genau das wird niemand von uns können, nicht wenn es nach der Prophezeiung geht, Severus. Voldemort hat den Jungen als Ebenbürtigen gezeichnet, aber Voldemort ist nicht durch dessen Hand gestorben. Das möchte ich einem nicht kalkulierbarem, magischen Zufall zuschreiben, nämlich der Macht, die der Dunkle Lord nicht kennt.“
Severus‘ Hände zitterten und er fragte flüsternd: „Du glaubst wirklich, er kehrt zurück?“
Mit seiner Hand drückte Albus einmal Severus‘ Schulter, bevor er von ihr abließ. Dann nickte er. „Die Hälfte der Prophezeiung hat sich erfüllt. Ich wäre ein Narr, würde ich glauben, die andere Hälfte würde sich in Luft auflösen.“
„Aber …“ Sein Gesicht vergrub Severus wie zu Anfang der Erinnerung in seinen Händen. „Ich halte es nicht aus, Albus. Ich will es nicht aushalten, nicht mein ganzes Leben lang.“
„Versprich mir, Severus, nichts Unüberlegtes zu tun.“ In freundschaftlicher Geste legte er eine Hand auf Severus‘ Rücken. „Du bist beurlaubt. Nimm dir Zeit für dich.“
Nebelschwaden umgaben Hermine und einen Moment später stand sie in Severus‘ unaufgeräumten Labor. Die Dampfschwaden aus dem Kessel, in dem Severus eine helle Flüssigkeit rührte, schlugen ihr ins und auch durchs Gesicht hindurch. Aufgeschlagen neben ihm auf dem Tisch lag das Buch mit der Anleitung für den Ewigen See. Er war entschlossen, seine Empfindungen abzutöten. Jeder seiner Handgriffe war präzise, jede Zutat korrekt vorbereitet.
Das gesamte Rezept für den Ewigen See hatte sie in Windeseile gelesen, auch die Anmerkungen des Heilers, der dieses Buch verfasst hatte.
Mit einer Kelle füllte Severus einen Kelch mit dem Ewigen See, an dem er nur kurz roch, bevor er sich an den Kopf fasste und die Augen schloss. Severus hatte einmal erwähnt, erinnerte sich Hermine, dass allein die Dämpfe des Trankes zerstörerische Auswirkungen haben könnten, weswegen er dagegen war, dass sie ihn braute.
Bevor Severus den Trank einnehmen konnte, wurde vollkommen unerwartet die verschlossene Tür durch einen Zauber aufgeworfen. Hermine hatte Albus noch nie so wutentbrannt erlebt.
„Ich sagte doch“, Albus kam näher, „du sollst nichts Unüberlegtes tun!“
„Was ich hier gebraut habe, ist wohl bedacht“, erklärte Severus gleichgültig.
„Aber keineswegs vernünftig! Bist du dem ausgesetzt“, er blickte auf den Kelch, „wenn auch nur kurz, dann hast du für immer alles verloren! Es gibt keine Heilung dagegen. Ich rate dir dringend davon ab, Severus.“
„Es ist die einzige Möglichkeit, meinen klaren Verstand wiederzuerlangen.“
„Unfug!“ Albus war laut geworden. „Du fürchtest dich davor, mit diesen Qualen leben zu müssen. Dabei bist du nicht der Einzige, der etwas Ähnliches erfahren musste und du weißt das.“
Severus wirkte verloren. Verloren wie ein Kind, das sich durch ein dunkles Haus tastete, weil ihm mit Lilys Tod das Licht genommen wurde.
Die Stimme des Direktors war milde geworden. „Das ist keine Lösung, Severus. Die Seele zu töten ist genauso verderblich, wie dem Körper das Leben zu nehmen.“
„Bedeutet mein Versprechen an dich, alles in meiner Macht stehende zu unternehmen, damit eine mögliche Rückkehr des Dunklen Lords verhindert wird, denn überhaupt nichts?“, wollte Severus wissen. „Ich habe mich dazu durchgerungen und mich bereit erklärt, die anderen im Auge zu behalten und da willst du mir diese eine Entscheidung, die das überhaupt ermöglichen kann, auch noch nehmen? Ohne das“, er hielt den Kelch in die Höhe, „bin ich keine Hilfe für dich. Ich wäre nur noch Treibgut von einem einst prächtigen Schiff, das an den Klippen zerschellte.“
„Du bist noch so jung, Severus. Du kannst es mit der Zeit überwinden.“
Severus schüttelte den Kopf. „Ich weiß, dass das nicht möglich sein wird. Dazu habe ich sie viel zu viele Jahre verehrt. Du sagst, ich wäre jung und trotzdem waren es bereits über dreizehn Jahre, Albus, in denen sich alles um sie drehte. Zwei Drittel meines Lebens sind längst tot. Zu wissen, dass es durch meine Schuld soweit kommen konn…“ Severus schluckte kräftig, doch er konnte seinen Kummer nicht verbergen, genauso wenig den Schluchzer, der ihm versehentlich entwich. „Und so wie jetzt wird es immer sein“, erklärte er gequält. „Gedanken an sie werden mich auch in Zukunft aus dem Gleichgewicht bringen. Sag mir, wie ich da noch von Nutzen sein kann, wenn die kleinste Erwähnung mich zu einem gebrochen Mann macht?“
„Du wirst noch weniger von Nutzen sein, wenn du dich deiner Seele beraubst, denn damit beraubst du dich auch der Gefühle, die dir überhaupt die Motivation geben, die Todesser auszuhorchen und Voldemorts Rückkehr zu verhindern. Du wärst nur noch eine leere Hülle, der alles vollkommen gleichgültig wäre.“ Albus war enttäuscht von Severus und machte keinen Hehl daraus. „Bevor du das da trinkst“, er deutete auf den Kelch in Severus‘ Hand, „verlasse bitte die Schule. Ich möchte den Kindern den Anblick eines wandelnden Leichnams ersparen.“
Paralysiert starrte Severus den Direktor an, bevor er dem Vorschlag nachkommen wollte und bereits an Albus vorüberging, doch der hielt ihn auf.
„Ich werde dich nicht davon abhalten können, nicht wahr?“ Hermine hörte heraus, dass Albus sich dessen sicher war. Seit der langen Legilimentik-Sitzung kannte er Severus mehr als nur gut. „Du würdest in einem Krankenhaus landen, Severus, denn mit diesem Trank wärst du zu nichts mehr fähig! Ist es das, was du sein möchtest? Jemand, der komplett hilflos ist? Du hast eine Menge Fehler in deinem Leben gemacht, das weiß ich, aber dieser würde deinen Fehltritten nur noch die Krone aufsetzen. Wenn es nach Einnahme des Trankes nichts mehr geben würde, das noch dein Interesse weckt, würdest du ihren Tod mit Füßen treten! Sie starb, um ihren Sohn zu retten. Du stirbst, um der Trauer zu entfliehen.“
Einen Moment lang sammelte sich Severus. Beide Männer sahen sich die ganze Zeit über nicht an.
„Was soll ich tun?“ Flehend erbat er eine Antwort vom Direktor.
Albus drehte sich zu Severus um und strich über seinen langen Bart, während er seinen jungen Freund musterte.
„Zwei Tränke, Severus. Einer, der die Seele zerreißt, doch zuvor ein anderer, der den Kern bewahrt.“
Unerwartet zog Albus ein Buch aus seinem Umhang. Ein Buch, das Hermine bestens kannte und lange studiert hatte. Es trug den Titel „Geistreiches“.
„Kapitel zehn“, sagte Albus, bevor er das Buch ohne einen weiteren Kommentar auf den Tisch legte und an Severus vorbei nach draußen ging.
Neugierig näherte sich Severus dem Buch, stellte seinen Kelch mit dem Ewigen See auf dem Tisch ab, um Kapitel zehn aufzuschlagen. Dieses Kapitel kannte Hermine in- und auswendig. Es hieß „Schützende Hände“ und behandelte die Herstellung verschiedener Schutztränke für einzelne Bereiche des Geistes und des Herzens.
Severus hatte sich an den Tisch gesetzt und er las und las, während die Erinnerung verblasste.
Im nächsten Abschnitt seiner Erinnerungen sah sie ihn an einen Tisch im Labor stehen. Vor ihm befanden sich zwei Kelche. Innerlich flehte Hermine, er sollte es nicht tun, aber bereits Geschehenes ließ sich nicht aufhalten.
Als Severus den ersten Kelch in die Hand nahm, blickte er mehrmals zur Tür hinüber, weil er mit Albus zu rechnen schien, der immer auf unerklärliche Weise wusste, was in seiner Schule vor sich ging. Albus kam nicht, um ihn aufzuhalten und so leerte er den Kelch mit dem Schutztrank, der den Kern seiner Seele bewahren sollte. Für einen Moment – und das brachte Hermine das erste Mal zum Lächeln – erstrahlte Severus in gleißender Farbenpracht, bevor das Licht wieder sanfter wurde. An seinem Brustbein hatte sich ein heller Lichtschein gebildet, der nach und nach erlosch. Bis auf diesen visuellen Effekt war keine Auswirkung zu sehen.
Mit erschreckender Gelassenheit griff Severus nach dem anderen Kelch, der den Ewigen See beinhaltete. Sein Gesichtsausdruck zeugte noch immer von seiner schweren Gemütserkrankung. Von ihrer Arbeit im Mungos war Hermine sich darüber bewusst, dass man solchen Menschen nur helfen konnte, wenn sie bereit waren, Hilfe anzunehmen. Gegen die Gleichgültigkeit, die diese Menschen innehatten, kam man schwerlich an. Hermine war sich sicher, dass Albus mehrmals mit Severus gesprochen haben musste, auch wenn nicht alle Unterredungen in dieser Sammlung von Erinnerungen gezeigt wurden.
Von der fixen Idee, den Ewigen See einzunehmen, war Severus nicht abzubringen. Er war entschlossen, kein Leid mehr spüren zu wollen, nahm dafür auch in Kauf, nicht einmal mehr Freude empfinden zu können.
Severus trank den Ewigen See in einem Zug leer und knallte den Kelch auf den Tisch. Dann wartete er, wartete auf die eintretende Wirkung, aber die blieb aus. Nach kurzer Zeit begann er damit, seinen Labortisch aufzuräumen, doch da, völlig überraschend, krallten sich beide Hände in den Stoff der Kleidung, die seine Brust bedeckte und er beugte sich nach vorn und schnaufte. Sein Gesicht war schmerzerfüllt und sehr bald, weil er es nicht mehr ertragen konnte, schrie er. Hermine fuhr bei diesem Schmerzensschrei zusammen. Es blieb nicht bei dem einen.
Ein unirdisch klingendes Geräusch, ähnlich eines Peitschenhiebs, erfüllte das ganze Laboratorium und Severus warf gleich darauf den Kopf nach hinten. Er presste die Zähne zusammen, doch der unterdrückte Schrei schlich sich in Form eines gurgelnden Lauts die Kehle hinauf. Ein weiterer Peitschenhieb und Severus schrie abermals auf. Seinen gesamten Oberkörper legte er auf dem Labortisch ab. Er umfasste sich mit seinen Armen, als wollte er seine Brust schützen, atmete dabei stoßartig. Erneut hallte ein Peitschenknall durch die Kerker, nur viel lauter und unheilvoller, und es klang so, als hätte dieser Hieb etwas zerrissen.
„OH GOTT“, schrie er aus voller Kehle. „Hilf mir“, flüsterte er gleich darauf winselnd. Nicht einmal Gott leistete ihm Beistand, wo Severus doch in diesem Moment das Kostbarste aller himmlischen Geschenke respektlos zerstörte.
Severus sank zu Boden und krümmte sich. Er rollte sich zusammen, versuchte eine Schonhaltung einzunehmen, mit der dieser Schmerz erträglich war, doch es fand sich keine.
Von diesem Anblick bis ins Tiefste ihres eigenen Herzens ergriffen kniete sich Hermine auf den Boden neben Severus, der noch immer von einer unermesslichen Qual heimgesucht wurde und sich wie in einem Todeskampf wandte. Beim nächsten zischenden Knall, der direkt aus Severus‘ Brustkorb zu kommen schien, bäumte er sich auf, als würde er mit einem Cruciatus gefoltert werden. Hermine hörte seine Zähne knirschen, so sehr presste er die Kiefer zusammen. Die Finger seine Hände krümmten sich ebenso wie sein ganzer Körper, der zusätzlich von einem unkontrollierbarem Zittern befallen wurde. Durch den nicht enden wollenden Schmerz rannen ihm durch fest geschlossene Augen Tränen an den Schläfen hinunter.
Mit einem lauten Krach wie von einem einschlagenden Blitz riss der Trank nun den ersten Teil der Seele sichtbar heraus. Hermine erschrak fürchterlich, weil Severus wie am Spieß schrie, als etwas strahlend Weißes sich aus seiner Brust löste. Ein großer Teil der Seele, vielleicht nur sichtbar wegen des zuvor eingenommenen Schutztrankes, flackerte unruhig einige Zentimeter über Severus hin und her; schien Halt zu suchen, der ihm jedoch vergönnt war. Severus öffnete gerade noch rechtzeitig die Augen, um mit ansehen zu müssen, wie sich das Heiligste seines Selbst in Luft auszulösen drohte. Kraftlos griff er nach dem nebelhaften Schemen. Seine Augen spiegelten das Entsetzen darüber wider, was er angerichtet hatte. Er schien die Ausmaße seines Fehlers erst in diesem Moment begriffen zu haben – in einem Moment, in dem es bereits zu spät war.
„Aufhören“, murmelte er gegeißelt. Der sterbende Teil seiner Seele schlang sich hilfesuchend um seine Hand, die er zurück an seine Brust führte, doch anstatt wieder von ihm aufgenommen zu werden, zersetzte sich der Seelenteil in der Luft und verging rückstandslos.
Einen Augenblick war Ruhe. Hermine hörte nur ihr eigenes Schluchzen. Mit einem Ausdruck der Fassungslosigkeit lag Severus auf dem steinernen Boden seines Labors und starrte mit nun sehr viel dunkleren Augen zur Decke hinauf. Schmerzen hatte er momentan offenbar keine. Hermine spürte, wie ihre Unterlippe zitterte und heiße Tränen aus ihren Augen quollen. Severus‘ Leid hatte ihr sehr zugesetzt. Hätte sie vor zwanzig Jahren schon gelebt und ihn gekannt, hätte sie alles in ihrer Macht stehende getan, um diese Gemütsverstümmelung zu verhindern, doch wenn Albus ihn schon nicht hatte abhalten können, dann wäre es unwahrscheinlich, dass sie es geschafft hätte.
Gerade hatte ihr Herz wieder einen erträglichen Rhythmus gefunden, tönte erneut ein reißendes Geräusch durch den Raum und Severus‘ Qual begann von Neuem. Immer wieder versuchte er, die losgelösten Seelenteile zu greifen und dazu zu bringen, nicht fortzugehen, doch jedes einzelne erstarb; manche von ihnen in seinen Händen. Hermine weinte offen. Die stockende Atmung schüttelte ihren Körper. Sie hatte sich nicht vorstellen können, auch nicht nach Alastors Bericht über einen Gefangenen, der von einem Dementor den Kuss erhalten hatte, wie herzzerreißend und grausam es selbst für den Betrachter sein würde, der Verschandelung einer Seele beizuwohnen. Seine Seele, das wusste Hermine nun, war verloren. Die Teile zurückzuholen war unmöglich und als sie sich darüber klar wurde, weinte sie nur noch mehr.
Der letzte weiß schimmernde Teil seiner Seele züngelte über Severus‘ Brust umher und versuchte sich, ähnlich wie die Magie, mit kleinen Armen irgendwo festzuhalten, doch der Ewige See wusste dies zu verhindern. Das strahlende Weiß verblasste, wie auch nach Lilys Tod Severus‘ Hoffnung verblasst war. Obwohl nun alles vorüber war, blieb Severus am Boden liegen. Schwer atmend blickte er erneut zur gewölbten Decke; diesmal mit pechschwarzen Augen.
Innerlich flehte Hermine, dass die Erinnerungen endlich ein Ende finden würden, denn mehr könnte sie nicht ertragen. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie das bereits Gesehene verkraftete. Sie spürte ihre heißen Tränen und sie wusste, dass sie auch in Wirklichkeit weinen musste.
Von dem Gespräch mit Albus und Severus bekam sie nur noch wenig mit. Zu sehr war sie von der Qual eingenommen, die Severus in ihren Augen gerade eben – in Realität vor über zwanzig Jahren – ertragen hatte. Albus‘ Anmerkung, dass Lucius Malfoy freigelassen worden wäre und Severus‘ nun disziplinierte und besonnene Art, dem Observationsvorschlag des Direktors zuzustimmen, erfasste sie nur bruchstückhaft.
Als es erneut dunkel wurde und keine weitere Erinnerung zu kommen schien, ließ Hermine in Gedanken von dem Gesehenen los, doch in Wirklichkeit löste sich ihr Griff vom Becken des Denkariums und sie fiel heulend und schluchzend rücklings zu Boden. Vor lauter Tränen konnte sie nichts sehen, konnte nicht einmal aufstehen, weil ihr diese schrecklichen Erinnerungen die Kraft geraubt hatten. Was sich ihr offenbart hatte, wollte sie aber unbedingt durchstehen, wollte es überwinden, denn nur so wäre sie in der Lage, ihm helfen zu können.
Unerwartet, aber dennoch ersehnt, fühlte sie Hände auf ihren Schultern, die sie in eine sitzende Position brachten. Ihr war egal, wer ihr in dieser Stunde beistand und so vergrub sie ihr Gesicht in dem schwarzen Umhang, den sie in ihrem eingeschränkten Blickfeld sehen konnte. Worte des Trostes rieselten auf sie hernieder, doch nur der Tonfall sorgte für die Erleichterung des Herzens, denn die Worte selbst verstand sie nicht. Sie spürte ein Taschentuch an ihrer Nase, mit dem derjenige sie säuberte. Gleich darauf wischte die gleiche Hand mit dem Taschentuch über eine Stelle am Umhang, auf der sie ein unangenehmes Sekret hinterlassen hatte. Hermine blickte auf und sah in die besorgten Augen von Harry, der noch immer einen Arm um ihre Schultern gelegt hatte und sie an sich presste. Plötzlich fühlte sie Lippen an ihrer Schläfe. Ginny hatte ihr eine Kuss gegeben und sich neben sie gehockt. Im Arm hielt sich Nicholas, bei dessen Anblick Hermine wieder heftig zu weinen begann, weil er sie an den kleinen Harry erinnerte.
Dass ihre beiden Freunde sich Zeichen gaben, damit Ginny ins Schlafzimmer gehen sollte, bekam Hermine nicht mit. Hermine ließ sich halten, ließ sich trösten und sammelte aus dieser Zuneigung neue Kraft. Die stockende Atmung hatte ihr Schwindel bereitet.
„Lass mich einen Moment liegen“, hauchte sie erschöpft. „Mir ist schwindelig, mir ist schlecht.“
Ihr Kopf landete auf einem weichen Kissen, das Harry von der Couch genommen haben musste. Sie lag auf dem Boden, die Augen auf die silbern funkelnden Muster gerichtet, die von den sich langsam bewegenden Erinnerungen im Denkarium an die Decke projiziert wurden und eine seltsam beschwichtigende Wirkung auf sie hatten. Harry blieb bei ihr. Er hielt ihre Hand und sagte kein Wort. Langsam wurde ihre Atmung ausgewogener. Harrys Daumen streichelte ihren Handrücken in einem gleichbleibenden Tempo.
Das Geräusch der Tür, die von einem zornigen Severus aufgeworfen wurde, hörte Hermine nicht. Auch nicht die beschwichtigenden Worte von Draco, der Severus gefolgt war, nachdem der bemerkt hatte, dass jemand in sein Büro eingedrungen war. Selbst Harrys ermahnenden Worte nahm sie in ihrem tranceähnlichen Zustand, der von der Sehnsucht nach Ausgeglichenheit herbeigeführt worden war, nur als leises Surren wahr.
Severus und Draco waren auf der Stelle still, als sie Hermine am Boden liegen sahen und die Situation als ernst einstuften. Voller Sorge ging Severus einen Schritt auf sie zu, stieß dabei mit dem Fuß an die leere langhalsige Phiole, die neben dem Denkarium abgestellt war. Nur er schien in diesem Augenblick zu wissen, was tatsächlich geschehen war und es war seine Schuld, dass sie sich in diesem Zustand befand.
Als er ihre unbeweglichen Augen erblickte, die im silbernen Licht des Denkariums glitzerten, waren die Erinnerungen an Lilys leblosen Körper so überwältigend stark, dass er sich mit vor Furcht ganz steifen Gliedern neben Hermine kniete. Was er damals bei Lily nicht gewagt hatte, fiel ihm bei Hermine leicht, und er berührte mit den Fingerspitzen zaghaft ihre vom Schreck ganz bleiche Wange. Ihre Augen waren nicht tot, sondern lebendiger denn je und blinzelten ein paar Mal und suchten umher, bis sie Severus erblickten.
Von all den Gefühlen, denen Severus an diesem Abend durch Harrys Magie ausgesetzt war, löste der Blick in Hermines Augen etwas in ihm aus, das er seit langer Zeit nicht mehr gespürt hatte.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
~ Muggelchen.net ~
~ Muggelchen.net ~
- Muggelchen
- Eule
- Beiträge: 345
- Registriert: 07.06.2008 22:29
- Wohnort: Gemälde im 1. Stock
189 Mehr Farbe ins Leben
Die Erinnerungen, die Severus für seine Nachwelt hinterlassen hatte, um nach seinem Tod wenigstens ein Minimum an Anerkennung zu finden – um etwas über sich erzählen zu dürfen –, waren ausschließlich von Hermine gesehen worden. Alles, was sie zuvor nur vage erahnen konnte, hatte sich ihr in allen Einzelheiten eröffnet: Von seinem kranken Vater, seiner finanzielle Situation und der Hoffnung auf einen Ausweg aus der Mittellosigkeit, bis hin zu den Fehlern, die er begangen hatte, weil er sich in jungen Jahren und mit falschen Freunden nicht anders zu helfen wusste. Die seit seiner Kindheit im Herzen bewahrte Zuneigung zu Lily trieb ihn hilfesuchend in Albus‘ Arme und führten ihn somit auf den richtigen Weg zurück, doch er hatte bereits den Stein des Schicksals ins Rollen gebracht. Der Preis, den er zahlen musste, war für ihn von unschätzbarem Wert gewesen, war unersetzlich, denn es kostete ihn nicht nur den Menschen, den er liebte, sondern auch seinen klaren Verstand und am Ende auch die Seele, die er gegeben hatte, um Lilys Kind den Weg ebnen zu können, damit ihr Tod nicht umsonst gewesen sein würde.
Plötzlich spürte Hermine kalte Finger an ihrer Wange. Sie blinzelte und suchte umher, bis sie sein Gesicht sah, diesmal nicht mehr jung, doch wie schon damals markant und nun mit wenigen Fältchen beseelt. Erneut schossen ihr all die Dinge, die sie gesehen hatten, ungeordnet durch den Kopf und wollten sie überwältigen, doch sie weigerte sich standhaft, in Emotionen zu versinken. Severus musste wissen, was sie getan hatte, aber dennoch war weder Wut noch Enttäuschung in seinen Augen zu sehen, sondern Sorge; Sorge um sie.
„Steh auf“, hörte sie seine sanft gesprochene Anweisung, bevor seine und auch Harrys Hände sie an Oberarmen und Schultern packten, um sie zumindest in eine sitzende Position zu bringen. Wie schon an dem Tag, als sie Bekanntschaft mit den Dunklen Künsten gemacht hatte, umarmte Severus sie von hinten, um sie auf die Beine zu stellen, die sich jedoch weigerten, sie zu tragen.
„Auf die Couch“, schlug Harry vor.
Einen Moment später sank sie in die weichen Kissen. Drei Augenpaare ruhten auf ihr. Zwei davon schauten skeptisch und fragend, nur eines zeugte von Verständnis.
Draco unterbrach die Ruhe und fragte fordernd: „Was zum Teufel ist passiert? Erst bricht jemand ins Büro ein und dann …“
„Sei still!“, zischte sein Patenonkel, so dass Draco weitere Fragen im Hals stecken blieben.
Im Moment würde Hermine gern reden, aber was sie zu sagen hatte, war nicht für andere Ohren bestimmt und Severus würde nicht damit konfrontiert werden wollen, also schwieg sie, betrachtete dabei ihre vor Aufregung zitternden Hände. Jemand griff nach ihr, umfasste ihre Hände. Harry machte sich die größten Sorgen und er wollte sie beruhigen, wollte ihr zeigen, dass er für sie da war.
„Es geht schon wieder.“ Ihre zarte Stimme beteuerte das Gegenteil. „Ich bin müde und ich habe Hunger.“
„Diese Bedürfnisse ließen sich in umgekehrter Reihenfolge sicherlich befriedigen“, sagte eine Stimme nahe an ihrem Ohr. Severus hatte sich zu ihr gebeugt. „Ich muss sowieso noch meinen Hund holen.“
‘Richtig‘, dachte Hermine. Den hatte er vor dem Spiel bei ihr in der Apotheke gelassen.
„Sie sollte besser hier bleiben“, schlug Harry vor, doch der Kopf mit den rabenschwarzen Haaren wurde geschüttelt.
„Ich werde sie nachhause begleiten, Harry“, sagte Severus bestimmend, „und noch einen Moment dort bleiben.“
Weil Severus als Einziger zu wissen schien, was mit Hermine geschehen war, stimmte Harry zu, auch wenn er offenbar Severus die Schuld an dem Zustand seiner besten Freundin gab.
„Pass gut auf sie auf“, gab er nicht als Ratschlag, sondern als Warnung, bevor er das letzte Mal an diesem Abend ihre Hand drückte.
Nur am Rande nahm Hermine wahr, wie sie zum Kamin geführt wurde und einen kurzen Moment später von grünen Flammen umgeben war. Sie stolperte, als sie aus der Feuerstelle hinaus in ihr Wohnzimmer trat, doch ein fester Griff um ihre Taille gab ihr Halt. Im nächsten Augenblick befand sie sich auf der Couch. Eine nun warme Hand ruhte auf ihrem Unterarm.
„Einen Kaffee?“
„Mmmh?“, summte Hermine nachfragend.
„Einen Kaffee? Oder vielleicht einen Tee? Ich werde etwas zu essen machen, Hermine.“ Diesmal stimmte sie zu, doch ebenfalls summend.
Während die Wärme an ihrer Seite verschwand, weil sich Severus auf in die Küche machte, breitete sich angenehme Wärme auf ihrem Schoß aus. Fellini begrüßte sein Frauchen sehr innig und rollte sich auf ihr zusammen. Aus der Küche hörte sie ein kurzes freudiges Bellen und einen scharf gesprochenen Befehl, der weitere Laute unterband. Das sanfte Schnurren des schwarzen Katers mit seinen unter dem langen Fell nicht mehr sichtbaren weißen Flecken beruhigte sie ungemein. Manchmal war ein Tier das beste Mittel, um Entspannung zu finden.
In der Küche klapperte Geschirr. Um ihm zu helfen oder weil sie Nähe zu einem Menschen brauchte, stand sie von der Couch auf. Schwindelig war ihr nicht mehr, aber sie hatte tatsächlich großen Hunger.
In der Küche bot sich ihr ein vertrauter Anblick, denn Severus schnitt etwas mit dem Messer und gab dem wartenden Hund davon ab. Er wusch sich die Hände und als er sie hörte, weil sie die Tür weiter geöffnet hatte, schaute er sich um. Es schien ihr gut zu gehen, dachte er. Sie war Heilerin, somit war sein auf der Zunge liegender Ratschlag, sich doch lieber hinzusetzen, im Nu verpufft.
„Warum befinden sich Unmengen an Käse in den Schränken?“, begann er eine oberflächliche Unterhaltung. Die letzte Scheibe schnitt er noch ab, um sie auf den von ihm zubereiteten, typisch englischen Imbiss zu legen. Er hatte Sandwiches gemacht.
„Weil Sie ihn mögen.“
Ihre Antwort ließ ihn einen Augenblick innehalten, bevor er das Weißbrot diagonal mit dem Messer teilte. Der Wasserkessel begann zu pfeifen. Hermine hatte aber keine Chance, sich um den Tee zu kümmern, denn Severus zeigte mit ausgestrecktem Finger auf die Sitzecke und erklärte: „Ich habe gesagt, ich kümmer mich drum.“ Severus ließ sich nicht ins Handwerk pfuschen, auch wenn er momentan keinen komplizierten Trank braute, sondern nur einen Happen zu essen und etwas Tee zubereitete.
Ohne Widerwort hatte Hermine Platz genommen, um sich kurz darauf bedienen zu lassen. Als er den Teller mit den vier Hälften auf dem Küchentisch abstellte, bemerkte sie, dass er sogar die Kruste von den Sandwiches abgeschnitten hatte, wie es in all den Rezeptbüchern geschrieben stand, die sie mal bei Molly gelesen hatte. Hermine griff zu und in genau diesem Augenblick machte der Hund neben ihr auf dem Boden Platz, fixierte dabei mit seinen Augen ganz genau das Objekt in ihrer Hand. An ihrer anderen Seite hörte sie Severus seufzen.
„Das macht er immer“, erklärte Severus das Verhalten seines dezent bettelnden Hundes. „Er wartet und beobachtet. Den ersten Schritt macht er nie.“
Lautlos sprang Fellini auf einen Stuhl gegenüber. Er stellte die Vorderpfoten auf die Tischplatte und machte sich lang, um mit der kleinen Nase den Duft des Thunfischs und des Schinkens zu genießen. Eine Pfote tastete sich langsam in Richtung Teller, was Hermine und Severus amüsiert verfolgten. Hermine wollte sehen, wie weit das Tier gehen würde. Harry hingegen winselte einmal, weil er sich so ein aufdringliches Verhalten nie trauen würde. Der Kniesel putzte wie aus heiterem Himmel eine Stelle am nach vorn gestreckten Vorderbein.
„Ein Ablenkungsmanöver“, vermutete Severus leise gesprochen.
„Er wird sich nicht trauen.“ Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Fellini sich in ihrem Beisein an einem der Sandwiches bedienen würde.
„Es ist zu verlockend!“
„Er würde niemals …“
Mit offen stehendem Mund verfolgte Hermine das Geschehen, denn Fellini hatte sich mit einem Male so weit nach dem Essen gestreckt, dass er den gesamten Teller mit einer Pfote zu sich heranzog. Severus war schneller als Hermine und packte den Teller, bevor er über den Tischrand fallen konnte. Der Kater, nun offensichtlich ertappt, sprang vom Stuhl und suchte das Weite.
„Ich glaub’s nicht!“ Hermine musste lächeln.
„Kommt ganz nach seiner Besitzerin“, warf Severus ein, was sie aufblicken ließ.
Das erste Mal heute Abend sah sie ihm aus nächster Nähe in die Augen und sie bemerkte das Feuer in ihnen, die Lebendigkeit. Diese merkliche Veränderung freute sie über alle Maßen. Tief in Severus‘ Augen konnte sie einen Grund ausmachen, dessen beperlter Kiesel bis an die Oberfläche glitzerte, was so lange Zeit nicht möglich war. Sie mochte diese Augen und besonders das, was sie nun aus ihnen lesen konnte.
Vielleicht, dachte sie, war das eine Veränderung, die man Harrys Magie zuschreiben konnte. Severus war von ihr getroffen worden, aber er hatte das bisher ihr gegenüber mit keinem Wort erwähnt. Sie rief sich einige Situationen von vorhin ins Gedächtnis und dabei fiel ihr eine Sache besonders auf, was sie unbedingt ansprechen wollte.
„Sie haben mich vorhin geduzt.“
„Hab ich das?“, fragte er unschuldig nach. Sie war sich dessen sicher und nickte, weswegen er abwinkte: „Das war wohl ein Moment der Schwäche.“
„Aha“, machte sie, bevor sie ihm nochmal in die Augen blickte. Das Glitzern dort machte sie übermütig. „Wie könnte ich Sie jetzt schwach machen?“
Er öffnete den Mund, schloss ihn gleich darauf wieder. Auf den Arm nahm sie ihn nicht, denn sie wartete tatsächlich auf eine Antwort, auch wenn ihre Lippen ein Lächeln unterdrücken wollten. Ihre Augenlider waren noch rötlich vom Weinen, dennoch strahlte Hermine im Moment eine ansteckend fröhliche Art aus. Sie machte ihm ganz offensichtlich schöne Augen und das erste Mal bemerkte er es bewusst, was ihn wiederum sprachlos machte. Keck stieß sie ihn mit dem Ellenbogen an und forderte eine Antwort. Ihm fiel einfach kein Satz ein, um sich aus dieser Situation herauszuwinden.
Was Harrys Magie bei ihm bewirkt hatte, wusste Hermine nicht. Harry hatte ihr gesagt, es würde ihm schlecht gehen, aber Severus wirkte normal auf sie, vielleicht sogar etwas offener als sonst.
Überraschend griff sie nach seiner Hand, doch sie drückte nicht zu, sondern ließ ihre Finger leicht auf seinem Handrücken ruhen und fragte: „Wie geht es Ihnen?“
„Das fragen Sie mich?“, gab er verdutzt zurück, denn sie war diejenige gewesen, die mit Kreislaufproblemen am Boden gelegen hatte.
„Von Harry weiß ich, was auf der Feier nach dem Quidditch-Spiel passiert sein soll und dass …“ Severus wandte seinen Blick von ihr ab. „Er sagte, ein Teil seiner Magie hätte sich von ihm gelöst und Sie getroffen. Deswegen meine Frage, Severus.“
„Es geht mir“, er blickte sich unsicher um, „unerwartet gut.“
„Was hat es bewirkt? Wie fühlt sich das an?“, wollte sie wissen.
„Das ist schwer zu beschreiben.“
„Versuchen Sie’s“, forderte sie und drückte seine Hand, weswegen er seinen Blick senkte, um dieses ungewöhnliche Bild zu betrachten; ihre Hand auf seiner. Nachdem er einmal tief Luft geholt hatte, versuchte er seine Erfahrung in Worte zu fassen, was – wie er es vorhergesagt hatte – nicht leicht war.
„Es war wie ein Blitzschlag. Bis in die kleinsten Nervenenden kroch es. Es war schmerzhaft, doch dann …“ Er fand keine Worte.
„Es tut nicht mehr weh?“, fragte sie alarmiert nach, doch er schüttelte den Kopf. Nachdenklich blickte Hermine auf seine Hand. „Fühlen Sie sich irgendwie anders?“
Diese Frage müsste er sofort bejahen, aber er befürchtete, sie würde ihn ausfragen. Die Andersartigkeit war fühlbar, aber nicht zu beschreiben. Sein Zögern blieb natürlich nicht vor ihr verborgen. Bevor sie ihn erneut auffordern würde, sagte er das Erste, das ihm durch den Kopf schoss.
„Ich fühle …“ Er hielt inne, dachte sie zumindest, denn als sie nachfragte, sagte er noch einmal genau dasselbe und kein Wort mehr.
„Severus?“
Er löste seine Hand aus ihrem Griff, um nach seiner Tasse zu langen, die er mit beiden Händen umfasste, bevor er einen wärmenden Schluck nahm. Dass Hermine ihn dabei beobachtete, konnte ein Blinder sehen, denn sie machte nicht einmal den Versuch, ihr Starren zu verbergen. Severus atmete einmal tief durch, bevor er das Thema wechselte.
„Vorhin bin ich in mein Büro gegangen, um nach Dracos anspornenden Worten den Vertrag zu unterschreiben und mit seiner Hilfe ein Kündigungsschreiben für Albus zu gestalten. Als ich die Anzeichen dafür sah, dass jemand dort gewesen sein musste und dass jemand …“
Enthusiastisch unterbrach sie ihn: „Sie wollten tatsächlich unterschreiben?“
Nachdem er seine Tasse abgestellt und dabei zögerlich genickt hatte, fand er sich plötzlich mit einem Arm voll Hermine wieder. Von der Nähe völlig übermannt versuchte er, wieder Distanz zu ihr zu gewinnen, doch sie hatte ihre Arme um ihn gewunden.
„Hermine“, mahnte er nicht sehr überzeugend. „Hermine, nicht.“
„Oh, ich freu mich so!“
Sie drückte ihn nur noch mehr an sich und ließ einfach nicht los, weswegen er sich ergab. Seine Hände, weil jede andere Stellung unbequem war, fanden wie von selbst an Hermines Rücken. Ihre Umarmung wusste er sehr zu schätzen, war ihm so etwas in seinem Leben doch so selten zuteil geworden. Wenn sie ahnen würde, dachte er, dass ihm diese Geste viel mehr bedeutete als ihr, hätte sie von dieser körperlichen Nähe Abstand genommen.
Hermine fühlte sich, als wäre eine große Last von ihr Gefallen. In Zukunft würde sie sich ihre Arbeit mit ihm teilen, mit seiner Hilfe auch viel mehr schaffen. Sie hätte jemanden, mit dem sie sich unterhalten könnte, mit dem sie zu Mittag essen würde, aber vor allem jemand, den sie mochte. Ihre Arme reichten mit Leichtigkeit um ihn herum. Severus war zwar ein großer Mann, aber er war sehr dünn, was sie das erste Mal fühlen konnte. Als sie bemerkte, dass er ihre Umarmung nicht nur steif duldete, sondern sogar erwiderte, musste sie an die vielen schrecklichen Dinge denken, die er damals erlebt hatte. Die Erinnerungen daran ließen sie schluchzen und nur noch fester zupacken. Er schien genau zu wissen, dass sie gedanklich wieder bei seiner Vergangenheit angelangt war.
„Hermine“, hörte sie seine Stimme nahe an ihrem Ohr, „lass dich davon nicht so sehr mitreißen. Es ist doch schon so viele Jahre her.“
„Nein“, sie schüttelte den Kopf, womit ihre Haare ihn an der Wange kitzelten. „Für mich ist es eben erst passiert.“
„Es tut mir leid. Du hättest das gar nicht sehen sollen“, flüsterte er. „Dieser Nachlass war für Auroren bestimmt. Oder für Ordensmitglieder.“
„Ich bin ein Ordensmitglied!“
Behutsam packte er sie an den Oberarmen und drückte sie von sich weg, damit er sie ansehen konnte. „Tatsächlich?“, spöttelte er freundlich, um sie abzulenken.
„Ja“, bestätigte sie, „als Harry den Orden des Phönix mit der DA zusammengelegt hat.“
Als sie seine Augen sah und befürchtete, dass sein veränderter Zustand sich demnächst wieder in Luft auflösen konnte, verzog sich vor Kummer ihr Gesicht. Mit einem Flüstern bestätigte sie das, was er ihr stets beibringen wollte.
„Sie ist weg.“ Sie zog die Nase hoch. „Man kann sie nicht zurückholen.“ Seine Seele war zerstört. „Du hattest Recht.“ Am Ende doch zustimmen zu müssen tat ihr im Herzen weh und sie senkte den Kopf.
Severus stand auf und ging. In diesem Moment dachte Hermine, sie hätte ihn mit ihren Tränen vergrault, doch er kam wieder – in einer ausgestreckten Hand hielt er ein Fläschchen.
„Nimm das vor dem Schlafengehen.“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht immer alle schlimmen Dinge mit dem Trank für einen traumlosen Schlaf verdrängen.“
„Dann sind dir Albträume lieber?“, fragte er, bevor er sie am Handgelenk nahm und das kleine Fläschchen in die Hand drückte.
„Severus?“
„Mmmh?“
„Nachdem Harry dich mit seiner Magie getroffen hat, was mag das wohl mit deiner Magie angerichtet haben?“
„Auf was willst du hinaus?“, fragte er skeptisch.
„Mein Farbtrank.“
„Ah“, machte er und setzte sich erneut neben sie. „Ein Farbtrank gegen einen traumlosen Schlaf?“
„Würdest du einen nehmen? Ich würd es zu gern sehen.“
„Ich weiß nicht, ich denke nicht, dass …“
„Bitte! Ich nehme auch einen“, wollte sie ihm die Entscheidung erleichtern.
Nur um ihr ein wenig von dem Schrecken dieses Tages zu nehmen, stimmte er zu. Auf der anderen Seite war er selbst neugierig, was der Trank bei ihm zeigen würde. Es fühlte sich so an, als wäre etwas Farbe in ihm.
Von der gemütlichen Küche hatten sie sich ins Wohnzimmer begeben. Für angenehmes Licht sorgte nur der Kamin. Severus saß steif auf der Couch, als sie ihm ein Fläschchen mit ihrem Farbtrank überreichte, das er zögernd entgegennahm. Direkt neben ihn nahm sie Platz, bevor sie ihre Flasche entkorkte. Er schien besorgt.
„Und wenn das Ergebnis enttäuschen sollte?“, wollte er wissen.
„Es kann nicht enttäuschen, wenn ich mit nichts Außergewöhnlichem rechne, Severus.“
„Warum bestehst du denn darauf, wenn du gar nichts erwartest?“
„Weil ich mich überraschen lassen möchte“, erwiderte sie, bevor sie ihm frech zuzwinkerte. Sie hob ihre Flasche. „Auf einen Trinkspruch können wir verzichten oder?“
„Ich denke schon.“
„Dann zum Wohl!“
„Das war ein Trinkspruch“, bemängelte er schmunzelnd, aber davon ließ sie sich nicht irritieren, denn sie leerte bereits die Flasche mit ihrem Farbtrank.
Wie er es schon zweimal erlebt hatte, tat sich in den ersten Sekunden gar nichts, bis ein warmer goldbrauner Schimmer von ihr ausging, gefolgt von einem orangefarbenen Farbton, der ihn an den Sommer erinnerte. Etwas Blau konnte er wahrnehmen.
„Die Farben ändern sich“, erklärte er von ihren Farben ganz eingenommen. „Das erste Mal war der Blauton nicht zu sehen, erst beim zweiten Mal und auch jetzt.“ Fasziniert betrachtete er die goldbraunen Stellen an ihren Schultern. „Zu schade, dass du kein Buch über die Bedeutung der Farben besitzt.“
„Wer behauptet denn das? Natürlich habe ich ein Buch darüber. Ich habe nur keines über Traumdeutung.“
Schon war Hermine aufgestanden, um aus einem Schrank besagtes Buch zu holen, mit dem sie zurück zu ihm kam. Ihr fiel das Fläschchen in seiner Hand auf.
„Nimmst du ihn nicht?“ Sie klang enttäuscht, was er wieder wettmachen wollte, doch er hatte Angst. Angst davor, mit dem Ergebnis unzufrieden zu sein, welches er mindestens dreißig Minuten ertragen müssen. „Du musst nicht“, beteuerte sie, aber gerade der in ihrer Stimme mitschwingende Frust ließ ihn die Flasche entkorken. Abermals hielt er inne, bevor er seine Aufmerksamkeit dem Buch widmete.
„Ich möchte erst etwas nachsehen.“
Ihr dunkelblauer Farbton ließ ihn nicht in Ruhe. Dass das kräftige Orange für Zuverlässigkeit, Loyalität und Vertrauenswürdigkeit stand, hatte er damals bereits erfahren. Das Goldbraun symbolisierte Arbeitsfreude, Strebsamkeit und Ordnung, außerdem auch ihre spürbare Lebhaftigkeit. Sie beobachtete, wie er bei der Farbe Blau nachschlug und bei der Unterteilung „dunkel“ nachschaute.
Weil er nicht vorlas, nahm sie ihm die Arbeit ab: „Je dunkler die blaue Tönung, desto qualitativ hochwertiger ist ihre Bedeutung, die sich mit Hingabe, Heilung und Opferbereitschaft erklären lässt.“
„Hört sich vielversprechend an“, sagte er aus Spaß, doch er wusste auch, dass die Bedeutung zutraf. Hermine gab sich der Erforschung seines Problems hin und besaß zudem heilende Fähigkeiten. Er hoffte nur, ihre Opferbereitschaft wäre nicht allzu ausgeprägt.
„Na los“, forderte sie ihn auf, den Farbtrank zu nehmen. Er rutschte auf der Couch ein wenig herum, so dass sie sich direkt gegenübersaßen.
Im flackernden Licht des Kamins sah er die Neugierde in ihrem Gesicht, aber auch die Vorfreude, denn entgegen ihrer Behauptung erwartete sie doch etwas. Severus riss sich zusammen und stürzte den Farbtrank hinunter. Im ersten Moment geschah gar nichts, bis sich ein grauer Schleier um ihn legte. Hermines Lächeln verblasste, doch sie blickte ihn weiterhin an, suchte nach einem Tupfer Farbe an ihm. Ihr verzweifelter Versuch, in ihm etwas sehen zu können, was nicht vorhanden war, löste Bedauern in ihm aus. Sie versuchte, ihrem Gesicht einen Hauch der vorhergegangen Freude wiederzugeben, doch Hermine versagte. Es machte sie traurig, dass nichts geschah. Severus wollte sich bereits entschuldigen, da flammte etwas auf.
„Da!“ Mit Verzückung deutete sie auf seinen Oberkörper. „Da ist etwas!“
Severus blickte an sich herab und sah es ebenfalls, das züngelnde bisschen Magie, die an seinem Brustbein in einem blassen Rot sichtbar geworden war und sich mit trägen Ärmchen an ihm zu halten versuchte, um nicht zu vergehen. Mit einem Male hatte Hermine eine Hand um den kleinen Fleck gelegt, als wollte sie ihn beschützen. Von ihrer Geste gerührt fand seine Hand die ihre und er presste ihre Handfläche auf seine Brust. Damit zauberte er einen Ausdruck der Hoffnung und Zufriedenheit auf ihr Gesicht. Als er wieder an sich hinunterschaute, bemerkte er einen Teil ihrer farbenfrohen Magie, der sich wie Blütenstaub an ihn heftete, weil er weitergetragen werden wollten. Ihre andere Hand fand den Weg zu seiner grau umhüllten Schulter. Kaum hatte sie ihn dort berührt, breiteten sich die goldbraunen und orangefarbenen Fädchen aus, die die unwirtliche Gegend namens Severus erkundeten.
Langsam strich sie von der Schulter hinunter über seinen Oberarm und zog somit einen Schweif Farbe hinter sich her, ganz ähnlich wie die Scheinwerfer von Autos auf einem Bild, das man mit langer Belichtungszeit aufgenommen hatte. Aufmerksam beobachteten beide das kleine Farbspektakel, das sich ihnen bot. Vom Oberarm fuhr sie mit der Hand sanft über seinen Unterarm, bis sie seine Hand erreichte, die sie ohne Scheu umfasste. Bei dem Kontakt von Haut auf Haut reagierte seine graue Magie noch intensiver auf die muntere von Hermine. Nachdem sie losgelassen hatte, betrachtete er seine Handfläche und die Finger, auf denen sich noch immer braungoldene und orangene Teile Farbklekse befanden.
Seine leicht erhobene Hand führte er zu ihrer Wange, die hinter einem warm leuchtenden Goldbraun zu sehen war. Mit nur einem Finger berührte er Hermine. Als ein grauer Streifen zurückblieb, der wie Schmutz an ihrer Wange haftete, zog er seinen Arm schnell wieder weg. Hermine ergriff jedoch seine Hand und presste sie furchtlos an ihr Gesicht. Beide sahen sich einen Moment lang an, bis das Gefühl in ihm, sie zu beschmutzen, so unerträglich wurde, dass er sich von ihr lösen musste. Severus war ganz gefesselt von dem Anblick des grauen Handabdrucks auf ihrer Wange, der in wenigen Sekunden durch ihre Wärme aufgehellt wurde, bis er nicht mehr zu sehen war. Seine eigene Hand hingegen behielt für einen langen Augenblick ihre Magie.
„Darf ich etwas ausprobieren?“ Ihre Frage war so enthusiastisch, dass er sie ihr nicht abschlagen konnte. Er nickte und wartete ab, was sie vorhatte. Hermine legte beide Hände zaghaft auf seine Schultern und schien eine weitere Zustimmung zu erwarten, die er ebenfalls mit einem Nicken gab, ohne zu wissen, was sie geplant hatte. Ganz langsam näherte sie sich ihm, bis sie ihn wie vorhin in der Küche umarmte. Von dieser erneut gefühlten Nähe diesmal überwältigt legte er wie selbstverständlich seine Arme um sie und genoss diesen Augenblick, der nicht vorübergehen sollte.
Hermine hatte sich Zeit gelassen, bevor sie sich wieder aufrichtete und ihn verdutzt ansah. Als er ihren Augen folgte und zum dritten Mal an sich hinunterblickte, bemerkte er sofort die hellere Tönung seiner eigenen Magie. Zudem war das Grau mit leichten Färbungen durchzogen und das blasse Rot an seinem Brustbein glühte.
„Wie ich’s mir dachte“, flüsterte sie zufrieden, fuhr ihm währenddessen mit einer Hand von der Schulter bis zur Brust wie eine liebevolle Gemahlin, die ihrem Mann das Jackett glatt strich. Mit jeder ihrer sanften Berührungen gewann der blasse rote Schimmer an Leben, was sie aufmerksam verfolgte. Es war ihr ein drängendes Bedürfnis, diesen empfindlichen Fleck zu behüten und auch zu ertüchtigen, noch ein wenig – nur ein winziges Stückchen – über sich selbst hinauszuwachsen. In dieser Situation, der rauschartiger nicht sein konnte, denn sie sah mit eigenen Augen die Schönheit der magischen Welt in den buntesten Farben schillern, konnte sie nicht davon lassen, diesem glühenden Funken in ihm allein durch Handauflegen zu gebieten, sich an ihr zu stärken.
Für einen Augenblick musste Severus die Augen schließen. Dieser unwirkliche Moment hatte ihn vollkommen in seinen Bann gezogen. Nicht mehr nur mit ihrem Lächeln strahlte Hermine in seiner Gegenwart Wärme und Freundschaft aus, sondern nun auch mit ihren Farben. Als er den dunkelblauen Klecks an ihr beobachtete, während sie ihn durch zarte Berührungen ihn mit ihrer eigenen Magie tränkte, da dachte er nicht nur an die Bedeutungen Hingabe, Heilung und Opferbereitschaft. Er musste gar nicht mehr denken, denn er brauchte nur zu fühlen. Ihre Hingabe, diesen tot geglaubten und erst heute Abend in ihm erwachten Teil mit allen Mitteln zu erhalten, fühlte er mit jeder Faser seines Körpers, als sie ihn berührte. In ihr wollte er die Heilung von diesem Frevel finden, mit dem es ihm zu leben so schwerfiel. Sie opferte viel für ihn, verbrachte jede Menge Zeit damit, hinter seine Geheimnisse zu kommen, ihn kennen zu lernen und zu verstehen, obwohl sie nicht einmal wissen konnte, ob all ihre Mühen, all der Aufwand und die Anstrengungen am Ende überhaupt fruchten würden. Gerade weil sie in dem Wissen war, diese Bürde ohne erkennbare mögliche Erfolge auf sich genommen zu haben, hatte sie sich einen besonderen Platz bei ihm gesichert. Sie war die Freundin, die er einst verloren hatte. Sie war die Farbe, die er so mochte.
Der Seufzer seines überschäumenden Herzens war zu vernehmen, und ihre Hände stoppten abrupt, hielten seine Schultern, als würde sie ihn mustern; das erste Mal wirklich sehen. Sie betrachtete ihn wie eine wertvolle Schöpfung, die aus Ton neu geformt worden war. In gewisser Weise entsprach das der Wahrheit, denn als sie ihn sich anschaute, war er über und über mit Farbkleksen ihrer sommerlichen Magie bedeckt. Von diesem Triumph beflügelt lehnte sie sich abermals nach vorn und presste ihre Lippen auf seine Wange.
Nervös registrierte Severus die Gunst, die ihm zuteilwurde. Wie schon durch Harrys Magie schien ihm auch mit diesem Kuss ein Blitz durch die Glieder zu fahren, der die Macht hatte, leblose Zellen aufzuerwecken. Nicht mehr nur mit seinem Verstand erfasste er Situation, nicht mehr nur mit der berechnenden Geistesschärfe. Dieser Stromschlag ermöglichte ihm endlich wieder die Alternative, all die vielen Wahrscheinlichkeitsberechnungen beiseitezuschieben, um sich die verführerischen Worte eines himmlischen Souffleur zu Herzen zu nehmen.
Ihren kurzfristig gemachten Vorschlag, heute Nacht bei ihr zu übernachten, weil es bereits halb vier Uhr in der Frühe war, nahm er an, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, wie verletzlich er sich damit machte. Die Couch war dank Hermines hervorragender Noten im Fach Verwandlung flink zu einer gemütlichen Schlafstätte geworden. Mit einem seligen Lächeln auf den Lippen verabschiedete sie sich, um ihr Bett aufzusuchen, und da war sie plötzlich, diese flüchtig durch seinen Kopf huschende Frage, wie es wohl sein würde, nicht mehr nur die Freundschaft mit ihr zu teilen, sondern auch das mit Daunenfedern bekleidete Möbelstück in ihrem Schlafzimmer. Diese Frage hatte sein Verstand beinahe nicht für voll genommen, doch immerhin so sehr registriert, dass sich sein Unterbewusstsein im Traum mit ihr auseinander setzen wollte. Viel mehr als das beschäftigte ihn jedoch die Frage, was der Morgen bringen würde. Ob er das Geschenk, das Harry ihm unbeabsichtigt gemacht hatte, für immer behalten durfte.
Zu denen, die am Sonntagmorgen arbeiten mussten, gehörten Severus und Hermine nicht, aber Arthur und er war morgens um halb sieben schon dabei, ein Gespräch mit Kingsley zu führen. Er hoffte, sein Plan mit dem dunkelhäutigen Kollegen würde sich erfüllen.
„Arthur, kann ich dich einen Moment sprechen?“, frage Kingsley, der das Büro des Ministers gerade betrat.
„Ja natürlich, ich habe etwas Zeit. Was gibt es denn?“
Kingsley vergewisserte sich, mit Arthur allein zu sein, bevor er sein Anliegen schilderte. „Arthur, ich komme mit den Gesetzesänderungen nicht mehr hinterher. Unsere Gruppe wird von Sirius in letzter Zeit übermäßig in Anspruch genommen und ich komme einfach nicht mehr dazu, das Ganze noch ordentlich zu betreuen oder gar aktiv mitzuarbeiten. Ich bin nicht einmal mehr tief in der Materie drin.“ Er seufzte, doch Arthur zeigte sich mit seinem Schulterklopfen sehr verständnisvoll, weswegen er offen zugab: „Bevor ich die Gruppe womöglich noch in ihrer Arbeit bremse, würde ich es begrüßen, wenn du es in andere Hände legst. Sirius scheint jede freie Minute dafür aufzuwenden.“
Nachdem Arthur dafür gesorgt hatte, dass Sirius und Sid miteinander arbeiteten, überhäufte Sirius Kingsley mit einer Menge neuer Vorschläge, Vorlagen und Verbesserungen. Anfangs hatte sich Kingsley noch darüber gefreut, dass mit einem Male alles Schlag auf Schlag ging, doch die eigene Freizeit war zeitlich begrenzt. Er kam nicht mehr dazu, alles zu begutachten, alles abzusegnen. Mehr und mehr merkte Kingsley, dass die Dinge Hand und Fuß hatten; dass Sirius bessere Arbeit leistete als er selbst und deswegen reichte er die Aufgabe schweren Herzens weiter.
„Das ist natürlich nicht ganz das, was ich von meinem Vertrauten erwartet habe“, sagte Arthur mit einem Augenzwinkern. „Doch ich rechne es dir hoch an, dass du den Mut hast zuzugeben, dass du es nicht schaffst. Hast du eine Idee, wer für diese Aufgabe in Frage kommt?“
„Sirius ist ganz offensichtlich genau der Richtige dafür. Das denke ich übrigens schon seit dem Tag, an dem er mit Mr. Bloom durchsetzen konnte, dass das Werwolf-Unterstützungsamt eng mit der Initiative zusammenarbeitet und er sogar dafür gesorgt hat, dass ein Betroffener dort eine Stelle bekommt. Außerdem hat die Initiative dank Sirius für mehr Aufklärung gesorgt. Sirius hat weitreichende Öffentlichkeitsarbeit geleistet, die eigentlich meine Aufgabe gewesen wäre. Es haben sich allein deswegen unzählige Betroffene erstmalig beim Ministerium registrieren lassen. Endlich haben wir Zahlen über die Population. Und außerdem“, Kingsley musste lächeln, „hat er sich sehr gewandelt, seitdem er sich hier so engagieren kann. Der Gute hat richtig Verantwortungsbewusstsein entwickelt.“
Man musste nur wissen, dachte Arthur, wie man die Leute an der richtigen Stelle überlasten konnte, dann würde alles seinen natürlichen Weg gehen. Duvall und Sirius würden ihre Sache gut machen, da war er sich sicher und es war an der Zeit, sich selbst zu seinem politischen Schachzug zu beglückwünschen.
„Ich habe schon gehört, dass er ganze Arbeit leistet. Du, Kingsley“, Arthur klopfte ihm nochmals auf die Schulter, „hast mit den jungen Auroren viel um die Ohren. Dann machen wir es so, wie du es vorschlägst. Sirius soll ab sofort die Leitung übernehmen und mir dann die Dinge persönlich vortragen, die ausgearbeitet wurden. Alles kommt langsam zusammen King, so wie wir es geplant haben. Wir müssen nur noch ein wenig Geduld haben, aber jetzt, wo wir voll mit Sirius‘ Einsatz rechnen können, wird es hoffentlich nicht allzu lange dauern, bis die neuen Gesetze in Kraft treten können. Noch vor einem Jahr hätte man mich sicher für verrückt erklärt, hätte ich verlauten lassen, Sirius mit so einer wichtigen Aufgabe zu betrauen. Auf einen Verlust folgt ein Gewinn, so wie Sonnenschein auf Regen.“
Kingsley schien ohne weitere Erklärungen zu verstehen, was Arthur mit dem letzten Satz meinte. Nachdem sich der dunkelhäutige Auror, der sehr erleichtert wirkte, wieder verabschiedet hatte, ließ sich Arthur eine Tasse Tee bringen. In Gedanken spielte er bereits das nächste Manöver durch: Wie würde man reagieren, wenn man erfahren würde, wer in Wirklichkeit die Arbeit machte? Duvall hatte sich mit seiner erfolgreichen Verteidigung von Malfoy einen Namen gemacht, der nun negativ behaftet war. Der Mitarbeiter konnte rechtzeitig das Ministerium verlassen, bevor die Öffentlichkeit erfahren hatte, dass Lucius Malfoy auf freiem Fuß war. Vereinzelt waren magische Briefbomben eingetrudelt, dessen Adressant zum Glück nicht mehr hier arbeitete. Der erwartete Aufruhr war jedoch ausgeblieben. Malfoys Freilassung war bei dem Wirbel um die Festnahme von Rodolphus und Rabastan Lestrange vollkommen untergegangen. Nur verspätet berichteten Tageszeitungen über das vor wenigen Wochen stattgefundene Ereignis aus dem Hause Malfoy, doch die meisten schrieben nicht über derart alte Nachrichten. Das hatte den Vorteil, dass öffentliche Stimmen ausblieben. Niemand hatte sich über Malfoys Freilassung geäußert und Duvall würde sich nicht dazu äußern. Trotzdem wollte Arthur dafür sorgen, dass Duvalls jetzige Arbeit für die Initiative nicht durch sein damaliges Mandat getrübt werden würde. Das Gegenteil müsste der Fall sein. Seine Arbeit als Beistand für Malfoy sollte von der grandiosen Arbeit für die Initiative in den Schatten gestellt werden. Auch für Duvall brauchte Arthur zu gegebener Zeit einen brauchbaren Plan, doch jetzt galt es erst einmal, diesen hier zu vollenden. An dieser Stelle ertappte er sich dabei, seine politische Karriere langsam wirklich zu mögen.
Während Arthur damit begann, an einem Sonntagmorgen Pläne zu schmieden, drehte sich Hermine in ihrem Bett noch ein paar Mal um, bevor sie erwachte und aufgrund der frühen Uhrzeit erst einmal horchte, ob ihr Gast schon wach war. Im Wohnzimmer regte sich nichts. Ein Blick zu ihrem Fenster machte sie mit dem schlechten Wetter bekannt. Kein Schnee fiel mehr, aber dafür Regen und nicht zu wenig. Wie gern würde sie sich noch hinlegen, doch die Angst, er würde nach dem gestrigen Tag einfach verschwinden und später so tun, als wäre niemals etwas gewesen, trieb sie aus den Federn. Er durfte sich auf keinen Fall mehr zurückziehen; nicht nachdem Hermine gefühlt hatte, dass Hoffnung bestand. Wenn es möglich war, so eine positive Reaktion in seiner Magie hervorzurufen, dann war es nicht auszuschließen, dass man ihm auch auf anderem Wege helfen konnte. Die Seele war zerstört und kein Zauber der Welt konnte sie zurückholen; sie schien jedoch sehr eng mit der Magie verknüpft zu sein, denn nicht nur seine Farben waren andere gewesen. Etwas Weiteres war ihr gestern Abend aufgefallen, nämlich dass sich ein Teil von ihm entwickelt hatte und zwar an genau dem Punkt, an welchem sich laut älteren Überlieferungen die Seele befinden sollte. Warum sollten sich genau dort Magiefarben bilden, wenn es nicht mit dem Seelekern zusammenhängen würde, den Severus mit einem Trank geschützt hatte? Hermine war sich in ihrem Herzen sicher, dass dieser vorhandene Teil auch wieder reanimiert könnte. Vielleicht ließe sich etwas finden, ein Trank oder ein Zauberspruch, mit dem man einen solchen Prozess beschleunigen konnte. Bevor ihre albernen skurrilen Gedanken, Harrys Magie in kleinen Fläschchen abzufüllen, um damit einen heilenden Trank zu entwickeln, Überhand nahmen, zog sie sich die weichen Hausschuhe an, um ihm Wohnzimmer nachzusehen, ob Severus sie nicht womöglich längst allein gelassen hatte. Über Nacht hätte er gehen können, weil ihm die Situation unangenehm war oder der Abend sogar etwas in ihrer festen Freundschaft verändert haben könnte.
Neugierig öffnete Hermine ihre Tür und blickte ins Wohnzimmer. Severus war noch da, doch er lag nicht schlafend auf dem provisorischen Bett, das er bereits zurückverwandelt hatte. Er saß regungslos auf der Couch. Der Kater auf seinem Schoß schlief fest, was Hermine deutlich machte, dass Severus schon lange hier sitzen musste, weil sie Fellinis Eigenarten kannte.
„Severus?“, fragte sie leise. Sie wollte ihn nicht erschrecken, aber er fuhr dennoch zusammen.
„Hermine.“ Sein Gruß war so trüb gesprochen wie das Wetter aussah. Man konnte ahnen, dass er nicht mehr so war wie gestern. Still setzte sie sich neben ihn und beobachtete den Hund, der auf einer Decke neben dem Sessel schlief. Severus war nicht gegangen, war aber sichtlich niedergeschlagen.
„Was ist?“ Vor der Antwort hatte sie Angst.
Langsam schüttelte Severus den Kopf, schloss die Augen. Es wäre ihm früher nie schwergefallen, ihr diese schlechte Nachricht zu überbringen, aber ein kleiner Teil in ihm schmerzte doch, weil er wusste, dass er sie damit traurig machen würde. Trotzdem wollte er nicht lügen.
„Es ist weg“, erklärte er kurz und bündig.
Einen Moment lang deutete sie seine Worte, bevor es ihr klar wurde, dass sie gerade mit ihrer größten Angst konfrontiert wurde. „Ist es völlig verschwunden?“ Sollte das Schicksal nur einen üblen Scherz mit der Hoffnung getrieben haben?
„Ich fühle mich genauso wie in den letzten zwanzig Jahren“, erwiderte er nun sehr deutlich.
Er empfand kaum noch etwas, wenn er sich Erinnerungn längst vergangener Momente ins Gedächtnis rief. Mitten in der Nacht, als er einmal aufgewacht war, da musste er feststellen, dass Harrys Geschenk abhanden gekommen war. Die Fähigkeit zu fühlen war im Schlaf verschwunden. Vor wenigen Minuten noch waren seine einzigen Gedanken die an Situationen mit Hermine gewesen, weil diese Erinnerungen ihm gestern Abend noch ein wohliges Gefühl beschert hatten. Heute war alles wieder beim Alten. Nur eines war vom Vorabend zurückgeblieben und das war die Erkenntnis, dass er unerklärlich viel für sie empfand. Er hatte versucht, mit Erinnerungen an Hermine dieses spezielle Gefühl wieder wachzurufen, doch es war nicht möglich gewesen, dabei hatte er es sich so sehr ersehnt. Es war eine Last nur zu wissen, dass er solche Dinge fühlen konnte, aber nicht dazu in der Lage war, sie jetzt wahrzunehmen. Vielleicht sogar niemals mehr.
Neben sich blickend erhaschte er einen Blick auf Hermine, die sich unauffällig eine Träne von der Wange wischte. Ihr schien bewusst zu sein, dass das kurze Aufflammen der verloren geglaubten Emotionen keine Besserung mit sich gebracht hatte; dass die Hoffnung wieder getrübt war.
„Es sollte dich nicht so berühren“, sagte er bedauernd, „es berührt mich auch nicht.“
Gegen die Trauer um den Verlust der eigenen Seele war er immun, er war jedoch der Trauer, die sie zum Ausdruck brachte, nicht gefeit. Hermines Tränen waren in der Lage, ihn zu erschüttern und sie taten es so überrumpelnd, dass er selbst wieder Hoffnung sehen konnte, denn ein Teil von Gestern hatte in ihm überlebt. Diesen Teil musste er hüten.
Sie schluchzte, riss sich aber schnell zusammen. „Ich habe so sehr gehofft.“
Ihm und ihr ging gleichermaßen der Inhalt des Satzes durch den Kopf, den Severus zu seinem Geburtstag an Hermine gerichtete hatte.
„Wenn ich ganz ehrlich bin“, hatte er damals gesagt, „nicht nur zu Ihnen, sondern zu mir selbst, dann bin ich fest davon überzeugt, dass das gelegentliche Auflodern dieses kleinen Überbleibsels nicht mehr mit den heißesten Schmelzöfen und den schwersten Hämmern zusammengeschmiedet werden kann und der Grund dafür ist einfach, denn woher den fehlenden Teil nehmen?“
Hermine war sich nun klar darüber, was er damals damit gemeint hatte. Woher sollte man eine Seele nehmen, um sie jemand anderen zu geben? Das war nicht möglich und wenn doch, mit welchen schwarzen Künsten auch immer, dann würde sie es niemals wagen, sich an der Seele eines anderes Geschöpfs zu vergehen. Das wäre eine Schuld, mit der Hermine nicht leben wollte.
Eine andere Überlegung musste her.
„Wenn Harrys Magie so eine Kraft in sich birgt“, flüsterte sie, „dann muss es eine Möglichkeit geben, diesen Effekt mit anderen Mitteln herbeizuführen.“ Langsam drehte sie sich zu ihm um und schaute ihn mit zielstrebiger Entschlossenheit an. „Sie haben immer nach einem Weg gesucht, den zerstörten Teil der Seele zu finden und wieder mit dem Kern zusammenzufügen. So schön ein Erfolg auch wäre, es ist nicht möglich. Wir müssen uns umorientieren, völlig neue Wege einschlagen.“
„Was für neue Wege?“
„Der Magieschub hat es angeregt, hat den Kern aufleben lassen. Ich denke, dass der Kern mit genug Stimulans wieder wachsen könnte. Wir müssen ihm nur auf die Sprünge helfen.“
„Das kann ebenfalls erfolglos enden“, gab er ihr zu verstehen, obwohl ihm der Gedanke an eine gemeinsame Forschung und die damit zusammenhängende Vertrautheit und das enge Beisammensein gefiel.
„Dann können wir es gleich lassen, wenn alles andere auch nicht helfen könnte. Aber ‘könnte‘ ist nur die Wahrscheinlichkeitsform, Severus. Genauso gut könnte es einen Weg geben, den wir erst ergründen müssen. Wir werden viel Zeit miteinander verbringen und deswegen wünsche ich mir besonders eine einzige Sache von dir.“
Severus glaubte zu verstehen und vermutete: „Zusammenarbeit.“
Endlich lächelte sie wieder, bevor sie nicke. „Ich glaube, wir verstehen uns. Es wird mir sehr helfen, wenn ich meine Ideen endlich mit einem anderen schlauen Kopf ausdiskutieren kann. Das hat mir wirklich gefehlt.“
All diejenigen, ihr bisher geholfen hatten, wie Harry und Ron oder auch Remus, verstanden selbst von der Materie nicht sehr viel, konnten deswegen Hermines Gedankengängen und Überlegungen oft nicht mehr folgen, wenn sie eine Theorie erörterte. Sie waren nicht in der Lage, eigene Ideen einzuwerfen, aber – und dafür war Hermine ihnen sehr dankbar – sie halfen ihr und taten all das, um was sie gebeten wurden. Remus und Neville hatten sogar mit Pomonas Hilfe den Gespenstischen Steinregen besorgt, damit sie ein Exemplar zum Forschen hatte. Diese Pflanze war die entscheidende Zutat im Ewigen See, denn ihre Essenz war imstande, die Seele zu spalten.
„Wir müssen Bücher wälzen“, sagte sie gedankenverloren, als würde sie innerlich ihre nächsten Lebensjahre verplanen. „Wir müssen uns mit Kräuterkundlern unterhalten und herausbekommen, ob jemals eine Pflanze entdeckt wurde, die genau das Gegenteil vom Gespenstischen Steinregen bewirkt. Eine Pflanze, die nicht teilt, sondern vervielfacht. Wenn es etwas geben sollte, werden wir das herausfinden!“
„Und du glaubst wirklich, dass es diese Möglichkeit gibt?“
„Es ist wahrscheinlicher, als etwas wiederzufinden, was für immer verloren ist.“
„Dann ist dein Ziel, den vorhandenen Teil dazu zu bringen, wie eine Pflanze zu wachsen?“
„Ja“, erwidert sie, weswegen er eine skeptische Miene machte. „Ich halte es für realisierbar. Ich bin zuversichtlich, Severus und außerdem“, sie lächelte verträumt, „habe ich einen grünen Daumen.“ Sie hielt ihren Daumen hoch und wackelte damit, was ihn seine miese Laune vergessen ließ. „Frühstück?“, bot sie enthusiastisch an.
Schmunzelnd stimmte er zu. „Wie kann ich nein sagen, wenn ich weiß, was die Küchenschränke alles beinhalten?“
Die Stimmung während des Frühstücks war erstaunlich gelassen, jetzt wo beide ein Bündnis geschlossen hatten. Zusammen würden sie sein Problem an der Wurzel packen, gemeinsam Theorien besprechen und einen neuen Trank erfinden. Einen Trank, der sich niemals vermarkten ließe, denn Severus war der einzige Mensch auf der ganzen Welt, der seiner Seele solche tiefe Verletzung beigebracht hatte.
Als beide nur noch ihren Kaffee tranken, da stand Hermine plötzlich auf und verließ die Küche. Kurze Zeit später kam sie mit einer Menge Eulenpostsendungen wieder. Er brauchte nicht einmal zu fragen, was sie da geholt hatte, denn sie erklärte es von sich aus.
„Das sind die ersten Testergebnisse von denen, die meinen Farbtrank testen – die Post von gestern. Wegen des Spiels habe ich sie noch nicht lesen können.“ Nicht nur wegen des Spiels, dachte Hermine. Es war gestern so viel mehr geschehen. Sie war sich nun klar darüber, wie sehr ihr nicht mehr nur sein Wohl am Herzen lag. „Möchtest du die Unterlagen mit mir durchgehen?“
Es interessierte ihn genauso brennend wie sie selbst, ob einer der vielen Heiler oder Professoren womöglich eine bahnbrechende Entdeckung mit Hermines Erfindung gemacht haben könnte. Ein Brief von Takeda lag ganz oben auf dem Stapel. Das schmale Kuvert versprach nicht gerade umfangreiche Testergebnisse. Vielleicht hatte er Experimente mit Pflanzen gemacht und auf der ganzen Linie nicht einen Treffer gelandet.
„Ich würde sehr gern“, erwiderte er zurückhaltend höflich.
Als Erstes sahen sie sich nur die Umschläge an. Den dicksten hatte sich Severus genommen, doch er reichte ihn an Hermine weiter, weil er von Abraham Panagiotis war – dem Mann, der die seelenlosen Opfer der wild lebenden Dementoren behandelte. Was Panagiotis zu schreiben hatte, sollte zuerst sie erfahren. Sie nahm den Umschlag entgegen und warf Severus einen verständnisvollen Blick zu, bevor sie Panagiotis‘ Brief öffnete und die vielen Papiere entnahm. Sie las das persönliche Anschreiben, in dem der Professor mitteilte, dass er anbei die Ergebnisse von drei Testreihen liefern würde. Im letzten Absatz wollte er noch mehr der Farbtränke bestellen, da sein Pflegeheim nur über einen einzigen ausgelasteten Tränkemeister verfügte, der mit dem regelmäßigen Brauen dieses nicht gerade leicht herzustellenden Farbtrankes komplett überfordert wäre. Innerlich sagte Hermine bereits zu. Nur wenige hatten gegen einen kleinen Aufpreis und einem Vertrag das Rezept erhalten, um den Trank selbst herstellen zu dürfen. Adina von Gorsemoor, die Leiterin des Gunhilda von Gorsemoor-Sanatoriums, konnte sich einen weiteren Zaubertränkemeister für ihr Genesungsheim leisten. Sie war eine von denen, die den Trank im eigenen Haus brauen ließ. Offenbar nahm sie die Forschung äußerst ernst.
Zurück zu dem Brief von Panagiotis. Er hatte auf den beiliegenden sechzig Seiten die Ergebnisse von insgesamt drei verschiedenen Patienten festgehalten. Zusammen mit ihnen hatte er den Trank eingenommen, las Hermine interessiert, und nur einer von ihnen hätte minimal auf seine Magie reagiert. Als er die schwarze Magieaura der Patienten erwähnte, überflog Hermine nur noch schnell die Details, bevor sie Severus in knappen Worten schilderte, was Panagiotis entdeckt hatte. Es war nicht viel gewesen, nur herbeigerufene Grautöne, aber er würde weiter testen. Nach dieser kleinen Ernüchterung griff Hermine zu dem Schreiben von Mrs. Gorsemoor. Sie hatte einen Brief geschrieben, der einige der Ergebnisse erhielt.
Hermine berührte Severus am Arm, so dass er aufblickte und ihrer nicht laut gesprochene Aufforderung nachkam, ihr zuzuhören. Sie las vor:
„Sehr geehrte Miss Granger,
vor der ausführlichen Berichterstattung, die in wenigen Tagen folgen wird, möchte ich Ihnen vorweg schon mitteilen, dass die Tests an Patienten und Personal sowie an mir selbst viele interessante und in meinen Augen positive Resultate erzielten. Von den 614 Bewohnern, die momentan hier leben, haben sich 574 freiwillig der Studie verschrieben. Die meisten der hier lebenden Menschen sind Squibs und es wird sie hoffentlich überraschen zu erfahren, dass nicht wenige von ihnen Anzeichen von Magie aufweisen. Bei 42 Prozent der Squibs zeigte sich ein deutlicher Magiestau, besonders an den Gliedmaßen. Die Magie fließt nicht im Einklang um den Körper herum, sondern stößt auf Barrieren, die verhindern, dass sie sich entfalten kann. Der Fluss durch den Arm, durch den die Magie ganz offensichtlich zum Zauberstab geleitet wird, ist bei diesen Squibs unterbrochen. Wir haben mit den Freiwilligen eine zweite Testreihe begonnen, um festzustellen, ob sich die Hindernisse durch besondere Therapien entfernen lassen.“
Severus horchte auf.
„Was für besondere Therapien?“, wollte er wissen.
Hermine überflog den Brief, bis sie die Stelle fand, an der Mrs. Gorsemoor darauf einging und erklärte Severus im Anschluss: „Nichts Gefährliches, nur Massagen, leichte Heiltränke, Meditation.“ Sie deutete auf eine Stelle im Brief. „Sie schreibt hier, dass der direkte Kontakt mit den Menschen immer zu einem positiveren Ergebnis geführt hätte, selbst wenn der Patient nur einen Stärkungstrank eingenommen hat und man ihn währenddessen an der Schulter berührte.“
„Das würde bedeuten, dass man auf jeden Menschen, den man berührt, positiv einwirken kann.“
Genauso erstaunt wie Severus war auch sie. „Wenn das wahr ist und man über mehrere Jahre lang solche Ergebnisse erzielen würde, könnte das zum ersten Mal einen völlig natürlichen magischen Kreislauf offen legen, von dessen Existenz wir bisher nicht einmal wussten.“
„Zumindest konnte man ahnen, dass Magie sich auf einen Menschen auswirken kann. Denk doch nur an die Dunklen Künste und wie diese Magie einen einnehmen kann. Was ist mit schwarzmagischen Objekten, die von der negativen Magie eines Zauberers belegt ihre Opfer zu grausamen Dingen verleiten können? Das wird dasselbe sein, nur kann man nicht einfach ein schwarzes Buch in dem Farbtrank einweichen, um zu hoffen, dass die enthaltene Magie sichtbar wird.“
„Man könnte es zumindest mal probieren“, sagte Hermine vollkommen ernst, denn bisher hatte man nicht getestet, ob sich dank ihres Trankes die Magie auch auf toten Gegenständen zeigen würde.
Viele der anderen Professoren, Heiler, Kräuterkundler und Alchimisten, die mit Hermines Trank experimentierten, hatten ihn an sich selbst, an Freunden und an der Familie getestet, natürlich jeweils mit deren Einverständnis, aber auch Haustiere stellten für den Trank, der frei von Nebenwirkungen war, Versuchsobjekte dar. Die Ergebnisse verblüfften Hermine. Einer der Professoren schrieb, dass Kniesel zwar längst zu den magischen Tieren zählen, aber nun auch nachgewiesen wurde, dass sie wie Zauberer auch Magiefarben aufwiesen, während bei normalen Hauskatzen nichts zu sehen war.
Den dünnen Brief von Takeda schob sie zu Severus hinüber.
„Mach auf“, forderte sie mit einem Lächeln.
Severus parierte und öffnete den Umschlag, zog einen Brief heraus und entfaltete ihn. Etwas war in dem Brief enthalten – ein kleinerer Umschlag –, den er erst einmal beiseitelegte. Takedas Handschrift war sauber und gleichmäßig, als hätte er die japanische Kunst des Schönschreibens angewandt. Nichts von dem Text las er laut vor, stattdessen folgte er dem Inhalt sehr aufmerksam.
„Du warst schon einmal in Japan?“, fragte er plötzlich, obwohl er sich der bejahenden Antwort sicher war.
„Ähm ja, mit meinen Eltern.“
„Hat es dir gefallen?“
Hermine nickte. „Warum fragst du?“
„Nun“, Severus hielt ihr den Brief hin und erklärte, „Takeda fordert uns auf, den beigelegten Portschlüssel zu verwenden und sofort zu ihm zu kommen, damit wir seine Testresultate mit eigenen Augen bestaunen könnten.“
Sie blinzelte einige Male, konnte die Situation aber immer noch nicht glauben.
„Nach Japan? Jetzt?“
„Ja“, bestätigte Severus. „Oder hattest du etwas anderes vor?“ Weil sie nicht antwortete, sondern ihn völlig perplex anstarrte, erklärte er: „Für drei oder vier Stunden, Hermine. Es spricht doch nichts dagegen.“
„Wir können doch nicht mal eben nach Japan“, bestritt sie.
„Warum sollten wir nicht können? Der Portschlüssel ist dem Schreiben beigelegt und es ist sogar einer mit ‘Rückfahrtschein‘. Reisen leicht gemacht.“ Er stand vom der Bank auf und blickte sie an. „Kommst du?“
Die Erinnerungen, die Severus für seine Nachwelt hinterlassen hatte, um nach seinem Tod wenigstens ein Minimum an Anerkennung zu finden – um etwas über sich erzählen zu dürfen –, waren ausschließlich von Hermine gesehen worden. Alles, was sie zuvor nur vage erahnen konnte, hatte sich ihr in allen Einzelheiten eröffnet: Von seinem kranken Vater, seiner finanzielle Situation und der Hoffnung auf einen Ausweg aus der Mittellosigkeit, bis hin zu den Fehlern, die er begangen hatte, weil er sich in jungen Jahren und mit falschen Freunden nicht anders zu helfen wusste. Die seit seiner Kindheit im Herzen bewahrte Zuneigung zu Lily trieb ihn hilfesuchend in Albus‘ Arme und führten ihn somit auf den richtigen Weg zurück, doch er hatte bereits den Stein des Schicksals ins Rollen gebracht. Der Preis, den er zahlen musste, war für ihn von unschätzbarem Wert gewesen, war unersetzlich, denn es kostete ihn nicht nur den Menschen, den er liebte, sondern auch seinen klaren Verstand und am Ende auch die Seele, die er gegeben hatte, um Lilys Kind den Weg ebnen zu können, damit ihr Tod nicht umsonst gewesen sein würde.
Plötzlich spürte Hermine kalte Finger an ihrer Wange. Sie blinzelte und suchte umher, bis sie sein Gesicht sah, diesmal nicht mehr jung, doch wie schon damals markant und nun mit wenigen Fältchen beseelt. Erneut schossen ihr all die Dinge, die sie gesehen hatten, ungeordnet durch den Kopf und wollten sie überwältigen, doch sie weigerte sich standhaft, in Emotionen zu versinken. Severus musste wissen, was sie getan hatte, aber dennoch war weder Wut noch Enttäuschung in seinen Augen zu sehen, sondern Sorge; Sorge um sie.
„Steh auf“, hörte sie seine sanft gesprochene Anweisung, bevor seine und auch Harrys Hände sie an Oberarmen und Schultern packten, um sie zumindest in eine sitzende Position zu bringen. Wie schon an dem Tag, als sie Bekanntschaft mit den Dunklen Künsten gemacht hatte, umarmte Severus sie von hinten, um sie auf die Beine zu stellen, die sich jedoch weigerten, sie zu tragen.
„Auf die Couch“, schlug Harry vor.
Einen Moment später sank sie in die weichen Kissen. Drei Augenpaare ruhten auf ihr. Zwei davon schauten skeptisch und fragend, nur eines zeugte von Verständnis.
Draco unterbrach die Ruhe und fragte fordernd: „Was zum Teufel ist passiert? Erst bricht jemand ins Büro ein und dann …“
„Sei still!“, zischte sein Patenonkel, so dass Draco weitere Fragen im Hals stecken blieben.
Im Moment würde Hermine gern reden, aber was sie zu sagen hatte, war nicht für andere Ohren bestimmt und Severus würde nicht damit konfrontiert werden wollen, also schwieg sie, betrachtete dabei ihre vor Aufregung zitternden Hände. Jemand griff nach ihr, umfasste ihre Hände. Harry machte sich die größten Sorgen und er wollte sie beruhigen, wollte ihr zeigen, dass er für sie da war.
„Es geht schon wieder.“ Ihre zarte Stimme beteuerte das Gegenteil. „Ich bin müde und ich habe Hunger.“
„Diese Bedürfnisse ließen sich in umgekehrter Reihenfolge sicherlich befriedigen“, sagte eine Stimme nahe an ihrem Ohr. Severus hatte sich zu ihr gebeugt. „Ich muss sowieso noch meinen Hund holen.“
‘Richtig‘, dachte Hermine. Den hatte er vor dem Spiel bei ihr in der Apotheke gelassen.
„Sie sollte besser hier bleiben“, schlug Harry vor, doch der Kopf mit den rabenschwarzen Haaren wurde geschüttelt.
„Ich werde sie nachhause begleiten, Harry“, sagte Severus bestimmend, „und noch einen Moment dort bleiben.“
Weil Severus als Einziger zu wissen schien, was mit Hermine geschehen war, stimmte Harry zu, auch wenn er offenbar Severus die Schuld an dem Zustand seiner besten Freundin gab.
„Pass gut auf sie auf“, gab er nicht als Ratschlag, sondern als Warnung, bevor er das letzte Mal an diesem Abend ihre Hand drückte.
Nur am Rande nahm Hermine wahr, wie sie zum Kamin geführt wurde und einen kurzen Moment später von grünen Flammen umgeben war. Sie stolperte, als sie aus der Feuerstelle hinaus in ihr Wohnzimmer trat, doch ein fester Griff um ihre Taille gab ihr Halt. Im nächsten Augenblick befand sie sich auf der Couch. Eine nun warme Hand ruhte auf ihrem Unterarm.
„Einen Kaffee?“
„Mmmh?“, summte Hermine nachfragend.
„Einen Kaffee? Oder vielleicht einen Tee? Ich werde etwas zu essen machen, Hermine.“ Diesmal stimmte sie zu, doch ebenfalls summend.
Während die Wärme an ihrer Seite verschwand, weil sich Severus auf in die Küche machte, breitete sich angenehme Wärme auf ihrem Schoß aus. Fellini begrüßte sein Frauchen sehr innig und rollte sich auf ihr zusammen. Aus der Küche hörte sie ein kurzes freudiges Bellen und einen scharf gesprochenen Befehl, der weitere Laute unterband. Das sanfte Schnurren des schwarzen Katers mit seinen unter dem langen Fell nicht mehr sichtbaren weißen Flecken beruhigte sie ungemein. Manchmal war ein Tier das beste Mittel, um Entspannung zu finden.
In der Küche klapperte Geschirr. Um ihm zu helfen oder weil sie Nähe zu einem Menschen brauchte, stand sie von der Couch auf. Schwindelig war ihr nicht mehr, aber sie hatte tatsächlich großen Hunger.
In der Küche bot sich ihr ein vertrauter Anblick, denn Severus schnitt etwas mit dem Messer und gab dem wartenden Hund davon ab. Er wusch sich die Hände und als er sie hörte, weil sie die Tür weiter geöffnet hatte, schaute er sich um. Es schien ihr gut zu gehen, dachte er. Sie war Heilerin, somit war sein auf der Zunge liegender Ratschlag, sich doch lieber hinzusetzen, im Nu verpufft.
„Warum befinden sich Unmengen an Käse in den Schränken?“, begann er eine oberflächliche Unterhaltung. Die letzte Scheibe schnitt er noch ab, um sie auf den von ihm zubereiteten, typisch englischen Imbiss zu legen. Er hatte Sandwiches gemacht.
„Weil Sie ihn mögen.“
Ihre Antwort ließ ihn einen Augenblick innehalten, bevor er das Weißbrot diagonal mit dem Messer teilte. Der Wasserkessel begann zu pfeifen. Hermine hatte aber keine Chance, sich um den Tee zu kümmern, denn Severus zeigte mit ausgestrecktem Finger auf die Sitzecke und erklärte: „Ich habe gesagt, ich kümmer mich drum.“ Severus ließ sich nicht ins Handwerk pfuschen, auch wenn er momentan keinen komplizierten Trank braute, sondern nur einen Happen zu essen und etwas Tee zubereitete.
Ohne Widerwort hatte Hermine Platz genommen, um sich kurz darauf bedienen zu lassen. Als er den Teller mit den vier Hälften auf dem Küchentisch abstellte, bemerkte sie, dass er sogar die Kruste von den Sandwiches abgeschnitten hatte, wie es in all den Rezeptbüchern geschrieben stand, die sie mal bei Molly gelesen hatte. Hermine griff zu und in genau diesem Augenblick machte der Hund neben ihr auf dem Boden Platz, fixierte dabei mit seinen Augen ganz genau das Objekt in ihrer Hand. An ihrer anderen Seite hörte sie Severus seufzen.
„Das macht er immer“, erklärte Severus das Verhalten seines dezent bettelnden Hundes. „Er wartet und beobachtet. Den ersten Schritt macht er nie.“
Lautlos sprang Fellini auf einen Stuhl gegenüber. Er stellte die Vorderpfoten auf die Tischplatte und machte sich lang, um mit der kleinen Nase den Duft des Thunfischs und des Schinkens zu genießen. Eine Pfote tastete sich langsam in Richtung Teller, was Hermine und Severus amüsiert verfolgten. Hermine wollte sehen, wie weit das Tier gehen würde. Harry hingegen winselte einmal, weil er sich so ein aufdringliches Verhalten nie trauen würde. Der Kniesel putzte wie aus heiterem Himmel eine Stelle am nach vorn gestreckten Vorderbein.
„Ein Ablenkungsmanöver“, vermutete Severus leise gesprochen.
„Er wird sich nicht trauen.“ Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Fellini sich in ihrem Beisein an einem der Sandwiches bedienen würde.
„Es ist zu verlockend!“
„Er würde niemals …“
Mit offen stehendem Mund verfolgte Hermine das Geschehen, denn Fellini hatte sich mit einem Male so weit nach dem Essen gestreckt, dass er den gesamten Teller mit einer Pfote zu sich heranzog. Severus war schneller als Hermine und packte den Teller, bevor er über den Tischrand fallen konnte. Der Kater, nun offensichtlich ertappt, sprang vom Stuhl und suchte das Weite.
„Ich glaub’s nicht!“ Hermine musste lächeln.
„Kommt ganz nach seiner Besitzerin“, warf Severus ein, was sie aufblicken ließ.
Das erste Mal heute Abend sah sie ihm aus nächster Nähe in die Augen und sie bemerkte das Feuer in ihnen, die Lebendigkeit. Diese merkliche Veränderung freute sie über alle Maßen. Tief in Severus‘ Augen konnte sie einen Grund ausmachen, dessen beperlter Kiesel bis an die Oberfläche glitzerte, was so lange Zeit nicht möglich war. Sie mochte diese Augen und besonders das, was sie nun aus ihnen lesen konnte.
Vielleicht, dachte sie, war das eine Veränderung, die man Harrys Magie zuschreiben konnte. Severus war von ihr getroffen worden, aber er hatte das bisher ihr gegenüber mit keinem Wort erwähnt. Sie rief sich einige Situationen von vorhin ins Gedächtnis und dabei fiel ihr eine Sache besonders auf, was sie unbedingt ansprechen wollte.
„Sie haben mich vorhin geduzt.“
„Hab ich das?“, fragte er unschuldig nach. Sie war sich dessen sicher und nickte, weswegen er abwinkte: „Das war wohl ein Moment der Schwäche.“
„Aha“, machte sie, bevor sie ihm nochmal in die Augen blickte. Das Glitzern dort machte sie übermütig. „Wie könnte ich Sie jetzt schwach machen?“
Er öffnete den Mund, schloss ihn gleich darauf wieder. Auf den Arm nahm sie ihn nicht, denn sie wartete tatsächlich auf eine Antwort, auch wenn ihre Lippen ein Lächeln unterdrücken wollten. Ihre Augenlider waren noch rötlich vom Weinen, dennoch strahlte Hermine im Moment eine ansteckend fröhliche Art aus. Sie machte ihm ganz offensichtlich schöne Augen und das erste Mal bemerkte er es bewusst, was ihn wiederum sprachlos machte. Keck stieß sie ihn mit dem Ellenbogen an und forderte eine Antwort. Ihm fiel einfach kein Satz ein, um sich aus dieser Situation herauszuwinden.
Was Harrys Magie bei ihm bewirkt hatte, wusste Hermine nicht. Harry hatte ihr gesagt, es würde ihm schlecht gehen, aber Severus wirkte normal auf sie, vielleicht sogar etwas offener als sonst.
Überraschend griff sie nach seiner Hand, doch sie drückte nicht zu, sondern ließ ihre Finger leicht auf seinem Handrücken ruhen und fragte: „Wie geht es Ihnen?“
„Das fragen Sie mich?“, gab er verdutzt zurück, denn sie war diejenige gewesen, die mit Kreislaufproblemen am Boden gelegen hatte.
„Von Harry weiß ich, was auf der Feier nach dem Quidditch-Spiel passiert sein soll und dass …“ Severus wandte seinen Blick von ihr ab. „Er sagte, ein Teil seiner Magie hätte sich von ihm gelöst und Sie getroffen. Deswegen meine Frage, Severus.“
„Es geht mir“, er blickte sich unsicher um, „unerwartet gut.“
„Was hat es bewirkt? Wie fühlt sich das an?“, wollte sie wissen.
„Das ist schwer zu beschreiben.“
„Versuchen Sie’s“, forderte sie und drückte seine Hand, weswegen er seinen Blick senkte, um dieses ungewöhnliche Bild zu betrachten; ihre Hand auf seiner. Nachdem er einmal tief Luft geholt hatte, versuchte er seine Erfahrung in Worte zu fassen, was – wie er es vorhergesagt hatte – nicht leicht war.
„Es war wie ein Blitzschlag. Bis in die kleinsten Nervenenden kroch es. Es war schmerzhaft, doch dann …“ Er fand keine Worte.
„Es tut nicht mehr weh?“, fragte sie alarmiert nach, doch er schüttelte den Kopf. Nachdenklich blickte Hermine auf seine Hand. „Fühlen Sie sich irgendwie anders?“
Diese Frage müsste er sofort bejahen, aber er befürchtete, sie würde ihn ausfragen. Die Andersartigkeit war fühlbar, aber nicht zu beschreiben. Sein Zögern blieb natürlich nicht vor ihr verborgen. Bevor sie ihn erneut auffordern würde, sagte er das Erste, das ihm durch den Kopf schoss.
„Ich fühle …“ Er hielt inne, dachte sie zumindest, denn als sie nachfragte, sagte er noch einmal genau dasselbe und kein Wort mehr.
„Severus?“
Er löste seine Hand aus ihrem Griff, um nach seiner Tasse zu langen, die er mit beiden Händen umfasste, bevor er einen wärmenden Schluck nahm. Dass Hermine ihn dabei beobachtete, konnte ein Blinder sehen, denn sie machte nicht einmal den Versuch, ihr Starren zu verbergen. Severus atmete einmal tief durch, bevor er das Thema wechselte.
„Vorhin bin ich in mein Büro gegangen, um nach Dracos anspornenden Worten den Vertrag zu unterschreiben und mit seiner Hilfe ein Kündigungsschreiben für Albus zu gestalten. Als ich die Anzeichen dafür sah, dass jemand dort gewesen sein musste und dass jemand …“
Enthusiastisch unterbrach sie ihn: „Sie wollten tatsächlich unterschreiben?“
Nachdem er seine Tasse abgestellt und dabei zögerlich genickt hatte, fand er sich plötzlich mit einem Arm voll Hermine wieder. Von der Nähe völlig übermannt versuchte er, wieder Distanz zu ihr zu gewinnen, doch sie hatte ihre Arme um ihn gewunden.
„Hermine“, mahnte er nicht sehr überzeugend. „Hermine, nicht.“
„Oh, ich freu mich so!“
Sie drückte ihn nur noch mehr an sich und ließ einfach nicht los, weswegen er sich ergab. Seine Hände, weil jede andere Stellung unbequem war, fanden wie von selbst an Hermines Rücken. Ihre Umarmung wusste er sehr zu schätzen, war ihm so etwas in seinem Leben doch so selten zuteil geworden. Wenn sie ahnen würde, dachte er, dass ihm diese Geste viel mehr bedeutete als ihr, hätte sie von dieser körperlichen Nähe Abstand genommen.
Hermine fühlte sich, als wäre eine große Last von ihr Gefallen. In Zukunft würde sie sich ihre Arbeit mit ihm teilen, mit seiner Hilfe auch viel mehr schaffen. Sie hätte jemanden, mit dem sie sich unterhalten könnte, mit dem sie zu Mittag essen würde, aber vor allem jemand, den sie mochte. Ihre Arme reichten mit Leichtigkeit um ihn herum. Severus war zwar ein großer Mann, aber er war sehr dünn, was sie das erste Mal fühlen konnte. Als sie bemerkte, dass er ihre Umarmung nicht nur steif duldete, sondern sogar erwiderte, musste sie an die vielen schrecklichen Dinge denken, die er damals erlebt hatte. Die Erinnerungen daran ließen sie schluchzen und nur noch fester zupacken. Er schien genau zu wissen, dass sie gedanklich wieder bei seiner Vergangenheit angelangt war.
„Hermine“, hörte sie seine Stimme nahe an ihrem Ohr, „lass dich davon nicht so sehr mitreißen. Es ist doch schon so viele Jahre her.“
„Nein“, sie schüttelte den Kopf, womit ihre Haare ihn an der Wange kitzelten. „Für mich ist es eben erst passiert.“
„Es tut mir leid. Du hättest das gar nicht sehen sollen“, flüsterte er. „Dieser Nachlass war für Auroren bestimmt. Oder für Ordensmitglieder.“
„Ich bin ein Ordensmitglied!“
Behutsam packte er sie an den Oberarmen und drückte sie von sich weg, damit er sie ansehen konnte. „Tatsächlich?“, spöttelte er freundlich, um sie abzulenken.
„Ja“, bestätigte sie, „als Harry den Orden des Phönix mit der DA zusammengelegt hat.“
Als sie seine Augen sah und befürchtete, dass sein veränderter Zustand sich demnächst wieder in Luft auflösen konnte, verzog sich vor Kummer ihr Gesicht. Mit einem Flüstern bestätigte sie das, was er ihr stets beibringen wollte.
„Sie ist weg.“ Sie zog die Nase hoch. „Man kann sie nicht zurückholen.“ Seine Seele war zerstört. „Du hattest Recht.“ Am Ende doch zustimmen zu müssen tat ihr im Herzen weh und sie senkte den Kopf.
Severus stand auf und ging. In diesem Moment dachte Hermine, sie hätte ihn mit ihren Tränen vergrault, doch er kam wieder – in einer ausgestreckten Hand hielt er ein Fläschchen.
„Nimm das vor dem Schlafengehen.“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht immer alle schlimmen Dinge mit dem Trank für einen traumlosen Schlaf verdrängen.“
„Dann sind dir Albträume lieber?“, fragte er, bevor er sie am Handgelenk nahm und das kleine Fläschchen in die Hand drückte.
„Severus?“
„Mmmh?“
„Nachdem Harry dich mit seiner Magie getroffen hat, was mag das wohl mit deiner Magie angerichtet haben?“
„Auf was willst du hinaus?“, fragte er skeptisch.
„Mein Farbtrank.“
„Ah“, machte er und setzte sich erneut neben sie. „Ein Farbtrank gegen einen traumlosen Schlaf?“
„Würdest du einen nehmen? Ich würd es zu gern sehen.“
„Ich weiß nicht, ich denke nicht, dass …“
„Bitte! Ich nehme auch einen“, wollte sie ihm die Entscheidung erleichtern.
Nur um ihr ein wenig von dem Schrecken dieses Tages zu nehmen, stimmte er zu. Auf der anderen Seite war er selbst neugierig, was der Trank bei ihm zeigen würde. Es fühlte sich so an, als wäre etwas Farbe in ihm.
Von der gemütlichen Küche hatten sie sich ins Wohnzimmer begeben. Für angenehmes Licht sorgte nur der Kamin. Severus saß steif auf der Couch, als sie ihm ein Fläschchen mit ihrem Farbtrank überreichte, das er zögernd entgegennahm. Direkt neben ihn nahm sie Platz, bevor sie ihre Flasche entkorkte. Er schien besorgt.
„Und wenn das Ergebnis enttäuschen sollte?“, wollte er wissen.
„Es kann nicht enttäuschen, wenn ich mit nichts Außergewöhnlichem rechne, Severus.“
„Warum bestehst du denn darauf, wenn du gar nichts erwartest?“
„Weil ich mich überraschen lassen möchte“, erwiderte sie, bevor sie ihm frech zuzwinkerte. Sie hob ihre Flasche. „Auf einen Trinkspruch können wir verzichten oder?“
„Ich denke schon.“
„Dann zum Wohl!“
„Das war ein Trinkspruch“, bemängelte er schmunzelnd, aber davon ließ sie sich nicht irritieren, denn sie leerte bereits die Flasche mit ihrem Farbtrank.
Wie er es schon zweimal erlebt hatte, tat sich in den ersten Sekunden gar nichts, bis ein warmer goldbrauner Schimmer von ihr ausging, gefolgt von einem orangefarbenen Farbton, der ihn an den Sommer erinnerte. Etwas Blau konnte er wahrnehmen.
„Die Farben ändern sich“, erklärte er von ihren Farben ganz eingenommen. „Das erste Mal war der Blauton nicht zu sehen, erst beim zweiten Mal und auch jetzt.“ Fasziniert betrachtete er die goldbraunen Stellen an ihren Schultern. „Zu schade, dass du kein Buch über die Bedeutung der Farben besitzt.“
„Wer behauptet denn das? Natürlich habe ich ein Buch darüber. Ich habe nur keines über Traumdeutung.“
Schon war Hermine aufgestanden, um aus einem Schrank besagtes Buch zu holen, mit dem sie zurück zu ihm kam. Ihr fiel das Fläschchen in seiner Hand auf.
„Nimmst du ihn nicht?“ Sie klang enttäuscht, was er wieder wettmachen wollte, doch er hatte Angst. Angst davor, mit dem Ergebnis unzufrieden zu sein, welches er mindestens dreißig Minuten ertragen müssen. „Du musst nicht“, beteuerte sie, aber gerade der in ihrer Stimme mitschwingende Frust ließ ihn die Flasche entkorken. Abermals hielt er inne, bevor er seine Aufmerksamkeit dem Buch widmete.
„Ich möchte erst etwas nachsehen.“
Ihr dunkelblauer Farbton ließ ihn nicht in Ruhe. Dass das kräftige Orange für Zuverlässigkeit, Loyalität und Vertrauenswürdigkeit stand, hatte er damals bereits erfahren. Das Goldbraun symbolisierte Arbeitsfreude, Strebsamkeit und Ordnung, außerdem auch ihre spürbare Lebhaftigkeit. Sie beobachtete, wie er bei der Farbe Blau nachschlug und bei der Unterteilung „dunkel“ nachschaute.
Weil er nicht vorlas, nahm sie ihm die Arbeit ab: „Je dunkler die blaue Tönung, desto qualitativ hochwertiger ist ihre Bedeutung, die sich mit Hingabe, Heilung und Opferbereitschaft erklären lässt.“
„Hört sich vielversprechend an“, sagte er aus Spaß, doch er wusste auch, dass die Bedeutung zutraf. Hermine gab sich der Erforschung seines Problems hin und besaß zudem heilende Fähigkeiten. Er hoffte nur, ihre Opferbereitschaft wäre nicht allzu ausgeprägt.
„Na los“, forderte sie ihn auf, den Farbtrank zu nehmen. Er rutschte auf der Couch ein wenig herum, so dass sie sich direkt gegenübersaßen.
Im flackernden Licht des Kamins sah er die Neugierde in ihrem Gesicht, aber auch die Vorfreude, denn entgegen ihrer Behauptung erwartete sie doch etwas. Severus riss sich zusammen und stürzte den Farbtrank hinunter. Im ersten Moment geschah gar nichts, bis sich ein grauer Schleier um ihn legte. Hermines Lächeln verblasste, doch sie blickte ihn weiterhin an, suchte nach einem Tupfer Farbe an ihm. Ihr verzweifelter Versuch, in ihm etwas sehen zu können, was nicht vorhanden war, löste Bedauern in ihm aus. Sie versuchte, ihrem Gesicht einen Hauch der vorhergegangen Freude wiederzugeben, doch Hermine versagte. Es machte sie traurig, dass nichts geschah. Severus wollte sich bereits entschuldigen, da flammte etwas auf.
„Da!“ Mit Verzückung deutete sie auf seinen Oberkörper. „Da ist etwas!“
Severus blickte an sich herab und sah es ebenfalls, das züngelnde bisschen Magie, die an seinem Brustbein in einem blassen Rot sichtbar geworden war und sich mit trägen Ärmchen an ihm zu halten versuchte, um nicht zu vergehen. Mit einem Male hatte Hermine eine Hand um den kleinen Fleck gelegt, als wollte sie ihn beschützen. Von ihrer Geste gerührt fand seine Hand die ihre und er presste ihre Handfläche auf seine Brust. Damit zauberte er einen Ausdruck der Hoffnung und Zufriedenheit auf ihr Gesicht. Als er wieder an sich hinunterschaute, bemerkte er einen Teil ihrer farbenfrohen Magie, der sich wie Blütenstaub an ihn heftete, weil er weitergetragen werden wollten. Ihre andere Hand fand den Weg zu seiner grau umhüllten Schulter. Kaum hatte sie ihn dort berührt, breiteten sich die goldbraunen und orangefarbenen Fädchen aus, die die unwirtliche Gegend namens Severus erkundeten.
Langsam strich sie von der Schulter hinunter über seinen Oberarm und zog somit einen Schweif Farbe hinter sich her, ganz ähnlich wie die Scheinwerfer von Autos auf einem Bild, das man mit langer Belichtungszeit aufgenommen hatte. Aufmerksam beobachteten beide das kleine Farbspektakel, das sich ihnen bot. Vom Oberarm fuhr sie mit der Hand sanft über seinen Unterarm, bis sie seine Hand erreichte, die sie ohne Scheu umfasste. Bei dem Kontakt von Haut auf Haut reagierte seine graue Magie noch intensiver auf die muntere von Hermine. Nachdem sie losgelassen hatte, betrachtete er seine Handfläche und die Finger, auf denen sich noch immer braungoldene und orangene Teile Farbklekse befanden.
Seine leicht erhobene Hand führte er zu ihrer Wange, die hinter einem warm leuchtenden Goldbraun zu sehen war. Mit nur einem Finger berührte er Hermine. Als ein grauer Streifen zurückblieb, der wie Schmutz an ihrer Wange haftete, zog er seinen Arm schnell wieder weg. Hermine ergriff jedoch seine Hand und presste sie furchtlos an ihr Gesicht. Beide sahen sich einen Moment lang an, bis das Gefühl in ihm, sie zu beschmutzen, so unerträglich wurde, dass er sich von ihr lösen musste. Severus war ganz gefesselt von dem Anblick des grauen Handabdrucks auf ihrer Wange, der in wenigen Sekunden durch ihre Wärme aufgehellt wurde, bis er nicht mehr zu sehen war. Seine eigene Hand hingegen behielt für einen langen Augenblick ihre Magie.
„Darf ich etwas ausprobieren?“ Ihre Frage war so enthusiastisch, dass er sie ihr nicht abschlagen konnte. Er nickte und wartete ab, was sie vorhatte. Hermine legte beide Hände zaghaft auf seine Schultern und schien eine weitere Zustimmung zu erwarten, die er ebenfalls mit einem Nicken gab, ohne zu wissen, was sie geplant hatte. Ganz langsam näherte sie sich ihm, bis sie ihn wie vorhin in der Küche umarmte. Von dieser erneut gefühlten Nähe diesmal überwältigt legte er wie selbstverständlich seine Arme um sie und genoss diesen Augenblick, der nicht vorübergehen sollte.
Hermine hatte sich Zeit gelassen, bevor sie sich wieder aufrichtete und ihn verdutzt ansah. Als er ihren Augen folgte und zum dritten Mal an sich hinunterblickte, bemerkte er sofort die hellere Tönung seiner eigenen Magie. Zudem war das Grau mit leichten Färbungen durchzogen und das blasse Rot an seinem Brustbein glühte.
„Wie ich’s mir dachte“, flüsterte sie zufrieden, fuhr ihm währenddessen mit einer Hand von der Schulter bis zur Brust wie eine liebevolle Gemahlin, die ihrem Mann das Jackett glatt strich. Mit jeder ihrer sanften Berührungen gewann der blasse rote Schimmer an Leben, was sie aufmerksam verfolgte. Es war ihr ein drängendes Bedürfnis, diesen empfindlichen Fleck zu behüten und auch zu ertüchtigen, noch ein wenig – nur ein winziges Stückchen – über sich selbst hinauszuwachsen. In dieser Situation, der rauschartiger nicht sein konnte, denn sie sah mit eigenen Augen die Schönheit der magischen Welt in den buntesten Farben schillern, konnte sie nicht davon lassen, diesem glühenden Funken in ihm allein durch Handauflegen zu gebieten, sich an ihr zu stärken.
Für einen Augenblick musste Severus die Augen schließen. Dieser unwirkliche Moment hatte ihn vollkommen in seinen Bann gezogen. Nicht mehr nur mit ihrem Lächeln strahlte Hermine in seiner Gegenwart Wärme und Freundschaft aus, sondern nun auch mit ihren Farben. Als er den dunkelblauen Klecks an ihr beobachtete, während sie ihn durch zarte Berührungen ihn mit ihrer eigenen Magie tränkte, da dachte er nicht nur an die Bedeutungen Hingabe, Heilung und Opferbereitschaft. Er musste gar nicht mehr denken, denn er brauchte nur zu fühlen. Ihre Hingabe, diesen tot geglaubten und erst heute Abend in ihm erwachten Teil mit allen Mitteln zu erhalten, fühlte er mit jeder Faser seines Körpers, als sie ihn berührte. In ihr wollte er die Heilung von diesem Frevel finden, mit dem es ihm zu leben so schwerfiel. Sie opferte viel für ihn, verbrachte jede Menge Zeit damit, hinter seine Geheimnisse zu kommen, ihn kennen zu lernen und zu verstehen, obwohl sie nicht einmal wissen konnte, ob all ihre Mühen, all der Aufwand und die Anstrengungen am Ende überhaupt fruchten würden. Gerade weil sie in dem Wissen war, diese Bürde ohne erkennbare mögliche Erfolge auf sich genommen zu haben, hatte sie sich einen besonderen Platz bei ihm gesichert. Sie war die Freundin, die er einst verloren hatte. Sie war die Farbe, die er so mochte.
Der Seufzer seines überschäumenden Herzens war zu vernehmen, und ihre Hände stoppten abrupt, hielten seine Schultern, als würde sie ihn mustern; das erste Mal wirklich sehen. Sie betrachtete ihn wie eine wertvolle Schöpfung, die aus Ton neu geformt worden war. In gewisser Weise entsprach das der Wahrheit, denn als sie ihn sich anschaute, war er über und über mit Farbkleksen ihrer sommerlichen Magie bedeckt. Von diesem Triumph beflügelt lehnte sie sich abermals nach vorn und presste ihre Lippen auf seine Wange.
Nervös registrierte Severus die Gunst, die ihm zuteilwurde. Wie schon durch Harrys Magie schien ihm auch mit diesem Kuss ein Blitz durch die Glieder zu fahren, der die Macht hatte, leblose Zellen aufzuerwecken. Nicht mehr nur mit seinem Verstand erfasste er Situation, nicht mehr nur mit der berechnenden Geistesschärfe. Dieser Stromschlag ermöglichte ihm endlich wieder die Alternative, all die vielen Wahrscheinlichkeitsberechnungen beiseitezuschieben, um sich die verführerischen Worte eines himmlischen Souffleur zu Herzen zu nehmen.
Ihren kurzfristig gemachten Vorschlag, heute Nacht bei ihr zu übernachten, weil es bereits halb vier Uhr in der Frühe war, nahm er an, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, wie verletzlich er sich damit machte. Die Couch war dank Hermines hervorragender Noten im Fach Verwandlung flink zu einer gemütlichen Schlafstätte geworden. Mit einem seligen Lächeln auf den Lippen verabschiedete sie sich, um ihr Bett aufzusuchen, und da war sie plötzlich, diese flüchtig durch seinen Kopf huschende Frage, wie es wohl sein würde, nicht mehr nur die Freundschaft mit ihr zu teilen, sondern auch das mit Daunenfedern bekleidete Möbelstück in ihrem Schlafzimmer. Diese Frage hatte sein Verstand beinahe nicht für voll genommen, doch immerhin so sehr registriert, dass sich sein Unterbewusstsein im Traum mit ihr auseinander setzen wollte. Viel mehr als das beschäftigte ihn jedoch die Frage, was der Morgen bringen würde. Ob er das Geschenk, das Harry ihm unbeabsichtigt gemacht hatte, für immer behalten durfte.
Zu denen, die am Sonntagmorgen arbeiten mussten, gehörten Severus und Hermine nicht, aber Arthur und er war morgens um halb sieben schon dabei, ein Gespräch mit Kingsley zu führen. Er hoffte, sein Plan mit dem dunkelhäutigen Kollegen würde sich erfüllen.
„Arthur, kann ich dich einen Moment sprechen?“, frage Kingsley, der das Büro des Ministers gerade betrat.
„Ja natürlich, ich habe etwas Zeit. Was gibt es denn?“
Kingsley vergewisserte sich, mit Arthur allein zu sein, bevor er sein Anliegen schilderte. „Arthur, ich komme mit den Gesetzesänderungen nicht mehr hinterher. Unsere Gruppe wird von Sirius in letzter Zeit übermäßig in Anspruch genommen und ich komme einfach nicht mehr dazu, das Ganze noch ordentlich zu betreuen oder gar aktiv mitzuarbeiten. Ich bin nicht einmal mehr tief in der Materie drin.“ Er seufzte, doch Arthur zeigte sich mit seinem Schulterklopfen sehr verständnisvoll, weswegen er offen zugab: „Bevor ich die Gruppe womöglich noch in ihrer Arbeit bremse, würde ich es begrüßen, wenn du es in andere Hände legst. Sirius scheint jede freie Minute dafür aufzuwenden.“
Nachdem Arthur dafür gesorgt hatte, dass Sirius und Sid miteinander arbeiteten, überhäufte Sirius Kingsley mit einer Menge neuer Vorschläge, Vorlagen und Verbesserungen. Anfangs hatte sich Kingsley noch darüber gefreut, dass mit einem Male alles Schlag auf Schlag ging, doch die eigene Freizeit war zeitlich begrenzt. Er kam nicht mehr dazu, alles zu begutachten, alles abzusegnen. Mehr und mehr merkte Kingsley, dass die Dinge Hand und Fuß hatten; dass Sirius bessere Arbeit leistete als er selbst und deswegen reichte er die Aufgabe schweren Herzens weiter.
„Das ist natürlich nicht ganz das, was ich von meinem Vertrauten erwartet habe“, sagte Arthur mit einem Augenzwinkern. „Doch ich rechne es dir hoch an, dass du den Mut hast zuzugeben, dass du es nicht schaffst. Hast du eine Idee, wer für diese Aufgabe in Frage kommt?“
„Sirius ist ganz offensichtlich genau der Richtige dafür. Das denke ich übrigens schon seit dem Tag, an dem er mit Mr. Bloom durchsetzen konnte, dass das Werwolf-Unterstützungsamt eng mit der Initiative zusammenarbeitet und er sogar dafür gesorgt hat, dass ein Betroffener dort eine Stelle bekommt. Außerdem hat die Initiative dank Sirius für mehr Aufklärung gesorgt. Sirius hat weitreichende Öffentlichkeitsarbeit geleistet, die eigentlich meine Aufgabe gewesen wäre. Es haben sich allein deswegen unzählige Betroffene erstmalig beim Ministerium registrieren lassen. Endlich haben wir Zahlen über die Population. Und außerdem“, Kingsley musste lächeln, „hat er sich sehr gewandelt, seitdem er sich hier so engagieren kann. Der Gute hat richtig Verantwortungsbewusstsein entwickelt.“
Man musste nur wissen, dachte Arthur, wie man die Leute an der richtigen Stelle überlasten konnte, dann würde alles seinen natürlichen Weg gehen. Duvall und Sirius würden ihre Sache gut machen, da war er sich sicher und es war an der Zeit, sich selbst zu seinem politischen Schachzug zu beglückwünschen.
„Ich habe schon gehört, dass er ganze Arbeit leistet. Du, Kingsley“, Arthur klopfte ihm nochmals auf die Schulter, „hast mit den jungen Auroren viel um die Ohren. Dann machen wir es so, wie du es vorschlägst. Sirius soll ab sofort die Leitung übernehmen und mir dann die Dinge persönlich vortragen, die ausgearbeitet wurden. Alles kommt langsam zusammen King, so wie wir es geplant haben. Wir müssen nur noch ein wenig Geduld haben, aber jetzt, wo wir voll mit Sirius‘ Einsatz rechnen können, wird es hoffentlich nicht allzu lange dauern, bis die neuen Gesetze in Kraft treten können. Noch vor einem Jahr hätte man mich sicher für verrückt erklärt, hätte ich verlauten lassen, Sirius mit so einer wichtigen Aufgabe zu betrauen. Auf einen Verlust folgt ein Gewinn, so wie Sonnenschein auf Regen.“
Kingsley schien ohne weitere Erklärungen zu verstehen, was Arthur mit dem letzten Satz meinte. Nachdem sich der dunkelhäutige Auror, der sehr erleichtert wirkte, wieder verabschiedet hatte, ließ sich Arthur eine Tasse Tee bringen. In Gedanken spielte er bereits das nächste Manöver durch: Wie würde man reagieren, wenn man erfahren würde, wer in Wirklichkeit die Arbeit machte? Duvall hatte sich mit seiner erfolgreichen Verteidigung von Malfoy einen Namen gemacht, der nun negativ behaftet war. Der Mitarbeiter konnte rechtzeitig das Ministerium verlassen, bevor die Öffentlichkeit erfahren hatte, dass Lucius Malfoy auf freiem Fuß war. Vereinzelt waren magische Briefbomben eingetrudelt, dessen Adressant zum Glück nicht mehr hier arbeitete. Der erwartete Aufruhr war jedoch ausgeblieben. Malfoys Freilassung war bei dem Wirbel um die Festnahme von Rodolphus und Rabastan Lestrange vollkommen untergegangen. Nur verspätet berichteten Tageszeitungen über das vor wenigen Wochen stattgefundene Ereignis aus dem Hause Malfoy, doch die meisten schrieben nicht über derart alte Nachrichten. Das hatte den Vorteil, dass öffentliche Stimmen ausblieben. Niemand hatte sich über Malfoys Freilassung geäußert und Duvall würde sich nicht dazu äußern. Trotzdem wollte Arthur dafür sorgen, dass Duvalls jetzige Arbeit für die Initiative nicht durch sein damaliges Mandat getrübt werden würde. Das Gegenteil müsste der Fall sein. Seine Arbeit als Beistand für Malfoy sollte von der grandiosen Arbeit für die Initiative in den Schatten gestellt werden. Auch für Duvall brauchte Arthur zu gegebener Zeit einen brauchbaren Plan, doch jetzt galt es erst einmal, diesen hier zu vollenden. An dieser Stelle ertappte er sich dabei, seine politische Karriere langsam wirklich zu mögen.
Während Arthur damit begann, an einem Sonntagmorgen Pläne zu schmieden, drehte sich Hermine in ihrem Bett noch ein paar Mal um, bevor sie erwachte und aufgrund der frühen Uhrzeit erst einmal horchte, ob ihr Gast schon wach war. Im Wohnzimmer regte sich nichts. Ein Blick zu ihrem Fenster machte sie mit dem schlechten Wetter bekannt. Kein Schnee fiel mehr, aber dafür Regen und nicht zu wenig. Wie gern würde sie sich noch hinlegen, doch die Angst, er würde nach dem gestrigen Tag einfach verschwinden und später so tun, als wäre niemals etwas gewesen, trieb sie aus den Federn. Er durfte sich auf keinen Fall mehr zurückziehen; nicht nachdem Hermine gefühlt hatte, dass Hoffnung bestand. Wenn es möglich war, so eine positive Reaktion in seiner Magie hervorzurufen, dann war es nicht auszuschließen, dass man ihm auch auf anderem Wege helfen konnte. Die Seele war zerstört und kein Zauber der Welt konnte sie zurückholen; sie schien jedoch sehr eng mit der Magie verknüpft zu sein, denn nicht nur seine Farben waren andere gewesen. Etwas Weiteres war ihr gestern Abend aufgefallen, nämlich dass sich ein Teil von ihm entwickelt hatte und zwar an genau dem Punkt, an welchem sich laut älteren Überlieferungen die Seele befinden sollte. Warum sollten sich genau dort Magiefarben bilden, wenn es nicht mit dem Seelekern zusammenhängen würde, den Severus mit einem Trank geschützt hatte? Hermine war sich in ihrem Herzen sicher, dass dieser vorhandene Teil auch wieder reanimiert könnte. Vielleicht ließe sich etwas finden, ein Trank oder ein Zauberspruch, mit dem man einen solchen Prozess beschleunigen konnte. Bevor ihre albernen skurrilen Gedanken, Harrys Magie in kleinen Fläschchen abzufüllen, um damit einen heilenden Trank zu entwickeln, Überhand nahmen, zog sie sich die weichen Hausschuhe an, um ihm Wohnzimmer nachzusehen, ob Severus sie nicht womöglich längst allein gelassen hatte. Über Nacht hätte er gehen können, weil ihm die Situation unangenehm war oder der Abend sogar etwas in ihrer festen Freundschaft verändert haben könnte.
Neugierig öffnete Hermine ihre Tür und blickte ins Wohnzimmer. Severus war noch da, doch er lag nicht schlafend auf dem provisorischen Bett, das er bereits zurückverwandelt hatte. Er saß regungslos auf der Couch. Der Kater auf seinem Schoß schlief fest, was Hermine deutlich machte, dass Severus schon lange hier sitzen musste, weil sie Fellinis Eigenarten kannte.
„Severus?“, fragte sie leise. Sie wollte ihn nicht erschrecken, aber er fuhr dennoch zusammen.
„Hermine.“ Sein Gruß war so trüb gesprochen wie das Wetter aussah. Man konnte ahnen, dass er nicht mehr so war wie gestern. Still setzte sie sich neben ihn und beobachtete den Hund, der auf einer Decke neben dem Sessel schlief. Severus war nicht gegangen, war aber sichtlich niedergeschlagen.
„Was ist?“ Vor der Antwort hatte sie Angst.
Langsam schüttelte Severus den Kopf, schloss die Augen. Es wäre ihm früher nie schwergefallen, ihr diese schlechte Nachricht zu überbringen, aber ein kleiner Teil in ihm schmerzte doch, weil er wusste, dass er sie damit traurig machen würde. Trotzdem wollte er nicht lügen.
„Es ist weg“, erklärte er kurz und bündig.
Einen Moment lang deutete sie seine Worte, bevor es ihr klar wurde, dass sie gerade mit ihrer größten Angst konfrontiert wurde. „Ist es völlig verschwunden?“ Sollte das Schicksal nur einen üblen Scherz mit der Hoffnung getrieben haben?
„Ich fühle mich genauso wie in den letzten zwanzig Jahren“, erwiderte er nun sehr deutlich.
Er empfand kaum noch etwas, wenn er sich Erinnerungn längst vergangener Momente ins Gedächtnis rief. Mitten in der Nacht, als er einmal aufgewacht war, da musste er feststellen, dass Harrys Geschenk abhanden gekommen war. Die Fähigkeit zu fühlen war im Schlaf verschwunden. Vor wenigen Minuten noch waren seine einzigen Gedanken die an Situationen mit Hermine gewesen, weil diese Erinnerungen ihm gestern Abend noch ein wohliges Gefühl beschert hatten. Heute war alles wieder beim Alten. Nur eines war vom Vorabend zurückgeblieben und das war die Erkenntnis, dass er unerklärlich viel für sie empfand. Er hatte versucht, mit Erinnerungen an Hermine dieses spezielle Gefühl wieder wachzurufen, doch es war nicht möglich gewesen, dabei hatte er es sich so sehr ersehnt. Es war eine Last nur zu wissen, dass er solche Dinge fühlen konnte, aber nicht dazu in der Lage war, sie jetzt wahrzunehmen. Vielleicht sogar niemals mehr.
Neben sich blickend erhaschte er einen Blick auf Hermine, die sich unauffällig eine Träne von der Wange wischte. Ihr schien bewusst zu sein, dass das kurze Aufflammen der verloren geglaubten Emotionen keine Besserung mit sich gebracht hatte; dass die Hoffnung wieder getrübt war.
„Es sollte dich nicht so berühren“, sagte er bedauernd, „es berührt mich auch nicht.“
Gegen die Trauer um den Verlust der eigenen Seele war er immun, er war jedoch der Trauer, die sie zum Ausdruck brachte, nicht gefeit. Hermines Tränen waren in der Lage, ihn zu erschüttern und sie taten es so überrumpelnd, dass er selbst wieder Hoffnung sehen konnte, denn ein Teil von Gestern hatte in ihm überlebt. Diesen Teil musste er hüten.
Sie schluchzte, riss sich aber schnell zusammen. „Ich habe so sehr gehofft.“
Ihm und ihr ging gleichermaßen der Inhalt des Satzes durch den Kopf, den Severus zu seinem Geburtstag an Hermine gerichtete hatte.
„Wenn ich ganz ehrlich bin“, hatte er damals gesagt, „nicht nur zu Ihnen, sondern zu mir selbst, dann bin ich fest davon überzeugt, dass das gelegentliche Auflodern dieses kleinen Überbleibsels nicht mehr mit den heißesten Schmelzöfen und den schwersten Hämmern zusammengeschmiedet werden kann und der Grund dafür ist einfach, denn woher den fehlenden Teil nehmen?“
Hermine war sich nun klar darüber, was er damals damit gemeint hatte. Woher sollte man eine Seele nehmen, um sie jemand anderen zu geben? Das war nicht möglich und wenn doch, mit welchen schwarzen Künsten auch immer, dann würde sie es niemals wagen, sich an der Seele eines anderes Geschöpfs zu vergehen. Das wäre eine Schuld, mit der Hermine nicht leben wollte.
Eine andere Überlegung musste her.
„Wenn Harrys Magie so eine Kraft in sich birgt“, flüsterte sie, „dann muss es eine Möglichkeit geben, diesen Effekt mit anderen Mitteln herbeizuführen.“ Langsam drehte sie sich zu ihm um und schaute ihn mit zielstrebiger Entschlossenheit an. „Sie haben immer nach einem Weg gesucht, den zerstörten Teil der Seele zu finden und wieder mit dem Kern zusammenzufügen. So schön ein Erfolg auch wäre, es ist nicht möglich. Wir müssen uns umorientieren, völlig neue Wege einschlagen.“
„Was für neue Wege?“
„Der Magieschub hat es angeregt, hat den Kern aufleben lassen. Ich denke, dass der Kern mit genug Stimulans wieder wachsen könnte. Wir müssen ihm nur auf die Sprünge helfen.“
„Das kann ebenfalls erfolglos enden“, gab er ihr zu verstehen, obwohl ihm der Gedanke an eine gemeinsame Forschung und die damit zusammenhängende Vertrautheit und das enge Beisammensein gefiel.
„Dann können wir es gleich lassen, wenn alles andere auch nicht helfen könnte. Aber ‘könnte‘ ist nur die Wahrscheinlichkeitsform, Severus. Genauso gut könnte es einen Weg geben, den wir erst ergründen müssen. Wir werden viel Zeit miteinander verbringen und deswegen wünsche ich mir besonders eine einzige Sache von dir.“
Severus glaubte zu verstehen und vermutete: „Zusammenarbeit.“
Endlich lächelte sie wieder, bevor sie nicke. „Ich glaube, wir verstehen uns. Es wird mir sehr helfen, wenn ich meine Ideen endlich mit einem anderen schlauen Kopf ausdiskutieren kann. Das hat mir wirklich gefehlt.“
All diejenigen, ihr bisher geholfen hatten, wie Harry und Ron oder auch Remus, verstanden selbst von der Materie nicht sehr viel, konnten deswegen Hermines Gedankengängen und Überlegungen oft nicht mehr folgen, wenn sie eine Theorie erörterte. Sie waren nicht in der Lage, eigene Ideen einzuwerfen, aber – und dafür war Hermine ihnen sehr dankbar – sie halfen ihr und taten all das, um was sie gebeten wurden. Remus und Neville hatten sogar mit Pomonas Hilfe den Gespenstischen Steinregen besorgt, damit sie ein Exemplar zum Forschen hatte. Diese Pflanze war die entscheidende Zutat im Ewigen See, denn ihre Essenz war imstande, die Seele zu spalten.
„Wir müssen Bücher wälzen“, sagte sie gedankenverloren, als würde sie innerlich ihre nächsten Lebensjahre verplanen. „Wir müssen uns mit Kräuterkundlern unterhalten und herausbekommen, ob jemals eine Pflanze entdeckt wurde, die genau das Gegenteil vom Gespenstischen Steinregen bewirkt. Eine Pflanze, die nicht teilt, sondern vervielfacht. Wenn es etwas geben sollte, werden wir das herausfinden!“
„Und du glaubst wirklich, dass es diese Möglichkeit gibt?“
„Es ist wahrscheinlicher, als etwas wiederzufinden, was für immer verloren ist.“
„Dann ist dein Ziel, den vorhandenen Teil dazu zu bringen, wie eine Pflanze zu wachsen?“
„Ja“, erwidert sie, weswegen er eine skeptische Miene machte. „Ich halte es für realisierbar. Ich bin zuversichtlich, Severus und außerdem“, sie lächelte verträumt, „habe ich einen grünen Daumen.“ Sie hielt ihren Daumen hoch und wackelte damit, was ihn seine miese Laune vergessen ließ. „Frühstück?“, bot sie enthusiastisch an.
Schmunzelnd stimmte er zu. „Wie kann ich nein sagen, wenn ich weiß, was die Küchenschränke alles beinhalten?“
Die Stimmung während des Frühstücks war erstaunlich gelassen, jetzt wo beide ein Bündnis geschlossen hatten. Zusammen würden sie sein Problem an der Wurzel packen, gemeinsam Theorien besprechen und einen neuen Trank erfinden. Einen Trank, der sich niemals vermarkten ließe, denn Severus war der einzige Mensch auf der ganzen Welt, der seiner Seele solche tiefe Verletzung beigebracht hatte.
Als beide nur noch ihren Kaffee tranken, da stand Hermine plötzlich auf und verließ die Küche. Kurze Zeit später kam sie mit einer Menge Eulenpostsendungen wieder. Er brauchte nicht einmal zu fragen, was sie da geholt hatte, denn sie erklärte es von sich aus.
„Das sind die ersten Testergebnisse von denen, die meinen Farbtrank testen – die Post von gestern. Wegen des Spiels habe ich sie noch nicht lesen können.“ Nicht nur wegen des Spiels, dachte Hermine. Es war gestern so viel mehr geschehen. Sie war sich nun klar darüber, wie sehr ihr nicht mehr nur sein Wohl am Herzen lag. „Möchtest du die Unterlagen mit mir durchgehen?“
Es interessierte ihn genauso brennend wie sie selbst, ob einer der vielen Heiler oder Professoren womöglich eine bahnbrechende Entdeckung mit Hermines Erfindung gemacht haben könnte. Ein Brief von Takeda lag ganz oben auf dem Stapel. Das schmale Kuvert versprach nicht gerade umfangreiche Testergebnisse. Vielleicht hatte er Experimente mit Pflanzen gemacht und auf der ganzen Linie nicht einen Treffer gelandet.
„Ich würde sehr gern“, erwiderte er zurückhaltend höflich.
Als Erstes sahen sie sich nur die Umschläge an. Den dicksten hatte sich Severus genommen, doch er reichte ihn an Hermine weiter, weil er von Abraham Panagiotis war – dem Mann, der die seelenlosen Opfer der wild lebenden Dementoren behandelte. Was Panagiotis zu schreiben hatte, sollte zuerst sie erfahren. Sie nahm den Umschlag entgegen und warf Severus einen verständnisvollen Blick zu, bevor sie Panagiotis‘ Brief öffnete und die vielen Papiere entnahm. Sie las das persönliche Anschreiben, in dem der Professor mitteilte, dass er anbei die Ergebnisse von drei Testreihen liefern würde. Im letzten Absatz wollte er noch mehr der Farbtränke bestellen, da sein Pflegeheim nur über einen einzigen ausgelasteten Tränkemeister verfügte, der mit dem regelmäßigen Brauen dieses nicht gerade leicht herzustellenden Farbtrankes komplett überfordert wäre. Innerlich sagte Hermine bereits zu. Nur wenige hatten gegen einen kleinen Aufpreis und einem Vertrag das Rezept erhalten, um den Trank selbst herstellen zu dürfen. Adina von Gorsemoor, die Leiterin des Gunhilda von Gorsemoor-Sanatoriums, konnte sich einen weiteren Zaubertränkemeister für ihr Genesungsheim leisten. Sie war eine von denen, die den Trank im eigenen Haus brauen ließ. Offenbar nahm sie die Forschung äußerst ernst.
Zurück zu dem Brief von Panagiotis. Er hatte auf den beiliegenden sechzig Seiten die Ergebnisse von insgesamt drei verschiedenen Patienten festgehalten. Zusammen mit ihnen hatte er den Trank eingenommen, las Hermine interessiert, und nur einer von ihnen hätte minimal auf seine Magie reagiert. Als er die schwarze Magieaura der Patienten erwähnte, überflog Hermine nur noch schnell die Details, bevor sie Severus in knappen Worten schilderte, was Panagiotis entdeckt hatte. Es war nicht viel gewesen, nur herbeigerufene Grautöne, aber er würde weiter testen. Nach dieser kleinen Ernüchterung griff Hermine zu dem Schreiben von Mrs. Gorsemoor. Sie hatte einen Brief geschrieben, der einige der Ergebnisse erhielt.
Hermine berührte Severus am Arm, so dass er aufblickte und ihrer nicht laut gesprochene Aufforderung nachkam, ihr zuzuhören. Sie las vor:
„Sehr geehrte Miss Granger,
vor der ausführlichen Berichterstattung, die in wenigen Tagen folgen wird, möchte ich Ihnen vorweg schon mitteilen, dass die Tests an Patienten und Personal sowie an mir selbst viele interessante und in meinen Augen positive Resultate erzielten. Von den 614 Bewohnern, die momentan hier leben, haben sich 574 freiwillig der Studie verschrieben. Die meisten der hier lebenden Menschen sind Squibs und es wird sie hoffentlich überraschen zu erfahren, dass nicht wenige von ihnen Anzeichen von Magie aufweisen. Bei 42 Prozent der Squibs zeigte sich ein deutlicher Magiestau, besonders an den Gliedmaßen. Die Magie fließt nicht im Einklang um den Körper herum, sondern stößt auf Barrieren, die verhindern, dass sie sich entfalten kann. Der Fluss durch den Arm, durch den die Magie ganz offensichtlich zum Zauberstab geleitet wird, ist bei diesen Squibs unterbrochen. Wir haben mit den Freiwilligen eine zweite Testreihe begonnen, um festzustellen, ob sich die Hindernisse durch besondere Therapien entfernen lassen.“
Severus horchte auf.
„Was für besondere Therapien?“, wollte er wissen.
Hermine überflog den Brief, bis sie die Stelle fand, an der Mrs. Gorsemoor darauf einging und erklärte Severus im Anschluss: „Nichts Gefährliches, nur Massagen, leichte Heiltränke, Meditation.“ Sie deutete auf eine Stelle im Brief. „Sie schreibt hier, dass der direkte Kontakt mit den Menschen immer zu einem positiveren Ergebnis geführt hätte, selbst wenn der Patient nur einen Stärkungstrank eingenommen hat und man ihn währenddessen an der Schulter berührte.“
„Das würde bedeuten, dass man auf jeden Menschen, den man berührt, positiv einwirken kann.“
Genauso erstaunt wie Severus war auch sie. „Wenn das wahr ist und man über mehrere Jahre lang solche Ergebnisse erzielen würde, könnte das zum ersten Mal einen völlig natürlichen magischen Kreislauf offen legen, von dessen Existenz wir bisher nicht einmal wussten.“
„Zumindest konnte man ahnen, dass Magie sich auf einen Menschen auswirken kann. Denk doch nur an die Dunklen Künste und wie diese Magie einen einnehmen kann. Was ist mit schwarzmagischen Objekten, die von der negativen Magie eines Zauberers belegt ihre Opfer zu grausamen Dingen verleiten können? Das wird dasselbe sein, nur kann man nicht einfach ein schwarzes Buch in dem Farbtrank einweichen, um zu hoffen, dass die enthaltene Magie sichtbar wird.“
„Man könnte es zumindest mal probieren“, sagte Hermine vollkommen ernst, denn bisher hatte man nicht getestet, ob sich dank ihres Trankes die Magie auch auf toten Gegenständen zeigen würde.
Viele der anderen Professoren, Heiler, Kräuterkundler und Alchimisten, die mit Hermines Trank experimentierten, hatten ihn an sich selbst, an Freunden und an der Familie getestet, natürlich jeweils mit deren Einverständnis, aber auch Haustiere stellten für den Trank, der frei von Nebenwirkungen war, Versuchsobjekte dar. Die Ergebnisse verblüfften Hermine. Einer der Professoren schrieb, dass Kniesel zwar längst zu den magischen Tieren zählen, aber nun auch nachgewiesen wurde, dass sie wie Zauberer auch Magiefarben aufwiesen, während bei normalen Hauskatzen nichts zu sehen war.
Den dünnen Brief von Takeda schob sie zu Severus hinüber.
„Mach auf“, forderte sie mit einem Lächeln.
Severus parierte und öffnete den Umschlag, zog einen Brief heraus und entfaltete ihn. Etwas war in dem Brief enthalten – ein kleinerer Umschlag –, den er erst einmal beiseitelegte. Takedas Handschrift war sauber und gleichmäßig, als hätte er die japanische Kunst des Schönschreibens angewandt. Nichts von dem Text las er laut vor, stattdessen folgte er dem Inhalt sehr aufmerksam.
„Du warst schon einmal in Japan?“, fragte er plötzlich, obwohl er sich der bejahenden Antwort sicher war.
„Ähm ja, mit meinen Eltern.“
„Hat es dir gefallen?“
Hermine nickte. „Warum fragst du?“
„Nun“, Severus hielt ihr den Brief hin und erklärte, „Takeda fordert uns auf, den beigelegten Portschlüssel zu verwenden und sofort zu ihm zu kommen, damit wir seine Testresultate mit eigenen Augen bestaunen könnten.“
Sie blinzelte einige Male, konnte die Situation aber immer noch nicht glauben.
„Nach Japan? Jetzt?“
„Ja“, bestätigte Severus. „Oder hattest du etwas anderes vor?“ Weil sie nicht antwortete, sondern ihn völlig perplex anstarrte, erklärte er: „Für drei oder vier Stunden, Hermine. Es spricht doch nichts dagegen.“
„Wir können doch nicht mal eben nach Japan“, bestritt sie.
„Warum sollten wir nicht können? Der Portschlüssel ist dem Schreiben beigelegt und es ist sogar einer mit ‘Rückfahrtschein‘. Reisen leicht gemacht.“ Er stand vom der Bank auf und blickte sie an. „Kommst du?“
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
~ Muggelchen.net ~
~ Muggelchen.net ~
- Muggelchen
- Eule
- Beiträge: 345
- Registriert: 07.06.2008 22:29
- Wohnort: Gemälde im 1. Stock
190 Das Beste aus zwei Welten
Viel Überredungskunst hatte es nicht gebraucht. Bevor Hermine das Angebot von Takeda annehmen wollte, um mit Severus per Portschlüssel nach Japan zu gelangen, gab sie Harry Bescheid, wo sie sich aufhalten würde. Er schien im ersten Moment irritiert, wünscht jedoch eine gute Reise. Die Uhrzeit auf dem Schreiben versicherte, dass sie erwartet wurden, so dass sie Takeda nicht einmal im Vorfeld anflohten.
„Nach dir.“
Severus deutete auf das Stückchen bestickter Seide, das Takeda als Portschlüssel beigelegt hatte, bevor sie es gleichzeitig berührten. Einen Augenblick später befand sich Hermine in einem gemütlich belichteten Raum wieder. Die warmen Farben der Möbel aus Bambus strahlten eine heimelige Atmosphäre aus. Hinter ihr hatte Severus die Beschaffenheit des Raumes mit seinen wachen Augen analysiert, ohne von der typisch japanischen Architektur angetan zu sein, so wie Hermine es war. Ihr Blick ruhte gerade auf einem Bild, das einen Nipponibis darstellte, einen japanischen Vogel mit weißem Gefieder, rotem Gesicht und schwarzem Schnabel, dessen Rasse in der freien Wildbahn als ausgestorben galt. Lebende Exemplare gab es nur noch in Zuchtstationen.
„Ah“, hörte man die Stimme Takedas. Lautlos war er durch eine Schiebetür gekommen. „Habe ich mich doch nicht verhört.“ Er näherte sich seinen Gästen und verbeugte sich grüßend. „Willkommen, Miss Granger, Mr. Snape. Darf ich Ihnen vielleicht erst einen Tee anbieten?“
„Eigentlich“, warf Severus verneinend ein, „wollten wir uns gleich die Ergebnisse ansehen, wo Sie Ihr Schreiben doch absichtlich spannend gehalten haben.“ Takeda lächelte breit, woraufhin seine Augen so schmal wurden, als würde er sie geschlossen halten.
„Ich dachte“, begann der kleine Japaner, „meine bisherigen Beobachtungen würden Sie möglicherweise interessieren. Mit Bestimmtheit kann ich nicht sagen, ob der Zustand der Pflanzen so bleiben wird, wie er momentan ist, daher wollte ich, dass Sie es mit eigenen Augen sehen.“
„Zeigen Sie einfach nur den Weg“, stimmte Severus zu, „wir folgen.“
Takeda nickte und ging voran. Während seines langsamen Schrittes, denn er war nicht mehr der Jüngste, begann er zu erzählen.
„Sie wissen, dass ich den Trank für meine Pflanzen haben wollte. Baumrinde schenke ich nur einen Teil meiner Aufmerksamkeit. Mein Gebiet erstreckt sich auf weit mehr. Wasserpflanzen, Pilze, Gräser, Blumen, um nur einiges zu nennen. Eventuell könnten Sie im Nachhinein den dringenden Tonfall meines Briefes unangemessen finden, weil das, was ich Ihnen zeigen werde, Ihrer Meinung nach viel zu unspektakulär ist. Selbst wenn ich Ihnen noch keine Resultate vorlegen kann, dann doch zumindest einen kleinen Augenschmaus, in dessen Genuss Sie auf anderen Weg mit Sicherheit nicht so schnell kommen werden.“
An einer großen Tür aus Milchglas waren sie zum Halt gekommen. Takeda warf besonders Hermine noch ein ermunterndes Lächeln zu, bevor er die Schiebetür öffnete.
Glimmend und glänzend offenbarte sich vor ihnen ein Meer aus Pflanzen in dem riesigen Gewächshaus, auf das sie von dem Treppenaufsatz aus zwölf Metern Höhe hinunterblickten. Überwältigt von dem Anblick legte Hermine ihre Hände auf das metallene Gerüst der Treppe. Sie wollte die Augen gar nicht mehr schließen. Es war jedoch nicht der große Raum und die vielen Pflanzen, die Hermine zum Staunen brachte – es war der Effekt, den ihr Farbtrank bei ihnen auslöste. Die Vielfalt der Blumen war schon unermesslich beeindruckend, doch die fröhlichen Magiefarben, die nun jede einzelne Blüte, jeder Stängel und jedes Blatt ausstrahlte, bereicherten den tropisch warmen Raum mit einer geradezu paradiesischen Atmosphäre. Der Strauch der japanischen Zierquitte glühte rot und orange, während die Kornelkirsche daneben gelb und grün schimmerte. Das Interessanteste war jedoch, dass die Magie der Pflanzen sich komplett miteinander vermischt hatte. Ihre magische Ausstrahlung teilten die Gewächse mit den herumliegenden Pflanzen. Dafür nahmen sie im Gegenzug etwas von der fremden Magie an. Es lag ein bunter Nebel um die Blumen und Sträucher herum, bei dem man nicht mehr sehen konnte, zu welchem Gewächs welche Farben gehörten. Die Magie hatte sich vereint.
Einen Moment lang nahm Hermine die Schönheit dieses in Regenbogenfarben glühenden Gartens in sich auf. Ihr Farbtrank war es gewesen, der diese umwerfende Pracht vollbracht hatte.
„Aber es kommt noch schöner“, versprach Takeda, der ihren verzückten Gesichtsausdruck bemerkt hatte. Mit einem ebenso glücksseligen Gesichtsausdruck ging er an Hermine vorbei. „Folgen Sie mir bitte.“
Die drei gingen die Stufen hinunter. Unter wuchernden Pflanzen, Bäumen und Blumen hindurch durch einen Torbogen aus Magiefarbe folgten Hermine und Severus ihrem Gastgeber. Hermine bemerkte, dass es selbst Severus die Sprache verschlagen haben musste. Sie wusste nur nicht, ob er auch wegen der unbeschreiblichen Schönheit hingerissen war oder eher wegen der wissenschaftlichen Möglichkeiten, die sich ihnen gerade auftaten. Auf jeden Fall betrachtete er beim Vorbeigehen die vielen verschiedenen Pflanzen und deren Farbenpracht. Um ihn auf sich aufmerksam zu machen, berührte sie ihn erst zaghaft an der Hand, bevor sie zugriff. Einen Moment strauchelte er, doch er behielt seinen Schritt bei, blickte sie aber fragend an. Sofort wurde er an gestern Abend erinnert, denn auch da waren sie von Farben umgeben – und sie hatte seine Hand berührt.
„Es ist wunderschön, nicht wahr?“, schwärmte sie begeistert.
„Wenn du mit ‘wunderschön‘ meinst, dass sich besonders für Kräuterkundler völlig neue Zukunftsaussichten auftun und wir mit ihnen einen weiteren Kreis an interessierten Käufern für den Farbtrank gewinnen könnten, dann ja: Es ist wunderschön!“
Sie lachte, weil sie so eine Antwort erwartet hatte und drückte dabei seine Hand. „Ich meinte doch, wie es aussieht.“
Spielerisch hob er eine Augenbraue. „Findest du eine Alraune wunderschön?“
„Nein“, erwiderte sie ehrlich.
Alraunenwurzeln waren hässlich, besonders wenn die kleinen Gesichter sich zu widerlichen Fratzen verzerrten, weil sie wie am Spieß schrien. Plötzlich sah Severus sie so komisch an, verzog dabei das Gesicht, als wäre er eine dieser Wurzeln.
„Aber sie sind sehr nützlich“, fügte sie schnell hinzu, „und haben ihre guten Seiten.“
„Sie können tödlich sein“, gab er zu bedenken.
„Das kann ich auch sein, wenn die Situation es erfordert.“
Sie warf ihm ein überlegendes Lächeln zu, das ihn tatsächlich zum Schmunzeln brachte. Dass sie beide sich noch an den Händen hielten, bemerkte keiner der beiden, aber vor Takeda blieb es nicht verborgen. Der ältere Mann stand bereits hinten an einer Tür, die er mit beiden Händen präsentierte, bevor er sie öffnete.
„Hier befinden sich Pflanzen“, erklärte Takeda, „denen ich eine besondere Behandlung zuteilwerden ließ.“
Hinter der Tür befanden sich zwei Reihen mit Büschen, die besonders kräftig strahlten, so dass man sie fast nicht mehr unter der Farbdecke erkennen konnte.
Neugierig fragte Severus nach: „Was für eine besondere Behandlung war das, dass diese hier deutlich stärkere Magie zeigen als die Pflanzen draußen?“
„Diese hier“, Takeda ging um den Tisch herum und präsentierte eine der klein wachsende Zierquittenarten, „wurden behutsam von mir umsorgt. Ich habe mit ihnen gesprochen, ihnen Musik vorgespielt“, Severus verzog bereits das Gesicht, „aber das erstaunlichste Ergebnis war, dass die Magie von Menschen sie viel intensiver beeinflusst, als die ihrer Artgenossen. Ihre Wirkung als Zaubertrankzutat habe ich bereits getestet – sie wurde vervielfacht.“
Severus‘ Blick fiel auf eine bestimmte Pflanze an der entgegengesetzten Ecke des Raumes, bevor er fragte: „Wozu Schlehdorn? Die haben keine magischen Eigenschaften.“
„Nein, haben sie auch nicht. Die Anpflanzung dort in der Ecke hat nichts mit meiner Forschung zu tun.“
Takeda ging zum besagten Strauch hinüber und fuhr mit seiner Hand über die hüfthohen Äste mit seinen schwarzen Beeren. Es zeigte sich kein bisschen Magiefarbe.
„Seit ich denken kann, stelle ich meine Tinte selbst her. Dazu benutze ich die Rinde des Schlehdorns, klopfe sie ab und gieße sie mit kochendem Wasser auf, worin sie einen Tag einweicht. Die Rinde siebe ich heraus, kochte das Wasser auf und übergieße die Teile neu. Das ganze wiederhole ich solange, bis alle Farbteilchen aus der Rinde entwichen sind. Den Sud mixe ich mit Wein und koche ihn nochmals. Noch ein paar Feinheiten an der Flüssigkeit und ich habe einen neuen Vorrat an Tinte.“ Takeda grinste breit. „Und wenn mir nichts einfällt, das ich schreiben kann, dann nehme ich eben einen Schluck davon.“ Er zwinkerte Hermine zu, die amüsiert über den Scherz lächelte.
Hermine bestaunte die wunderschöne, in der Mitte des Raumes stehende Miniatur-Pagode aus Granit, aus dessen höchstem Fenster Wasser quoll, das spiralartig an dem Turm herabfloss. Überall befanden sich Quellsteine oder aus Bambus gefertigte Wasserspiele – von überallher plätscherte es. Wo in Hogwarts Fackeln für Licht sorgten, waren es hier Sockellaternen aus hellem oder dunklem Granit. Mit all den Farben und der stimmungsgeladenen Atmosphäre hatte das Gewächshaus etwas Märchenhaftes an sich.
Die Pflanzen hier drinnen – außer dem Schlehdorn –, die Takeda mit besonderer Zuwendung gezogen hatte, glühten vor magischem Leben; viel mehr als ihre Artgenossen im großen Gewächshaus.
„Sehen Sie“, sagte Takeda und diese beiden Wörtchen reichten tatsächlich aus, um die ungeteilte Aufmerksamkeit von Severus und Hermine zu erlangen. Mit einer Hand strich Takeda mit etwas Abstand über eine viel kleinere Art der Zierquitte, deren Blütenblätter knallrot waren. Die rote Färbung war aber nicht nur den Blüten zuzuschreiben, sondern auch der Magiefarbe. Hermine betrachtete Takedas Hand, die nicht die Pflanze selbst berührte, aber deren ausstrahlende Magie. Mitten in der Luft hinterließ seine Hand einen Streifen, als hätte er Farbe verwischt und genau dieser erst leblose Streifen begann sich mit einem Male träge zu rekeln. Wieder führte Takeda die Hand in die Nähe des Magiestreifens, der sich wie ein farbiger Kondensstreifen sehr langsam wieder aufzulösen begann. Er berührte ihn mit einem einzigen Finger. Die ausgestreckte Magie der Pflanze tastete umher, befühlte vorsichtig Takedas Hand, dann den Arm. Zuletzt schmiegte sie sich wie ein Kätzchen an den alten Mann.
Severus und Hermine waren baff.
Als Erste konnte Hermine fragen: „Was hat das zu bedeuten?“
„Das bedeutet wohl“, er blickte auf und lächelte, „dass die Quitte mich mag.“ Er umspielte mit dem Finger die kleinen Farbärmchen. „Ich sagte bereits, dass diese Pflanzen meine besondere Aufmerksamkeit erhalten haben. Einmal habe ich den Trank selbst eingenommen und bin im Gewächshaus ein wenig spazieren gegangen. Von keinem Halm und keiner Blüte wurde ich ignoriert. Alle streckte ihre Fühler nach mir aus.“
„Das ist unglaublich!“ Hermine war noch ganz hingerissen, doch Severus, durch den Ewigen See gegen euphorische Ausbrüche dieser Art gefeit, wollte es genauer wissen.
„Was erhoffen Sie sich davon, Professor Takeda? Dass diese Pflanzen magische Kräfte haben, das ist allgemein bekannt. Sie zeigen nur mit Hilfe des Trankes deren Farbe, aber das allein ist keine Meisterleistung.“
„Nein, das nicht“, stimmte Takeda zu. „Ich sagte anfangs ja, dass es Ihnen lapidar vorkommen könnte. Erst einmal ist erstaunlich, dass die Magie der Pflanzen, die nebeneinander wachsen, fest miteinander verschmilzt. Die Pflanzen, die ich später an einen anderen Standort gebracht habe, hinterließen eine klaffende Lücke im Magiekreis, die nicht sehr schnell heilte. Bei den restlichen Pflanzen konnte ich eine Abnahme der Wirkstoffe festmachen. Die verloren einfach an Kraft, weil ich ihnen einen Freund aus ihrer Mitte gerissen habe. Mit dieser Forschung befinde ich mich allerdings noch Entwicklungsstadium. Ich möchte Ihnen sehr gern zwei ganz andere Experimente zeigen. Folgen Sie mir.“
Takeda ging bereits nach vorn bis zur nächsten Tür und öffnete sie. Hier quakten Frösche und bei genauerem Hinsehen bemerkte Hermine den angelegten Teich, dessen Wasseroberfläche so glatt war, dass sie wie ein frisch gebohnerter Fußboden aussah.
„Hier habe ich meine Wasserpflanzen: Pfeilkraut, Tausendblatt und die Wasserfeder“, erklärte Takeda, während er jedes Mal auf entsprechende Pflanze deutete.
Severus schüttelte den Kopf. „Die haben allesamt keine magischen Kräfte.“
„Das dachte ich auch, Professor Snape. Kommen Sie doch etwas näher.“
Sie ließen sich direkt bis zum Teich führen. Die Wasserfeder zeigte ihre weißen Blüten, aber Magiefarben wies keine der Pflanzen auf. Erst als Takeda mit seinen Handrücken die Wasserfeder berührte, war ein leichtes gelbliches Glimmen zu sehen.
Mit hoch gehaltener Hand verbat sich Takeda alle Fragen, erklärte stattdessen von sich aus: „Keinesfalls alle nicht magischen Gewächse reagieren auf diese Art. Ich habe Tests mit anderen Pflanzen gemacht, denen man keine Kräfte zuschreibt, doch einige zeigen durchaus Magie, allerdings erst nach meiner intensiven Betreuung.“
„Das würde für die Kräuterkundler einen neuen Forschungskreis erschließen, was neue oder seltene Wirkstoffe betrifft.“ Hermine war völlig hingerissen. Neue magischen Eigenschaften, neue Wirkstoffe; es gab viel zu erforschen.
„Allerdings“, Takeda hob einen Zeigefinger, „müssen die Pflanzen ebenso besonders behandelt werden. Nur die Samen in die Erde zu stecken und zu bewässern bringt gar nichts – ich hab es versucht. Werden die Pflanzen sich selbst überlassen, entwickeln sie keine magischen Fähigkeiten. Berührt man sie aber täglich“, Takeda strich mit seinem Finger über den grünes bandförmiges Blatt des Pfeilkrauts, das daraufhin zu leuchten begann, „dann werden sie erweckt. Irgendwann ist die Magie der Pflanze so stark, dass sie keiner Betreuung mehr bedarf.“
Er deutete hinüber zur Wasserfeder, die von ganz allein magisch glühte, ohne dass man sie berühren musste. Eine nicht magische Pflanze, die Magiefarben zeigte.
„Das gleiche Phänomen kann man übrigens auch beobachten, wenn eine magische Pflanze neben einer wächst, die keine eigene Magie aufweist. Sie teilen sich die Magie. Ich habe leider noch nicht herausgefunden, ob die fremde Magie die der nicht magischen Pflanzen nur erweckt oder gar erst erschafft.“ Takeda ließ von der Pflanze ab und stand langsam auf.
Im Teich selbst bemerkte Hermine einige Fische.
„Das sind Kugelfische oder auch Pufferfische genannt“, erklärte er. Hermine fand sich sofort in ihre zweite Klasse versetzt, in der sie zum ersten Mal Pufferfischaugen als Zutat für einen Schwelltrank benutzt hatte. „Ich verwende die Fische allerdings nicht als Zutat“, bekannte der Japaner.
„Wofür dann?“, fragte Hermine neugierig, bevor ihr etwas einfiel. „Zierfische?“
„Nein, meine Haushälterin bereitet mir einmal im Jahr einen Fisch zu.“
Gerichte aus diesen Fischen konnten den Tod bedeuten, wenn sie nicht richtig zubereitet wurden. Das wusste selbst Hermine, die damals mit ihren Eltern in Yamaguchi ein Restaurant besucht hatte, dass für Kugelfischspezialitäten bekannt war. Takeda schien überhaupt nicht besorgt, dass er sich vergiften könnte.
„Sie macht es nun schon über vierzig Jahre“, schwärmte der über neunzig Jahre alte Mann, dem Hermine ansehen konnte – auf der Veranstaltung hatte sie es nur vermutet –, dass seine Haushälterin für ihn viel mehr bedeutete, als er zuzugeben bereit war. Takeda zwirbelte verträumt an seinem Bart, bevor er sich selbst wieder in die Wirklichkeit zurückholte. „Wenn Sie mir folgen würden? Gern möchte ich Ihnen die größte Augenweide bieten, die der Trank bisher in Pflanzen zum Vorschein gebracht hat.“
Takeda führte sie aus dem Gewächshaus hinaus und zurück ins sein eigenes Haus. Er nahm eine Treppe in den ersten Stock und Hermine und Severus folgten ihm. Oben trafen sie auf die Haushälterin, die gerade dabei war, ihrer künstlerischen Ader in Form von Ikebana nachzugehen, denn sie formte ein wunderschönes Blumengesteck. Es kristallisierte sich heraus, dass die lax als Haushälterin betitelte Dame eine Geisha höheren Alters war, mindestens an die sechzig Jahre. Als sie die Gäste bemerkte, stand sie auf und begrüßte Hermine und Severus mit einer sanften Verbeugung. Takeda führte die Gäste gleich darauf weiter. Aufgeregt zeigte er in eine bestimmte Richtung.
Weiter hinten führten nochmals Stufen hinauf, bis Takeda sie zu einem Balkon führte. Er brauchte nicht einmal zu sagen, was er ihnen zeigen wollte, denn es zeigte sich ihnen von selbst.
Die Aussicht war besonders bei eingebrochener Dunkelheit prachtvoll, denn Takedas Haus war von einem Bergwald umgeben. Der alte Zauberer hatte ganz offensichtlich einige der umliegenden Bäume mit dem Farbtrank behandelt, denn in etwa fünfzig von ihnen strahlen farbenfroh und erleuchteten den Abend. Hermine war hin und weg, doch Severus war von diesem Anblick überhaupt nicht gerührt.
„Was, außer dass man die Farben sehen kann, hat dieser ausladend flächendeckende Test hervorgebracht?“, wollte Severus wissen. Er verstand einfach nicht, warum allein der Anblick sich lohnen würde, wo er doch keine Neuigkeiten lieferte.
„Einen Moment“, bat Takeda, bevor er zur Tür zurückging und in den Flur rief, „meine Gute, scheuch doch bitte mal die Vögel am Gartenteich auf.“ Takeda gesellte sich wieder zu ihnen und legte erwartungsvoll die Hände auf die Balustrade. „Ich besitze im Garten eine große Vogeltränke, die gern und häufig besucht wird.“
„Lassen Sie mich raten“, nahm Severus ihm vorweg. „Das in der Tränke enthaltene Wasser besteht auch zu einem gewissen Teil aus dem Farbtrank.“
„Ganz recht, Professor Snape. Warten Sie ab, bis die Vögel über die Bäume fliegen.“
Schon ohne Vögel schwebte Hermine im siebten Himmel. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, dass ihre Erfindung so eine Schönheit hervorrufen konnte, dachte sie, als sie die fest miteinander verschmolzene Magie der nebeneinander gewachsenen Bäume betrachtete. Würde man auch nur einen fällen, bliebe sicherlich eine klaffende Lücke zurück, wie Takeda es bei den Sträuchern bemerkt hatte. Die Natur war eins. Die Bäume wuchsen in der Regel ihr Leben lang an nur einer Stelle, verbanden sich deshalb fest mit der Magie ihrer Umgebung, mit den anderen Bäumen, mit den Gräsern auf dem Boden oder selbst mit den Pilzen an ihrem Stamm, vielleicht sogar mit den Tieren.
In diesem Moment hörte man einen Knall, woraufhin nur Hermine zusammenfuhr. Severus hingegen schaute zwar skeptisch drein, hatte sich jedoch nicht erschrocken.
„Jetzt kommt das, weswegen ich Sie eigentlich eingeladen hatte“, kündigte Takeda mit funkelnden Augen an, mit denen er sehr an Albus erinnerte. Schon kam der erste Vogel um die Ecke geschossen und steuerte den Wald an – ihm folgten noch unzählige andere, ein ganzer Schwarm. Alle Vögel leuchteten genauso hell wie die Bäume, aber das Fantastische war, dass die Magie der Bäume sich lang machte. Als die aufgeschreckten Vögel dicht über die Wipfel flogen, da streiften sie die magischen Auswüchse, die sich ihnen wie Blitze in Zeitlupe von unten entgegenstreckten. Es sah aus, als würden die Vögel auf der Magie der Bäume treiben; wie ein Stück Holz auf dem Wasser. Es zeigte aber auch, dass die Magie nicht vom Menschen abhängig war, sondern auch ohne dessen Nähe auf die Umgebung reagierte.
„Es gibt Vögel, die haben ihre Lieblingsbäume.“ Verzückt blickte Takeda über die stabile Balustrade aus Bambus hinunter zu dem Regenbogen bei Nacht.
‘Nacht?‘, dachte Hermine.
Laut fragte sie: „Wie spät ist es?“ Ein Blick auf die eigene Uhr verriet, dass es gerade mal 17 Uhr war.
„Es ist knapp ein Uhr nachts“, antwortete Takeda gelassen, denn die späte Uhrzeit schien ihn nicht zu stören.
„Ach herrje.“ Hermine hielt sich eine Hand vor den Mund. „Ich habe die acht Stunden Zeitverschiebung ganz vergessen.“ An Takeda gewandt entschuldigte sie sich: „Verzeihen Sie, dass wir Sie so spät aufgesucht haben.“
„Ihre Sorge ist vollkommen unbegründet, Miss Granger. Selten komme ich vor 3 Uhr nachts ins Bett.“ Er lächelte verschmitzt. „Das ist einer der positiven Aspekte des hohen Alters. Man benötigt viel weniger Schlaf. Die Zeit nutze ich für meine Forschung und für …“ Takeda hielt inne, blickte jedoch einmal zur Tür, hinter der sich seine „Haushälterin“ aufhielt.
Nach mehr als einer halben Stunde konnte Hermine trotz Severus‘ Umhang und einem Wärmezauber den frischen Wind nicht mehr ertragen. Er hatte ihr die Haare völlig zerzaust. Takeda bat ihnen drinnen ein warmes Getränk an, das ihnen von der Dame des Hauses serviert wurde. Zumindest sah Hermine die Frau als Dame des Hauses, obwohl Takeda alles daran zu setzen schien, ihre eigentliche Rolle strikt von der offiziellen zu trennen.
„Ich kann es kaum erwarten, bis Sie die ersten Berichte fertig haben.“ Hermine strahlte über das ganze Gesicht. „Das war jetzt schon umwerfend. Danke, Professor Takeda, dass Sie uns den Portschlüssel geschickt haben.“
Man unterhielt sich über die vielen Forschungsmöglichkeiten an Pflanzen, Tieren und auch an Menschen, denn das Schönste war, dass Hermines Farbtrank keinerlei Wirkstoffe beinhaltete, die mit Vorsicht zu genießen waren. Ihn einzunehmen war so gefährliche wie zum Frühstück eine Schale Müsli mit frischen Früchten zu verzehren. Auch wenn Hermine anfangs bei der damals noch stillenden Ginny Bedenken gehabt hatte, ihr den Trank zu geben, war vom Ministerium schon bei der Patentanmeldung, die netterweise Severus übernommen hatte, festgestellt worden, dass der Farbtrank gesundheitlich vollkommen unbedenklich war.
Takeda erzählte gerade eine Geschichte zu Ende, deren Inhalt Severus‘ aufgrund Hermines wärmender Hand an der seinen nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet hatte.
„… haben sich alle, die ich angeschrieben habe, bereit erklärt, sich mit Ihnen in Verbindung zu setzen.“
Severus blinzelte. Wen hatte Takeda angeschrieben und wozu sollen die sich bereit erklärt haben? Um zusammen Blumen zu flechten oder gar Gemeinschafts-Seppuku zu begehen? Severus‘ geistige Abwesenheit war dem Gastgeber nicht entgangen. Takeda half ihm gern auf die Sprünge, indem er den Inhalt mit anderer Satzstellung wiederholte, um nicht auf die geschwächte Konzentration seines Gastes zu sprechen zu kommen.
„Sie können also in Zukunft mit einigen persönlichen Eulen meiner Bekannten rechnen, die alle den Farbtrank für die Forschung bestellen möchten.“
„Ah“, machte Severus erleichtert, weil er den Faden wiedergefunden hatte. Er wollte gerade die Situation retten, indem er eine kluge Bemerkung machte, da drückte Hermine seine Hand – wegen des bevorstehenden Umsatzes für die Apotheke oder möglicherweise, weil sie die Nähe zu ihm genoss –, weswegen ihm seine Worte im Hals steckenblieben.
Takeda grinste. „Das verschlägt einem die Worte, nicht wahr?“
Die gewollte Zweideutigkeit war nicht zu überhören, aber auch nicht zu übersehen, dachte Severus, denn Takedas Blick war einen Moment zu lange auf seine Hand gerichtet; auf die, die Hermine hielt. Severus versuchte sich ins Gedächtnis zurückrufen, ob sie in der Zeit zwischen Balkon und Bambussofa auch einmal losgelassen hatte, doch er musste verneinen. Hermine hingegen bejahte, jedoch es war Takedas Aussage, der sie ihre Zustimmung gab. Von dem Besuch hier war sie sehr angetan, besonders aber von den vielen Interessenten. Sie lächelte bis über beide Ohren, als sie sich verabschiedete.
„Vielen Dank, Professor Takeda. Besonders möchte ich Ihnen danken, dass Sie andere Forscher auf den Trank aufmerksam gemacht haben.“
„Es ließ sich vor meinen Bekannten schlecht verbergen, dass mein Gewächshaus einen Klecks Farbe erhalten hat. Ich danke Ihnen für Ihren Besuch. Wenn Sie mir nach unten folgen würden?“ Takeda stand auf und ging langsam zur Treppe hinüber, winkte beide zu sich. „Ich werde Ihnen einen Portschlüssel geben, der Sie wohlbehütet wieder nach nachhause bringt.“
Unten stand die Dame des Hauses. Mit beiden Händen präsentierte sie Hermine ein Geschenk. Es war ein Blumengesteck mit moosüberzogenen Kiefernästen, Quittenblüten und Farnen, das sie verzückt entgegennahm.
„Das ist der Portschlüssel, der aktiviert wird, sobald Professor Snape ihn berührt. Natürlich können Sie das Geschenk behalten. Es ist danach wieder ein ganz normaler Gegenstand“, erklärte Takeda.
Man verabschiedete sich mit netten Worten, bevor Severus nach dem wie eine Miniatur-Chaiselongue aussehenden Töpfchen griff, aus dem ein hübsch gestaltetes Blumenkunstwerk ragte.
Im Nu befanden sie sich in der Küche der Apotheke wieder. Einzig das Blumengesteck in Hermines Hand zeugte von ihrem gemeinsamen Trip nach Japan.
„Das war einfach umwerfend!“ Von dem Besuch bei Takeda war Hermine hellauf begeistert und das würde auch noch eine Weile so bleiben.
„Seine Ergebnisse zeigten zumindest eine Richtung, der man sich auf wissenschaftlichem Gebiet annehmen sollte. Wenn man die Wirkstoffe einer Pflanze tatsächlich durch Magie beeinflussen kann, erstreckt sich die Forschung ins Unermessliche.“
„Ich bin mir sicher, dass wir eine Pflanze finden werden, mit der man die Auswirkungen des Ewigen Sees rückgängig machen kann.“
Ihre Zuversicht hatte ihn an etwas ganz anderes erinnert. Er schien regelrecht aufgescheucht, blickte sich um und fand endlich Worte, wenn auch knappe.
„Ich muss gehen!“
„Was? Severus, warum so plötz…“
„Die Erinnerungen sind noch bei Harry! Ich werde sie holen.“
Er stürmte hinauf ins Wohnzimmer, um den Kamin zu nutzen. Sie war ihm gefolgt.
„Er hat bestimmt nicht reingesehen, Severus.“
„Davon möchte ich mich gern selbst überzeugen.“
Dem geworfenen Flohpulver folgte grüner Rauch und weg war er. Hermine seufzte.
Severus war in seinen Kerkern angekommen und stürzte zur Tür hinaus auf den Flur, rempelte dabei einen Schüler seines Hauses an, der mit seinen Klassenkameraden gerade auf dem Weg zum Abendessen war. Besonders im Erdgeschoss waren eine Menge Schüler anwesend, die Severus ignorierte, denn ihn interessierten nur sein als Erinnerung zurückgelassenes Leben, das momentan ungeschützt in Harrys Denkarium schwamm. Der Gedanke daran, dass jeder von Harrys Freunden dort hineinsehen könnte, brachte ihn dazu, die Beine in die Hände zu nehmen.
Ohne anzuklopfen öffnete er die Tür zu Harrys Räumen, doch er fand niemanden vor, der neugierig seine Nase ins Denkarium gesteckt hatte. Stattdessen – und deswegen hielt Severus inne und blickte das Tier verwundert an – weinte der Phönix. Dessen Tränen wurden von einem Glasschälchen aufgefangen, das man an der Stange befestigt hatte. Der Vogel sah grauenvoll aus. Das verblasste Gefieder war gerupft, der Körper wies kahle Stellen auf. Es war an der Zeit, dachte Severus, dass der Phönix sich erneuerte. Ein Blick ins Denkarium verriet ihm, dass die Erinnerungen noch immer darin schwammen, also nicht gestohlen wurden. Trotzdem wollte er wissen, ob Harry sie sich angesehen hatte. So dachte er sich nichts dabei, in seiner Wut über die eigene Achtlosigkeit ins Schlafzimmer zu eilen.
Vollständig angezogen lag Harry mit dem Rücken zu ihm auf dem Bett, umarmt von …
„Was fällt Ihnen ein?“, keifte Ginny so leise wie möglich, denn anscheinend schlief Harry. „Sie können nicht einfach in private Räume gesaust kommen.“ Severus fand keine Gelegenheit, das Wort an Harry zu richten, denn Ginny war bereits aufgestanden und schoss auf ihren Zaubertränkelehrer zu. „Raus!“ Sie hatte den Mut, ihn am Oberarm zu packen und hinauszudrängen.
Im Wohnzimmer kam er endlich dazu, etwas zu sagen. „Miss Weasley, ich bin lediglich gekommen, um zu holen, was mir gehört.“
„Bitte“, sie deutete auf das Denkarium, „da finden Sie alles. Das ist kein Freifahrtschein, um unsere Privatsphäre zu verletzten. Nehmen Sie‘s und gehen Sie.“
„Aber …“
Ginny war bereits zurück ins Schlafzimmer gegangen. Die langhalsige Phiole stand noch immer auf dem Boden neben dem Becken, so dass er gleich damit begann, seine Erinnerungen herauszufischen.
Im Schlafzimmer legte sich Ginny, obwohl es nicht einmal 18 Uhr war, zurück zu Harry ins Bett. Sofort fanden seine Arme um ihre Taille. Harry war hellwach, war er eben schon, als Severus hereingestürzt kam. Sie rutschte näher an ihn heran und wischte eine Strähne aus dem verweinten Gesicht, gab ihm danach einen Kuss auf die Stirn. Harry schluchzte leise, so dass sie seinen Kopf an ihre Brust drückte und ihm mit der Hand zärtlich über die Haare fuhr. Sie war für ihn da, auch wenn sie nicht wusste, was er erlebt hatte. Geredet hatte Harry noch nicht, seit sie ihn vor zwei Stunden am Denkarium fand, mit der Nase tief in die Erinnerung eingetaucht, die zuvor schon Hermine angeschaut hatte. Im ersten Augenblick wollte sie ihn dort wegreißen, wollte ihn dafür ausschimpfen und fragen, was er sich dabei dachte, doch sie ließ ihn letztendlich gewähren. Gestern Abend hatte Harry bereits die Gelegenheit gehabt, ungestört den Grund für Hermines beeinträchtigten Zustand herauszufinden, doch erst heute hatte er sich dazu entschlossen, einen Blick hineinzuwerfen. Er hatte es nicht unüberlegt getan.
Während Ginny vorhin noch neben ihm gewartet hatte, war ihr aufgefallen, dass Harry, trotzdem er sich die Erinnerung anschaute, hörbar weinte, ganz genau wie Hermine am Vortag. Was gestern Abend nur Harry und sie bemerkt hatten, war heute wieder eingetreten. Fawkes war gestern schon von der emotionalen Entladung Hermines so gerührt gewesen, dass er weinen musste. Diesmal, als er auch bei Harrys Rührung Tränen vergoss, hatte sie dem Phönix ein Schälchen bereitgestellt. Es wäre eine Schande, solch wertvollen Tränen ins Nichts fallenzulassen.
Die Erinnerungen von Severus hatte Harry sich bis zum Ende angesehen, bevor er genauso übermannt wie Hermine von dem Becken abließ und hemmungslos weinte. Ginny hatte ihn ins Bett gebracht und ihm Trost gespendet. So hatten sie zusammengelegen, bis Severus den Frieden gestört hatte.
Draußen hörte man eine Tür ins Schloss fallen.
Durchs viele Weinen fragte Harry näselnd: „Ist er weg?“
„Ja.“
Er schmiegte sich nur noch dichter an sie an und vergrub seinen Kopf in ihrer Halsbeuge.
„Harry?“
Er war es ihr schuldig, zumindest einen Hinweis auf das zu geben, was er erfahren hatte, weswegen er flüsternd erklärte: „Ich hab meine Eltern gesehen. Und Sirius, wie er …“ Harry wurde von seiner stockenden Atmung geschüttelt, so dass sie ihm beruhigend über den Kopf strich.
„Du hättest es dir nicht ansehen sollen“, sagte sie mit einem fast unhörbaren Vorwurf in der Stimme.
„Ich dachte, sie hätten es mit Absicht bei mir gelassen, damit ich es mir ansehen kann“, rechtfertigte sich Harry zwischen seinen Schluchzern.
„Sie werden es nur vergessen haben, beide.“
Ginny zog die Bettdecke über Harry, auch wenn er noch seine Kleidung trug. Ihre warmen Lippen liebkosten sein Gesicht, die Schläfen, die Stirn, die Nase. Allmählich beruhigte er sich, auch wenn er für einen Moment daran denken musste, wie es wäre, auf ihre Liebe verzichten zu müssen. Was wäre, wenn er sie weiterhin liebte, sie aber nichts von ihm wissen wollte? Er würde vergehen, soviel stand für Harry fest. Mit diesem Gedanken war es leicht, sich in seinen Kollegen und Freund hineinzuversetzen.
Eine Etage unter Harry und Ginny fand sich Severus wieder in seinen Räumen ein. Die Phiole mit den Erinnerungen verstaute er wie zuvor in dem Geheimversteck an der Decke seines Büros und schützte es erneut mit Flüchen. Die Erinnerungen wieder in sich aufzunehmen, dazu war er nicht bereit; noch nicht. Eines Tages, wenn er sich sicher sein durfte, es zu ertragen, würde er die silberne Flüssigkeit aus dem langhalsigen Behältnis wieder in seinen Kopf zurückfließen lassen, doch die Zeit war noch nicht gekommen.
Immer wieder schwirrten seine Gedanken um die Geschehnisse des Vorabends und des heutigen Tages. Hermine hatte alle Schlüsselmomente seines Lebens gesehen und war trotzdem – oder gerade deswegen – fest entschlossen, ihm weiterhin zur Seite zu stehen, ihm zu helfen. Sie würde nachforschen und nach Wegen suchen, seinen Seelenkern zum Wachsen zu bringen. Dabei schien es ihr egal zu sein, wie viel Zeit sie investieren müsste. Von ihrem Enthusiasmus angesteckt, selbst nach einem Weg zu suchen, widmete er sich seinen Unterlagen, die er aus einer nicht sichtbaren Geheimschublade seines Schreibtisches entnahm. Im Laufe der Zeit hatten sich viele Zetteleien, Berechnungen und Theorien angesammelt, die er aufgrund der übermannenden Gleichgültigkeit, die dem Ewigen See zuzuschreiben war, selten bis zum Ende verfolgt hatte. Sein Eifer hatte sich stets in Grenzen gehalten. Es war ihm gar nicht mehr wichtig gewesen, für sein Seelenheil zu sorgen, denn es bedeutete ihm nichts mehr. Jetzt, wo Hermine sich so hingebungsvoll seinem Problem widmete, war auch er der Überzeugung erlegen, dass es eine Lösung geben musste, auch wenn die erst noch entdeckt werden wollte. Severus wollte eine Lösung, damit er wieder so empfinden konnte wie gestern. Er wusste, dass er dazu imstande war und er wollte diese Gefühle zurückhaben.
Die alten Unterlagen – die letzten davon von dem Tag stammend, an welchem Hermine sich beinahe in seinen schwarzen Büchern verloren hatte – versprachen aufs Neue Hoffnung. Hoffnung, die Hermine in ihm schürte. Er ging sie durch, die alten Theorien und Kalkulationen, nur um festzustellen, dass Hermine mit dem, was sie gesagt hatte, Recht behalten sollte. Er hatte immer nur nach einer Möglichkeit gesucht, die Teile seiner Seele wiederzufinden und zusammenzufügen. Nie war er von diesem Gedanken abgekommen. Hermine dachte anders als er. Sie versteifte sich nicht auf eine einzige Theorie, sondern stellte völlig neue auf. Nie im Leben hätte er einen Gedanken daran verschwendet, ob seine Seele nicht einfach wieder wachsen könnte. Neue Berechnungen mussten her. Severus nahm sich Pergament und Feder, wälzte abermals Bücher und suchte nach Pflanzen und tierischen Zutaten, die dazu in der Lage waren, Wachstum herbeizuführen, auch dort, wo eigentlich keiner vorgesehen war.
So fand Hermine ihn vor, als sie ihn am gleichen Abend noch besuchte. Severus hatte seine große Nase in ein Buch gesteckt und bemerkte Hermine erst, als sie sich räusperte. Er blickte auf.
„Oh“, machte er erstaunt. Er hatte heute nicht mehr mit ihr gerechnet. „Was verschafft mir die Ehre?“
„Vermisst du nichts?“, fragte sie zurück.
Severus war sich unsicher, ob sie damit ihre Anwesenheit meinte, denn da musste er bejahen – er vermisste sie.
„Ich meine deinen Hund.“ Sie schaute nach unten und Severus musste sich über seinen Schreibtisch beugen, um Harry sehen zu können, der brav neben Hermine Platz gemacht hatte. „Du warst so schnell weg …“ Ihr Blick fiel auf die Bücher und auf seine Aufzeichnungen. „Was soll das werden?“
„Recherche“, gab er sehr präzise und bündig als Antwort.
Der Hund legte sich ruhig auf den Boden, nachdem Hermine die Leine losgelassen hatte. Sie ging um den Schreibtisch herum und blickte Severus über die Schulter. Im ersten Moment war es ihm unangenehm, denn er wurde dadurch nervös; genauso nervös wie damals im Zaubertränkeunterricht bei Slughorn, wenn Lily ihm über die Schulter geschaut hatte, um sich seine Tricks abzugucken. Es wäre außerdem möglich, dass er in Hermines Augen wieder einmal in die falsche Richtung recherchierte, doch ihr Interesse an der Textstelle, die er sich gerade zu Gemüte führte, schien groß. Unsicher schob er das Buch zu ihr hinüber, damit sie besser lesen könnte. Mit einem Wutsch seines Stabes beförderte er einen zweiten Stuhl an den Schreibtisch, damit sie sich neben ihn setzen konnte. Wenn Hermine so still war wie jetzt, dann widmete sie sich konzentriert dem Gelesenen.
„So etwas in der Richtung habe ich mir vorgestellt“, murmelte sie, während sie noch den letzten Satz des Kapitels zu Ende las. Sie blickte auf und sah ihm in die Augen. „Haben Sie …“ Sie verbesserte. „Hast du noch mehr solche Bücher? Über Pflanzen habe ich kaum welche. Ich würde am liebsten einen Pflanzenbauwissenschaftler und Herbologen hinzuziehen“, er riss seine Augen weit auf, „aber das möchtest du ja nicht. Trotzdem …“
„Nein, das wird nicht notwendig …“
Sie machte es ihm nach und unterbrach ihn. „Doch, es ist notwendig, aber ich werde alles auf einer theoretischen Basis behandeln. Niemand wird erfahren – das verspreche ich dir –, dass es um dich geht. Wir haben Takeda als Herbologen, aber die künftige Korrespondenz beschränkt sich auf Briefverkehr. Die Eulen tun mir jetzt schon leid. Ich kann mir einen regelmäßige Portschlüssel nach Japan aber einfach nicht leisten.“ Die wurden nämlich, das wusste Severus natürlich, in der Regel beim Ministerium beantragt und bezahlt. „Wir haben doch vor Ort sehr fachkundige Herbologen.“ Hermine blickte einen Moment nachdenklich auf das Buch. „Ich werde Neville meinen Trank geben. Er soll damit forschen. Der Vorteil ist, dass die Pflanzen dank seines Düngers extrem schnell wachsen.“
„Er wird Fragen stellen“, gab Severus zu bedenken.
„Nicht wenn ich ihn bitte, keine zu stellen.“
„Aber …“ Ihm fiel nichts ein, mit dem er ihr diese Idee ausreden könnte, weswegen er resignierend seufzte.
„Das wäre doch perfekt“, wollte sie es ihm schmackhaft machen. „Die Gewächshäuser von Hogwarts sind für uns schnell zu erreichen. Neville macht es bestimmt. Für ihn wäre die Arbeit mit dem Farbtrank etwas Neues, das er sicher gern macht.“ Einen Moment lang knabberte sie an ihrem Daumennagel, bis sie eine weitere Idee hatte. „Wenn ich wegen der Arbeit nicht dazu komme, kann Poppy die Pflanzen auf ihre Wirkstoffe testen. Das geht relativ fix; dafür gibt es Aufschlüsselungszauber, die man als Heiler lernt.“
„Du kannst auch mir diese Sprüche beibringen, dann mach ich das.“
Seine Angst, zu viele Menschen könnten in die Forschung involviert werden, ließ ihn vorsichtig werden. Auch wenn er Poppy mochte und schon kannte, bevor er überhaupt Hogwarts besucht hatte, wollte er sie nicht mit einbeziehen.
„Was hast du gegen Poppy?“
„Ich habe nichts gegen sie“, rechtfertigte er sich gnatzig. „Ich will nur nicht, dass jeder …“
Sie fuhr ihm über den Mund. „Was heißt denn hier ‘jeder‘?“
„Es sind schon viel zu viele Menschen, die davon wissen. Von mir, meine ich.“
„Das ist nicht wahr, Severus.“
„Ach nein?“, fragte er spottend. „Wer ist es denn, der bereits eingeweiht ist? Das musst du am besten wissen, wo du es doch warst, die damit hausieren ging.“
Hermine war ein wenig beleidigt, zählte dennoch auf: „Harry, Draco, Ron“, Severus verzog bei dem letzten Namen das Gesicht, „Albus, na ja und Remus auch.“
Severus presste die Lippen zusammen. „Sind das alle?“
Sie legte den Kopf schrägt und musterte ihn. „Neville und Pomona ahnen etwas, aber alles, was sie wissen könnten, haben sie allein herausgefunden. Zumindest was den Ewigen See betrifft. Pomona, Neville und Remus haben nämlich den Gespenstischen Steinregen besorgt und für was der benutzt werden kann, ist den beiden Kräuterkundlern bewusst.“
„Na wunderbar“, murmelte Severus missgelaunt. „Sonst noch wer?“
„Ginny konnte sich das Meiste selbst zusammenreimen.“
„Fantastisch!“ Severus war wütend. „Vielleicht sollten wir einfach einen Aushang am schwarzen Brett anbringen? Vielleicht findet sich auf diesem Wege schneller eine Lösung?“
Diesmal seufzte Hermine. „Ich habe doch versprochen, dass nur noch wir beide uns darum kümmern werden. Trotzdem werde ich in Bezug auf Pflanzen andere Menschen kontaktieren müssen. Ich werde jedenfalls nicht noch meinen Meister in Kräuterkunde machen, damit wir wirklich alles allein bewerkstelligen können!“
Gerade wollte er ihr einige Boshaftigkeiten an den Kopf werfen, da machte ihn ihre Hand auf seinem Unterarm mundtot. Er rang erst nach Worten, dann nach Luft, bevor er nachgab und nickte. Hermine behielt Recht, denn in Bezug auf Pflanzen und verborgene Wirkstoffe war auch er nicht sehr bewandert. Unter seiner Aufsicht würde wahrscheinlich sogar ein Kaktus eingehen, obwohl der nur selten gegossen werden musste.
„Ach, das habe ich noch gar nicht erzählt“, begann Hermine und erhielt damit sofort seine volle Aufmerksamkeit. „Als ich die Eingänge vom Ministerium durchgegangen bin, habe ich bemerkt, dass mich jemand um drei Wolfsbanntränke geprellt hat. Das ist mir ein Rätsel, wo ich doch jeden Ausweis unterschrieben habe. Laut Ministerium sind drei Unterschriften von mir nicht angekommen. Ich habe auch schon eine Ahnung, wer das gewesen sein könnte.“
„Und wer bitteschön?“
„Mr. Doppel-X. Er hat bei der Anmeldung nicht mit Namen unterschrieben. Nachdem er seine Tränke eingenommen hat, stand er jedesmal, als ich den Pass unterschrieben habe, am Fenster und hat sich sehr auffällig geräkelt.“
„Er hat jemandem ein Signal gegeben“, vermutete Severus ganz richtig.
Sie nickte. „Das denke ich auch. Keine Ahnung, ob er beim nächsten Mal wieder zu mir kommt.“ Sie lächelte ihn verschmitzt an. „Wenn ja, dann könntest du vielleicht draußen vor meinem Schaufenster mal die Augen aufhalten und herausfinden, für wen diese Zeichen bestimmt sind?“ Sie drückte seinen Unterarm. „Ich kann mir niemanden vorstellen, der für diesen Job besser geeignet wäre.“
Der Anflug eines Lächelns war auf seinem Gesicht zu erkennen, als er das versteckte Kompliment in Bezug auf seine Observations-Techniken herausgehört hatte.
„Was war eigentlich mit den Erinnerungen? Waren sie noch bei Harry?“
Er nickte. „Ich habe sie wieder an mich gebracht.“
„Hat er sie sich angesehen?“
Severus hob und senkte die Schultern. „Die Möglichkeit hätte er gestern und heute gehabt. Ich weiß es nicht.“ Einen Moment lang haderte er mit sich, bevor er ihr ein Detail schilderte. „Der Phönix hat Tränen verloren.“
„Fawkes hat geweint?“, fragte sie nach, woraufhin er nickte. „Warum?“
„Ich weiß es nicht.“
„Vielleicht wird er bald brennen?“, murmelte sie gedankenverloren, denn sie musste plötzlich an die Prophezeiung denken. „Meinst du, der Phönix hat mit dem zu tun, was Trelawney vorhergesagt hat?“
„Was habe ich mit diesem Vogel zu schaffen? Er müsste schon in meinen Armen Feuer fangen, damit seine Erneuerung etwas mit mir zu tun haben könnte.“
„Darf ich es nochmal sehen?“
Irritiert fragte er nach: „Was?“
„Das dunkle Mal.“
Er zögerte erst, löste jedoch den Manschettenknopf an seinem Handgelenk, bevor er den linken Unterarm freimachte. Ganz genau betrachtete sie das leicht verblasste Symbol. Es bestand aus schwarzer Magie, konnte also weiterhin sinnbildlich mit dieser dunkelsten aller Farben bezeichnet werden. Die Haut an seinem Unterarm war weiß und sie bemerkte die blauen Adern, die sich sichtbar unter ihr abzeichneten.
„Ich wünschte, es würde vollends verblassen“, gab er mit zittriger Stimme zu.
„Und genau das“, Hermine fuhr mit ihren Fingern über das Mal, „ist laut Prophezeiung nicht möglich. Man kann es nicht fort wünschen.“ Sie bemerkte die Gänsehaut an seinem Unterarm und ließ von ihm ab. „Sag mir bitte Bescheid, wenn du Veränderungen bemerkst.“
„Was für Veränderungen?“
„Falls es plötzlich brennt oder Farbe und Form anders sind.“
„Falls es brennen sollte, müssten wir uns in der Tat Gedanken machen, denn das würde bedeuten, ‘er‘ wäre zurückgekehrt.“
„Das wird nicht passieren.“
„Dann wird es auch nicht brennen können, Hermine.“
„Aber dann macht die Prophezeiung überhaupt keinen Sinn!“
„Was Sibyll allgemein von sich gibt, macht häufig keinen Sinn“, winkte er lapidar ab.
„Die Prophezeiung, die sie Albus gemacht hat …“
Hermine verstummte. Natürlich wusste er aus eigener Erfahrung, dass diese Prophezeiung wahr geworden war. Sie wollte ihn wirklich nicht daran erinnern, dass er die Hälfte davon an Voldemort weitergegeben hatte. Es war jedoch längst zu spät. Er dachte daran, wie auch sie daran denken musste.
„Was …“ Severus musste sich räuspern. „Was hältst du von dem, was du gestern gesehen hast?“ Er klang sehr unsicher, wollte dennoch ihre Meinung hören.
„Ich weiß nicht“, murmelte sie, doch so wie er sie anstarrte, verlangte er eine Antwort, die sie ihm mit zarter Stimme gab. „Ich werde mir kein Urteil erlauben, Severus. Das steht mir überhaupt nicht zu.“
Irgendeine Haltung musste sie haben, dachte er. „Aber ich habe die Prophezeiung weitergegeben!“
„Von der du nicht einmal wusstest, wen sie betreffen würde, geschweige denn, ob sie sich überhaupt erfüllen könnte.“
„Aber …“
„Severus, das ist Vergangenheit! Nichts davon lässt sich rückgängig machen. Ich möchte nicht einmal darüber nachdenken, was passiert wäre, wenn Voldemort Harry nicht als Ebenbürtigen gekennzeichnet hätte. Wahrscheinlich wäre dann niemand in der Lage gewesen, ihm das Handwerk zu legen.“
Hermine atmete kräftig ein und aus, unterdrückte dabei die Gefühle, die in ihr aufkamen, als sie in Gedanken den weinenden Harry neben seiner Mutter sitzen sah. Wenn sie der Anblick schon so mitgenommen hatte, würde Harry ihn nur schwerlich ertragen können, aber zum Glück hat er seiner Neugierde nicht nachgegeben, glaubte Hermine.
„Meinst du, ich dürfte mir Bücher aus der Bibliothek ausleihen?“
Severus verneinte. „Pince hat schon gemeutert, als du noch nicht offiziell meine Schülerin warst. Ich nehme an, sie wird dir das Ausleihen von Bücher nicht gestatten.“
„Oh, na dann werde ich mir wohl ein paar kaufen müssen.“ Sie rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. „Ich werde gehen. Nach dem Abendessen in der großen Halle wollte ich noch mit Neville sprechen.“ Von Severus kam kein Widerspruch, auch wenn sie ihm ansehen konnte, dass er davon nicht sehr begeistert war. „Kommst du morgen nach dem Unterricht vorbei?“
Hier blickte er sie interessiert an. „Natürlich.“
Seine schnelle Antwort ließ sie erleichtert lächeln. „Prima, dann sehen wir uns gegen 15 Uhr?“
Gerade stand sie auf, da bat er sie, nochmals Platz zu nehmen. Aus einer Schublade holte er die lederne Mappe, die er ihr in die Hand drückte. Neugierig öffnete sie den Deckel. Ihr Vertrag offenbarte sich ihr. Ganz unten fand sie seine Unterschrift.
„Das ist …“ Ihr fehlten einen Augenblick die Worte. „Ich freue mich so, Severus. Das habe ich mir gewünscht, seit ich die Apotheke habe.“
„Tatsächlich?“, fragte er erstaunt nach.
„Ja, wirklich! Es hat keinen Spaß gemacht, alleine zu brauen. Ich habe unsere Zusammenarbeit wirklich vermisst, Severus.“
„Du wirst noch bis Ende Juni auf meinen vollen Arbeitseinsatz verzichten müssen. Ich möchte nicht mitten im laufenden Schuljahr gehen und Albus in die Verlegenheit bringen, keinen Ersatz für mich zu haben. Mir liegt daran, dass meine Schüler ausnahmslos ihre UTZe mit Bestnoten abschließen. Jede andere Note würde auf mich zurückfallen.“
„Wann geht es mit den ersten Prüfungen los?“
„Übernächste Woche. Ich bin mir sicher, dass ich die eine oder andere Stunde meiner Freizeit damit verbringen werde, den Schülern noch einige wichtige Informationen einzubläuen. Drück mir die Daumen, dass Mr. Foster alle Prüfungen besteht. Ich hatte mich nach der Wiedereröffnung der Schule dafür eingesetzt, dass der junge Mann zwei Klassen überspringt und gleich mit der siebten beginnt. Er wäre der jüngste Schulabgänger Hogwarts‘.“
„Das hört sich vielversprechend an. Ich vertraue auf dein Urteil. Er wird es bestimmt schaffen.“ Überglücklich drückte sie die lederne Mappe mit dem unterschriebenen Vertrag an ihre Brust und stand auf. „Ich werde jetzt nach Neville suchen. Wir sehen uns morgen.“
„Bis morgen, Hermine.“ Der Hund folgte ihr bis zur Tür, was Hermine erstaunte. „Nein Harry, du bleibst hier“, brachte sie dem Tier mit sanfter Stimme bei. Severus rief den Hund zu sich und der parierte sogar.
Da sie schon hier unten in den Kerkern war, suchte Hermine den Bereich der Hufflepuffs auf, wo auch Nevilles und Pomonas Räumlichkeiten lagen. Die befanden sich ganz in der Nähe der Schulküche neben einem Gewölbekeller, gleich neben dem Gemeinschaftsraum der Hufflepuffs. Ein Erstklässler mit einem Stück Kuchen vom Abendessen in der Hand fragte Hermine höflich, ob er helfen könnte. Von ihm erfuhr sie, dass Professor Sprout und ihr Auszubildender bei den Gewächshäusern wären.
In Gewächshaus Nummer vier traf sie Neville an, aber nicht Pomona war bei ihm, sondern Luna, die sich eine Blume mit vielen rosafarbenen Kronblättern ansah, die alle einseitswendig von dem Stängel nach unten hingen. Ganz unten an den Blüten befand sich eine weiße Spitze. Luna schien von dieser Blume ganz verzaubert, so dass sie Hermine erst wahrnahm, als sie beide grüßte.
„Hermine“, grüßte Neville mit breitem Lächeln, „was führt dich her? Kann ich wieder etwas für dich anpflanzen?“
„Nein, nichts Spezielles, aber du kannst gern meinen Trank mit den Gewächsen testen, die du bereits angepflanzt hast.“
Da Neville den Sinn ihrer Worte nicht verstand, erzählte sie ihm von dem Farbtrank und dass viele Menschen, auch Kräuterkundler, gegen Bezahlung damit forschten. Ihr farbenprächtiges Erlebnis bei Takeda ließ sie nicht aus. Neville bekam ganz glänzende Augen.
„Und ich darf damit auch Experimente machen?“, fragte er aufgeragt. Als Hermine nickte, war er vollends begeistert, doch dann wurde sein Gesicht wieder ernst. „Hermine“, stammelte er verlegen, „ich habe kein Geld, um den Trank bezahlen zu können.“
„Wer hat denn gesagt, dass du dafür bezahlen musst?“ Aufmunternd zwinkerte sie ihm zu. „Du kannst testen, so viel zu möchtest. Dann und wann hätte ich bestimmt eine Auftragsforschung für dich. Du verstehst schon… Bestimmte Pflanzen, die du auf ihre Magie testen sollst.“
„Kein Problem, Hermine. Ich bin dabei.“
Luna, die alles mitgehört hatte, meldete sich erst jetzt zu Wort, ohne jedoch von der rosafarbenen Blume abzulassen.
„Vielleicht kann Neville gleich hiermit anfangen. Das ist eine der Pflanzen, mit der meine Mutter damals experimentiert hat.“ Luna zeigte auf einige andere Gewächse. „Diese dort auch.“
„Was für welche sind das?“, wollte Hermine wissen.
Nicht Luna, sondern Neville gab die Antwort. Er zeigte einmal auf die hintere Reihe: „Das sind krautige Pflanzen; alle aus der Familie der Mohngewächse. Ich wollte keine anpflanzen, die ein sekundäres Dickenwachstum aufweisen und am Ende verholzen.“ Hermines Stirn runzelte sich, weswegen Neville es vermied, weitere Fachbegriffe zu benutzen. „Die dort mit dem traubigen Blütenstand zum Beispiel“, er zeigte auf eine Gewächs mit vielen grünen Blättern, „ist ein Corydalis cava. Er hat überhaupt keine heilenden Eigenschaften. Gleich daneben, die mit den gelben Blüten, ist eine Glaucium flavum. Man hat aus ihren Wurzeln damals ein Heilmittel gegen Ruhr hergestellt.“
„Gegen Ruhr? Habe ich ja noch nie gehört, dass man diese Pflanze verwendet hat. Hat es geholfen?“
Neville zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Das war im antiken Griechenland. Niemand mehr da, den man fragen könnte.“ Er grinste. „Daneben“, eine Pflanze mit zwittrigen gelben Blüten, von denen die Hälfte schon abgefallen war, „ist eine Chelidonium majus.“
„Oh ja“, sagte Hermine zustimmend, „die kenne ich aus meiner Heilerausbildung sehr gut. Sie enthält zehn Alkaloide. Ich hatte mal während des Krieges ein kleines Mädchen betreut, das davon gegessen hat. Sie wäre fast gestorben.“
„Tatsächlich?“, wunderte sich Neville. „Poppy wollte, dass ich sie anbaue.“
„Wahrscheinlich wegen des Sparteins, das wirkt sich nämlich anregend auf Herz und Kreislauf aus. Alles ist erst ab einer bestimmten Dosis giftig.“
Neville schien beruhigt und stellte die letzten beiden Gewächse vor. Er deutete auf eine Pflanze, die eindeutig ein Farngewächs darstellte und viele wunderschöne weiße Blüten aufzeigte.
Hermine staunte. „Hey, die Pflanze habe ich heute Abend erst gesehen!“
„Bist du sicher?“, fragte Neville skeptisch nach. „Die ist nämlich in Japan heimisch. Ein Farn. Der Pteridophyllum racemosum.“
„Du wirst es nicht glauben, Neville, aber ich war vor etwas über einer Stunde noch in Japan.“
Neville schaute sie an, als würde sie ihn auf den Arm nehmen, doch sie lächelte so offen und ehrlich, dass sie ihn ansteckte. Luna hingegen lächelte breit.
„Ich glaube dir, dass du heute in Japan warst. Warum solltest du auch lügen?“
„Professor Takeda“, erklärte Hermine, „hat uns einen Portschlüssel geschickt, damit wir uns die Auswirkungen des Farbtrankes bei seinen Pflanzen ansehen können.“
„Takeda? DER Professor Kôji Takeda?“
Jetzt wurde Hermine skeptisch. „Du kennst ihn?“
„Nicht persönlich, aber seine Bücher! Er hat einen großen Namen unter den Kräuterkundlern.“
„Wirklich? Dann sollte ich dich das nächste Mal vielleicht mitnehmen und dich ihm vorstellen?“
„Das würdest du machen?“, fragte Neville aufgeregt nach, denn ganz offensichtlich hielt er viel von diesem Mann.
„Wenn ich’s doch sage!“
„Oh, was würde ich geben, um seine riesigen Gewächshäuser zu sehen“, schwärmte er.
Luna, die noch immer an der rosafarbenen Blume stand, machte den Vorschlag: „Du könntest bei ihm Interesse mit deinem Dünger wecken, Neville.“ Er wollte schon abwinken, da ergriff die Blonde das Wort: „Mach deine Erfindung nicht immer nieder. Selbst Professor Sprout sagt, dass dein Dünger einzigartig ist.“
„Ja, du hast ja recht“, murmelte Neville. Er selbst schien nicht an sich und sein Produkt zu glauben. Er nickte in Lunas Richtung hinüber und meinte damit die letzte Pflanze: „Eine Lamprocapnos spectabilis. Der wird auch keine magische oder heilende Fähigkeit zugeschrieben. ‘s ist nur eine Zierpflanze.“
„Das werden wir ja sehen“, gab Hermine zu bedenken. „Ich werde dir gleich morgen eine Eule mit ein paar Flaschen schicken, dann kannst du gleich anfangen, deine Beete damit zu gießen. Professor Takeda erwähnte, dass er wenig von dem Farbtrank benötigte, weil er in der Erde länger aktiv bleibt, die Pflanze also viel länger leuchtet, als würde ein Mensch ihn einnehmen.“
„Darf ich ihn auch mal einnehmen?“
„Natürlich, Neville. Das wäre sogar sehr interessant. Schreibst du mir deine Beobachtungen auf?“
Neville nickte. Sein Blick fiel auf die lederne Mappe in ihrer Hand, die auch Luna nun fixiert hatte. Hermine musste schmunzeln. Mit einer Hand wedelte sie mit der Ledermappe.
„Ich habe bald einen Geschäftspartner!“
„Wirklich?“ Neville freute sich für Hermine, war aber auch neugierig. „Wer?“
Nicht Hermine kam dazu, eine Antwort zu geben. Es war Luna, die ganz richtig vermutete: „Professor Snape.“
Neville blinzelte mehrmals. „Ist das wahr?“
„Ja, aber er macht das Schuljahr noch zu Ende. Ist ja nur noch bis Ende Juni, dann steigt er bei mir ein.“
„Werde ich viel mit ihm zu tun haben?“, wollte Neville ein wenig besorgt wissen.
„Du meinst wegen des Trankes? Mach dir da keine Sorgen. Das werden nur wir beide regeln, okay?“
Wortlos stimmte er zu. Er freute sich sichtlich über Hermines Angebot, den Farbtrank kostenlos testen zu dürfen.
Viel Überredungskunst hatte es nicht gebraucht. Bevor Hermine das Angebot von Takeda annehmen wollte, um mit Severus per Portschlüssel nach Japan zu gelangen, gab sie Harry Bescheid, wo sie sich aufhalten würde. Er schien im ersten Moment irritiert, wünscht jedoch eine gute Reise. Die Uhrzeit auf dem Schreiben versicherte, dass sie erwartet wurden, so dass sie Takeda nicht einmal im Vorfeld anflohten.
„Nach dir.“
Severus deutete auf das Stückchen bestickter Seide, das Takeda als Portschlüssel beigelegt hatte, bevor sie es gleichzeitig berührten. Einen Augenblick später befand sich Hermine in einem gemütlich belichteten Raum wieder. Die warmen Farben der Möbel aus Bambus strahlten eine heimelige Atmosphäre aus. Hinter ihr hatte Severus die Beschaffenheit des Raumes mit seinen wachen Augen analysiert, ohne von der typisch japanischen Architektur angetan zu sein, so wie Hermine es war. Ihr Blick ruhte gerade auf einem Bild, das einen Nipponibis darstellte, einen japanischen Vogel mit weißem Gefieder, rotem Gesicht und schwarzem Schnabel, dessen Rasse in der freien Wildbahn als ausgestorben galt. Lebende Exemplare gab es nur noch in Zuchtstationen.
„Ah“, hörte man die Stimme Takedas. Lautlos war er durch eine Schiebetür gekommen. „Habe ich mich doch nicht verhört.“ Er näherte sich seinen Gästen und verbeugte sich grüßend. „Willkommen, Miss Granger, Mr. Snape. Darf ich Ihnen vielleicht erst einen Tee anbieten?“
„Eigentlich“, warf Severus verneinend ein, „wollten wir uns gleich die Ergebnisse ansehen, wo Sie Ihr Schreiben doch absichtlich spannend gehalten haben.“ Takeda lächelte breit, woraufhin seine Augen so schmal wurden, als würde er sie geschlossen halten.
„Ich dachte“, begann der kleine Japaner, „meine bisherigen Beobachtungen würden Sie möglicherweise interessieren. Mit Bestimmtheit kann ich nicht sagen, ob der Zustand der Pflanzen so bleiben wird, wie er momentan ist, daher wollte ich, dass Sie es mit eigenen Augen sehen.“
„Zeigen Sie einfach nur den Weg“, stimmte Severus zu, „wir folgen.“
Takeda nickte und ging voran. Während seines langsamen Schrittes, denn er war nicht mehr der Jüngste, begann er zu erzählen.
„Sie wissen, dass ich den Trank für meine Pflanzen haben wollte. Baumrinde schenke ich nur einen Teil meiner Aufmerksamkeit. Mein Gebiet erstreckt sich auf weit mehr. Wasserpflanzen, Pilze, Gräser, Blumen, um nur einiges zu nennen. Eventuell könnten Sie im Nachhinein den dringenden Tonfall meines Briefes unangemessen finden, weil das, was ich Ihnen zeigen werde, Ihrer Meinung nach viel zu unspektakulär ist. Selbst wenn ich Ihnen noch keine Resultate vorlegen kann, dann doch zumindest einen kleinen Augenschmaus, in dessen Genuss Sie auf anderen Weg mit Sicherheit nicht so schnell kommen werden.“
An einer großen Tür aus Milchglas waren sie zum Halt gekommen. Takeda warf besonders Hermine noch ein ermunterndes Lächeln zu, bevor er die Schiebetür öffnete.
Glimmend und glänzend offenbarte sich vor ihnen ein Meer aus Pflanzen in dem riesigen Gewächshaus, auf das sie von dem Treppenaufsatz aus zwölf Metern Höhe hinunterblickten. Überwältigt von dem Anblick legte Hermine ihre Hände auf das metallene Gerüst der Treppe. Sie wollte die Augen gar nicht mehr schließen. Es war jedoch nicht der große Raum und die vielen Pflanzen, die Hermine zum Staunen brachte – es war der Effekt, den ihr Farbtrank bei ihnen auslöste. Die Vielfalt der Blumen war schon unermesslich beeindruckend, doch die fröhlichen Magiefarben, die nun jede einzelne Blüte, jeder Stängel und jedes Blatt ausstrahlte, bereicherten den tropisch warmen Raum mit einer geradezu paradiesischen Atmosphäre. Der Strauch der japanischen Zierquitte glühte rot und orange, während die Kornelkirsche daneben gelb und grün schimmerte. Das Interessanteste war jedoch, dass die Magie der Pflanzen sich komplett miteinander vermischt hatte. Ihre magische Ausstrahlung teilten die Gewächse mit den herumliegenden Pflanzen. Dafür nahmen sie im Gegenzug etwas von der fremden Magie an. Es lag ein bunter Nebel um die Blumen und Sträucher herum, bei dem man nicht mehr sehen konnte, zu welchem Gewächs welche Farben gehörten. Die Magie hatte sich vereint.
Einen Moment lang nahm Hermine die Schönheit dieses in Regenbogenfarben glühenden Gartens in sich auf. Ihr Farbtrank war es gewesen, der diese umwerfende Pracht vollbracht hatte.
„Aber es kommt noch schöner“, versprach Takeda, der ihren verzückten Gesichtsausdruck bemerkt hatte. Mit einem ebenso glücksseligen Gesichtsausdruck ging er an Hermine vorbei. „Folgen Sie mir bitte.“
Die drei gingen die Stufen hinunter. Unter wuchernden Pflanzen, Bäumen und Blumen hindurch durch einen Torbogen aus Magiefarbe folgten Hermine und Severus ihrem Gastgeber. Hermine bemerkte, dass es selbst Severus die Sprache verschlagen haben musste. Sie wusste nur nicht, ob er auch wegen der unbeschreiblichen Schönheit hingerissen war oder eher wegen der wissenschaftlichen Möglichkeiten, die sich ihnen gerade auftaten. Auf jeden Fall betrachtete er beim Vorbeigehen die vielen verschiedenen Pflanzen und deren Farbenpracht. Um ihn auf sich aufmerksam zu machen, berührte sie ihn erst zaghaft an der Hand, bevor sie zugriff. Einen Moment strauchelte er, doch er behielt seinen Schritt bei, blickte sie aber fragend an. Sofort wurde er an gestern Abend erinnert, denn auch da waren sie von Farben umgeben – und sie hatte seine Hand berührt.
„Es ist wunderschön, nicht wahr?“, schwärmte sie begeistert.
„Wenn du mit ‘wunderschön‘ meinst, dass sich besonders für Kräuterkundler völlig neue Zukunftsaussichten auftun und wir mit ihnen einen weiteren Kreis an interessierten Käufern für den Farbtrank gewinnen könnten, dann ja: Es ist wunderschön!“
Sie lachte, weil sie so eine Antwort erwartet hatte und drückte dabei seine Hand. „Ich meinte doch, wie es aussieht.“
Spielerisch hob er eine Augenbraue. „Findest du eine Alraune wunderschön?“
„Nein“, erwiderte sie ehrlich.
Alraunenwurzeln waren hässlich, besonders wenn die kleinen Gesichter sich zu widerlichen Fratzen verzerrten, weil sie wie am Spieß schrien. Plötzlich sah Severus sie so komisch an, verzog dabei das Gesicht, als wäre er eine dieser Wurzeln.
„Aber sie sind sehr nützlich“, fügte sie schnell hinzu, „und haben ihre guten Seiten.“
„Sie können tödlich sein“, gab er zu bedenken.
„Das kann ich auch sein, wenn die Situation es erfordert.“
Sie warf ihm ein überlegendes Lächeln zu, das ihn tatsächlich zum Schmunzeln brachte. Dass sie beide sich noch an den Händen hielten, bemerkte keiner der beiden, aber vor Takeda blieb es nicht verborgen. Der ältere Mann stand bereits hinten an einer Tür, die er mit beiden Händen präsentierte, bevor er sie öffnete.
„Hier befinden sich Pflanzen“, erklärte Takeda, „denen ich eine besondere Behandlung zuteilwerden ließ.“
Hinter der Tür befanden sich zwei Reihen mit Büschen, die besonders kräftig strahlten, so dass man sie fast nicht mehr unter der Farbdecke erkennen konnte.
Neugierig fragte Severus nach: „Was für eine besondere Behandlung war das, dass diese hier deutlich stärkere Magie zeigen als die Pflanzen draußen?“
„Diese hier“, Takeda ging um den Tisch herum und präsentierte eine der klein wachsende Zierquittenarten, „wurden behutsam von mir umsorgt. Ich habe mit ihnen gesprochen, ihnen Musik vorgespielt“, Severus verzog bereits das Gesicht, „aber das erstaunlichste Ergebnis war, dass die Magie von Menschen sie viel intensiver beeinflusst, als die ihrer Artgenossen. Ihre Wirkung als Zaubertrankzutat habe ich bereits getestet – sie wurde vervielfacht.“
Severus‘ Blick fiel auf eine bestimmte Pflanze an der entgegengesetzten Ecke des Raumes, bevor er fragte: „Wozu Schlehdorn? Die haben keine magischen Eigenschaften.“
„Nein, haben sie auch nicht. Die Anpflanzung dort in der Ecke hat nichts mit meiner Forschung zu tun.“
Takeda ging zum besagten Strauch hinüber und fuhr mit seiner Hand über die hüfthohen Äste mit seinen schwarzen Beeren. Es zeigte sich kein bisschen Magiefarbe.
„Seit ich denken kann, stelle ich meine Tinte selbst her. Dazu benutze ich die Rinde des Schlehdorns, klopfe sie ab und gieße sie mit kochendem Wasser auf, worin sie einen Tag einweicht. Die Rinde siebe ich heraus, kochte das Wasser auf und übergieße die Teile neu. Das ganze wiederhole ich solange, bis alle Farbteilchen aus der Rinde entwichen sind. Den Sud mixe ich mit Wein und koche ihn nochmals. Noch ein paar Feinheiten an der Flüssigkeit und ich habe einen neuen Vorrat an Tinte.“ Takeda grinste breit. „Und wenn mir nichts einfällt, das ich schreiben kann, dann nehme ich eben einen Schluck davon.“ Er zwinkerte Hermine zu, die amüsiert über den Scherz lächelte.
Hermine bestaunte die wunderschöne, in der Mitte des Raumes stehende Miniatur-Pagode aus Granit, aus dessen höchstem Fenster Wasser quoll, das spiralartig an dem Turm herabfloss. Überall befanden sich Quellsteine oder aus Bambus gefertigte Wasserspiele – von überallher plätscherte es. Wo in Hogwarts Fackeln für Licht sorgten, waren es hier Sockellaternen aus hellem oder dunklem Granit. Mit all den Farben und der stimmungsgeladenen Atmosphäre hatte das Gewächshaus etwas Märchenhaftes an sich.
Die Pflanzen hier drinnen – außer dem Schlehdorn –, die Takeda mit besonderer Zuwendung gezogen hatte, glühten vor magischem Leben; viel mehr als ihre Artgenossen im großen Gewächshaus.
„Sehen Sie“, sagte Takeda und diese beiden Wörtchen reichten tatsächlich aus, um die ungeteilte Aufmerksamkeit von Severus und Hermine zu erlangen. Mit einer Hand strich Takeda mit etwas Abstand über eine viel kleinere Art der Zierquitte, deren Blütenblätter knallrot waren. Die rote Färbung war aber nicht nur den Blüten zuzuschreiben, sondern auch der Magiefarbe. Hermine betrachtete Takedas Hand, die nicht die Pflanze selbst berührte, aber deren ausstrahlende Magie. Mitten in der Luft hinterließ seine Hand einen Streifen, als hätte er Farbe verwischt und genau dieser erst leblose Streifen begann sich mit einem Male träge zu rekeln. Wieder führte Takeda die Hand in die Nähe des Magiestreifens, der sich wie ein farbiger Kondensstreifen sehr langsam wieder aufzulösen begann. Er berührte ihn mit einem einzigen Finger. Die ausgestreckte Magie der Pflanze tastete umher, befühlte vorsichtig Takedas Hand, dann den Arm. Zuletzt schmiegte sie sich wie ein Kätzchen an den alten Mann.
Severus und Hermine waren baff.
Als Erste konnte Hermine fragen: „Was hat das zu bedeuten?“
„Das bedeutet wohl“, er blickte auf und lächelte, „dass die Quitte mich mag.“ Er umspielte mit dem Finger die kleinen Farbärmchen. „Ich sagte bereits, dass diese Pflanzen meine besondere Aufmerksamkeit erhalten haben. Einmal habe ich den Trank selbst eingenommen und bin im Gewächshaus ein wenig spazieren gegangen. Von keinem Halm und keiner Blüte wurde ich ignoriert. Alle streckte ihre Fühler nach mir aus.“
„Das ist unglaublich!“ Hermine war noch ganz hingerissen, doch Severus, durch den Ewigen See gegen euphorische Ausbrüche dieser Art gefeit, wollte es genauer wissen.
„Was erhoffen Sie sich davon, Professor Takeda? Dass diese Pflanzen magische Kräfte haben, das ist allgemein bekannt. Sie zeigen nur mit Hilfe des Trankes deren Farbe, aber das allein ist keine Meisterleistung.“
„Nein, das nicht“, stimmte Takeda zu. „Ich sagte anfangs ja, dass es Ihnen lapidar vorkommen könnte. Erst einmal ist erstaunlich, dass die Magie der Pflanzen, die nebeneinander wachsen, fest miteinander verschmilzt. Die Pflanzen, die ich später an einen anderen Standort gebracht habe, hinterließen eine klaffende Lücke im Magiekreis, die nicht sehr schnell heilte. Bei den restlichen Pflanzen konnte ich eine Abnahme der Wirkstoffe festmachen. Die verloren einfach an Kraft, weil ich ihnen einen Freund aus ihrer Mitte gerissen habe. Mit dieser Forschung befinde ich mich allerdings noch Entwicklungsstadium. Ich möchte Ihnen sehr gern zwei ganz andere Experimente zeigen. Folgen Sie mir.“
Takeda ging bereits nach vorn bis zur nächsten Tür und öffnete sie. Hier quakten Frösche und bei genauerem Hinsehen bemerkte Hermine den angelegten Teich, dessen Wasseroberfläche so glatt war, dass sie wie ein frisch gebohnerter Fußboden aussah.
„Hier habe ich meine Wasserpflanzen: Pfeilkraut, Tausendblatt und die Wasserfeder“, erklärte Takeda, während er jedes Mal auf entsprechende Pflanze deutete.
Severus schüttelte den Kopf. „Die haben allesamt keine magischen Kräfte.“
„Das dachte ich auch, Professor Snape. Kommen Sie doch etwas näher.“
Sie ließen sich direkt bis zum Teich führen. Die Wasserfeder zeigte ihre weißen Blüten, aber Magiefarben wies keine der Pflanzen auf. Erst als Takeda mit seinen Handrücken die Wasserfeder berührte, war ein leichtes gelbliches Glimmen zu sehen.
Mit hoch gehaltener Hand verbat sich Takeda alle Fragen, erklärte stattdessen von sich aus: „Keinesfalls alle nicht magischen Gewächse reagieren auf diese Art. Ich habe Tests mit anderen Pflanzen gemacht, denen man keine Kräfte zuschreibt, doch einige zeigen durchaus Magie, allerdings erst nach meiner intensiven Betreuung.“
„Das würde für die Kräuterkundler einen neuen Forschungskreis erschließen, was neue oder seltene Wirkstoffe betrifft.“ Hermine war völlig hingerissen. Neue magischen Eigenschaften, neue Wirkstoffe; es gab viel zu erforschen.
„Allerdings“, Takeda hob einen Zeigefinger, „müssen die Pflanzen ebenso besonders behandelt werden. Nur die Samen in die Erde zu stecken und zu bewässern bringt gar nichts – ich hab es versucht. Werden die Pflanzen sich selbst überlassen, entwickeln sie keine magischen Fähigkeiten. Berührt man sie aber täglich“, Takeda strich mit seinem Finger über den grünes bandförmiges Blatt des Pfeilkrauts, das daraufhin zu leuchten begann, „dann werden sie erweckt. Irgendwann ist die Magie der Pflanze so stark, dass sie keiner Betreuung mehr bedarf.“
Er deutete hinüber zur Wasserfeder, die von ganz allein magisch glühte, ohne dass man sie berühren musste. Eine nicht magische Pflanze, die Magiefarben zeigte.
„Das gleiche Phänomen kann man übrigens auch beobachten, wenn eine magische Pflanze neben einer wächst, die keine eigene Magie aufweist. Sie teilen sich die Magie. Ich habe leider noch nicht herausgefunden, ob die fremde Magie die der nicht magischen Pflanzen nur erweckt oder gar erst erschafft.“ Takeda ließ von der Pflanze ab und stand langsam auf.
Im Teich selbst bemerkte Hermine einige Fische.
„Das sind Kugelfische oder auch Pufferfische genannt“, erklärte er. Hermine fand sich sofort in ihre zweite Klasse versetzt, in der sie zum ersten Mal Pufferfischaugen als Zutat für einen Schwelltrank benutzt hatte. „Ich verwende die Fische allerdings nicht als Zutat“, bekannte der Japaner.
„Wofür dann?“, fragte Hermine neugierig, bevor ihr etwas einfiel. „Zierfische?“
„Nein, meine Haushälterin bereitet mir einmal im Jahr einen Fisch zu.“
Gerichte aus diesen Fischen konnten den Tod bedeuten, wenn sie nicht richtig zubereitet wurden. Das wusste selbst Hermine, die damals mit ihren Eltern in Yamaguchi ein Restaurant besucht hatte, dass für Kugelfischspezialitäten bekannt war. Takeda schien überhaupt nicht besorgt, dass er sich vergiften könnte.
„Sie macht es nun schon über vierzig Jahre“, schwärmte der über neunzig Jahre alte Mann, dem Hermine ansehen konnte – auf der Veranstaltung hatte sie es nur vermutet –, dass seine Haushälterin für ihn viel mehr bedeutete, als er zuzugeben bereit war. Takeda zwirbelte verträumt an seinem Bart, bevor er sich selbst wieder in die Wirklichkeit zurückholte. „Wenn Sie mir folgen würden? Gern möchte ich Ihnen die größte Augenweide bieten, die der Trank bisher in Pflanzen zum Vorschein gebracht hat.“
Takeda führte sie aus dem Gewächshaus hinaus und zurück ins sein eigenes Haus. Er nahm eine Treppe in den ersten Stock und Hermine und Severus folgten ihm. Oben trafen sie auf die Haushälterin, die gerade dabei war, ihrer künstlerischen Ader in Form von Ikebana nachzugehen, denn sie formte ein wunderschönes Blumengesteck. Es kristallisierte sich heraus, dass die lax als Haushälterin betitelte Dame eine Geisha höheren Alters war, mindestens an die sechzig Jahre. Als sie die Gäste bemerkte, stand sie auf und begrüßte Hermine und Severus mit einer sanften Verbeugung. Takeda führte die Gäste gleich darauf weiter. Aufgeregt zeigte er in eine bestimmte Richtung.
Weiter hinten führten nochmals Stufen hinauf, bis Takeda sie zu einem Balkon führte. Er brauchte nicht einmal zu sagen, was er ihnen zeigen wollte, denn es zeigte sich ihnen von selbst.
Die Aussicht war besonders bei eingebrochener Dunkelheit prachtvoll, denn Takedas Haus war von einem Bergwald umgeben. Der alte Zauberer hatte ganz offensichtlich einige der umliegenden Bäume mit dem Farbtrank behandelt, denn in etwa fünfzig von ihnen strahlen farbenfroh und erleuchteten den Abend. Hermine war hin und weg, doch Severus war von diesem Anblick überhaupt nicht gerührt.
„Was, außer dass man die Farben sehen kann, hat dieser ausladend flächendeckende Test hervorgebracht?“, wollte Severus wissen. Er verstand einfach nicht, warum allein der Anblick sich lohnen würde, wo er doch keine Neuigkeiten lieferte.
„Einen Moment“, bat Takeda, bevor er zur Tür zurückging und in den Flur rief, „meine Gute, scheuch doch bitte mal die Vögel am Gartenteich auf.“ Takeda gesellte sich wieder zu ihnen und legte erwartungsvoll die Hände auf die Balustrade. „Ich besitze im Garten eine große Vogeltränke, die gern und häufig besucht wird.“
„Lassen Sie mich raten“, nahm Severus ihm vorweg. „Das in der Tränke enthaltene Wasser besteht auch zu einem gewissen Teil aus dem Farbtrank.“
„Ganz recht, Professor Snape. Warten Sie ab, bis die Vögel über die Bäume fliegen.“
Schon ohne Vögel schwebte Hermine im siebten Himmel. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, dass ihre Erfindung so eine Schönheit hervorrufen konnte, dachte sie, als sie die fest miteinander verschmolzene Magie der nebeneinander gewachsenen Bäume betrachtete. Würde man auch nur einen fällen, bliebe sicherlich eine klaffende Lücke zurück, wie Takeda es bei den Sträuchern bemerkt hatte. Die Natur war eins. Die Bäume wuchsen in der Regel ihr Leben lang an nur einer Stelle, verbanden sich deshalb fest mit der Magie ihrer Umgebung, mit den anderen Bäumen, mit den Gräsern auf dem Boden oder selbst mit den Pilzen an ihrem Stamm, vielleicht sogar mit den Tieren.
In diesem Moment hörte man einen Knall, woraufhin nur Hermine zusammenfuhr. Severus hingegen schaute zwar skeptisch drein, hatte sich jedoch nicht erschrocken.
„Jetzt kommt das, weswegen ich Sie eigentlich eingeladen hatte“, kündigte Takeda mit funkelnden Augen an, mit denen er sehr an Albus erinnerte. Schon kam der erste Vogel um die Ecke geschossen und steuerte den Wald an – ihm folgten noch unzählige andere, ein ganzer Schwarm. Alle Vögel leuchteten genauso hell wie die Bäume, aber das Fantastische war, dass die Magie der Bäume sich lang machte. Als die aufgeschreckten Vögel dicht über die Wipfel flogen, da streiften sie die magischen Auswüchse, die sich ihnen wie Blitze in Zeitlupe von unten entgegenstreckten. Es sah aus, als würden die Vögel auf der Magie der Bäume treiben; wie ein Stück Holz auf dem Wasser. Es zeigte aber auch, dass die Magie nicht vom Menschen abhängig war, sondern auch ohne dessen Nähe auf die Umgebung reagierte.
„Es gibt Vögel, die haben ihre Lieblingsbäume.“ Verzückt blickte Takeda über die stabile Balustrade aus Bambus hinunter zu dem Regenbogen bei Nacht.
‘Nacht?‘, dachte Hermine.
Laut fragte sie: „Wie spät ist es?“ Ein Blick auf die eigene Uhr verriet, dass es gerade mal 17 Uhr war.
„Es ist knapp ein Uhr nachts“, antwortete Takeda gelassen, denn die späte Uhrzeit schien ihn nicht zu stören.
„Ach herrje.“ Hermine hielt sich eine Hand vor den Mund. „Ich habe die acht Stunden Zeitverschiebung ganz vergessen.“ An Takeda gewandt entschuldigte sie sich: „Verzeihen Sie, dass wir Sie so spät aufgesucht haben.“
„Ihre Sorge ist vollkommen unbegründet, Miss Granger. Selten komme ich vor 3 Uhr nachts ins Bett.“ Er lächelte verschmitzt. „Das ist einer der positiven Aspekte des hohen Alters. Man benötigt viel weniger Schlaf. Die Zeit nutze ich für meine Forschung und für …“ Takeda hielt inne, blickte jedoch einmal zur Tür, hinter der sich seine „Haushälterin“ aufhielt.
Nach mehr als einer halben Stunde konnte Hermine trotz Severus‘ Umhang und einem Wärmezauber den frischen Wind nicht mehr ertragen. Er hatte ihr die Haare völlig zerzaust. Takeda bat ihnen drinnen ein warmes Getränk an, das ihnen von der Dame des Hauses serviert wurde. Zumindest sah Hermine die Frau als Dame des Hauses, obwohl Takeda alles daran zu setzen schien, ihre eigentliche Rolle strikt von der offiziellen zu trennen.
„Ich kann es kaum erwarten, bis Sie die ersten Berichte fertig haben.“ Hermine strahlte über das ganze Gesicht. „Das war jetzt schon umwerfend. Danke, Professor Takeda, dass Sie uns den Portschlüssel geschickt haben.“
Man unterhielt sich über die vielen Forschungsmöglichkeiten an Pflanzen, Tieren und auch an Menschen, denn das Schönste war, dass Hermines Farbtrank keinerlei Wirkstoffe beinhaltete, die mit Vorsicht zu genießen waren. Ihn einzunehmen war so gefährliche wie zum Frühstück eine Schale Müsli mit frischen Früchten zu verzehren. Auch wenn Hermine anfangs bei der damals noch stillenden Ginny Bedenken gehabt hatte, ihr den Trank zu geben, war vom Ministerium schon bei der Patentanmeldung, die netterweise Severus übernommen hatte, festgestellt worden, dass der Farbtrank gesundheitlich vollkommen unbedenklich war.
Takeda erzählte gerade eine Geschichte zu Ende, deren Inhalt Severus‘ aufgrund Hermines wärmender Hand an der seinen nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet hatte.
„… haben sich alle, die ich angeschrieben habe, bereit erklärt, sich mit Ihnen in Verbindung zu setzen.“
Severus blinzelte. Wen hatte Takeda angeschrieben und wozu sollen die sich bereit erklärt haben? Um zusammen Blumen zu flechten oder gar Gemeinschafts-Seppuku zu begehen? Severus‘ geistige Abwesenheit war dem Gastgeber nicht entgangen. Takeda half ihm gern auf die Sprünge, indem er den Inhalt mit anderer Satzstellung wiederholte, um nicht auf die geschwächte Konzentration seines Gastes zu sprechen zu kommen.
„Sie können also in Zukunft mit einigen persönlichen Eulen meiner Bekannten rechnen, die alle den Farbtrank für die Forschung bestellen möchten.“
„Ah“, machte Severus erleichtert, weil er den Faden wiedergefunden hatte. Er wollte gerade die Situation retten, indem er eine kluge Bemerkung machte, da drückte Hermine seine Hand – wegen des bevorstehenden Umsatzes für die Apotheke oder möglicherweise, weil sie die Nähe zu ihm genoss –, weswegen ihm seine Worte im Hals steckenblieben.
Takeda grinste. „Das verschlägt einem die Worte, nicht wahr?“
Die gewollte Zweideutigkeit war nicht zu überhören, aber auch nicht zu übersehen, dachte Severus, denn Takedas Blick war einen Moment zu lange auf seine Hand gerichtet; auf die, die Hermine hielt. Severus versuchte sich ins Gedächtnis zurückrufen, ob sie in der Zeit zwischen Balkon und Bambussofa auch einmal losgelassen hatte, doch er musste verneinen. Hermine hingegen bejahte, jedoch es war Takedas Aussage, der sie ihre Zustimmung gab. Von dem Besuch hier war sie sehr angetan, besonders aber von den vielen Interessenten. Sie lächelte bis über beide Ohren, als sie sich verabschiedete.
„Vielen Dank, Professor Takeda. Besonders möchte ich Ihnen danken, dass Sie andere Forscher auf den Trank aufmerksam gemacht haben.“
„Es ließ sich vor meinen Bekannten schlecht verbergen, dass mein Gewächshaus einen Klecks Farbe erhalten hat. Ich danke Ihnen für Ihren Besuch. Wenn Sie mir nach unten folgen würden?“ Takeda stand auf und ging langsam zur Treppe hinüber, winkte beide zu sich. „Ich werde Ihnen einen Portschlüssel geben, der Sie wohlbehütet wieder nach nachhause bringt.“
Unten stand die Dame des Hauses. Mit beiden Händen präsentierte sie Hermine ein Geschenk. Es war ein Blumengesteck mit moosüberzogenen Kiefernästen, Quittenblüten und Farnen, das sie verzückt entgegennahm.
„Das ist der Portschlüssel, der aktiviert wird, sobald Professor Snape ihn berührt. Natürlich können Sie das Geschenk behalten. Es ist danach wieder ein ganz normaler Gegenstand“, erklärte Takeda.
Man verabschiedete sich mit netten Worten, bevor Severus nach dem wie eine Miniatur-Chaiselongue aussehenden Töpfchen griff, aus dem ein hübsch gestaltetes Blumenkunstwerk ragte.
Im Nu befanden sie sich in der Küche der Apotheke wieder. Einzig das Blumengesteck in Hermines Hand zeugte von ihrem gemeinsamen Trip nach Japan.
„Das war einfach umwerfend!“ Von dem Besuch bei Takeda war Hermine hellauf begeistert und das würde auch noch eine Weile so bleiben.
„Seine Ergebnisse zeigten zumindest eine Richtung, der man sich auf wissenschaftlichem Gebiet annehmen sollte. Wenn man die Wirkstoffe einer Pflanze tatsächlich durch Magie beeinflussen kann, erstreckt sich die Forschung ins Unermessliche.“
„Ich bin mir sicher, dass wir eine Pflanze finden werden, mit der man die Auswirkungen des Ewigen Sees rückgängig machen kann.“
Ihre Zuversicht hatte ihn an etwas ganz anderes erinnert. Er schien regelrecht aufgescheucht, blickte sich um und fand endlich Worte, wenn auch knappe.
„Ich muss gehen!“
„Was? Severus, warum so plötz…“
„Die Erinnerungen sind noch bei Harry! Ich werde sie holen.“
Er stürmte hinauf ins Wohnzimmer, um den Kamin zu nutzen. Sie war ihm gefolgt.
„Er hat bestimmt nicht reingesehen, Severus.“
„Davon möchte ich mich gern selbst überzeugen.“
Dem geworfenen Flohpulver folgte grüner Rauch und weg war er. Hermine seufzte.
Severus war in seinen Kerkern angekommen und stürzte zur Tür hinaus auf den Flur, rempelte dabei einen Schüler seines Hauses an, der mit seinen Klassenkameraden gerade auf dem Weg zum Abendessen war. Besonders im Erdgeschoss waren eine Menge Schüler anwesend, die Severus ignorierte, denn ihn interessierten nur sein als Erinnerung zurückgelassenes Leben, das momentan ungeschützt in Harrys Denkarium schwamm. Der Gedanke daran, dass jeder von Harrys Freunden dort hineinsehen könnte, brachte ihn dazu, die Beine in die Hände zu nehmen.
Ohne anzuklopfen öffnete er die Tür zu Harrys Räumen, doch er fand niemanden vor, der neugierig seine Nase ins Denkarium gesteckt hatte. Stattdessen – und deswegen hielt Severus inne und blickte das Tier verwundert an – weinte der Phönix. Dessen Tränen wurden von einem Glasschälchen aufgefangen, das man an der Stange befestigt hatte. Der Vogel sah grauenvoll aus. Das verblasste Gefieder war gerupft, der Körper wies kahle Stellen auf. Es war an der Zeit, dachte Severus, dass der Phönix sich erneuerte. Ein Blick ins Denkarium verriet ihm, dass die Erinnerungen noch immer darin schwammen, also nicht gestohlen wurden. Trotzdem wollte er wissen, ob Harry sie sich angesehen hatte. So dachte er sich nichts dabei, in seiner Wut über die eigene Achtlosigkeit ins Schlafzimmer zu eilen.
Vollständig angezogen lag Harry mit dem Rücken zu ihm auf dem Bett, umarmt von …
„Was fällt Ihnen ein?“, keifte Ginny so leise wie möglich, denn anscheinend schlief Harry. „Sie können nicht einfach in private Räume gesaust kommen.“ Severus fand keine Gelegenheit, das Wort an Harry zu richten, denn Ginny war bereits aufgestanden und schoss auf ihren Zaubertränkelehrer zu. „Raus!“ Sie hatte den Mut, ihn am Oberarm zu packen und hinauszudrängen.
Im Wohnzimmer kam er endlich dazu, etwas zu sagen. „Miss Weasley, ich bin lediglich gekommen, um zu holen, was mir gehört.“
„Bitte“, sie deutete auf das Denkarium, „da finden Sie alles. Das ist kein Freifahrtschein, um unsere Privatsphäre zu verletzten. Nehmen Sie‘s und gehen Sie.“
„Aber …“
Ginny war bereits zurück ins Schlafzimmer gegangen. Die langhalsige Phiole stand noch immer auf dem Boden neben dem Becken, so dass er gleich damit begann, seine Erinnerungen herauszufischen.
Im Schlafzimmer legte sich Ginny, obwohl es nicht einmal 18 Uhr war, zurück zu Harry ins Bett. Sofort fanden seine Arme um ihre Taille. Harry war hellwach, war er eben schon, als Severus hereingestürzt kam. Sie rutschte näher an ihn heran und wischte eine Strähne aus dem verweinten Gesicht, gab ihm danach einen Kuss auf die Stirn. Harry schluchzte leise, so dass sie seinen Kopf an ihre Brust drückte und ihm mit der Hand zärtlich über die Haare fuhr. Sie war für ihn da, auch wenn sie nicht wusste, was er erlebt hatte. Geredet hatte Harry noch nicht, seit sie ihn vor zwei Stunden am Denkarium fand, mit der Nase tief in die Erinnerung eingetaucht, die zuvor schon Hermine angeschaut hatte. Im ersten Augenblick wollte sie ihn dort wegreißen, wollte ihn dafür ausschimpfen und fragen, was er sich dabei dachte, doch sie ließ ihn letztendlich gewähren. Gestern Abend hatte Harry bereits die Gelegenheit gehabt, ungestört den Grund für Hermines beeinträchtigten Zustand herauszufinden, doch erst heute hatte er sich dazu entschlossen, einen Blick hineinzuwerfen. Er hatte es nicht unüberlegt getan.
Während Ginny vorhin noch neben ihm gewartet hatte, war ihr aufgefallen, dass Harry, trotzdem er sich die Erinnerung anschaute, hörbar weinte, ganz genau wie Hermine am Vortag. Was gestern Abend nur Harry und sie bemerkt hatten, war heute wieder eingetreten. Fawkes war gestern schon von der emotionalen Entladung Hermines so gerührt gewesen, dass er weinen musste. Diesmal, als er auch bei Harrys Rührung Tränen vergoss, hatte sie dem Phönix ein Schälchen bereitgestellt. Es wäre eine Schande, solch wertvollen Tränen ins Nichts fallenzulassen.
Die Erinnerungen von Severus hatte Harry sich bis zum Ende angesehen, bevor er genauso übermannt wie Hermine von dem Becken abließ und hemmungslos weinte. Ginny hatte ihn ins Bett gebracht und ihm Trost gespendet. So hatten sie zusammengelegen, bis Severus den Frieden gestört hatte.
Draußen hörte man eine Tür ins Schloss fallen.
Durchs viele Weinen fragte Harry näselnd: „Ist er weg?“
„Ja.“
Er schmiegte sich nur noch dichter an sie an und vergrub seinen Kopf in ihrer Halsbeuge.
„Harry?“
Er war es ihr schuldig, zumindest einen Hinweis auf das zu geben, was er erfahren hatte, weswegen er flüsternd erklärte: „Ich hab meine Eltern gesehen. Und Sirius, wie er …“ Harry wurde von seiner stockenden Atmung geschüttelt, so dass sie ihm beruhigend über den Kopf strich.
„Du hättest es dir nicht ansehen sollen“, sagte sie mit einem fast unhörbaren Vorwurf in der Stimme.
„Ich dachte, sie hätten es mit Absicht bei mir gelassen, damit ich es mir ansehen kann“, rechtfertigte sich Harry zwischen seinen Schluchzern.
„Sie werden es nur vergessen haben, beide.“
Ginny zog die Bettdecke über Harry, auch wenn er noch seine Kleidung trug. Ihre warmen Lippen liebkosten sein Gesicht, die Schläfen, die Stirn, die Nase. Allmählich beruhigte er sich, auch wenn er für einen Moment daran denken musste, wie es wäre, auf ihre Liebe verzichten zu müssen. Was wäre, wenn er sie weiterhin liebte, sie aber nichts von ihm wissen wollte? Er würde vergehen, soviel stand für Harry fest. Mit diesem Gedanken war es leicht, sich in seinen Kollegen und Freund hineinzuversetzen.
Eine Etage unter Harry und Ginny fand sich Severus wieder in seinen Räumen ein. Die Phiole mit den Erinnerungen verstaute er wie zuvor in dem Geheimversteck an der Decke seines Büros und schützte es erneut mit Flüchen. Die Erinnerungen wieder in sich aufzunehmen, dazu war er nicht bereit; noch nicht. Eines Tages, wenn er sich sicher sein durfte, es zu ertragen, würde er die silberne Flüssigkeit aus dem langhalsigen Behältnis wieder in seinen Kopf zurückfließen lassen, doch die Zeit war noch nicht gekommen.
Immer wieder schwirrten seine Gedanken um die Geschehnisse des Vorabends und des heutigen Tages. Hermine hatte alle Schlüsselmomente seines Lebens gesehen und war trotzdem – oder gerade deswegen – fest entschlossen, ihm weiterhin zur Seite zu stehen, ihm zu helfen. Sie würde nachforschen und nach Wegen suchen, seinen Seelenkern zum Wachsen zu bringen. Dabei schien es ihr egal zu sein, wie viel Zeit sie investieren müsste. Von ihrem Enthusiasmus angesteckt, selbst nach einem Weg zu suchen, widmete er sich seinen Unterlagen, die er aus einer nicht sichtbaren Geheimschublade seines Schreibtisches entnahm. Im Laufe der Zeit hatten sich viele Zetteleien, Berechnungen und Theorien angesammelt, die er aufgrund der übermannenden Gleichgültigkeit, die dem Ewigen See zuzuschreiben war, selten bis zum Ende verfolgt hatte. Sein Eifer hatte sich stets in Grenzen gehalten. Es war ihm gar nicht mehr wichtig gewesen, für sein Seelenheil zu sorgen, denn es bedeutete ihm nichts mehr. Jetzt, wo Hermine sich so hingebungsvoll seinem Problem widmete, war auch er der Überzeugung erlegen, dass es eine Lösung geben musste, auch wenn die erst noch entdeckt werden wollte. Severus wollte eine Lösung, damit er wieder so empfinden konnte wie gestern. Er wusste, dass er dazu imstande war und er wollte diese Gefühle zurückhaben.
Die alten Unterlagen – die letzten davon von dem Tag stammend, an welchem Hermine sich beinahe in seinen schwarzen Büchern verloren hatte – versprachen aufs Neue Hoffnung. Hoffnung, die Hermine in ihm schürte. Er ging sie durch, die alten Theorien und Kalkulationen, nur um festzustellen, dass Hermine mit dem, was sie gesagt hatte, Recht behalten sollte. Er hatte immer nur nach einer Möglichkeit gesucht, die Teile seiner Seele wiederzufinden und zusammenzufügen. Nie war er von diesem Gedanken abgekommen. Hermine dachte anders als er. Sie versteifte sich nicht auf eine einzige Theorie, sondern stellte völlig neue auf. Nie im Leben hätte er einen Gedanken daran verschwendet, ob seine Seele nicht einfach wieder wachsen könnte. Neue Berechnungen mussten her. Severus nahm sich Pergament und Feder, wälzte abermals Bücher und suchte nach Pflanzen und tierischen Zutaten, die dazu in der Lage waren, Wachstum herbeizuführen, auch dort, wo eigentlich keiner vorgesehen war.
So fand Hermine ihn vor, als sie ihn am gleichen Abend noch besuchte. Severus hatte seine große Nase in ein Buch gesteckt und bemerkte Hermine erst, als sie sich räusperte. Er blickte auf.
„Oh“, machte er erstaunt. Er hatte heute nicht mehr mit ihr gerechnet. „Was verschafft mir die Ehre?“
„Vermisst du nichts?“, fragte sie zurück.
Severus war sich unsicher, ob sie damit ihre Anwesenheit meinte, denn da musste er bejahen – er vermisste sie.
„Ich meine deinen Hund.“ Sie schaute nach unten und Severus musste sich über seinen Schreibtisch beugen, um Harry sehen zu können, der brav neben Hermine Platz gemacht hatte. „Du warst so schnell weg …“ Ihr Blick fiel auf die Bücher und auf seine Aufzeichnungen. „Was soll das werden?“
„Recherche“, gab er sehr präzise und bündig als Antwort.
Der Hund legte sich ruhig auf den Boden, nachdem Hermine die Leine losgelassen hatte. Sie ging um den Schreibtisch herum und blickte Severus über die Schulter. Im ersten Moment war es ihm unangenehm, denn er wurde dadurch nervös; genauso nervös wie damals im Zaubertränkeunterricht bei Slughorn, wenn Lily ihm über die Schulter geschaut hatte, um sich seine Tricks abzugucken. Es wäre außerdem möglich, dass er in Hermines Augen wieder einmal in die falsche Richtung recherchierte, doch ihr Interesse an der Textstelle, die er sich gerade zu Gemüte führte, schien groß. Unsicher schob er das Buch zu ihr hinüber, damit sie besser lesen könnte. Mit einem Wutsch seines Stabes beförderte er einen zweiten Stuhl an den Schreibtisch, damit sie sich neben ihn setzen konnte. Wenn Hermine so still war wie jetzt, dann widmete sie sich konzentriert dem Gelesenen.
„So etwas in der Richtung habe ich mir vorgestellt“, murmelte sie, während sie noch den letzten Satz des Kapitels zu Ende las. Sie blickte auf und sah ihm in die Augen. „Haben Sie …“ Sie verbesserte. „Hast du noch mehr solche Bücher? Über Pflanzen habe ich kaum welche. Ich würde am liebsten einen Pflanzenbauwissenschaftler und Herbologen hinzuziehen“, er riss seine Augen weit auf, „aber das möchtest du ja nicht. Trotzdem …“
„Nein, das wird nicht notwendig …“
Sie machte es ihm nach und unterbrach ihn. „Doch, es ist notwendig, aber ich werde alles auf einer theoretischen Basis behandeln. Niemand wird erfahren – das verspreche ich dir –, dass es um dich geht. Wir haben Takeda als Herbologen, aber die künftige Korrespondenz beschränkt sich auf Briefverkehr. Die Eulen tun mir jetzt schon leid. Ich kann mir einen regelmäßige Portschlüssel nach Japan aber einfach nicht leisten.“ Die wurden nämlich, das wusste Severus natürlich, in der Regel beim Ministerium beantragt und bezahlt. „Wir haben doch vor Ort sehr fachkundige Herbologen.“ Hermine blickte einen Moment nachdenklich auf das Buch. „Ich werde Neville meinen Trank geben. Er soll damit forschen. Der Vorteil ist, dass die Pflanzen dank seines Düngers extrem schnell wachsen.“
„Er wird Fragen stellen“, gab Severus zu bedenken.
„Nicht wenn ich ihn bitte, keine zu stellen.“
„Aber …“ Ihm fiel nichts ein, mit dem er ihr diese Idee ausreden könnte, weswegen er resignierend seufzte.
„Das wäre doch perfekt“, wollte sie es ihm schmackhaft machen. „Die Gewächshäuser von Hogwarts sind für uns schnell zu erreichen. Neville macht es bestimmt. Für ihn wäre die Arbeit mit dem Farbtrank etwas Neues, das er sicher gern macht.“ Einen Moment lang knabberte sie an ihrem Daumennagel, bis sie eine weitere Idee hatte. „Wenn ich wegen der Arbeit nicht dazu komme, kann Poppy die Pflanzen auf ihre Wirkstoffe testen. Das geht relativ fix; dafür gibt es Aufschlüsselungszauber, die man als Heiler lernt.“
„Du kannst auch mir diese Sprüche beibringen, dann mach ich das.“
Seine Angst, zu viele Menschen könnten in die Forschung involviert werden, ließ ihn vorsichtig werden. Auch wenn er Poppy mochte und schon kannte, bevor er überhaupt Hogwarts besucht hatte, wollte er sie nicht mit einbeziehen.
„Was hast du gegen Poppy?“
„Ich habe nichts gegen sie“, rechtfertigte er sich gnatzig. „Ich will nur nicht, dass jeder …“
Sie fuhr ihm über den Mund. „Was heißt denn hier ‘jeder‘?“
„Es sind schon viel zu viele Menschen, die davon wissen. Von mir, meine ich.“
„Das ist nicht wahr, Severus.“
„Ach nein?“, fragte er spottend. „Wer ist es denn, der bereits eingeweiht ist? Das musst du am besten wissen, wo du es doch warst, die damit hausieren ging.“
Hermine war ein wenig beleidigt, zählte dennoch auf: „Harry, Draco, Ron“, Severus verzog bei dem letzten Namen das Gesicht, „Albus, na ja und Remus auch.“
Severus presste die Lippen zusammen. „Sind das alle?“
Sie legte den Kopf schrägt und musterte ihn. „Neville und Pomona ahnen etwas, aber alles, was sie wissen könnten, haben sie allein herausgefunden. Zumindest was den Ewigen See betrifft. Pomona, Neville und Remus haben nämlich den Gespenstischen Steinregen besorgt und für was der benutzt werden kann, ist den beiden Kräuterkundlern bewusst.“
„Na wunderbar“, murmelte Severus missgelaunt. „Sonst noch wer?“
„Ginny konnte sich das Meiste selbst zusammenreimen.“
„Fantastisch!“ Severus war wütend. „Vielleicht sollten wir einfach einen Aushang am schwarzen Brett anbringen? Vielleicht findet sich auf diesem Wege schneller eine Lösung?“
Diesmal seufzte Hermine. „Ich habe doch versprochen, dass nur noch wir beide uns darum kümmern werden. Trotzdem werde ich in Bezug auf Pflanzen andere Menschen kontaktieren müssen. Ich werde jedenfalls nicht noch meinen Meister in Kräuterkunde machen, damit wir wirklich alles allein bewerkstelligen können!“
Gerade wollte er ihr einige Boshaftigkeiten an den Kopf werfen, da machte ihn ihre Hand auf seinem Unterarm mundtot. Er rang erst nach Worten, dann nach Luft, bevor er nachgab und nickte. Hermine behielt Recht, denn in Bezug auf Pflanzen und verborgene Wirkstoffe war auch er nicht sehr bewandert. Unter seiner Aufsicht würde wahrscheinlich sogar ein Kaktus eingehen, obwohl der nur selten gegossen werden musste.
„Ach, das habe ich noch gar nicht erzählt“, begann Hermine und erhielt damit sofort seine volle Aufmerksamkeit. „Als ich die Eingänge vom Ministerium durchgegangen bin, habe ich bemerkt, dass mich jemand um drei Wolfsbanntränke geprellt hat. Das ist mir ein Rätsel, wo ich doch jeden Ausweis unterschrieben habe. Laut Ministerium sind drei Unterschriften von mir nicht angekommen. Ich habe auch schon eine Ahnung, wer das gewesen sein könnte.“
„Und wer bitteschön?“
„Mr. Doppel-X. Er hat bei der Anmeldung nicht mit Namen unterschrieben. Nachdem er seine Tränke eingenommen hat, stand er jedesmal, als ich den Pass unterschrieben habe, am Fenster und hat sich sehr auffällig geräkelt.“
„Er hat jemandem ein Signal gegeben“, vermutete Severus ganz richtig.
Sie nickte. „Das denke ich auch. Keine Ahnung, ob er beim nächsten Mal wieder zu mir kommt.“ Sie lächelte ihn verschmitzt an. „Wenn ja, dann könntest du vielleicht draußen vor meinem Schaufenster mal die Augen aufhalten und herausfinden, für wen diese Zeichen bestimmt sind?“ Sie drückte seinen Unterarm. „Ich kann mir niemanden vorstellen, der für diesen Job besser geeignet wäre.“
Der Anflug eines Lächelns war auf seinem Gesicht zu erkennen, als er das versteckte Kompliment in Bezug auf seine Observations-Techniken herausgehört hatte.
„Was war eigentlich mit den Erinnerungen? Waren sie noch bei Harry?“
Er nickte. „Ich habe sie wieder an mich gebracht.“
„Hat er sie sich angesehen?“
Severus hob und senkte die Schultern. „Die Möglichkeit hätte er gestern und heute gehabt. Ich weiß es nicht.“ Einen Moment lang haderte er mit sich, bevor er ihr ein Detail schilderte. „Der Phönix hat Tränen verloren.“
„Fawkes hat geweint?“, fragte sie nach, woraufhin er nickte. „Warum?“
„Ich weiß es nicht.“
„Vielleicht wird er bald brennen?“, murmelte sie gedankenverloren, denn sie musste plötzlich an die Prophezeiung denken. „Meinst du, der Phönix hat mit dem zu tun, was Trelawney vorhergesagt hat?“
„Was habe ich mit diesem Vogel zu schaffen? Er müsste schon in meinen Armen Feuer fangen, damit seine Erneuerung etwas mit mir zu tun haben könnte.“
„Darf ich es nochmal sehen?“
Irritiert fragte er nach: „Was?“
„Das dunkle Mal.“
Er zögerte erst, löste jedoch den Manschettenknopf an seinem Handgelenk, bevor er den linken Unterarm freimachte. Ganz genau betrachtete sie das leicht verblasste Symbol. Es bestand aus schwarzer Magie, konnte also weiterhin sinnbildlich mit dieser dunkelsten aller Farben bezeichnet werden. Die Haut an seinem Unterarm war weiß und sie bemerkte die blauen Adern, die sich sichtbar unter ihr abzeichneten.
„Ich wünschte, es würde vollends verblassen“, gab er mit zittriger Stimme zu.
„Und genau das“, Hermine fuhr mit ihren Fingern über das Mal, „ist laut Prophezeiung nicht möglich. Man kann es nicht fort wünschen.“ Sie bemerkte die Gänsehaut an seinem Unterarm und ließ von ihm ab. „Sag mir bitte Bescheid, wenn du Veränderungen bemerkst.“
„Was für Veränderungen?“
„Falls es plötzlich brennt oder Farbe und Form anders sind.“
„Falls es brennen sollte, müssten wir uns in der Tat Gedanken machen, denn das würde bedeuten, ‘er‘ wäre zurückgekehrt.“
„Das wird nicht passieren.“
„Dann wird es auch nicht brennen können, Hermine.“
„Aber dann macht die Prophezeiung überhaupt keinen Sinn!“
„Was Sibyll allgemein von sich gibt, macht häufig keinen Sinn“, winkte er lapidar ab.
„Die Prophezeiung, die sie Albus gemacht hat …“
Hermine verstummte. Natürlich wusste er aus eigener Erfahrung, dass diese Prophezeiung wahr geworden war. Sie wollte ihn wirklich nicht daran erinnern, dass er die Hälfte davon an Voldemort weitergegeben hatte. Es war jedoch längst zu spät. Er dachte daran, wie auch sie daran denken musste.
„Was …“ Severus musste sich räuspern. „Was hältst du von dem, was du gestern gesehen hast?“ Er klang sehr unsicher, wollte dennoch ihre Meinung hören.
„Ich weiß nicht“, murmelte sie, doch so wie er sie anstarrte, verlangte er eine Antwort, die sie ihm mit zarter Stimme gab. „Ich werde mir kein Urteil erlauben, Severus. Das steht mir überhaupt nicht zu.“
Irgendeine Haltung musste sie haben, dachte er. „Aber ich habe die Prophezeiung weitergegeben!“
„Von der du nicht einmal wusstest, wen sie betreffen würde, geschweige denn, ob sie sich überhaupt erfüllen könnte.“
„Aber …“
„Severus, das ist Vergangenheit! Nichts davon lässt sich rückgängig machen. Ich möchte nicht einmal darüber nachdenken, was passiert wäre, wenn Voldemort Harry nicht als Ebenbürtigen gekennzeichnet hätte. Wahrscheinlich wäre dann niemand in der Lage gewesen, ihm das Handwerk zu legen.“
Hermine atmete kräftig ein und aus, unterdrückte dabei die Gefühle, die in ihr aufkamen, als sie in Gedanken den weinenden Harry neben seiner Mutter sitzen sah. Wenn sie der Anblick schon so mitgenommen hatte, würde Harry ihn nur schwerlich ertragen können, aber zum Glück hat er seiner Neugierde nicht nachgegeben, glaubte Hermine.
„Meinst du, ich dürfte mir Bücher aus der Bibliothek ausleihen?“
Severus verneinte. „Pince hat schon gemeutert, als du noch nicht offiziell meine Schülerin warst. Ich nehme an, sie wird dir das Ausleihen von Bücher nicht gestatten.“
„Oh, na dann werde ich mir wohl ein paar kaufen müssen.“ Sie rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. „Ich werde gehen. Nach dem Abendessen in der großen Halle wollte ich noch mit Neville sprechen.“ Von Severus kam kein Widerspruch, auch wenn sie ihm ansehen konnte, dass er davon nicht sehr begeistert war. „Kommst du morgen nach dem Unterricht vorbei?“
Hier blickte er sie interessiert an. „Natürlich.“
Seine schnelle Antwort ließ sie erleichtert lächeln. „Prima, dann sehen wir uns gegen 15 Uhr?“
Gerade stand sie auf, da bat er sie, nochmals Platz zu nehmen. Aus einer Schublade holte er die lederne Mappe, die er ihr in die Hand drückte. Neugierig öffnete sie den Deckel. Ihr Vertrag offenbarte sich ihr. Ganz unten fand sie seine Unterschrift.
„Das ist …“ Ihr fehlten einen Augenblick die Worte. „Ich freue mich so, Severus. Das habe ich mir gewünscht, seit ich die Apotheke habe.“
„Tatsächlich?“, fragte er erstaunt nach.
„Ja, wirklich! Es hat keinen Spaß gemacht, alleine zu brauen. Ich habe unsere Zusammenarbeit wirklich vermisst, Severus.“
„Du wirst noch bis Ende Juni auf meinen vollen Arbeitseinsatz verzichten müssen. Ich möchte nicht mitten im laufenden Schuljahr gehen und Albus in die Verlegenheit bringen, keinen Ersatz für mich zu haben. Mir liegt daran, dass meine Schüler ausnahmslos ihre UTZe mit Bestnoten abschließen. Jede andere Note würde auf mich zurückfallen.“
„Wann geht es mit den ersten Prüfungen los?“
„Übernächste Woche. Ich bin mir sicher, dass ich die eine oder andere Stunde meiner Freizeit damit verbringen werde, den Schülern noch einige wichtige Informationen einzubläuen. Drück mir die Daumen, dass Mr. Foster alle Prüfungen besteht. Ich hatte mich nach der Wiedereröffnung der Schule dafür eingesetzt, dass der junge Mann zwei Klassen überspringt und gleich mit der siebten beginnt. Er wäre der jüngste Schulabgänger Hogwarts‘.“
„Das hört sich vielversprechend an. Ich vertraue auf dein Urteil. Er wird es bestimmt schaffen.“ Überglücklich drückte sie die lederne Mappe mit dem unterschriebenen Vertrag an ihre Brust und stand auf. „Ich werde jetzt nach Neville suchen. Wir sehen uns morgen.“
„Bis morgen, Hermine.“ Der Hund folgte ihr bis zur Tür, was Hermine erstaunte. „Nein Harry, du bleibst hier“, brachte sie dem Tier mit sanfter Stimme bei. Severus rief den Hund zu sich und der parierte sogar.
Da sie schon hier unten in den Kerkern war, suchte Hermine den Bereich der Hufflepuffs auf, wo auch Nevilles und Pomonas Räumlichkeiten lagen. Die befanden sich ganz in der Nähe der Schulküche neben einem Gewölbekeller, gleich neben dem Gemeinschaftsraum der Hufflepuffs. Ein Erstklässler mit einem Stück Kuchen vom Abendessen in der Hand fragte Hermine höflich, ob er helfen könnte. Von ihm erfuhr sie, dass Professor Sprout und ihr Auszubildender bei den Gewächshäusern wären.
In Gewächshaus Nummer vier traf sie Neville an, aber nicht Pomona war bei ihm, sondern Luna, die sich eine Blume mit vielen rosafarbenen Kronblättern ansah, die alle einseitswendig von dem Stängel nach unten hingen. Ganz unten an den Blüten befand sich eine weiße Spitze. Luna schien von dieser Blume ganz verzaubert, so dass sie Hermine erst wahrnahm, als sie beide grüßte.
„Hermine“, grüßte Neville mit breitem Lächeln, „was führt dich her? Kann ich wieder etwas für dich anpflanzen?“
„Nein, nichts Spezielles, aber du kannst gern meinen Trank mit den Gewächsen testen, die du bereits angepflanzt hast.“
Da Neville den Sinn ihrer Worte nicht verstand, erzählte sie ihm von dem Farbtrank und dass viele Menschen, auch Kräuterkundler, gegen Bezahlung damit forschten. Ihr farbenprächtiges Erlebnis bei Takeda ließ sie nicht aus. Neville bekam ganz glänzende Augen.
„Und ich darf damit auch Experimente machen?“, fragte er aufgeragt. Als Hermine nickte, war er vollends begeistert, doch dann wurde sein Gesicht wieder ernst. „Hermine“, stammelte er verlegen, „ich habe kein Geld, um den Trank bezahlen zu können.“
„Wer hat denn gesagt, dass du dafür bezahlen musst?“ Aufmunternd zwinkerte sie ihm zu. „Du kannst testen, so viel zu möchtest. Dann und wann hätte ich bestimmt eine Auftragsforschung für dich. Du verstehst schon… Bestimmte Pflanzen, die du auf ihre Magie testen sollst.“
„Kein Problem, Hermine. Ich bin dabei.“
Luna, die alles mitgehört hatte, meldete sich erst jetzt zu Wort, ohne jedoch von der rosafarbenen Blume abzulassen.
„Vielleicht kann Neville gleich hiermit anfangen. Das ist eine der Pflanzen, mit der meine Mutter damals experimentiert hat.“ Luna zeigte auf einige andere Gewächse. „Diese dort auch.“
„Was für welche sind das?“, wollte Hermine wissen.
Nicht Luna, sondern Neville gab die Antwort. Er zeigte einmal auf die hintere Reihe: „Das sind krautige Pflanzen; alle aus der Familie der Mohngewächse. Ich wollte keine anpflanzen, die ein sekundäres Dickenwachstum aufweisen und am Ende verholzen.“ Hermines Stirn runzelte sich, weswegen Neville es vermied, weitere Fachbegriffe zu benutzen. „Die dort mit dem traubigen Blütenstand zum Beispiel“, er zeigte auf eine Gewächs mit vielen grünen Blättern, „ist ein Corydalis cava. Er hat überhaupt keine heilenden Eigenschaften. Gleich daneben, die mit den gelben Blüten, ist eine Glaucium flavum. Man hat aus ihren Wurzeln damals ein Heilmittel gegen Ruhr hergestellt.“
„Gegen Ruhr? Habe ich ja noch nie gehört, dass man diese Pflanze verwendet hat. Hat es geholfen?“
Neville zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Das war im antiken Griechenland. Niemand mehr da, den man fragen könnte.“ Er grinste. „Daneben“, eine Pflanze mit zwittrigen gelben Blüten, von denen die Hälfte schon abgefallen war, „ist eine Chelidonium majus.“
„Oh ja“, sagte Hermine zustimmend, „die kenne ich aus meiner Heilerausbildung sehr gut. Sie enthält zehn Alkaloide. Ich hatte mal während des Krieges ein kleines Mädchen betreut, das davon gegessen hat. Sie wäre fast gestorben.“
„Tatsächlich?“, wunderte sich Neville. „Poppy wollte, dass ich sie anbaue.“
„Wahrscheinlich wegen des Sparteins, das wirkt sich nämlich anregend auf Herz und Kreislauf aus. Alles ist erst ab einer bestimmten Dosis giftig.“
Neville schien beruhigt und stellte die letzten beiden Gewächse vor. Er deutete auf eine Pflanze, die eindeutig ein Farngewächs darstellte und viele wunderschöne weiße Blüten aufzeigte.
Hermine staunte. „Hey, die Pflanze habe ich heute Abend erst gesehen!“
„Bist du sicher?“, fragte Neville skeptisch nach. „Die ist nämlich in Japan heimisch. Ein Farn. Der Pteridophyllum racemosum.“
„Du wirst es nicht glauben, Neville, aber ich war vor etwas über einer Stunde noch in Japan.“
Neville schaute sie an, als würde sie ihn auf den Arm nehmen, doch sie lächelte so offen und ehrlich, dass sie ihn ansteckte. Luna hingegen lächelte breit.
„Ich glaube dir, dass du heute in Japan warst. Warum solltest du auch lügen?“
„Professor Takeda“, erklärte Hermine, „hat uns einen Portschlüssel geschickt, damit wir uns die Auswirkungen des Farbtrankes bei seinen Pflanzen ansehen können.“
„Takeda? DER Professor Kôji Takeda?“
Jetzt wurde Hermine skeptisch. „Du kennst ihn?“
„Nicht persönlich, aber seine Bücher! Er hat einen großen Namen unter den Kräuterkundlern.“
„Wirklich? Dann sollte ich dich das nächste Mal vielleicht mitnehmen und dich ihm vorstellen?“
„Das würdest du machen?“, fragte Neville aufgeregt nach, denn ganz offensichtlich hielt er viel von diesem Mann.
„Wenn ich’s doch sage!“
„Oh, was würde ich geben, um seine riesigen Gewächshäuser zu sehen“, schwärmte er.
Luna, die noch immer an der rosafarbenen Blume stand, machte den Vorschlag: „Du könntest bei ihm Interesse mit deinem Dünger wecken, Neville.“ Er wollte schon abwinken, da ergriff die Blonde das Wort: „Mach deine Erfindung nicht immer nieder. Selbst Professor Sprout sagt, dass dein Dünger einzigartig ist.“
„Ja, du hast ja recht“, murmelte Neville. Er selbst schien nicht an sich und sein Produkt zu glauben. Er nickte in Lunas Richtung hinüber und meinte damit die letzte Pflanze: „Eine Lamprocapnos spectabilis. Der wird auch keine magische oder heilende Fähigkeit zugeschrieben. ‘s ist nur eine Zierpflanze.“
„Das werden wir ja sehen“, gab Hermine zu bedenken. „Ich werde dir gleich morgen eine Eule mit ein paar Flaschen schicken, dann kannst du gleich anfangen, deine Beete damit zu gießen. Professor Takeda erwähnte, dass er wenig von dem Farbtrank benötigte, weil er in der Erde länger aktiv bleibt, die Pflanze also viel länger leuchtet, als würde ein Mensch ihn einnehmen.“
„Darf ich ihn auch mal einnehmen?“
„Natürlich, Neville. Das wäre sogar sehr interessant. Schreibst du mir deine Beobachtungen auf?“
Neville nickte. Sein Blick fiel auf die lederne Mappe in ihrer Hand, die auch Luna nun fixiert hatte. Hermine musste schmunzeln. Mit einer Hand wedelte sie mit der Ledermappe.
„Ich habe bald einen Geschäftspartner!“
„Wirklich?“ Neville freute sich für Hermine, war aber auch neugierig. „Wer?“
Nicht Hermine kam dazu, eine Antwort zu geben. Es war Luna, die ganz richtig vermutete: „Professor Snape.“
Neville blinzelte mehrmals. „Ist das wahr?“
„Ja, aber er macht das Schuljahr noch zu Ende. Ist ja nur noch bis Ende Juni, dann steigt er bei mir ein.“
„Werde ich viel mit ihm zu tun haben?“, wollte Neville ein wenig besorgt wissen.
„Du meinst wegen des Trankes? Mach dir da keine Sorgen. Das werden nur wir beide regeln, okay?“
Wortlos stimmte er zu. Er freute sich sichtlich über Hermines Angebot, den Farbtrank kostenlos testen zu dürfen.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
~ Muggelchen.net ~
~ Muggelchen.net ~
- Muggelchen
- Eule
- Beiträge: 345
- Registriert: 07.06.2008 22:29
- Wohnort: Gemälde im 1. Stock
Rest von Kapitel 190
Über ein ganz anderes kostenloses Angebot freute sich gerade Sirius, denn in der Winkelgasse verteilte ein Bäcker, der zusammen mit wenigen anderen Geschäften auf einen Sonntag geöffnet hatte, gratis Backwaren. Sirius war so frech und staubte gleich zwei von den Plunderstücken ab, mit denen er sich auf den Weg zu Sid machte. Mit ihm war er verabredet. Die Winkelgasse Nummer zwei – wie man es schon ahnen konnte – lag ganz am Ende der Straße. ‘Oder war es der Anfang?‘, dachte Sirius, bevor die Stufen des durch Fideliuszauber geschützten Hauses betrat. Er war schon einige Male hier gewesen. Sid wohnte im ersten Stock. Andere Bewohner hatte Sirius hier nie gesehen. Nachdem er den altmodischen Türklopfer benutzt hatte, wurde ihm geöffnet. Neugierig, wie er war, stellte er seinem Gastgeber gleich eine Frage.
„Wie kommt es eigentlich, dass Sie das ganze Haus mit einem Fidelius schützen konnten? Was sagen denn die anderen Bewohner dazu?“
Sid ließ seinen Gast eintreten und erklärte auf dem Weg zum Wohnzimmer: „Das ganze Haus Nummer zwei gehört mir. Ich wohne allein.“
„Oh“, machte Sirius teils aus Bedauern, teils aus Skepsis. „Keine Familie?“
„Die wohnt nicht hier, nicht einmal in diesem Land.“ Sid deutete auf das hellbraune Sofa. „Nehmen Sie doch Platz, Mr. Black. Darf es etwas zu trinken sein?“
„Machen Sie uns doch einen Kaffee! Ich habe etwas Schönes mitgebracht.“ Weil Sid gleichgültig auf die Papiertüte in Sirius‘ Hand starrte, offenbarte er: „Obstplunder.“
„Doch nicht etwa von dem Bäcker gegenüber?“
„Freilich! Warum?“
„Letzte Woche erst hat das Ministerium bei ihm Mäuse in der Vorratskammer entdeckt. Mit seinen Gratisgeschenken will er wieder Kunden anlocken.“
„Hat er die Plage beseitigt?“, wollte Sirius mit unschuldigem Gesichtsausdruck wissen.
„Offenbar ja, zumindest hat das Ministerium den Laden am Freitag wieder freigegeben.“
„Na dann …“
Sirius zog eines der süßen Hefeteigleckereien aus der Tüte und biss demonstrativ hinein. Sid hingegen schaute ihm einen Moment dabei zu, ging dann hinaus in die Küche und machte per Zauber einen Kaffee. Das klappern von Geschirr war zu hören. Mit einem Gedeck für zwei Personen kam er zurück.
„Was denn?“ Sirius blickte ihn übertrieben verwundert an. „Etwa doch Appetit auf Mäuseplunder?“ Ein Grinsen konnte sich Sirius nicht verkneifen.
„Sie machen es richtig vor, Mr. Black. Es wäre falsch, eine Person für immer abzustempeln und für die Zukunft nur noch Vorurteile zu hegen. Wenn das Ministerium die Backstube freigegeben hat, dann wird das seine Richtigkeit haben.“
Während beide aßen und ihren Kaffee tranken, machten sie bereits grobe Pläne für die heutige Arbeit.
„Ich denke“, begann Sirius, „dass es von Vorteil ist, den Kobolden und Hauselfen einen Zauberstab einzuräumen.“
„Da stimme ich Ihnen zu, aber das Problem ist, dass viele Bürger damit nicht einverstanden sein werden. Das würde sich wiederum negativ auf Minister Weasleys künftige Amtszeit auswirken.“
„Ich verstehe nicht ganz“, gab Sirius offen zu.
„Hauselfen, die einen eigenen Zauberstab haben? Eine Menge altansässiger Familien mit, ähm, wenig aufgeschlossener Geisteshaltung werden auf die Barrikaden gehen. Der Abschnitt 3 vom ‘Gesetz zum Gebrauch des Zauberstabs‘ existiert seit Jahrhunderten! Nicht-menschliche magische Wesen dürfen nicht einmal einen bei sich führen. Stellen Sie sich vor, was diese Gesetzesänderung nach sich ziehen würde. Die magische Gesellschaft wird sich bedroht fühlen …“
„Nicht alle!“, warf Sirius ein.
„Und außerdem gibt es keinen Grund für diese Wesen, einen Zauberstab zu gebrauchen. Sie kommen bestens ohne aus.“
„Weil sie bisher nie einen ausprobieren durften!“
„Mr. Black …“
„Mr. Duvall?“
Sid schloss einen Moment seine Augen. Manchmal, so wie gerade eben, ging ihm Sirius sehr auf die Nerven. Er konnte ein unangenehmer Trotzkopf sein. Sid atmete einmal tief durch.
„Wenn wir nicht wollen, dass es Aufstände gibt – und die wird es geben –, dann müssen wir die Gesellschaft feinfühlig auf diese Änderung vorbereiten, anstatt sie damit zu überrumpeln.“
Sirius runzelte die Stirn. „Und wie stellen Sie sich das vor?“
„Ich habe keine Ahnung.“
Ein Moment der Stille verging, den Sid mit seinem Kaffee überbrückte, während Sirius das letzte Stück seines Gebäcks verzehrte und dabei eine mit Gelee überzogene Kirsche versehentlich auf das Sofa plumpsen ließ. Die Tasse in Sids Hand kam auf halben Weg zum Mund zum Stehen.
„Oh, das ist mir peinlich.“ Sofort zog Sirius seinen Zauberstab, um den roten Fleck auf dem hellbraunen Polster zu entfernen.
„Lassen Sie nur, ich mache das später.“
„Ist doch gleich erledigt, einen Moment.“ Sirius dachte kurz nach und wutschte dann mit seinem Stab. Der Fleck wurde größer, anstatt zu verschwinden. „Ach, ich wusste, der war nicht richtig.“ Seinen Gastgeber anblickend fragte er: „Kennen Sie einen angemessenen Reinigungszauber für Obstflecken?“
„Ich sagte doch, ich kümmere mich später drum.“
„Aber ich kann den Fleck doch nicht …“
Sid stöhnte genervt auf, zog seinen Stab und schleuderte einen wortlosen Reinigungszauber auf die verschmutzte Stelle.
„Verraten Sie mir den Spruch?“
„Wir haben uns nicht getroffen, um Haushaltszauber zu üben.“
„Aber es schadet auch nicht, wenn …“ Sirius hielt inne. „Ach, vergessen Sie’s.“
„Dann können wir nun zu dem Punkt zurückkommen …“
„… zu dem Sie keinen Vorschlag hatten“, unterbrach Sirius frech. „Wenn Sie sagen, wir müssen die Bürger der magischen Welt darauf vorbereiten, dass Kobolde und Elfen demnächst Zauberstäbe nicht nur erwerben, sondern auch mit sich tragen und sogar benutzen dürfen, dann lassen Sie uns doch einfach mal die positiven Aspekte aufzählen.“
„Was denn für positive Aspekte?“
„Was das Wort ‘positiv‘ bedeutet, wissen Sie aber?“
„Wollen Sie mich auf den Arm …?“
Sirius lachte laut auf. „Ja, ich wollte Sie nur auf den Arm nehmen. Tut mir leid, aber manchmal werde ich das Gefühl nicht los, dass Sie als Kind einen Quidditch-Unfall hatten und nach dem Sturz direkt auf dem senkrecht stehenden Besen gelandet sind – und den noch heute mit sich herumtragen, so stocksteif, wie Sie sich manchmal geben.“
„Mr. Black!“ Sid war aufgestanden und ballte die Fäuste an der Hosennaht. Einige Male öffnete sich sein Mund, aber jedesmal schloss er ihn wieder, ohne dass er ein Wort von sich gab.
„Kommen Sie, lachen Sie einfach drüber. Es war nur ein Spaß.“
„Ich finde es gar nicht lustig“, wetterte Sid, „mich in meinem Haus beleidigen lassen zu müssen.“
„Ich habe nur einen Scherz gemacht, Mr. Duvall!“, beteuerte Sirius.
Nachdem Sid einige Male zittrig ein- und ausgeatmet hatte, sagte er durch zusammengebissene Zähne so neutral wie nur möglich: „Sie haben, was Scherze betrifft, eine sehr grobe und verletzende Auffassung. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mich in Zukunft mit Ihrem Schabernack verschonen würden, denn ansonsten sehe ich unsere Zusammenarbeit gefährdet. Habe ich mich verständlich genug ausgedrückt?“
Sirius wusste, dass sein Gegenüber es ernst meinte und nickte deswegen zustimmend. Er müsste sich demnächst zusammenreißen. Nicht jeder war es gewohnt, mit seiner Art Humor umzugehen. Sid nickte ihm einmal kurz zu, um diese kleine Differenz bereinigt zu wissen, bevor er sich wieder setzte. Der Sessel, der älter sein musste als sein Besitzer, ächzte unter Sids Last auf; gleich darauf knarrte eines der Stuhlbeine unangenehm laut. Sirius blinzelte, musste dann grinsen und sprach Sid schließlich amüsiert auf das Geräusch an.
„Das war der Besenstil oder?“ Sirius‘ Augen funkelten neckend, nicht bösartig, aber belustigt. Dass er es nicht beleidigend meinte, würde selbst ein Dreijähriger verstehen. Weil Sid ihn mit versteinerter Miene anstarrte, begann Sirius aus ganzem Herzen zu lachen und dann geschah etwas, was Sirius nicht für möglich gehalten hatte: Sid lachte plötzlich mit. Die eben noch so schwer im Raum liegende Abneigung war mit einem Male wie weggewischt. Sid schüttelte den Kopf und beruhigte sich dabei wieder, behielt jedoch ein Lächeln bei.
„Sie sind unmöglich, Mr. Black.“
„Ja, Sie glauben gar nicht, wie oft ich das zu hören bekomme. Aber zurück zu unserer Arbeit, wenn Sie mir schon keine Haushaltszauber beibringen möchten.“ Er schmunzelte, bevor er tatsächlich wieder den letzten Punkt aufgriff. „Die positiven Aspekte, wenn Kobolde oder Hauselfen in Zukunft Zauberstäbe erwerben dürfen, liegen doch auf der Hand. Es kurbelt unsere Wirtschaft an! Gerade nach dem Krieg ist das eine Sache, die wir fördern sollten. Wenn wir diesen Mitlebewesen nun gestatten, Zauberstäbe zu benutzen, dann profitieren davon nicht nur die Stabmacher allein, sondern auch die Herren und Damen, die sich der Herstellung von Zauberstabholz verschrieben haben sowie diejenigen, die die Kernsubstanzen liefern. Das sind mindestens drei Handelszweige, denen damit auf die Sprünge geholfen wird.“ Sid nickte und hörte weiterhin aufmerksam zu, als Sirius fortfuhr. „Ich lasse jetzt mal außen vor, dass mehr Gewinn für diese Branchen auch mehr Arbeitsplätze für die Bürger mit sich bringen wird. Wichtig ist auch, dass der Gesellschaft damit Vorteile entstehen, denn wenn den Hauselfen durch einen Stab ihre Arbeit erleichtert wird – und davon gehe ich aus –, kann das nur im Sinne ihrer Herrschaften sein. Kobolde hingegen könnten viel effektiver arbeiten, somit wiederum die Zeit für ihren Arbeitsaufwand verkürzen. Man muss nicht extra erwähnen, dass halbe Arbeitszeit auch halbierte Ausgaben für den magischen Menschen bedeuten. Diese Aspekte“, Sirius fummelte ein Pergament aus seiner Tasche, „sollten wir der Gesellschaft verständlich nahebringen. Na, was halten Sie davon?“
Von den vielen Informationen war Sid ein wenig erschlagen, aber so in der Art hatte er sich selbst bereits Gedanken gemacht. Das Schönste war jedoch, dass alles Sinn machte und sogar funktionieren müsste, wenn nur die Möglichkeit bestehen würde, damit überhaupt an die Öffentlichkeit zu gehen.
„Wie könnte man der magischen Gesellschaft diese Vorteile schmackhaft machen?“
„So wie es immer getan wurde: durch die Presse. Hier und da ein Artikel in einer Zeitung. Es müssen ja nicht gleich alle Punkte auf einmal behandelt werden. Vereinzelt über diese Vorteile zu schreiben sollte genügen, um die meisten Menschen für diese Idee zu gewinnen.“ Sirius begann damit, auf seinem Pergament zu schreiben, aber nicht mit einer Feder, sondern mit einem Füllfederhalter.
„Was haben Sie da?“, fragte Sid neugierig.
Im ersten Moment wusste Sirius nicht, auf was sein Gegenüber zu sprechen gekommen war, blickte deswegen an sich hinunter, falls ihm mit dem Obstplunder noch ein anderes Malheur geschehen sein sollte, bis er den Füller in seiner Hand bemerkte.
„Oh, das hier?“ Er hielt den Füller hoch und Sid nickte. „Ein Geschenk meiner Frau. Ein Muggel-Schreibzeug.“
„Ist Ihre Frau ein Muggel?“
Sirius, der sich bereits seine eigenen Punkte notierte, bejahte. „Das bringt uns gleich zum nächsten Punkt, den ich heute noch besprechen wollte. Das 1992 von Minister Weasley ausgearbeitete Muggelschutz-Gesetz weist zu viele Lücken auf, wofür er nichts kann, denn man hat ihm damals viele Steine in den Weg gelegt.“ Unweigerlich musste er an Lucius denken. „Außerdem behandelt dieses Gesetz viele wichtige Punkte überhaupt nicht. Das Gesetz richtet sich überwiegend gegen den Besitz muggelfeindlicher schwarzmagischer Objekte. ‘Muggelschutz‘ sollte meines Erachtens genau das beinhalten, was es aussagt, nämlich den Schutz von Muggeln vor und durch magische Menschen.“
„Ich kann mir bereits denken, auf welche Punkte Sie hinauswollen, aber ich bin ganz Ohr.“
Sirius legte den Füllfederhalter auf das Pergament, nahm dann einen Schluck Kaffee, bevor er sich gemütlich in die Rückenlehne des Sofas sinken ließ.
„Wissen Sie, was meiner Frau passiert ist?“ Eine rhetorische Frage. Sid spitzte die Ohren. „Man hat ihr als Kind“, er hob den Zeigefinger, „eine Erinnerung gelöscht.“
„Als Kind? Das ist doch aber gegen die Vorschriften.“
„Und genau davor müssen wir Muggel schützen. Unsere Vorschriften dürfen nicht mehr dehnbar sein, so dass jeder sie auslegen kann wie er möchte. Soll ich Ihnen mal sagen, was meine Frau als Entschädigung erhalten hat?“
„Was?“
„Nichts! Nicht einmal einen feuchten Händedruck.“ Gedanklich notierte Sirius sich, dass er bei nächster Gelegenheit Arthur einen Tritt in den Allerwertesten geben wollte; natürlich auf nette Art und Weise.
„Es ist notwendig, Mr. Black, dass die Muggel so wenig wie möglich über uns wissen.“
„Warum aber ist das so? Haben wir immer noch Angst davor, dass sie uns wegen unserer Fähigkeiten nur ausnutzen würden? Wasch die Wäsche, putz das Haus …“ Sirius schüttelte den Kopf. „Nein, davor brauchen wir keine Angst zu haben. Die Muggel haben Techniken entwickelt, mit denen sie sich ihr Leben erleichtert haben. Bei einem Vergleich zwischen unserem Flohnetzwerk und deren Telekommunikation schneiden wir ganz schlecht ab. Wir benötigen immer einen Kamin, während die Muggel ein kleines Gerät aus ihrer Jackentasche ziehen und im Nu mit einem Menschen am anderen Ende der Welt sprechen.“
„Wir schneiden nicht immer schlechter ab“, warf Sid ein. „Wir können apparieren, wir haben Portschlüssel ...“
„Die Muggel fliegen zum Mond!“
Einen Augenblick war Sid still, bis er zugeben musste: „Ein Punkt für Sie, denn das können wir nicht überbieten.“
„Jede Welt hat ihre Vor- und Nachteile. Ich möchte damit nur klarstellen, dass die Muggel uns nicht ausnutzen würden. Schwarze Schafe gibt es allerdings überall, aber allgemein halte ich die Muggel für so verständnisvoll, dass man ihnen nicht einfach eine Erinnerung löschen muss, wenn sie nur zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Es kann nicht sein, dass Zauberer, die sich mit Muggeln einen Scherz erlauben, lediglich mit einer Geldstrafe davonkommen, während den Muggeln am Gedächtnis herummanipuliert wird.“
„Ich verstehe Ihren Standpunkt, Mr. Black. Das wird eine sehr umfangreiche Angelegenheit werden, den Umgang mit Muggeln entsprechend hieb- und stichfest auszuformulieren. Ich stimme Ihnen zu, dass nicht jedes Ereignis sofort eine Gedächtnisoptimierung rechtfertigt. Das wird man individuell entscheiden müssen, denn Sie müssen mir zustimmen, dass nicht jeder Muggel es ertragen wird, mit Dingen aus unserer Welt konfrontiert zu werden.“
Diesmal war es Sid, der sich Feder, Tintenfass und Pergament an den Tisch holte und seine Gedanken festhielt.
„Squibs!“, sagte Sirius völlig unerwartet.
„Wie bitte?“ Sid blickte irritiert von seinem Blatt auf.
„Unser nächster Punkt auf der Liste. Kennen Sie einen Squib persönlich?“, wollte Sirius mit hochgezogenen Augenbrauen wissen.
Sid dachte einen Moment nach, musste dann verneinen: „Mir ist noch nie einer über den Weg gelaufen.“
„Und warum ist das wohl so? Weil sie von unserer Gesellschaft verstoßen werden! Meines Erachtens völlig grundlos. Den Job zum Beispiel, den meine Frau jetzt macht, könnte auch ein Squib bewerkstelligen.“
„Was macht Ihre Frau?“
„Sie stellt Hüte her. Das Geschäft ist vor etlichen Wochen hier in die Winkelgasse gezogen. Sie sind vielleicht schon einmal dran vorbeigegangen.“
„Sie meinen ’Stock und Hut’? Ist mir schon aufgefallen. Jetzt weiß ich auch, was mit den Schild ‘Muggel-Handarbeit‘ gemeint ist. Scheint ein Verkaufsschlager zu sein. Der Laden ist immer gut besucht.“
Mit vor Stolz geschwellter Brust ließ Sirius diese Worte noch einen Moment auf sich wirken. Anfangs war er nicht sehr begeistert davon gewesen, dass seine Frau arbeiten ging, weil es finanziell einfach nicht notwendig war, aber sie hatte ihren Spaß daran und offenbar war ihr Handwerk auch begehrt.
„Genau das Geschäft meine ich. Es gibt einige Berufe in unserer Welt, wo das Zaubern nicht vorausgesetzt werden muss. Man braucht als Redakteur keinen Zauberstab – da reicht eine Feder. Das Pflegepersonal im Krankenhaus oder Angestellte in Küchen müssen auch nicht zwingend magisch veranlagt sein. Nehmen wir Kellner: Wo ist der Unterschied, wenn sie eine Bestellung persönlich bringen oder hinter sich herschweben lassen?“
„Mich brauchen Sie davon nicht überzeugen, Mr. Black. Auch ich denke, dass viele Berufe von Squibs ausgefüllt werden können. Ich befürchte nur, dass es in puncto Gehalt in kürzester Zeit Unterschiede geben könnte. So eine Klassenteilung möchte ich gar nicht erst aufkommen lassen.“
„Dann müssen wir uns da noch etwas einfallen lassen.“ Sirius notierte sich was, bevor er eine andere Sache ansprach. „Wenn wir Hauselfen und Kobolden einen Zauberstab erlauben, wie sieht es dann mit anderen halb-magischen Wesen aus? Halb-Riesen zum Beispiel.“
Sid blinzelte ein paar Male. „Halb-Riesen? Gibt es davon viele?“
„Ich kenne zwei.“
Einige Male öffnete Sid den Mund, dachte dann aber immer wieder nach, bevor er letztendlich kleinlaut nachfragte: „Wie ist das möglich?“
Sirius lachte. „Darüber haben meine Freunde und ich uns auch mehrmals den Kopf zerbrochen, aber es ist ja offensichtlich möglich. Wie, das möchte ich eigentlich auch gar nicht so genau wissen.“
„Nun, wenn Halb-Riesen kommunikativ sind und nicht wie die Riesen, ähm, unbedarft und grob, dann sehe ich kein Problem, solange sie magisch sind. Soweit ich informiert bin, haben Riesen keine magischen Fähigkeiten. Die müssten die Halb-Riesen von ihrem menschlichen Elternteil …“
Sid verlor den Faden, weil er sich etwas vorzustellen versuchte, was Sirius gar nicht erst ansprechen wollte. Stattdessen setzte Sirius noch einen drauf.
„Das Gleiche gilt dann auch für die Kinder, die aus der Verbindung zwischen Kobold und Mensch hervorgehen.“
Sirius musste an Professor Flitwick denken, von dem jeder vermutete, dass er einen Kobold in seiner Ahnenreihe haben musste. Des Weiteren war Flitwick ein aktives Mitglied bei der „Initiative für die Forderung eines Anti-Diskriminierungsgesetzes für magische und nichtmagische Halbwesen“. Selbst Hagrid, der Geheimnisse nie für sich behalten konnte, hatte einmal angedeutet, dass es Filius mit seinen Eltern ganz ähnlich ging wie ihm selbst.
„Sie machen Scherze, Mr. Black. Mensch und Kobold?“ Sid machte ein Gesicht, als hätte Sirius gerade das Märchen von einer Prinzessin erzählt, die den heldenhaften Ritter aus dem Weg räumte, damit sie den Drachen ehelichen konnte.
„Kümmern wir uns am besten nur um die magischen Resultate dieser Verbindungen. Ich denke, das Thema wird später sowieso keine Probleme mehr machen, wenn erst Hauselfen und Kobolden ein Zauberstab erlaubt wird.“
Sid machte noch immer den Eindruck, als hätte er einen Klatscher mit voller Wucht an den Kopf bekommen. Seine Nase kräuselte sich und die Stirn schlug Falten, als er leise fragte: „Ob es wohl je eine Verbindung zwischen einem Riesen und einem Kobold gegeben hat?“
Sirius lachte herzlich auf. „Das, Mr. Duvall, sprengt mein Vorstellungsvermögen!“
Die Arbeit dieses Tages war, wenn auch mit einem Hauch Merkwürdigkeit versehen, erfreulich ausgiebig ausgefallen. Sid und Sirius hatten viele Punkte ausgearbeitet und waren zu dem Entschluss gekommen, mit Hilfe der Presse kleine Artikel zu streuen, die die magische Gesellschaft dezent auf die neuen Gesetze vorbereiten sollte.
„Ich habe die Visitenkarte einer jungen Dame“, sagte Sid, während er entsprechendes Objekt per Aufrufezauber zu sich holte. „Es ist nie zu einer Zusammenarbeit gekommen, aber vielleicht könnte uns diese Journalistin behilflich sein.“ Er reichte Sirius die Karte.
„Oh“, machte Sirius, nachdem er den Namen gelesen hatte: Luna Lovegood. „Die Dame kenne ich sogar.“
„Wirklich?“
„Ja, sie ist eine ehemalige Mitschülerin meines Patensohnes.“
„Ich dachte, gerade weil die junge Frau für die Muggelpost schreibt, dass man darüber jene aufgeschlossenen Mitbürger erreicht, die allgemein solchen Änderungen enthusiastischer entgegensehen. Der Tagesprophet eignet sich vorerst nicht dafür, es sei denn, der Minister ordnet an, wie so ein Artikel auszusehen hat.“
„Das wird er nicht tun. Vom Tagesprophet hält er wenig. Falls sie sich noch daran erinnern können, haben die vor gut acht Jahren meinen Patensohn in den Schmutz gezogen, gerade weil das Blatt vom Minister kontrolliert worden war.“
„Ja“, sagte Sid mit Bedauern, „das habe ich damals verfolgen müssen. Eine wahre Schmutzkampagne gegen einen erst fünfzehnjährigen Schüler. Eine Schweinerei.“ Mit einem Finger fuhr sich Sid nachdenklich über die Lippen. „Wäre es wohl möglich, dass Ihr Patensohn sich öffentlich positiv zu den Gesetzesänderungen äußert?“
„Er gibt keine Interviews. Ich glaube, nach Kriegsende hat er sich vollends von den Medien zurückgezogen.“
„Das ist schade, Mr. Black, denn Harry Potter ist noch immer täglich im Gespräch, auch wenn es meist aufgewärmte Themen betrifft. Er hat weiterhin großen Einfluss auf die Gesellschaft und …“
„Ich werde ihn nicht fragen“, brach Sirius das Thema ab.
Sid schüttelte den Kopf. „Sie könnten ihn über unsere geplante Vorgehensweise unterrichten. Wenn er es für richtig hält, wird er vielleicht sogar selbst den Vorschlag machen, seine positive Meinung der Gesellschaft preiszugeben. Machen Sie bloß keinen Hehl daraus, was wir mit seiner öffentlichen Stimme erreichen möchten. Ich denke aber, er sollte davon erfahren, dass sein Einsatz von größter Wichtigkeit wäre. Wenn es sich bei der jungen Journalistin um eine ehemalige Mitschülerin handelt, könnten die beiden doch ganz gemütlich ein Schwätzchen halten.“
„Ich weiß nicht, Mr. Duvall. Ich möchte Harry nicht als Sprachrohr für unsere Belange missbrauchen.“
„Doch nicht missbrauchen, Mr. Black. Es bleibt ihm überlassen, ob er sich öffentlich äußern möchte oder nicht. Er sollte aber erfahren, dass er in dieser Hinsicht mehr als nur helfen kann.“
„Na ja“, haderte Sirius mit sich selbst, „ich kann mit ihm ja mal darüber reden, aber versprechen kann ich nichts.“
„Das verlangt auch niemand.“
Am darauf folgenden Montagmorgen in Hogwarts kam Harry schwer in die Gänge. Er hatte gestern viel weinen müssen. Der Anblick seiner verstorbenen Eltern hatte ihm am meisten zugesetzt, doch auch sein eigenes Ich so hilflos zu sehen hatte ihn aus der Fassung gebracht. Natürlich war er noch zu klein, um sich daran erinnern zu können, dass es erst Severus gewesen war, der ihn von all dem Tod wegholen wollte, der wie eine dunkle Wolke über Godric’s Hollow lag. Besonders die Bedeutung der Babydecke hatte sich ihm nun offenbart. Endlich war Severus so weit gewesen zu akzeptieren, dass Lily sich nicht für ihn entschieden hatte, was er mit dem durch Schutzzauber getränkten Geschenk für ihr Kind beweisen wollte und dann dieses unabwendbare Drama.
Auch jetzt, als er so überpünktlich am kaum besuchten Frühstückstisch saß und an Sirius dachte, wie der ihn in den Arm genommen und sich um die Wunde an der Stirn gekümmert hatte, sammelten sich erneut Tränen in Harrys Augen. Unbewusst zog er die Nase hoch, was Albus, der zwei Plätze neben ihm saß, nicht überhören konnte.
„Harry?“, hörte er die besorgte Stimme des Direktors. Er drehte sich um, bemerkte erst dann, dass er Albus nur verschwommen wahrnahm, weswegen er mit seiner Serviette schnell die feuchten Augen trocknete.
„Ja?“
„Warum so niedergeschlagen, mein Junge?“
„Ich …“ Harry stoppte sich und führte den Satz nur in Gedanken weiter. ‘… habe Dinge aus der Vergangenheit gesehen.‘
Albus stand auf und setzte sich auf den freien Platz direkt neben Harry. Schüler waren bisher kaum anwesend und vom Lehrpersonal und den Angestellten befanden sich nur Poppy, Filius und Septina Vektor, die Lehrerin für Arithmantik, am Tisch. Keiner schien ihm oder Albus viel Aufmerksamkeit zu schenken.
„Geht es dir nicht gut?“, fragte Albus fürsorglich. „Möchtest du heute frei haben?“
„Nein, das ist nicht notwendig. Ich glaube, ich brauche nur etwas Zerstreuung.“
„Zerstreuung weswegen?“ Es war Harry nicht möglich zu antworten, weswegen Albus ihm väterlich eine Hand auf die Schulter legte und Mut machend zudrückte.
Harry seufzte und atmete tief durch. „Warum ergreifen einen Situationen, von denen man längst weiß, so erbarmungslos, nur weil man sie mit eigenen Augen sieht?“ Er schüttelte den Kopf, als wäre ihm dieses Erlebnis unbegreiflich.
„Vielleicht ist das so“, mutmaßte Albus, „weil man dem Gesehenen mehr Bedeutung beimisst als dem Hörensagen?“ Harry starrte auf seinen leeren Teller und nickte, weil Albus ihm eine einleuchtende Erklärung gegeben hatte.
„Das wird es sein“, murmelte er.
Die Hand an seiner Schulter wanderte zum Rücken und strich zur Beruhigung dreimal im Kreis, bevor Albus von ihm abließ.
„Hast du Fragen, Harry?“
Von diesem Angebot war er überwältigt, denn normalerweise musste man Albus sämtliche Informationen aus der Nase ziehen, wenn man die kryptischen Andeutungen, die der betagte Direktor von sich gab, nicht verstand. Harry war sich nur nicht sicher, ob er über Severus‘ Erinnerungen mit Albus reden durfte, selbst wenn er Teil der Erinnerungen gewesen war. Harry entschied sich dagegen und schüttelte den Kopf.
„Möglicherweise findest du Zerstreuung bei jemandem, der deinen Kummer teilt?“
Mit Severus darüber zu reden, daran hatte Harry längst gedacht. Leicht würde es sicherlich nicht werden, seinem Kollegen – seinem Freund, verbesserte er in Gedanken – zu gestehen, dass er die Erinnerungen gesehen hatte. Aber Freunden sagte man die Wahrheit, man war ihnen gegenüber ehrlich und das wollte Harry sein.
„Ich denke, ich werde woanders frühstücken“, sagte er verabschiedend zu Albus, bevor er sich erhob und den Lehrereingang in der Nähe der Stundengläser nutzte, um den Weg in die Kerker einzuschlagen.
„Dobby?“, flüsterte er leise. Mit dem gewohnten Geräusch der Elfen-Apparation stand Dobby vor ihm.
„Harry Potter, Sir! Dobby wünscht einen guten Morgen. Was kann Dobby für Harry Potter tun?“
„Ich habe vor, bei Professor Snape zu frühstücken. Könntest du ihm das ausrichten? Und wenn er nichts dagegen hat, dann bring doch bitte Frühstück für uns beide in sein Wohnzimmer.“
„Dobby hat Professor Snape eben das Frühstück gebracht. Dobby wird ein zweites Gedeck bringen und mehr Essen.“
„Ja, das wäre nett. Erklär ihm bitte, dass ich komme, damit er nicht überrascht ist.“
Der Hauself verschwand. Auf seinem Weg in die Kerker malte sich Harry aus, wie Dobby bei Severus mit einem weiteren Frühstück erschien, wie Severus den Elf anblaffte – über den Gedanken musste Harry schmunzeln – und am Ende nachgab und nun mit einem Gast rechnete.
Die Slytherins, die er in den Kerkern traf und auf dem Weg in die große Halle waren, grüßten ihn ausgelassen fröhlich. Bei Severus angelangt klopfte er, obwohl er freien Zugang hatte, doch er wollte sich ankündigen. Severus öffnete ihm. Er sah in Harrys Augen erstaunlich gelassen aus.
„Guten Morgen, Harry.“ Severus öffnete die Tür weiter, damit sein Gast eintreten konnte. Offensichtlich hatte Severus nichts gegen ein gemeinsames Frühstück einzuwenden oder aber er war sich im Klaren darüber, dass er gegen Harrys Beharrlichkeit nicht ankommen würde. „Ich hab nicht mit dir gerechnet“, sagte Severus, womit er Harry zum Lächeln brachte, denn die persönliche Anrede war geblieben. „Du hast dich in letzter Zeit etwas rar gemacht.“
Das stimmte, dachte Harry. „Ja, wegen dem Kind und wegen Ginny. Ich wollte etwas Zeit mit ihnen verbringen.“ Der Hund kam angelaufen und wedelte kräftig mit dem Schwanz, während Harry ihm den Kopf tätschelte.
„Das ist verständlich.“
Severus deutete auf die Couch, auf der Harry Platz nehmen sollte. Dobby hatte es mit dem Frühstück etwas zu gut gemeint, aber vielleicht war unter den Hauselfen der Glauben verbreitet, dass Menschen in Gesellschaft mehr essen würden, womit sie nicht ganz Unrecht hatten.
„Kaffee oder Saft?“ Nach der Frage seines Gastgebers bediente Harry sich selbst und schenkte sich von dem Kürbissaft ein, doch auf eine Tasse schwarzen Wachmacher wollte er nicht verzichten. „Probleme mit den UTZ-Klassen?“
Harry runzelte die Stirn. „Wie bitte?“
„Mit den UTZ-Klassen. Ich dachte, da die Prüfungen nächste Woche beginnen, dass du womöglich Fragen haben könntest, wie auch schon vor Beginn des Schuljahres.“
„Nein, mit meinen Klassen ist alles bestens. Ich wollte nur … Na ja, ich war schon lange nicht mehr hier.“
Dass Severus skeptisch war, konnte Harry an dem Blick erkennen, den er mit seiner Erklärung erntete.
„Gibt es sonst einen bestimmten Grund für deinen kurzfristig angekündigten Besuch?“
„Ähm …“ Harry fragte sich, wie Severus reagieren würde, sollte er ihm die Wahrheit sofort und ohne Vorbereitung an den Kopf werfen. Stattdessen schlürfte er seinen Kaffee und fragte dann: „Wie war es in Japan?“
Die Skepsis in Severus‘ Gesicht wuchs, denn er hielt diese Frage ganz offensichtlich für einen Vorwand, eine Unterhaltung zu starten.
„Der kleine Ausflug brachte äußerst interessante Aspekte ans Tageslicht, was die Magie der Pflanzen betrifft.“
„Aha“, machte Harry, den die Antwort kaum interessierte. Er schob den Löffel auf seiner Untertasse hin und her und zerbrach sich den Kopf darüber, wie er die richtigen Worte finden könnte.
„Harry?“
Harrys Kopf schnellte hoch, der Löffel fiel gen Boden. Verlegen über dieses Missgeschick hob Harry den Löffel auf und legte ihn neben die Untertasse. Er fühlte, wie seine Wangen glühten.
„Harry, raus mit der Sprache. Was führt dich her? Ein peinliches Problem im Intimbereich, für das ich eine Salbe herstellen soll?“
Harrys Augen wurden ganz groß, bevor er Severus‘ neckisches Schmunzeln bemerkte und verlegen lachen musste. „Nein, aber gut zu wissen, dass ich in so einem Fall herkommen kann.“
„Also dann: Legen wir alle Unannehmlichkeiten beiseite und fangen von vorn an. Du bist hier, weil …“, machte Severus den Anfang und Harry ergriff die Gelegenheit, um Tacheles zu reden, wenn auch sehr leise und mit dem Blick starr auf die Tasse gerichtet.
„… weil ich mir die Erinnerungen angesehen habe.“
Kein wütendes Gekeife war zu hören, keine kruden Beleidigungen. Nicht einmal Flüche zischten in seine Richtung und weil all dies ausblieb, blickte Harry betreten auf. Severus saß ihm gegenüber, von der Information vollkommen versteinert und nun offenbar selbst peinlich berührt, denn zwei rosafarbene Flecken zeichneten sich auf den fahlen Wangen ab.
„Ich dachte, ihr hättet sie bei mir gelassen, damit ich … Und als Hermine mich über den Kamin kontaktiert hat, habe ich geglaubt, sie würde vorbeikommen wollen, um sie zu holen. Stattdessen sagt sie mir, ihr beide würdet nach Japan reisen. Ich habe das als Hinweis verstanden.“ Harry spielte mit dem Ärmel seines Umhangs. „Ich hab’s missverstanden, oder?“ Scheu blickte er zu Severus hinüber, der noch immer schockiert war und nicht zu wissen schien, wie er reagieren sollte, denn er regte sich nicht einen Millimeter. „Ich hab’s missverstanden“, wiederholte Harry murmelnd als Tatsache. „Es tut mir leid, ich hätte fragen sollen. Aber …“ Harry atmete tief durch. „Ich wollte wissen, was Hermine so aus der Bahn geworfen hat. Und mich hat interessiert, was du all die Jahre so gut geschützt in deinem Büro versteckt hast. Nicht aus Sensationsgier, das wirklich nicht, aber ich wollte endlich verstehen.“
Nach längerem Warten rührte sich Severus. Wie in Zeitlupe beugte er sich nach vorn, so dass sich seine Ellenbogen auf seinen Knien abstützten. Sein Gesicht vergrub er in beiden Handflächen. Harry blieb still und beobachtete ihn, um die Stimmung seines Gegenübers einschätzen zu können. Manchmal schaute Harry selbst betreten zu Boden und fragte sich, wie Severus sich jetzt fühlen mochte. Womöglich war es Scham, weil Harry nun diese sehr privaten Dinge über ihn wusste, vielleicht aber auch Wut, weil er wieder einmal seine Grenzen überschritten hatte, wie damals in der fünften Klasse. Worüber sich Harry am meisten Sorgen machte, war die Möglichkeit, dass Severus an seiner Vertrauenswürdigkeit zweifeln könnte.
„Es tut mir leid“, sagte jemand leise und Harry glaubte, er wäre es selbst gewesen, doch als sich der Satz wiederholte, da hörte er deutlich Severus‘ Stimme. „Es tut mir so leid.“
Warum sich Severus entschuldigte, wollte sich Harry anfangs nicht erschließen. Er hielt sich jedoch zurück und wartete. Eine Hand verließ Severus‘ Gesicht, die andere bedeckte die schuldgetränkte Miene mit den geschlossenen Augen, die Severus zu verbergen versucht hatte.
„Es tut mir leid, dass ich nichts ausrichten konnte. Ich bedaure zutiefst“, Severus schluckte kräftig, „dass ich dieses Schicksal nicht abwenden konnte.“
„Nein Severus, nicht …“ Harry hatte einen Kloß im Hals, der ihm die Sprache raubte. In Severus ein schlechtes Gewissen zu wecken war das Letzte, was er wollte.
„Es ist meine Schuld. Ich hätte herausfinden müssen, wer dieser neue Todesser war, dann hätte ich Lily warnen können, dass sie Pettigrew nicht trauen dürften. Ich hätte …“
„Es langt!“
So laut wollte Harry gar nicht werden, aber das Thema zerrte an seinen Nerven, noch viel unerträglicher waren die vielen Stiche, die er im Herzen verspürte. Er war hier bei Severus, um sich zu entschuldigen und plötzlich fand er sich in einer Situation wieder, die er momentan nicht meistern wollte. Es ging doch gar nicht um die Vergangenheit, dachte Harry, sondern darum, dass er sich einfach Severus‘ Hinterlassenschaft angesehen hatte. Die Bilder, die er am Vorabend gesehen hatte, drängten sich unaufhaltsam in sein Bewusstsein zurück. Ohnmächtig wurde sich Harry nicht zum ersten Mal darüber bewusst, dass er nichts an alledem, was geschehen war, ändern konnte. Aber würde er das wollen?
„Ich würde nichts ändern wollen“, bestätigte er seine eigene Frage. Severus blickte fragend auf und hörte zu, als Harry in Worte zu fassen versuchte, was ihn ihm vorging.
„Manchmal frage ich mich“, Harrys Stimme war leise und zittrig, „wie es gewesen wäre, wenn meine Eltern überlebt hätten.“ Ein seliges Lächeln zierte sein Gesicht, als er gedankenverloren auf den Tisch blickte. „Ich male mir vor dem Schlafengehen aus, was sie alles mit mir unternommen hätten. Ein Zoobesuch mit ihnen hätte mir bestimmt tausendmal mehr Spaß gemacht als mit meiner Tante. Ich stelle mir vor, wie es mir in Hogwarts ergangen wäre, hätte ich schon als kleines Kind gewusst, dass ich ein Zauberer bin.“ Harry zog seine Nase hoch, aber sein Lächeln blieb und die Augen glänzten verträumt. „Ich wäre nicht berühmt gewesen; ein völlig normaler Junge. Mein Dad hätte mir erlaubt, in den Fußballverein einzutreten, was mir Onkel Vernon immer verboten hat. Ach, was sage ich: Er hätte mich zu Quidditchspielen mitgenommen! Und meine Mum hätte bestimmt ganz tolle Geburtstagspartys für mich organisiert. Und an Weihnachten …“ Der Gedanke an dieses Fest zusammen mit seinen Eltern ließ ihn für nur einen winzigen Augenblick schwermütig werden. „Weihnachten wäre jedes Jahr ein Erlebnis geworden, da bin ich mir ganz sicher.“
Seine Stimme beteuerte, dass er diese Momente, auch wenn er sie nie bewusst kennen gelernt hatte, tief in seinem Innern vermisste. Harry spürte er eine Träne, die er schnell wegwischte, bevor sie gesehen werden konnte.
„Aber andererseits …“ Er zwang sich, Severus in die Augen zu sehen. „Vielleicht wäre ich dann nicht mit Ginny zusammen und hätte vollkommen andere Freunde? Freunde, mit denen ich nicht so eine innige Verbundenheit teilen würde wie mit denen, die ich jetzt habe. Meine Freunde sind seit dem ersten Schuljahr meine Familie. Ich möchte das um nichts in der Welt gegen ein unsicheres ‘was wäre, wenn‘ eintauschen, verstehst du?“ Severus‘ Unterlippe zitterte und er nickte er langsam. „Man darf ruhig von dem träumen, was einem verwehrt blieb, aber man darf dem nicht nachtrauern. Das tue ich auch nicht, weil ich Menschen um mich herum habe, die mein Leben lebenswert machen. Sie sind für mich da, Tag und Nacht. Sie würden alles stehen und liegen lassen, wenn ich sie brauche. Das ist etwas, das ich bestimmt nicht in diesem Umfang hätte erleben dürfen, wenn mein Leben anders verlaufen wäre. Man kann nicht das Beste aus zwei Welten vereinen. Von der einen Welt träume ich nur, die andere lebe ich und sie ist wundervoll, so wie sie ist.“
Von seinen Worten war Harry selbst überrascht. Sein Herz musste gesprochen haben, denn seinem Verstand traute er so eine Rede normalerweise nicht zu. Severus war ebenso sprachlos. Die Mimik seines Gegenübers verriet Harry eine ganz bestimmte Sache, nämlich das, was Severus noch immer sehr zu belasten schien. Dieses Gefühl konnte Harry mit ihm teilen. Er lächelte Severus an.
„Das mit der Schuld ist eine sehr sonderbare Sache, nicht wahr? Man kann von ihr geplagt werden, selbst wenn man frei von ihr ist. Das geht mir genauso, weißt du?“
Bilder von Cedric huschten durch seinen Kopf. Erinnerungen an den brauhaarigen Hufflepuff, der ihm den Hinweis gab, das goldene Ei vom Trimagischen Turnier mit ins Vertrauensschülerbad zu nehmen. Der Friedhof, Cedrics Tod und die Bitte, seinen Körper mit nachhause zu nehmen; ihn zu seinen Eltern zu bringen.
Als hätte Severus seine Gedanken gelesen, flüsterte er mit bebender Stimme: „Du bist nicht für seinen Tod verantwortlich.“
„Das weiß ich“, stimmte Harry zu. „Das sagt mir jeder.“ Kurz lachte er auf, doch den Kummer konnte er nicht verbergen. „Trotzdem fühle ich mich schuldig. Das ist das, was ich meinte. Es ist da und geht nur langsam weg. Ich habe es vorher schon geahnt, aber jetzt, nachdem ich deine Erinnerungen gesehen habe, weiß ich, dass es dir genauso geht. Ich …“ Harry schluckte kräftig und rückte seine Brille gerade. „Ich verstehe. Ich verstehe endlich. Weiß du, was wir beide machen müssten?“ Severus schüttelte den Kopf. „Die Vergangenheit vergangen sein lassen, damit das Herz nach all den Jahren endlich zur Ruhe kommt. Das geht nicht von heute auf Morgen, dazu braucht es Zeit.“
Severus wusste gar nicht, wie ihm geschah. Er verspürte etwas, das er kaum ertragen konnte. Vielleicht waren es Harrys Worte gewesen oder gar nur die pure Anwesenheit des jungen Mannes, die zum wiederholten Male die Stelle an seinem Brustbein so sehr pulsieren ließ, so dass er glaubte, in der Mitte auseinander gerissen zu werden. Es war nicht das erste Mal, dass Harry diesen Schmerz auslöste.
„Severus?“
Sein verzerrtes Gesicht hatte er vor Harry nicht verbergen können. Er atmete schwer, schloss die Augen.
„Oh mein Gott“, Harry stand auf und eilte zu Severus hinüber, „tut es wieder weh? Das war nicht meine Absicht.“
Harry konnte sich noch sehr lebhaft an den Moment erinnern, als Severus beim Anblick der Decke von einem Gefühlsschub dieser Art übermannt worden war. Ein weiteres Mal war es im letzten Jahr an dem Tag vor Schulbeginn geschehen, als sie – wie heute – gemütlich beim Frühstück zusammensaßen und Severus erzählte, wie er Lily kennen lernte.
„Tut es weh?“, fragte Harry nochmals und Severus nickte. „Soll ich irgendwas holen? Einen Trank oder …“
„Nein“, stöhnte Severus. „Es wird nichts helfen.“
„Was hat das ausgelöst?“ Harry war hörbar erschüttert, dass er erneut bei Severus diesen Zustand hervorgerufen hatte. „Es tut mir leid. Ich weiß nicht, was ich gemacht haben könnte.“
„Es war schon immer so.“ Severus‘ leise Stimme klang gequält. „Nur nie so stark“, fügte er hinzu.
„Was war schon immer so?“
Schon an Harrys erstem Schultag hatte Severus erleben müssen, dass es einen Elfjährigen in Hogwarts gab, der den einen wunden Punkt in ihm angreifen konnte; den Punkt, den er eigentlich abgetötet sehen wollte. Früher hatte er Harry dafür verabscheut, diesen Schmerz in ihm auslösen zu können. Heute ahnte er, dass das ein Zeichen der Heilung darstellen musste.
„Es geht schon“, murmelte Severus. Er nahm sich vor, Hermine davon zu erzählen. Vielleicht würde sie eine Erklärung finden. Es war immer Harry gewesen, der auf Severus‘ Seelenkern einwirken konnte, wenn auch vollkommen unbewusst.
„Wir haben noch gar nichts gegessen und sind schon spät dran.“
„Was?“ Severus blickte zur Uhr. Es war fünf Minuten nach Unterrichtsbeginn. „Merlin, wir müssen los.“
Flugs war Severus aufgestanden, um den Weg zur Klasse anzutreten, doch die Hand an seinem Arm hielt ihn auf. Harry schaute ihn schuldbewusst an.
„Kannst du verzeihen, dass ich es mir angesehen habe?“
Für Severus war unverständlich, dass Harry sein Vergeben erhoffte, dabei müsste es seines Erachtens andersherum sein. „Harry, ich glaube du bist gestraft genug mit dem, was du gesehen hast. Verlang nicht von mir, dass ich dir das verzeihe“, Harrys senkte betroffen seinen Blick, „denn da gibt es nichts.“ Harrys Kopf schnellte hoch. Erleichterung breitete sich in seinem Gesicht aus. Er nickte unmerklich.
„Dann sollten wir uns sputen, sonst handeln wir uns noch eine Rüge von Albus ein, weil wir zu spät zum Unterricht kommen.“ Auf dem Flur, bevor sich ihre Wege trennten, fragte Harry nochmals: „Geht es wieder?“ Severus bejahte wortlos.
Severus‘ Weg war der kürzeste. Als er seine Klasse betrat, saßen alle Schüler mucksmäuschenstill auf ihren Plätzen. Einige lasen im Schulbuch, andere schrieben etwas. Durchweg alle beschäftigten sich still. Vorn an seinem Pult angelangt legten die Schüler Buch und Feder beiseite und blickten auf, warteten geduldig auf ihre heutige Lektion. Draco schaute ihm in die Augen und lächelte. Er schien sehr erleichtert darüber, dass es seinem Patenonkel wieder gut ging.
Langsam verschränkte Severus die Arme vor der Brust, blickte dabei einigen Schüler nacheinander in die Augen, bevor er mit eiserner Miene das Wort an die Klasse richtete.
„Ab der nächsten Woche beginnen die Prüfungen für die UTZe, was Ihnen nicht entgangen sein dürfte. Wie Sie in den anderen Fächern abschneiden, ist mir gleich, aber lassen Sie sich gesagt sein, dass ich von jedem Einzelnen von Ihnen eine Bestnote in Zaubertränken erwarte! Sie täten gut daran, mich in dieser Hinsicht nicht zu enttäuschen.“ Am Ende war er so leise geworden, dass die Schüler sich unbewusst nach vorn gebeugt haben.
Unsicher fand eine Hand den Weg nach oben. Severus rief die Schülerin aus Gryffindor auf.
„Miss Pigott?“
Besagte Schülerin spielte verlegen mit ihrer Feder, während sie stockend sagte: „Mir wurden letzte Woche von einem Mitschüler gewisse Hilfsmittel angeboten und …“
„Werden Sie präziser. Was für Hilfsmittel?“
„Grips-Schärfungs-Trank, Drachenklauenpulver …“
„Ah“, machte Severus, bevor er das Wort an die gesamte Klasse richtete. „Hilfsmittel dieser Art sind während der Prüfungen nicht verboten, aber dennoch rate ich Ihnen davon ab, sie zu verwenden. Der Grund, warum Professor Dumbledore diese Gedächtnis- und Konzentrationsstärkungsmittel nicht frei an jeden Schüler verteilt, ist der, dass er Ihre Leistungen verfälscht. Sie sollten sich auch nach den Prüfungen bei allem, was Sie tun, ganz sicher sein, dass Sie es können und zwar ohne anregende Mittel zur vorübergehenden Steigerung der Gehirnaktivitäten eingenommen zu haben. Des Weiteren müssen Sie damit rechnen“, er schaute Miss Pigott an, „dass die Ihnen angebotenen Mittel nicht die versprochene Wirkung aufweisen. Wenn Sie nicht möchten, dass Sie pulverisierten Doxymist inhalieren, anstelle des recht preisintensiven Drachenklauenpulvers, dann lassen Sie besser die Finger davon!“
Miss Pigott verzog angeekelt das Gesicht. Sie und sämtliche anwesende Schüler hatten soeben beschlossen, keine Mittel dieser Art von Mitschülern zu erwerben. Allein der Gedanke, womöglich die getrockneten Ausscheidungen von Schädlingen zu schnupfen, ließ den einen oder anderen ganz grün um die Nase werden.
„Hat irgendjemand von Ihnen weitere prüfungsspezifische Fragen?“ Niemand traute sich. „Andere Fragen vielleicht?“ Diesmal hob Gordian die Hand.
„Mr. Foster?“
„Sir, einige Arbeitgeber fordern eine Referenz vom Lehrer. Darf ich in dieser Angelegenheit nach bestandener Prüfung an Sie herantragen?“
„Ja, und zwar nur nach bestandener Prüfung mit einem ‘Ohnegleichen‘. Alle anderen Anfragen werden lediglich als Befeuerung für meinen Kamin herhalten. Beschweren Sie sich später also nicht darüber, dass ich keine Empfehlungen für Sie schreibe, sollten Sie eine schlechtere UTZ-Note hervorbringen. Ich habe Ihnen klipp und klar gesagt, was ich von Ihnen erwarte.“ Severus begann damit, zwischen den Tischreihen umherzulaufen. „Mir ist klar, dass mit dem Ende des Schuljahres auch das Ende der Quidditch-Saison hereinbricht. Sie sollten nach genauer Prüfung Ihrer schulischen Fähigkeiten selbst erwägen, ob Sie es sich leisten können, die Zeit auf einem Besen zu vertrödeln, anstelle in der Bibliothek zu hocken, um zu lernen.“ An einem Ende der Tischreihen angekommen drehte er sich um. Er stand genau bei Draco, als er anfügte: „Ansonsten erwarte ich, wie auch bei den UTZ-Prüfungen, dass die letzten Spiele ebenso zu meiner Zufriedenheit verlaufen.“ Er senkte den Blick und schaute kurz seinen Patensohn an, der daraufhin selbstsicher nickte.
Einen Stock höher hatte Harry endlich seine Klasse erreicht. Als er die Tür öffnete, flog ihm ein aus Pergament gebastelter Flieger um die Nase. Die Schüler waren alles andere als leise. Es hatten sich kleine Grüppchen gebildet. Die Mädchen links von ihm, die ihn bisher nicht bemerkt hatten, tuschelten über Jungen und schwärmten von einem namenlosen Blonden. Ganz vorn, an seinem Pult, rangelten spielerisch zwei Ravenclaws. Die jungen Herren aus Hufflepuff bewarfen sich lachend mit Gegenständen, die Harry dem Sortiment von Zonko’s Scherzartikelladen zuordnen konnte. Wieder flog ihm der gleiche Pergamentflieger um die Ohren, der in diesem Klassenraum seine festgelegten Runden zu drehen schien. Harry fühlte sich wohl und grinste in sich hinein.
Auf seinem Weg nach vorn verhielt er sich so ruhig wie möglich. Still setzte er sich auf seinen Platz, um die unruhige Klasse einen Moment zu beobachten. Keiner hatte ihn bisher bemerkt. Eine Schülerin hatte ihren Kopf verliebt an die Schulter ihres Freundes geschmiegt, während sie den Erzählungen ihrer Mitschüler lauschte. Ein anderer Schüler ging auf die Gruppe von Mädchen zu – in seiner Hand hielt er eine Schachtel, die Pralinen vermuten ließ. Die Mädchen rückten näher, als er ihnen die Schachtel in Reichweite hielt, doch als er sie öffnete, knallte es laut. Die Mädchen kreischten erst und giggelten kurz darauf, weil er sie reingelegt hatte.
Sein siebtes Schuljahr war nicht annähernd so entspannt verlaufen. Der Tod von Albus hatte über Hogwarts gelegen. Kein Schüler konnte damals lachen. Keiner hatte es gewagt, den Unterricht zu stören, denn das eigene Leben hing davon ab, sich gegen die Dunklen Künste zur Wehr setzen zu können. Vereinzelt hatte es Angriffe von Todessern gegeben, die jedoch nicht den Schutzwall der Schule durchbrechen konnten. Nach und nach waren die Schüler von ihren Familien nachhause geholt worden. Als Erstes gingen die Slytherins, deren Eltern man selbst als Todesser bezeichnen konnte oder zumindest Voldemort wohl gesinnt waren. Viele Hufflepuffs folgten, die sich schweren Herzens von ihren Mitschülern verabschieden mussten. Minerva, damalige Direktorin, war einen unüblichen Weg gegangen, denn sie hatte Ordensmitglieder als zusätzliche Lehrer herangezogen. Alastor, Kingsley, Remus und selbst Dawlish hatten den Kindern Schutzmaßnahmen beigebracht, die in keinem Lehrbuch standen.
In diesem letzten Schuljahr war der Lerneifer genauso groß gewesen wie die Angst, das Leben zu verlieren. Nach vollendeten UTZ-Prüfungen hatte das Ministerium die Entscheidung gefällt, die Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei wegen der unkalkulierbaren Risiken für die Schüler zu schließen. Mit den Elfen und Geistern war Minerva in Hogwarts zurückgeblieben. Menschliche Gesellschaft hatte sie in Form von Filch und Hagrid, der sich weiterhin um die Ländereien kümmerte. Nichts hatte sie jedoch davon abgehalten, den Ordenstreffen beizuwohnen, die weiterhin im Grimmauldplatz Nr. 12 abgehalten worden waren. Sie war die Erste, die ihre Zustimmung gab, die DA-Mitglieder in den Orden aufzunehmen.
Plötzlich öffnete sich die Tür zum Klassenzimmer. Harry blickte geradeaus und sah Minerva, die ihm ein Zeichen gab, dass es in seiner Klasse zu laut wäre. Er nickte ihr zu und zog seinen Zauberstab, um wortlos einen gestaltlichen Patronus herbeizurufen. Das silberne Licht und die eindrucksvolle Gestalt des Hirschs zog sofort die Aufmerksamkeit der Schüler auf sich, die auf der Stelle verstummten. Zufrieden schloss Minerva wieder die Tür.
„Der gestaltliche Patronus wird nicht Teil der Prüfungen sein“, der Hirsch lief durch die Reihen und sorgte für Ordnung, „aber da wir unseren Lehrplan bereits durchgearbeitet haben und ich mir keine Gedanken über Ihre Leistungen mache“, die letzten Schüler setzten sich auf ihre Plätze, behielten dabei den Hirsch im Auge, „dachte ich daran, außerplanmäßig Themen zu behandeln, die für Sie interessant sein könnten.“
Er wutschte mit seinem Stab und der Hirsch verblasste. Alle Augen richteten sich auf ihn und die Schüler schienen sich zu fragen, wie ihr Professor die Klasse betreten haben könnte, ohne dass sie das bemerkt hatten. Der Flieger aus Pergament drehte nochmals einen Kreis um Harry herum. Die Schüler lachten verhalten. Ein junger Mann erhob sich und wollte den Zauber beenden.
„Nein“, sagte Harry mit stoppender Geste seiner Hand. „Solang er nicht mit schweren Geschossen bestückt ist, darf er von mir aus ruhig weiterfliegen. Versuchen Sie das aber nicht während des Unterrichts von Professor Snape.“ Die Klasse lachte nochmals zurückhaltend. „Haben Sie Fragen bezüglich der Prüfungen?“ Unzählige Hände schossen nach oben. Mit einer nickenden Bewegung nahm Harry den Schüler heran, der seiner Meinung nach als Erster die Hand gehoben hatte.
„Professor Potter, wissen Sie, welchen Themen bei den UTZ-Prüfungen behandelt werden?“
„Nein, das weiß kein Lehrer genau. In der Regel werden die meisten Fragen den Lehrstoff betreffen, den Sie in der letzten Klasse durchgenommen haben. Im Gegensatz zu den ZAGs müssen Sie aber auch damit rechnen, dass selbst Fragen zu Themen gestellt werden, die Stoff des ersten oder zweiten Schuljahres waren. Ich habe etwas vorbereitet, dass Ihnen nützlich sein könnte.“ Per Zauber verteilte er einige Pergamente unter den Schülern, während er erklärte: „Dort ist der Lehrstoff des Fachs ‘Verteidigung gegen die Dunklen Künste‘ aufgelistet und zwar ab der ersten Klasse. Sollten Sie zu einem Punkt nicht mehr genau wissen, um was es ging, sollten Sie das nochmal auffrischen. Fragen Sie mich, Ihre Mitschüler oder ziehen Sie ein Buch zurate.“ Eine weitere Hand schoss nach oben und Harry nahm das Mädchen ran.
„Ist es wahr, dass Professor Snape hier aufhört?“
„Wie bitte?“, fragte Harry verblüfft.
„Ich dachte nur …“ Die Schülerin verstummte.
„Woher haben Sie diese Information?“, wollte er wissen.
„Von anderen Schülern, Sir.“
„Aha“, machte er. Er konnte sich zwar denken, was Severus dazu treiben könnte, seinen Lehrerjob an den Nagel zu hängen, aber eine Bestätigung, dass er dies wirklich tun würde, hatte Harry noch nicht. Harry schmunzelte. „Nun, mir wurde gerade vor Augen gehalten, dass ich offensichtlich nicht mehr ganz auf dem Laufenden bin, was die Gerüchteküche betrifft. Vielen Dank, Miss Muir, dass Sie mir Gesprächsstoff für das Mittagessen am Lehrertisch gegeben haben.“
Zur Mittagszeit schlenderte Harry, der von seinen Schülern überholt wurde, gemütlich zur großen Halle. Er traf vor dem Eingang auf Albus, der mit Rolanda plauderte.
„Im neuen Schuljahr“, hörte er Albus sagen, während er sich den beiden näherte, „werden wir uns neue Besen für die Erstklässler leisten. Die alten stammen ja noch aus der Zeit vor dem Krieg.“ Albus bemerkte den jungen Kollegen. „Oh, Professor Potter.“
Wegen der Schüler hielt man sich an die höfliche Anrede. „Professor Dumbledore, Professor Hooch.“ Als Harry bei den beiden angekommen war, legte er den Kopf schräg. „Mir ist da ein Gerücht zu Ohren gekommen.“
Rolanda runzelte die Stirn. „Was für ein Gerücht?“
„Es betrifft Professor Snape.“ Harry hoffte, dass das ausreichen würde, um einiges von Albus zu erfahren, aber der schien selbst erstaunt.
Mit wachen Augen fragte Albus: „Und was besagt dieses Gerücht?“
„Dass, ähm … Es ist ja nur ein Gerücht“, winkte Harry ab, aber Rolanda hakte neugierig nach.
„Nun raus mit der Sprache!“
„Ich habe gehört, er würde hier aufhören wollen?“ Unbewusst hatte er am Ende des Satzes die Stimme erhoben und es wie eine Frage klingen lassen.
„Severus hört auf?“, flüsterte Rolanda erstaunt. „Warum denn das?“
Albus‘ Augen glitzerten fröhlich. „Die Frage wird Professor Potter uns nicht beantworten können, nicht wahr?“ Harry schüttelte daraufhin den Kopf. „Wie ich’s mir dachte. Dann werde ich mich nun in die große Halle begeben. Rolanda?“
„Ich komme gleich nach“, versicherte sie.
„Dann begleitest du mich, Harry?“, fragte Albus leise.
Als Harry einen Blick über die Schulter warf, sah er Rolanda, die mit Pomona und Septina die Köpfe zusammengesteckt hatte.
‘Oh Gott‘, dachte Harry, ‘jetzt habe ich das Gerücht auch noch weiter gestreut.‘
Über ein ganz anderes kostenloses Angebot freute sich gerade Sirius, denn in der Winkelgasse verteilte ein Bäcker, der zusammen mit wenigen anderen Geschäften auf einen Sonntag geöffnet hatte, gratis Backwaren. Sirius war so frech und staubte gleich zwei von den Plunderstücken ab, mit denen er sich auf den Weg zu Sid machte. Mit ihm war er verabredet. Die Winkelgasse Nummer zwei – wie man es schon ahnen konnte – lag ganz am Ende der Straße. ‘Oder war es der Anfang?‘, dachte Sirius, bevor die Stufen des durch Fideliuszauber geschützten Hauses betrat. Er war schon einige Male hier gewesen. Sid wohnte im ersten Stock. Andere Bewohner hatte Sirius hier nie gesehen. Nachdem er den altmodischen Türklopfer benutzt hatte, wurde ihm geöffnet. Neugierig, wie er war, stellte er seinem Gastgeber gleich eine Frage.
„Wie kommt es eigentlich, dass Sie das ganze Haus mit einem Fidelius schützen konnten? Was sagen denn die anderen Bewohner dazu?“
Sid ließ seinen Gast eintreten und erklärte auf dem Weg zum Wohnzimmer: „Das ganze Haus Nummer zwei gehört mir. Ich wohne allein.“
„Oh“, machte Sirius teils aus Bedauern, teils aus Skepsis. „Keine Familie?“
„Die wohnt nicht hier, nicht einmal in diesem Land.“ Sid deutete auf das hellbraune Sofa. „Nehmen Sie doch Platz, Mr. Black. Darf es etwas zu trinken sein?“
„Machen Sie uns doch einen Kaffee! Ich habe etwas Schönes mitgebracht.“ Weil Sid gleichgültig auf die Papiertüte in Sirius‘ Hand starrte, offenbarte er: „Obstplunder.“
„Doch nicht etwa von dem Bäcker gegenüber?“
„Freilich! Warum?“
„Letzte Woche erst hat das Ministerium bei ihm Mäuse in der Vorratskammer entdeckt. Mit seinen Gratisgeschenken will er wieder Kunden anlocken.“
„Hat er die Plage beseitigt?“, wollte Sirius mit unschuldigem Gesichtsausdruck wissen.
„Offenbar ja, zumindest hat das Ministerium den Laden am Freitag wieder freigegeben.“
„Na dann …“
Sirius zog eines der süßen Hefeteigleckereien aus der Tüte und biss demonstrativ hinein. Sid hingegen schaute ihm einen Moment dabei zu, ging dann hinaus in die Küche und machte per Zauber einen Kaffee. Das klappern von Geschirr war zu hören. Mit einem Gedeck für zwei Personen kam er zurück.
„Was denn?“ Sirius blickte ihn übertrieben verwundert an. „Etwa doch Appetit auf Mäuseplunder?“ Ein Grinsen konnte sich Sirius nicht verkneifen.
„Sie machen es richtig vor, Mr. Black. Es wäre falsch, eine Person für immer abzustempeln und für die Zukunft nur noch Vorurteile zu hegen. Wenn das Ministerium die Backstube freigegeben hat, dann wird das seine Richtigkeit haben.“
Während beide aßen und ihren Kaffee tranken, machten sie bereits grobe Pläne für die heutige Arbeit.
„Ich denke“, begann Sirius, „dass es von Vorteil ist, den Kobolden und Hauselfen einen Zauberstab einzuräumen.“
„Da stimme ich Ihnen zu, aber das Problem ist, dass viele Bürger damit nicht einverstanden sein werden. Das würde sich wiederum negativ auf Minister Weasleys künftige Amtszeit auswirken.“
„Ich verstehe nicht ganz“, gab Sirius offen zu.
„Hauselfen, die einen eigenen Zauberstab haben? Eine Menge altansässiger Familien mit, ähm, wenig aufgeschlossener Geisteshaltung werden auf die Barrikaden gehen. Der Abschnitt 3 vom ‘Gesetz zum Gebrauch des Zauberstabs‘ existiert seit Jahrhunderten! Nicht-menschliche magische Wesen dürfen nicht einmal einen bei sich führen. Stellen Sie sich vor, was diese Gesetzesänderung nach sich ziehen würde. Die magische Gesellschaft wird sich bedroht fühlen …“
„Nicht alle!“, warf Sirius ein.
„Und außerdem gibt es keinen Grund für diese Wesen, einen Zauberstab zu gebrauchen. Sie kommen bestens ohne aus.“
„Weil sie bisher nie einen ausprobieren durften!“
„Mr. Black …“
„Mr. Duvall?“
Sid schloss einen Moment seine Augen. Manchmal, so wie gerade eben, ging ihm Sirius sehr auf die Nerven. Er konnte ein unangenehmer Trotzkopf sein. Sid atmete einmal tief durch.
„Wenn wir nicht wollen, dass es Aufstände gibt – und die wird es geben –, dann müssen wir die Gesellschaft feinfühlig auf diese Änderung vorbereiten, anstatt sie damit zu überrumpeln.“
Sirius runzelte die Stirn. „Und wie stellen Sie sich das vor?“
„Ich habe keine Ahnung.“
Ein Moment der Stille verging, den Sid mit seinem Kaffee überbrückte, während Sirius das letzte Stück seines Gebäcks verzehrte und dabei eine mit Gelee überzogene Kirsche versehentlich auf das Sofa plumpsen ließ. Die Tasse in Sids Hand kam auf halben Weg zum Mund zum Stehen.
„Oh, das ist mir peinlich.“ Sofort zog Sirius seinen Zauberstab, um den roten Fleck auf dem hellbraunen Polster zu entfernen.
„Lassen Sie nur, ich mache das später.“
„Ist doch gleich erledigt, einen Moment.“ Sirius dachte kurz nach und wutschte dann mit seinem Stab. Der Fleck wurde größer, anstatt zu verschwinden. „Ach, ich wusste, der war nicht richtig.“ Seinen Gastgeber anblickend fragte er: „Kennen Sie einen angemessenen Reinigungszauber für Obstflecken?“
„Ich sagte doch, ich kümmere mich später drum.“
„Aber ich kann den Fleck doch nicht …“
Sid stöhnte genervt auf, zog seinen Stab und schleuderte einen wortlosen Reinigungszauber auf die verschmutzte Stelle.
„Verraten Sie mir den Spruch?“
„Wir haben uns nicht getroffen, um Haushaltszauber zu üben.“
„Aber es schadet auch nicht, wenn …“ Sirius hielt inne. „Ach, vergessen Sie’s.“
„Dann können wir nun zu dem Punkt zurückkommen …“
„… zu dem Sie keinen Vorschlag hatten“, unterbrach Sirius frech. „Wenn Sie sagen, wir müssen die Bürger der magischen Welt darauf vorbereiten, dass Kobolde und Elfen demnächst Zauberstäbe nicht nur erwerben, sondern auch mit sich tragen und sogar benutzen dürfen, dann lassen Sie uns doch einfach mal die positiven Aspekte aufzählen.“
„Was denn für positive Aspekte?“
„Was das Wort ‘positiv‘ bedeutet, wissen Sie aber?“
„Wollen Sie mich auf den Arm …?“
Sirius lachte laut auf. „Ja, ich wollte Sie nur auf den Arm nehmen. Tut mir leid, aber manchmal werde ich das Gefühl nicht los, dass Sie als Kind einen Quidditch-Unfall hatten und nach dem Sturz direkt auf dem senkrecht stehenden Besen gelandet sind – und den noch heute mit sich herumtragen, so stocksteif, wie Sie sich manchmal geben.“
„Mr. Black!“ Sid war aufgestanden und ballte die Fäuste an der Hosennaht. Einige Male öffnete sich sein Mund, aber jedesmal schloss er ihn wieder, ohne dass er ein Wort von sich gab.
„Kommen Sie, lachen Sie einfach drüber. Es war nur ein Spaß.“
„Ich finde es gar nicht lustig“, wetterte Sid, „mich in meinem Haus beleidigen lassen zu müssen.“
„Ich habe nur einen Scherz gemacht, Mr. Duvall!“, beteuerte Sirius.
Nachdem Sid einige Male zittrig ein- und ausgeatmet hatte, sagte er durch zusammengebissene Zähne so neutral wie nur möglich: „Sie haben, was Scherze betrifft, eine sehr grobe und verletzende Auffassung. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mich in Zukunft mit Ihrem Schabernack verschonen würden, denn ansonsten sehe ich unsere Zusammenarbeit gefährdet. Habe ich mich verständlich genug ausgedrückt?“
Sirius wusste, dass sein Gegenüber es ernst meinte und nickte deswegen zustimmend. Er müsste sich demnächst zusammenreißen. Nicht jeder war es gewohnt, mit seiner Art Humor umzugehen. Sid nickte ihm einmal kurz zu, um diese kleine Differenz bereinigt zu wissen, bevor er sich wieder setzte. Der Sessel, der älter sein musste als sein Besitzer, ächzte unter Sids Last auf; gleich darauf knarrte eines der Stuhlbeine unangenehm laut. Sirius blinzelte, musste dann grinsen und sprach Sid schließlich amüsiert auf das Geräusch an.
„Das war der Besenstil oder?“ Sirius‘ Augen funkelten neckend, nicht bösartig, aber belustigt. Dass er es nicht beleidigend meinte, würde selbst ein Dreijähriger verstehen. Weil Sid ihn mit versteinerter Miene anstarrte, begann Sirius aus ganzem Herzen zu lachen und dann geschah etwas, was Sirius nicht für möglich gehalten hatte: Sid lachte plötzlich mit. Die eben noch so schwer im Raum liegende Abneigung war mit einem Male wie weggewischt. Sid schüttelte den Kopf und beruhigte sich dabei wieder, behielt jedoch ein Lächeln bei.
„Sie sind unmöglich, Mr. Black.“
„Ja, Sie glauben gar nicht, wie oft ich das zu hören bekomme. Aber zurück zu unserer Arbeit, wenn Sie mir schon keine Haushaltszauber beibringen möchten.“ Er schmunzelte, bevor er tatsächlich wieder den letzten Punkt aufgriff. „Die positiven Aspekte, wenn Kobolde oder Hauselfen in Zukunft Zauberstäbe erwerben dürfen, liegen doch auf der Hand. Es kurbelt unsere Wirtschaft an! Gerade nach dem Krieg ist das eine Sache, die wir fördern sollten. Wenn wir diesen Mitlebewesen nun gestatten, Zauberstäbe zu benutzen, dann profitieren davon nicht nur die Stabmacher allein, sondern auch die Herren und Damen, die sich der Herstellung von Zauberstabholz verschrieben haben sowie diejenigen, die die Kernsubstanzen liefern. Das sind mindestens drei Handelszweige, denen damit auf die Sprünge geholfen wird.“ Sid nickte und hörte weiterhin aufmerksam zu, als Sirius fortfuhr. „Ich lasse jetzt mal außen vor, dass mehr Gewinn für diese Branchen auch mehr Arbeitsplätze für die Bürger mit sich bringen wird. Wichtig ist auch, dass der Gesellschaft damit Vorteile entstehen, denn wenn den Hauselfen durch einen Stab ihre Arbeit erleichtert wird – und davon gehe ich aus –, kann das nur im Sinne ihrer Herrschaften sein. Kobolde hingegen könnten viel effektiver arbeiten, somit wiederum die Zeit für ihren Arbeitsaufwand verkürzen. Man muss nicht extra erwähnen, dass halbe Arbeitszeit auch halbierte Ausgaben für den magischen Menschen bedeuten. Diese Aspekte“, Sirius fummelte ein Pergament aus seiner Tasche, „sollten wir der Gesellschaft verständlich nahebringen. Na, was halten Sie davon?“
Von den vielen Informationen war Sid ein wenig erschlagen, aber so in der Art hatte er sich selbst bereits Gedanken gemacht. Das Schönste war jedoch, dass alles Sinn machte und sogar funktionieren müsste, wenn nur die Möglichkeit bestehen würde, damit überhaupt an die Öffentlichkeit zu gehen.
„Wie könnte man der magischen Gesellschaft diese Vorteile schmackhaft machen?“
„So wie es immer getan wurde: durch die Presse. Hier und da ein Artikel in einer Zeitung. Es müssen ja nicht gleich alle Punkte auf einmal behandelt werden. Vereinzelt über diese Vorteile zu schreiben sollte genügen, um die meisten Menschen für diese Idee zu gewinnen.“ Sirius begann damit, auf seinem Pergament zu schreiben, aber nicht mit einer Feder, sondern mit einem Füllfederhalter.
„Was haben Sie da?“, fragte Sid neugierig.
Im ersten Moment wusste Sirius nicht, auf was sein Gegenüber zu sprechen gekommen war, blickte deswegen an sich hinunter, falls ihm mit dem Obstplunder noch ein anderes Malheur geschehen sein sollte, bis er den Füller in seiner Hand bemerkte.
„Oh, das hier?“ Er hielt den Füller hoch und Sid nickte. „Ein Geschenk meiner Frau. Ein Muggel-Schreibzeug.“
„Ist Ihre Frau ein Muggel?“
Sirius, der sich bereits seine eigenen Punkte notierte, bejahte. „Das bringt uns gleich zum nächsten Punkt, den ich heute noch besprechen wollte. Das 1992 von Minister Weasley ausgearbeitete Muggelschutz-Gesetz weist zu viele Lücken auf, wofür er nichts kann, denn man hat ihm damals viele Steine in den Weg gelegt.“ Unweigerlich musste er an Lucius denken. „Außerdem behandelt dieses Gesetz viele wichtige Punkte überhaupt nicht. Das Gesetz richtet sich überwiegend gegen den Besitz muggelfeindlicher schwarzmagischer Objekte. ‘Muggelschutz‘ sollte meines Erachtens genau das beinhalten, was es aussagt, nämlich den Schutz von Muggeln vor und durch magische Menschen.“
„Ich kann mir bereits denken, auf welche Punkte Sie hinauswollen, aber ich bin ganz Ohr.“
Sirius legte den Füllfederhalter auf das Pergament, nahm dann einen Schluck Kaffee, bevor er sich gemütlich in die Rückenlehne des Sofas sinken ließ.
„Wissen Sie, was meiner Frau passiert ist?“ Eine rhetorische Frage. Sid spitzte die Ohren. „Man hat ihr als Kind“, er hob den Zeigefinger, „eine Erinnerung gelöscht.“
„Als Kind? Das ist doch aber gegen die Vorschriften.“
„Und genau davor müssen wir Muggel schützen. Unsere Vorschriften dürfen nicht mehr dehnbar sein, so dass jeder sie auslegen kann wie er möchte. Soll ich Ihnen mal sagen, was meine Frau als Entschädigung erhalten hat?“
„Was?“
„Nichts! Nicht einmal einen feuchten Händedruck.“ Gedanklich notierte Sirius sich, dass er bei nächster Gelegenheit Arthur einen Tritt in den Allerwertesten geben wollte; natürlich auf nette Art und Weise.
„Es ist notwendig, Mr. Black, dass die Muggel so wenig wie möglich über uns wissen.“
„Warum aber ist das so? Haben wir immer noch Angst davor, dass sie uns wegen unserer Fähigkeiten nur ausnutzen würden? Wasch die Wäsche, putz das Haus …“ Sirius schüttelte den Kopf. „Nein, davor brauchen wir keine Angst zu haben. Die Muggel haben Techniken entwickelt, mit denen sie sich ihr Leben erleichtert haben. Bei einem Vergleich zwischen unserem Flohnetzwerk und deren Telekommunikation schneiden wir ganz schlecht ab. Wir benötigen immer einen Kamin, während die Muggel ein kleines Gerät aus ihrer Jackentasche ziehen und im Nu mit einem Menschen am anderen Ende der Welt sprechen.“
„Wir schneiden nicht immer schlechter ab“, warf Sid ein. „Wir können apparieren, wir haben Portschlüssel ...“
„Die Muggel fliegen zum Mond!“
Einen Augenblick war Sid still, bis er zugeben musste: „Ein Punkt für Sie, denn das können wir nicht überbieten.“
„Jede Welt hat ihre Vor- und Nachteile. Ich möchte damit nur klarstellen, dass die Muggel uns nicht ausnutzen würden. Schwarze Schafe gibt es allerdings überall, aber allgemein halte ich die Muggel für so verständnisvoll, dass man ihnen nicht einfach eine Erinnerung löschen muss, wenn sie nur zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Es kann nicht sein, dass Zauberer, die sich mit Muggeln einen Scherz erlauben, lediglich mit einer Geldstrafe davonkommen, während den Muggeln am Gedächtnis herummanipuliert wird.“
„Ich verstehe Ihren Standpunkt, Mr. Black. Das wird eine sehr umfangreiche Angelegenheit werden, den Umgang mit Muggeln entsprechend hieb- und stichfest auszuformulieren. Ich stimme Ihnen zu, dass nicht jedes Ereignis sofort eine Gedächtnisoptimierung rechtfertigt. Das wird man individuell entscheiden müssen, denn Sie müssen mir zustimmen, dass nicht jeder Muggel es ertragen wird, mit Dingen aus unserer Welt konfrontiert zu werden.“
Diesmal war es Sid, der sich Feder, Tintenfass und Pergament an den Tisch holte und seine Gedanken festhielt.
„Squibs!“, sagte Sirius völlig unerwartet.
„Wie bitte?“ Sid blickte irritiert von seinem Blatt auf.
„Unser nächster Punkt auf der Liste. Kennen Sie einen Squib persönlich?“, wollte Sirius mit hochgezogenen Augenbrauen wissen.
Sid dachte einen Moment nach, musste dann verneinen: „Mir ist noch nie einer über den Weg gelaufen.“
„Und warum ist das wohl so? Weil sie von unserer Gesellschaft verstoßen werden! Meines Erachtens völlig grundlos. Den Job zum Beispiel, den meine Frau jetzt macht, könnte auch ein Squib bewerkstelligen.“
„Was macht Ihre Frau?“
„Sie stellt Hüte her. Das Geschäft ist vor etlichen Wochen hier in die Winkelgasse gezogen. Sie sind vielleicht schon einmal dran vorbeigegangen.“
„Sie meinen ’Stock und Hut’? Ist mir schon aufgefallen. Jetzt weiß ich auch, was mit den Schild ‘Muggel-Handarbeit‘ gemeint ist. Scheint ein Verkaufsschlager zu sein. Der Laden ist immer gut besucht.“
Mit vor Stolz geschwellter Brust ließ Sirius diese Worte noch einen Moment auf sich wirken. Anfangs war er nicht sehr begeistert davon gewesen, dass seine Frau arbeiten ging, weil es finanziell einfach nicht notwendig war, aber sie hatte ihren Spaß daran und offenbar war ihr Handwerk auch begehrt.
„Genau das Geschäft meine ich. Es gibt einige Berufe in unserer Welt, wo das Zaubern nicht vorausgesetzt werden muss. Man braucht als Redakteur keinen Zauberstab – da reicht eine Feder. Das Pflegepersonal im Krankenhaus oder Angestellte in Küchen müssen auch nicht zwingend magisch veranlagt sein. Nehmen wir Kellner: Wo ist der Unterschied, wenn sie eine Bestellung persönlich bringen oder hinter sich herschweben lassen?“
„Mich brauchen Sie davon nicht überzeugen, Mr. Black. Auch ich denke, dass viele Berufe von Squibs ausgefüllt werden können. Ich befürchte nur, dass es in puncto Gehalt in kürzester Zeit Unterschiede geben könnte. So eine Klassenteilung möchte ich gar nicht erst aufkommen lassen.“
„Dann müssen wir uns da noch etwas einfallen lassen.“ Sirius notierte sich was, bevor er eine andere Sache ansprach. „Wenn wir Hauselfen und Kobolden einen Zauberstab erlauben, wie sieht es dann mit anderen halb-magischen Wesen aus? Halb-Riesen zum Beispiel.“
Sid blinzelte ein paar Male. „Halb-Riesen? Gibt es davon viele?“
„Ich kenne zwei.“
Einige Male öffnete Sid den Mund, dachte dann aber immer wieder nach, bevor er letztendlich kleinlaut nachfragte: „Wie ist das möglich?“
Sirius lachte. „Darüber haben meine Freunde und ich uns auch mehrmals den Kopf zerbrochen, aber es ist ja offensichtlich möglich. Wie, das möchte ich eigentlich auch gar nicht so genau wissen.“
„Nun, wenn Halb-Riesen kommunikativ sind und nicht wie die Riesen, ähm, unbedarft und grob, dann sehe ich kein Problem, solange sie magisch sind. Soweit ich informiert bin, haben Riesen keine magischen Fähigkeiten. Die müssten die Halb-Riesen von ihrem menschlichen Elternteil …“
Sid verlor den Faden, weil er sich etwas vorzustellen versuchte, was Sirius gar nicht erst ansprechen wollte. Stattdessen setzte Sirius noch einen drauf.
„Das Gleiche gilt dann auch für die Kinder, die aus der Verbindung zwischen Kobold und Mensch hervorgehen.“
Sirius musste an Professor Flitwick denken, von dem jeder vermutete, dass er einen Kobold in seiner Ahnenreihe haben musste. Des Weiteren war Flitwick ein aktives Mitglied bei der „Initiative für die Forderung eines Anti-Diskriminierungsgesetzes für magische und nichtmagische Halbwesen“. Selbst Hagrid, der Geheimnisse nie für sich behalten konnte, hatte einmal angedeutet, dass es Filius mit seinen Eltern ganz ähnlich ging wie ihm selbst.
„Sie machen Scherze, Mr. Black. Mensch und Kobold?“ Sid machte ein Gesicht, als hätte Sirius gerade das Märchen von einer Prinzessin erzählt, die den heldenhaften Ritter aus dem Weg räumte, damit sie den Drachen ehelichen konnte.
„Kümmern wir uns am besten nur um die magischen Resultate dieser Verbindungen. Ich denke, das Thema wird später sowieso keine Probleme mehr machen, wenn erst Hauselfen und Kobolden ein Zauberstab erlaubt wird.“
Sid machte noch immer den Eindruck, als hätte er einen Klatscher mit voller Wucht an den Kopf bekommen. Seine Nase kräuselte sich und die Stirn schlug Falten, als er leise fragte: „Ob es wohl je eine Verbindung zwischen einem Riesen und einem Kobold gegeben hat?“
Sirius lachte herzlich auf. „Das, Mr. Duvall, sprengt mein Vorstellungsvermögen!“
Die Arbeit dieses Tages war, wenn auch mit einem Hauch Merkwürdigkeit versehen, erfreulich ausgiebig ausgefallen. Sid und Sirius hatten viele Punkte ausgearbeitet und waren zu dem Entschluss gekommen, mit Hilfe der Presse kleine Artikel zu streuen, die die magische Gesellschaft dezent auf die neuen Gesetze vorbereiten sollte.
„Ich habe die Visitenkarte einer jungen Dame“, sagte Sid, während er entsprechendes Objekt per Aufrufezauber zu sich holte. „Es ist nie zu einer Zusammenarbeit gekommen, aber vielleicht könnte uns diese Journalistin behilflich sein.“ Er reichte Sirius die Karte.
„Oh“, machte Sirius, nachdem er den Namen gelesen hatte: Luna Lovegood. „Die Dame kenne ich sogar.“
„Wirklich?“
„Ja, sie ist eine ehemalige Mitschülerin meines Patensohnes.“
„Ich dachte, gerade weil die junge Frau für die Muggelpost schreibt, dass man darüber jene aufgeschlossenen Mitbürger erreicht, die allgemein solchen Änderungen enthusiastischer entgegensehen. Der Tagesprophet eignet sich vorerst nicht dafür, es sei denn, der Minister ordnet an, wie so ein Artikel auszusehen hat.“
„Das wird er nicht tun. Vom Tagesprophet hält er wenig. Falls sie sich noch daran erinnern können, haben die vor gut acht Jahren meinen Patensohn in den Schmutz gezogen, gerade weil das Blatt vom Minister kontrolliert worden war.“
„Ja“, sagte Sid mit Bedauern, „das habe ich damals verfolgen müssen. Eine wahre Schmutzkampagne gegen einen erst fünfzehnjährigen Schüler. Eine Schweinerei.“ Mit einem Finger fuhr sich Sid nachdenklich über die Lippen. „Wäre es wohl möglich, dass Ihr Patensohn sich öffentlich positiv zu den Gesetzesänderungen äußert?“
„Er gibt keine Interviews. Ich glaube, nach Kriegsende hat er sich vollends von den Medien zurückgezogen.“
„Das ist schade, Mr. Black, denn Harry Potter ist noch immer täglich im Gespräch, auch wenn es meist aufgewärmte Themen betrifft. Er hat weiterhin großen Einfluss auf die Gesellschaft und …“
„Ich werde ihn nicht fragen“, brach Sirius das Thema ab.
Sid schüttelte den Kopf. „Sie könnten ihn über unsere geplante Vorgehensweise unterrichten. Wenn er es für richtig hält, wird er vielleicht sogar selbst den Vorschlag machen, seine positive Meinung der Gesellschaft preiszugeben. Machen Sie bloß keinen Hehl daraus, was wir mit seiner öffentlichen Stimme erreichen möchten. Ich denke aber, er sollte davon erfahren, dass sein Einsatz von größter Wichtigkeit wäre. Wenn es sich bei der jungen Journalistin um eine ehemalige Mitschülerin handelt, könnten die beiden doch ganz gemütlich ein Schwätzchen halten.“
„Ich weiß nicht, Mr. Duvall. Ich möchte Harry nicht als Sprachrohr für unsere Belange missbrauchen.“
„Doch nicht missbrauchen, Mr. Black. Es bleibt ihm überlassen, ob er sich öffentlich äußern möchte oder nicht. Er sollte aber erfahren, dass er in dieser Hinsicht mehr als nur helfen kann.“
„Na ja“, haderte Sirius mit sich selbst, „ich kann mit ihm ja mal darüber reden, aber versprechen kann ich nichts.“
„Das verlangt auch niemand.“
Am darauf folgenden Montagmorgen in Hogwarts kam Harry schwer in die Gänge. Er hatte gestern viel weinen müssen. Der Anblick seiner verstorbenen Eltern hatte ihm am meisten zugesetzt, doch auch sein eigenes Ich so hilflos zu sehen hatte ihn aus der Fassung gebracht. Natürlich war er noch zu klein, um sich daran erinnern zu können, dass es erst Severus gewesen war, der ihn von all dem Tod wegholen wollte, der wie eine dunkle Wolke über Godric’s Hollow lag. Besonders die Bedeutung der Babydecke hatte sich ihm nun offenbart. Endlich war Severus so weit gewesen zu akzeptieren, dass Lily sich nicht für ihn entschieden hatte, was er mit dem durch Schutzzauber getränkten Geschenk für ihr Kind beweisen wollte und dann dieses unabwendbare Drama.
Auch jetzt, als er so überpünktlich am kaum besuchten Frühstückstisch saß und an Sirius dachte, wie der ihn in den Arm genommen und sich um die Wunde an der Stirn gekümmert hatte, sammelten sich erneut Tränen in Harrys Augen. Unbewusst zog er die Nase hoch, was Albus, der zwei Plätze neben ihm saß, nicht überhören konnte.
„Harry?“, hörte er die besorgte Stimme des Direktors. Er drehte sich um, bemerkte erst dann, dass er Albus nur verschwommen wahrnahm, weswegen er mit seiner Serviette schnell die feuchten Augen trocknete.
„Ja?“
„Warum so niedergeschlagen, mein Junge?“
„Ich …“ Harry stoppte sich und führte den Satz nur in Gedanken weiter. ‘… habe Dinge aus der Vergangenheit gesehen.‘
Albus stand auf und setzte sich auf den freien Platz direkt neben Harry. Schüler waren bisher kaum anwesend und vom Lehrpersonal und den Angestellten befanden sich nur Poppy, Filius und Septina Vektor, die Lehrerin für Arithmantik, am Tisch. Keiner schien ihm oder Albus viel Aufmerksamkeit zu schenken.
„Geht es dir nicht gut?“, fragte Albus fürsorglich. „Möchtest du heute frei haben?“
„Nein, das ist nicht notwendig. Ich glaube, ich brauche nur etwas Zerstreuung.“
„Zerstreuung weswegen?“ Es war Harry nicht möglich zu antworten, weswegen Albus ihm väterlich eine Hand auf die Schulter legte und Mut machend zudrückte.
Harry seufzte und atmete tief durch. „Warum ergreifen einen Situationen, von denen man längst weiß, so erbarmungslos, nur weil man sie mit eigenen Augen sieht?“ Er schüttelte den Kopf, als wäre ihm dieses Erlebnis unbegreiflich.
„Vielleicht ist das so“, mutmaßte Albus, „weil man dem Gesehenen mehr Bedeutung beimisst als dem Hörensagen?“ Harry starrte auf seinen leeren Teller und nickte, weil Albus ihm eine einleuchtende Erklärung gegeben hatte.
„Das wird es sein“, murmelte er.
Die Hand an seiner Schulter wanderte zum Rücken und strich zur Beruhigung dreimal im Kreis, bevor Albus von ihm abließ.
„Hast du Fragen, Harry?“
Von diesem Angebot war er überwältigt, denn normalerweise musste man Albus sämtliche Informationen aus der Nase ziehen, wenn man die kryptischen Andeutungen, die der betagte Direktor von sich gab, nicht verstand. Harry war sich nur nicht sicher, ob er über Severus‘ Erinnerungen mit Albus reden durfte, selbst wenn er Teil der Erinnerungen gewesen war. Harry entschied sich dagegen und schüttelte den Kopf.
„Möglicherweise findest du Zerstreuung bei jemandem, der deinen Kummer teilt?“
Mit Severus darüber zu reden, daran hatte Harry längst gedacht. Leicht würde es sicherlich nicht werden, seinem Kollegen – seinem Freund, verbesserte er in Gedanken – zu gestehen, dass er die Erinnerungen gesehen hatte. Aber Freunden sagte man die Wahrheit, man war ihnen gegenüber ehrlich und das wollte Harry sein.
„Ich denke, ich werde woanders frühstücken“, sagte er verabschiedend zu Albus, bevor er sich erhob und den Lehrereingang in der Nähe der Stundengläser nutzte, um den Weg in die Kerker einzuschlagen.
„Dobby?“, flüsterte er leise. Mit dem gewohnten Geräusch der Elfen-Apparation stand Dobby vor ihm.
„Harry Potter, Sir! Dobby wünscht einen guten Morgen. Was kann Dobby für Harry Potter tun?“
„Ich habe vor, bei Professor Snape zu frühstücken. Könntest du ihm das ausrichten? Und wenn er nichts dagegen hat, dann bring doch bitte Frühstück für uns beide in sein Wohnzimmer.“
„Dobby hat Professor Snape eben das Frühstück gebracht. Dobby wird ein zweites Gedeck bringen und mehr Essen.“
„Ja, das wäre nett. Erklär ihm bitte, dass ich komme, damit er nicht überrascht ist.“
Der Hauself verschwand. Auf seinem Weg in die Kerker malte sich Harry aus, wie Dobby bei Severus mit einem weiteren Frühstück erschien, wie Severus den Elf anblaffte – über den Gedanken musste Harry schmunzeln – und am Ende nachgab und nun mit einem Gast rechnete.
Die Slytherins, die er in den Kerkern traf und auf dem Weg in die große Halle waren, grüßten ihn ausgelassen fröhlich. Bei Severus angelangt klopfte er, obwohl er freien Zugang hatte, doch er wollte sich ankündigen. Severus öffnete ihm. Er sah in Harrys Augen erstaunlich gelassen aus.
„Guten Morgen, Harry.“ Severus öffnete die Tür weiter, damit sein Gast eintreten konnte. Offensichtlich hatte Severus nichts gegen ein gemeinsames Frühstück einzuwenden oder aber er war sich im Klaren darüber, dass er gegen Harrys Beharrlichkeit nicht ankommen würde. „Ich hab nicht mit dir gerechnet“, sagte Severus, womit er Harry zum Lächeln brachte, denn die persönliche Anrede war geblieben. „Du hast dich in letzter Zeit etwas rar gemacht.“
Das stimmte, dachte Harry. „Ja, wegen dem Kind und wegen Ginny. Ich wollte etwas Zeit mit ihnen verbringen.“ Der Hund kam angelaufen und wedelte kräftig mit dem Schwanz, während Harry ihm den Kopf tätschelte.
„Das ist verständlich.“
Severus deutete auf die Couch, auf der Harry Platz nehmen sollte. Dobby hatte es mit dem Frühstück etwas zu gut gemeint, aber vielleicht war unter den Hauselfen der Glauben verbreitet, dass Menschen in Gesellschaft mehr essen würden, womit sie nicht ganz Unrecht hatten.
„Kaffee oder Saft?“ Nach der Frage seines Gastgebers bediente Harry sich selbst und schenkte sich von dem Kürbissaft ein, doch auf eine Tasse schwarzen Wachmacher wollte er nicht verzichten. „Probleme mit den UTZ-Klassen?“
Harry runzelte die Stirn. „Wie bitte?“
„Mit den UTZ-Klassen. Ich dachte, da die Prüfungen nächste Woche beginnen, dass du womöglich Fragen haben könntest, wie auch schon vor Beginn des Schuljahres.“
„Nein, mit meinen Klassen ist alles bestens. Ich wollte nur … Na ja, ich war schon lange nicht mehr hier.“
Dass Severus skeptisch war, konnte Harry an dem Blick erkennen, den er mit seiner Erklärung erntete.
„Gibt es sonst einen bestimmten Grund für deinen kurzfristig angekündigten Besuch?“
„Ähm …“ Harry fragte sich, wie Severus reagieren würde, sollte er ihm die Wahrheit sofort und ohne Vorbereitung an den Kopf werfen. Stattdessen schlürfte er seinen Kaffee und fragte dann: „Wie war es in Japan?“
Die Skepsis in Severus‘ Gesicht wuchs, denn er hielt diese Frage ganz offensichtlich für einen Vorwand, eine Unterhaltung zu starten.
„Der kleine Ausflug brachte äußerst interessante Aspekte ans Tageslicht, was die Magie der Pflanzen betrifft.“
„Aha“, machte Harry, den die Antwort kaum interessierte. Er schob den Löffel auf seiner Untertasse hin und her und zerbrach sich den Kopf darüber, wie er die richtigen Worte finden könnte.
„Harry?“
Harrys Kopf schnellte hoch, der Löffel fiel gen Boden. Verlegen über dieses Missgeschick hob Harry den Löffel auf und legte ihn neben die Untertasse. Er fühlte, wie seine Wangen glühten.
„Harry, raus mit der Sprache. Was führt dich her? Ein peinliches Problem im Intimbereich, für das ich eine Salbe herstellen soll?“
Harrys Augen wurden ganz groß, bevor er Severus‘ neckisches Schmunzeln bemerkte und verlegen lachen musste. „Nein, aber gut zu wissen, dass ich in so einem Fall herkommen kann.“
„Also dann: Legen wir alle Unannehmlichkeiten beiseite und fangen von vorn an. Du bist hier, weil …“, machte Severus den Anfang und Harry ergriff die Gelegenheit, um Tacheles zu reden, wenn auch sehr leise und mit dem Blick starr auf die Tasse gerichtet.
„… weil ich mir die Erinnerungen angesehen habe.“
Kein wütendes Gekeife war zu hören, keine kruden Beleidigungen. Nicht einmal Flüche zischten in seine Richtung und weil all dies ausblieb, blickte Harry betreten auf. Severus saß ihm gegenüber, von der Information vollkommen versteinert und nun offenbar selbst peinlich berührt, denn zwei rosafarbene Flecken zeichneten sich auf den fahlen Wangen ab.
„Ich dachte, ihr hättet sie bei mir gelassen, damit ich … Und als Hermine mich über den Kamin kontaktiert hat, habe ich geglaubt, sie würde vorbeikommen wollen, um sie zu holen. Stattdessen sagt sie mir, ihr beide würdet nach Japan reisen. Ich habe das als Hinweis verstanden.“ Harry spielte mit dem Ärmel seines Umhangs. „Ich hab’s missverstanden, oder?“ Scheu blickte er zu Severus hinüber, der noch immer schockiert war und nicht zu wissen schien, wie er reagieren sollte, denn er regte sich nicht einen Millimeter. „Ich hab’s missverstanden“, wiederholte Harry murmelnd als Tatsache. „Es tut mir leid, ich hätte fragen sollen. Aber …“ Harry atmete tief durch. „Ich wollte wissen, was Hermine so aus der Bahn geworfen hat. Und mich hat interessiert, was du all die Jahre so gut geschützt in deinem Büro versteckt hast. Nicht aus Sensationsgier, das wirklich nicht, aber ich wollte endlich verstehen.“
Nach längerem Warten rührte sich Severus. Wie in Zeitlupe beugte er sich nach vorn, so dass sich seine Ellenbogen auf seinen Knien abstützten. Sein Gesicht vergrub er in beiden Handflächen. Harry blieb still und beobachtete ihn, um die Stimmung seines Gegenübers einschätzen zu können. Manchmal schaute Harry selbst betreten zu Boden und fragte sich, wie Severus sich jetzt fühlen mochte. Womöglich war es Scham, weil Harry nun diese sehr privaten Dinge über ihn wusste, vielleicht aber auch Wut, weil er wieder einmal seine Grenzen überschritten hatte, wie damals in der fünften Klasse. Worüber sich Harry am meisten Sorgen machte, war die Möglichkeit, dass Severus an seiner Vertrauenswürdigkeit zweifeln könnte.
„Es tut mir leid“, sagte jemand leise und Harry glaubte, er wäre es selbst gewesen, doch als sich der Satz wiederholte, da hörte er deutlich Severus‘ Stimme. „Es tut mir so leid.“
Warum sich Severus entschuldigte, wollte sich Harry anfangs nicht erschließen. Er hielt sich jedoch zurück und wartete. Eine Hand verließ Severus‘ Gesicht, die andere bedeckte die schuldgetränkte Miene mit den geschlossenen Augen, die Severus zu verbergen versucht hatte.
„Es tut mir leid, dass ich nichts ausrichten konnte. Ich bedaure zutiefst“, Severus schluckte kräftig, „dass ich dieses Schicksal nicht abwenden konnte.“
„Nein Severus, nicht …“ Harry hatte einen Kloß im Hals, der ihm die Sprache raubte. In Severus ein schlechtes Gewissen zu wecken war das Letzte, was er wollte.
„Es ist meine Schuld. Ich hätte herausfinden müssen, wer dieser neue Todesser war, dann hätte ich Lily warnen können, dass sie Pettigrew nicht trauen dürften. Ich hätte …“
„Es langt!“
So laut wollte Harry gar nicht werden, aber das Thema zerrte an seinen Nerven, noch viel unerträglicher waren die vielen Stiche, die er im Herzen verspürte. Er war hier bei Severus, um sich zu entschuldigen und plötzlich fand er sich in einer Situation wieder, die er momentan nicht meistern wollte. Es ging doch gar nicht um die Vergangenheit, dachte Harry, sondern darum, dass er sich einfach Severus‘ Hinterlassenschaft angesehen hatte. Die Bilder, die er am Vorabend gesehen hatte, drängten sich unaufhaltsam in sein Bewusstsein zurück. Ohnmächtig wurde sich Harry nicht zum ersten Mal darüber bewusst, dass er nichts an alledem, was geschehen war, ändern konnte. Aber würde er das wollen?
„Ich würde nichts ändern wollen“, bestätigte er seine eigene Frage. Severus blickte fragend auf und hörte zu, als Harry in Worte zu fassen versuchte, was ihn ihm vorging.
„Manchmal frage ich mich“, Harrys Stimme war leise und zittrig, „wie es gewesen wäre, wenn meine Eltern überlebt hätten.“ Ein seliges Lächeln zierte sein Gesicht, als er gedankenverloren auf den Tisch blickte. „Ich male mir vor dem Schlafengehen aus, was sie alles mit mir unternommen hätten. Ein Zoobesuch mit ihnen hätte mir bestimmt tausendmal mehr Spaß gemacht als mit meiner Tante. Ich stelle mir vor, wie es mir in Hogwarts ergangen wäre, hätte ich schon als kleines Kind gewusst, dass ich ein Zauberer bin.“ Harry zog seine Nase hoch, aber sein Lächeln blieb und die Augen glänzten verträumt. „Ich wäre nicht berühmt gewesen; ein völlig normaler Junge. Mein Dad hätte mir erlaubt, in den Fußballverein einzutreten, was mir Onkel Vernon immer verboten hat. Ach, was sage ich: Er hätte mich zu Quidditchspielen mitgenommen! Und meine Mum hätte bestimmt ganz tolle Geburtstagspartys für mich organisiert. Und an Weihnachten …“ Der Gedanke an dieses Fest zusammen mit seinen Eltern ließ ihn für nur einen winzigen Augenblick schwermütig werden. „Weihnachten wäre jedes Jahr ein Erlebnis geworden, da bin ich mir ganz sicher.“
Seine Stimme beteuerte, dass er diese Momente, auch wenn er sie nie bewusst kennen gelernt hatte, tief in seinem Innern vermisste. Harry spürte er eine Träne, die er schnell wegwischte, bevor sie gesehen werden konnte.
„Aber andererseits …“ Er zwang sich, Severus in die Augen zu sehen. „Vielleicht wäre ich dann nicht mit Ginny zusammen und hätte vollkommen andere Freunde? Freunde, mit denen ich nicht so eine innige Verbundenheit teilen würde wie mit denen, die ich jetzt habe. Meine Freunde sind seit dem ersten Schuljahr meine Familie. Ich möchte das um nichts in der Welt gegen ein unsicheres ‘was wäre, wenn‘ eintauschen, verstehst du?“ Severus‘ Unterlippe zitterte und er nickte er langsam. „Man darf ruhig von dem träumen, was einem verwehrt blieb, aber man darf dem nicht nachtrauern. Das tue ich auch nicht, weil ich Menschen um mich herum habe, die mein Leben lebenswert machen. Sie sind für mich da, Tag und Nacht. Sie würden alles stehen und liegen lassen, wenn ich sie brauche. Das ist etwas, das ich bestimmt nicht in diesem Umfang hätte erleben dürfen, wenn mein Leben anders verlaufen wäre. Man kann nicht das Beste aus zwei Welten vereinen. Von der einen Welt träume ich nur, die andere lebe ich und sie ist wundervoll, so wie sie ist.“
Von seinen Worten war Harry selbst überrascht. Sein Herz musste gesprochen haben, denn seinem Verstand traute er so eine Rede normalerweise nicht zu. Severus war ebenso sprachlos. Die Mimik seines Gegenübers verriet Harry eine ganz bestimmte Sache, nämlich das, was Severus noch immer sehr zu belasten schien. Dieses Gefühl konnte Harry mit ihm teilen. Er lächelte Severus an.
„Das mit der Schuld ist eine sehr sonderbare Sache, nicht wahr? Man kann von ihr geplagt werden, selbst wenn man frei von ihr ist. Das geht mir genauso, weißt du?“
Bilder von Cedric huschten durch seinen Kopf. Erinnerungen an den brauhaarigen Hufflepuff, der ihm den Hinweis gab, das goldene Ei vom Trimagischen Turnier mit ins Vertrauensschülerbad zu nehmen. Der Friedhof, Cedrics Tod und die Bitte, seinen Körper mit nachhause zu nehmen; ihn zu seinen Eltern zu bringen.
Als hätte Severus seine Gedanken gelesen, flüsterte er mit bebender Stimme: „Du bist nicht für seinen Tod verantwortlich.“
„Das weiß ich“, stimmte Harry zu. „Das sagt mir jeder.“ Kurz lachte er auf, doch den Kummer konnte er nicht verbergen. „Trotzdem fühle ich mich schuldig. Das ist das, was ich meinte. Es ist da und geht nur langsam weg. Ich habe es vorher schon geahnt, aber jetzt, nachdem ich deine Erinnerungen gesehen habe, weiß ich, dass es dir genauso geht. Ich …“ Harry schluckte kräftig und rückte seine Brille gerade. „Ich verstehe. Ich verstehe endlich. Weiß du, was wir beide machen müssten?“ Severus schüttelte den Kopf. „Die Vergangenheit vergangen sein lassen, damit das Herz nach all den Jahren endlich zur Ruhe kommt. Das geht nicht von heute auf Morgen, dazu braucht es Zeit.“
Severus wusste gar nicht, wie ihm geschah. Er verspürte etwas, das er kaum ertragen konnte. Vielleicht waren es Harrys Worte gewesen oder gar nur die pure Anwesenheit des jungen Mannes, die zum wiederholten Male die Stelle an seinem Brustbein so sehr pulsieren ließ, so dass er glaubte, in der Mitte auseinander gerissen zu werden. Es war nicht das erste Mal, dass Harry diesen Schmerz auslöste.
„Severus?“
Sein verzerrtes Gesicht hatte er vor Harry nicht verbergen können. Er atmete schwer, schloss die Augen.
„Oh mein Gott“, Harry stand auf und eilte zu Severus hinüber, „tut es wieder weh? Das war nicht meine Absicht.“
Harry konnte sich noch sehr lebhaft an den Moment erinnern, als Severus beim Anblick der Decke von einem Gefühlsschub dieser Art übermannt worden war. Ein weiteres Mal war es im letzten Jahr an dem Tag vor Schulbeginn geschehen, als sie – wie heute – gemütlich beim Frühstück zusammensaßen und Severus erzählte, wie er Lily kennen lernte.
„Tut es weh?“, fragte Harry nochmals und Severus nickte. „Soll ich irgendwas holen? Einen Trank oder …“
„Nein“, stöhnte Severus. „Es wird nichts helfen.“
„Was hat das ausgelöst?“ Harry war hörbar erschüttert, dass er erneut bei Severus diesen Zustand hervorgerufen hatte. „Es tut mir leid. Ich weiß nicht, was ich gemacht haben könnte.“
„Es war schon immer so.“ Severus‘ leise Stimme klang gequält. „Nur nie so stark“, fügte er hinzu.
„Was war schon immer so?“
Schon an Harrys erstem Schultag hatte Severus erleben müssen, dass es einen Elfjährigen in Hogwarts gab, der den einen wunden Punkt in ihm angreifen konnte; den Punkt, den er eigentlich abgetötet sehen wollte. Früher hatte er Harry dafür verabscheut, diesen Schmerz in ihm auslösen zu können. Heute ahnte er, dass das ein Zeichen der Heilung darstellen musste.
„Es geht schon“, murmelte Severus. Er nahm sich vor, Hermine davon zu erzählen. Vielleicht würde sie eine Erklärung finden. Es war immer Harry gewesen, der auf Severus‘ Seelenkern einwirken konnte, wenn auch vollkommen unbewusst.
„Wir haben noch gar nichts gegessen und sind schon spät dran.“
„Was?“ Severus blickte zur Uhr. Es war fünf Minuten nach Unterrichtsbeginn. „Merlin, wir müssen los.“
Flugs war Severus aufgestanden, um den Weg zur Klasse anzutreten, doch die Hand an seinem Arm hielt ihn auf. Harry schaute ihn schuldbewusst an.
„Kannst du verzeihen, dass ich es mir angesehen habe?“
Für Severus war unverständlich, dass Harry sein Vergeben erhoffte, dabei müsste es seines Erachtens andersherum sein. „Harry, ich glaube du bist gestraft genug mit dem, was du gesehen hast. Verlang nicht von mir, dass ich dir das verzeihe“, Harrys senkte betroffen seinen Blick, „denn da gibt es nichts.“ Harrys Kopf schnellte hoch. Erleichterung breitete sich in seinem Gesicht aus. Er nickte unmerklich.
„Dann sollten wir uns sputen, sonst handeln wir uns noch eine Rüge von Albus ein, weil wir zu spät zum Unterricht kommen.“ Auf dem Flur, bevor sich ihre Wege trennten, fragte Harry nochmals: „Geht es wieder?“ Severus bejahte wortlos.
Severus‘ Weg war der kürzeste. Als er seine Klasse betrat, saßen alle Schüler mucksmäuschenstill auf ihren Plätzen. Einige lasen im Schulbuch, andere schrieben etwas. Durchweg alle beschäftigten sich still. Vorn an seinem Pult angelangt legten die Schüler Buch und Feder beiseite und blickten auf, warteten geduldig auf ihre heutige Lektion. Draco schaute ihm in die Augen und lächelte. Er schien sehr erleichtert darüber, dass es seinem Patenonkel wieder gut ging.
Langsam verschränkte Severus die Arme vor der Brust, blickte dabei einigen Schüler nacheinander in die Augen, bevor er mit eiserner Miene das Wort an die Klasse richtete.
„Ab der nächsten Woche beginnen die Prüfungen für die UTZe, was Ihnen nicht entgangen sein dürfte. Wie Sie in den anderen Fächern abschneiden, ist mir gleich, aber lassen Sie sich gesagt sein, dass ich von jedem Einzelnen von Ihnen eine Bestnote in Zaubertränken erwarte! Sie täten gut daran, mich in dieser Hinsicht nicht zu enttäuschen.“ Am Ende war er so leise geworden, dass die Schüler sich unbewusst nach vorn gebeugt haben.
Unsicher fand eine Hand den Weg nach oben. Severus rief die Schülerin aus Gryffindor auf.
„Miss Pigott?“
Besagte Schülerin spielte verlegen mit ihrer Feder, während sie stockend sagte: „Mir wurden letzte Woche von einem Mitschüler gewisse Hilfsmittel angeboten und …“
„Werden Sie präziser. Was für Hilfsmittel?“
„Grips-Schärfungs-Trank, Drachenklauenpulver …“
„Ah“, machte Severus, bevor er das Wort an die gesamte Klasse richtete. „Hilfsmittel dieser Art sind während der Prüfungen nicht verboten, aber dennoch rate ich Ihnen davon ab, sie zu verwenden. Der Grund, warum Professor Dumbledore diese Gedächtnis- und Konzentrationsstärkungsmittel nicht frei an jeden Schüler verteilt, ist der, dass er Ihre Leistungen verfälscht. Sie sollten sich auch nach den Prüfungen bei allem, was Sie tun, ganz sicher sein, dass Sie es können und zwar ohne anregende Mittel zur vorübergehenden Steigerung der Gehirnaktivitäten eingenommen zu haben. Des Weiteren müssen Sie damit rechnen“, er schaute Miss Pigott an, „dass die Ihnen angebotenen Mittel nicht die versprochene Wirkung aufweisen. Wenn Sie nicht möchten, dass Sie pulverisierten Doxymist inhalieren, anstelle des recht preisintensiven Drachenklauenpulvers, dann lassen Sie besser die Finger davon!“
Miss Pigott verzog angeekelt das Gesicht. Sie und sämtliche anwesende Schüler hatten soeben beschlossen, keine Mittel dieser Art von Mitschülern zu erwerben. Allein der Gedanke, womöglich die getrockneten Ausscheidungen von Schädlingen zu schnupfen, ließ den einen oder anderen ganz grün um die Nase werden.
„Hat irgendjemand von Ihnen weitere prüfungsspezifische Fragen?“ Niemand traute sich. „Andere Fragen vielleicht?“ Diesmal hob Gordian die Hand.
„Mr. Foster?“
„Sir, einige Arbeitgeber fordern eine Referenz vom Lehrer. Darf ich in dieser Angelegenheit nach bestandener Prüfung an Sie herantragen?“
„Ja, und zwar nur nach bestandener Prüfung mit einem ‘Ohnegleichen‘. Alle anderen Anfragen werden lediglich als Befeuerung für meinen Kamin herhalten. Beschweren Sie sich später also nicht darüber, dass ich keine Empfehlungen für Sie schreibe, sollten Sie eine schlechtere UTZ-Note hervorbringen. Ich habe Ihnen klipp und klar gesagt, was ich von Ihnen erwarte.“ Severus begann damit, zwischen den Tischreihen umherzulaufen. „Mir ist klar, dass mit dem Ende des Schuljahres auch das Ende der Quidditch-Saison hereinbricht. Sie sollten nach genauer Prüfung Ihrer schulischen Fähigkeiten selbst erwägen, ob Sie es sich leisten können, die Zeit auf einem Besen zu vertrödeln, anstelle in der Bibliothek zu hocken, um zu lernen.“ An einem Ende der Tischreihen angekommen drehte er sich um. Er stand genau bei Draco, als er anfügte: „Ansonsten erwarte ich, wie auch bei den UTZ-Prüfungen, dass die letzten Spiele ebenso zu meiner Zufriedenheit verlaufen.“ Er senkte den Blick und schaute kurz seinen Patensohn an, der daraufhin selbstsicher nickte.
Einen Stock höher hatte Harry endlich seine Klasse erreicht. Als er die Tür öffnete, flog ihm ein aus Pergament gebastelter Flieger um die Nase. Die Schüler waren alles andere als leise. Es hatten sich kleine Grüppchen gebildet. Die Mädchen links von ihm, die ihn bisher nicht bemerkt hatten, tuschelten über Jungen und schwärmten von einem namenlosen Blonden. Ganz vorn, an seinem Pult, rangelten spielerisch zwei Ravenclaws. Die jungen Herren aus Hufflepuff bewarfen sich lachend mit Gegenständen, die Harry dem Sortiment von Zonko’s Scherzartikelladen zuordnen konnte. Wieder flog ihm der gleiche Pergamentflieger um die Ohren, der in diesem Klassenraum seine festgelegten Runden zu drehen schien. Harry fühlte sich wohl und grinste in sich hinein.
Auf seinem Weg nach vorn verhielt er sich so ruhig wie möglich. Still setzte er sich auf seinen Platz, um die unruhige Klasse einen Moment zu beobachten. Keiner hatte ihn bisher bemerkt. Eine Schülerin hatte ihren Kopf verliebt an die Schulter ihres Freundes geschmiegt, während sie den Erzählungen ihrer Mitschüler lauschte. Ein anderer Schüler ging auf die Gruppe von Mädchen zu – in seiner Hand hielt er eine Schachtel, die Pralinen vermuten ließ. Die Mädchen rückten näher, als er ihnen die Schachtel in Reichweite hielt, doch als er sie öffnete, knallte es laut. Die Mädchen kreischten erst und giggelten kurz darauf, weil er sie reingelegt hatte.
Sein siebtes Schuljahr war nicht annähernd so entspannt verlaufen. Der Tod von Albus hatte über Hogwarts gelegen. Kein Schüler konnte damals lachen. Keiner hatte es gewagt, den Unterricht zu stören, denn das eigene Leben hing davon ab, sich gegen die Dunklen Künste zur Wehr setzen zu können. Vereinzelt hatte es Angriffe von Todessern gegeben, die jedoch nicht den Schutzwall der Schule durchbrechen konnten. Nach und nach waren die Schüler von ihren Familien nachhause geholt worden. Als Erstes gingen die Slytherins, deren Eltern man selbst als Todesser bezeichnen konnte oder zumindest Voldemort wohl gesinnt waren. Viele Hufflepuffs folgten, die sich schweren Herzens von ihren Mitschülern verabschieden mussten. Minerva, damalige Direktorin, war einen unüblichen Weg gegangen, denn sie hatte Ordensmitglieder als zusätzliche Lehrer herangezogen. Alastor, Kingsley, Remus und selbst Dawlish hatten den Kindern Schutzmaßnahmen beigebracht, die in keinem Lehrbuch standen.
In diesem letzten Schuljahr war der Lerneifer genauso groß gewesen wie die Angst, das Leben zu verlieren. Nach vollendeten UTZ-Prüfungen hatte das Ministerium die Entscheidung gefällt, die Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei wegen der unkalkulierbaren Risiken für die Schüler zu schließen. Mit den Elfen und Geistern war Minerva in Hogwarts zurückgeblieben. Menschliche Gesellschaft hatte sie in Form von Filch und Hagrid, der sich weiterhin um die Ländereien kümmerte. Nichts hatte sie jedoch davon abgehalten, den Ordenstreffen beizuwohnen, die weiterhin im Grimmauldplatz Nr. 12 abgehalten worden waren. Sie war die Erste, die ihre Zustimmung gab, die DA-Mitglieder in den Orden aufzunehmen.
Plötzlich öffnete sich die Tür zum Klassenzimmer. Harry blickte geradeaus und sah Minerva, die ihm ein Zeichen gab, dass es in seiner Klasse zu laut wäre. Er nickte ihr zu und zog seinen Zauberstab, um wortlos einen gestaltlichen Patronus herbeizurufen. Das silberne Licht und die eindrucksvolle Gestalt des Hirschs zog sofort die Aufmerksamkeit der Schüler auf sich, die auf der Stelle verstummten. Zufrieden schloss Minerva wieder die Tür.
„Der gestaltliche Patronus wird nicht Teil der Prüfungen sein“, der Hirsch lief durch die Reihen und sorgte für Ordnung, „aber da wir unseren Lehrplan bereits durchgearbeitet haben und ich mir keine Gedanken über Ihre Leistungen mache“, die letzten Schüler setzten sich auf ihre Plätze, behielten dabei den Hirsch im Auge, „dachte ich daran, außerplanmäßig Themen zu behandeln, die für Sie interessant sein könnten.“
Er wutschte mit seinem Stab und der Hirsch verblasste. Alle Augen richteten sich auf ihn und die Schüler schienen sich zu fragen, wie ihr Professor die Klasse betreten haben könnte, ohne dass sie das bemerkt hatten. Der Flieger aus Pergament drehte nochmals einen Kreis um Harry herum. Die Schüler lachten verhalten. Ein junger Mann erhob sich und wollte den Zauber beenden.
„Nein“, sagte Harry mit stoppender Geste seiner Hand. „Solang er nicht mit schweren Geschossen bestückt ist, darf er von mir aus ruhig weiterfliegen. Versuchen Sie das aber nicht während des Unterrichts von Professor Snape.“ Die Klasse lachte nochmals zurückhaltend. „Haben Sie Fragen bezüglich der Prüfungen?“ Unzählige Hände schossen nach oben. Mit einer nickenden Bewegung nahm Harry den Schüler heran, der seiner Meinung nach als Erster die Hand gehoben hatte.
„Professor Potter, wissen Sie, welchen Themen bei den UTZ-Prüfungen behandelt werden?“
„Nein, das weiß kein Lehrer genau. In der Regel werden die meisten Fragen den Lehrstoff betreffen, den Sie in der letzten Klasse durchgenommen haben. Im Gegensatz zu den ZAGs müssen Sie aber auch damit rechnen, dass selbst Fragen zu Themen gestellt werden, die Stoff des ersten oder zweiten Schuljahres waren. Ich habe etwas vorbereitet, dass Ihnen nützlich sein könnte.“ Per Zauber verteilte er einige Pergamente unter den Schülern, während er erklärte: „Dort ist der Lehrstoff des Fachs ‘Verteidigung gegen die Dunklen Künste‘ aufgelistet und zwar ab der ersten Klasse. Sollten Sie zu einem Punkt nicht mehr genau wissen, um was es ging, sollten Sie das nochmal auffrischen. Fragen Sie mich, Ihre Mitschüler oder ziehen Sie ein Buch zurate.“ Eine weitere Hand schoss nach oben und Harry nahm das Mädchen ran.
„Ist es wahr, dass Professor Snape hier aufhört?“
„Wie bitte?“, fragte Harry verblüfft.
„Ich dachte nur …“ Die Schülerin verstummte.
„Woher haben Sie diese Information?“, wollte er wissen.
„Von anderen Schülern, Sir.“
„Aha“, machte er. Er konnte sich zwar denken, was Severus dazu treiben könnte, seinen Lehrerjob an den Nagel zu hängen, aber eine Bestätigung, dass er dies wirklich tun würde, hatte Harry noch nicht. Harry schmunzelte. „Nun, mir wurde gerade vor Augen gehalten, dass ich offensichtlich nicht mehr ganz auf dem Laufenden bin, was die Gerüchteküche betrifft. Vielen Dank, Miss Muir, dass Sie mir Gesprächsstoff für das Mittagessen am Lehrertisch gegeben haben.“
Zur Mittagszeit schlenderte Harry, der von seinen Schülern überholt wurde, gemütlich zur großen Halle. Er traf vor dem Eingang auf Albus, der mit Rolanda plauderte.
„Im neuen Schuljahr“, hörte er Albus sagen, während er sich den beiden näherte, „werden wir uns neue Besen für die Erstklässler leisten. Die alten stammen ja noch aus der Zeit vor dem Krieg.“ Albus bemerkte den jungen Kollegen. „Oh, Professor Potter.“
Wegen der Schüler hielt man sich an die höfliche Anrede. „Professor Dumbledore, Professor Hooch.“ Als Harry bei den beiden angekommen war, legte er den Kopf schräg. „Mir ist da ein Gerücht zu Ohren gekommen.“
Rolanda runzelte die Stirn. „Was für ein Gerücht?“
„Es betrifft Professor Snape.“ Harry hoffte, dass das ausreichen würde, um einiges von Albus zu erfahren, aber der schien selbst erstaunt.
Mit wachen Augen fragte Albus: „Und was besagt dieses Gerücht?“
„Dass, ähm … Es ist ja nur ein Gerücht“, winkte Harry ab, aber Rolanda hakte neugierig nach.
„Nun raus mit der Sprache!“
„Ich habe gehört, er würde hier aufhören wollen?“ Unbewusst hatte er am Ende des Satzes die Stimme erhoben und es wie eine Frage klingen lassen.
„Severus hört auf?“, flüsterte Rolanda erstaunt. „Warum denn das?“
Albus‘ Augen glitzerten fröhlich. „Die Frage wird Professor Potter uns nicht beantworten können, nicht wahr?“ Harry schüttelte daraufhin den Kopf. „Wie ich’s mir dachte. Dann werde ich mich nun in die große Halle begeben. Rolanda?“
„Ich komme gleich nach“, versicherte sie.
„Dann begleitest du mich, Harry?“, fragte Albus leise.
Als Harry einen Blick über die Schulter warf, sah er Rolanda, die mit Pomona und Septina die Köpfe zusammengesteckt hatte.
‘Oh Gott‘, dachte Harry, ‘jetzt habe ich das Gerücht auch noch weiter gestreut.‘
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
~ Muggelchen.net ~
~ Muggelchen.net ~
- Muggelchen
- Eule
- Beiträge: 345
- Registriert: 07.06.2008 22:29
- Wohnort: Gemälde im 1. Stock
191 Das innere Wesen
Als Harry mit Albus auf den Lehrertisch zusteuerte, bemerkte er bereits einige Kollegen und Angestellte, darunter Hagrid, der ganz außen saß und Filius gleich daneben, aber auch Minerva wartete bereits darauf, dass endlich ihr Gatte neben ihr Platz nehmen würde. Noch bevor sie in Hörweite waren, richtete Albus das Wort an ihn.
„Harry, Gerüchte können sich genauso unaufhaltsam verbreiten wie Krankheiten. Die einzige Heilung wäre, das Übel an der Wurzel zu packen.“
„Ich frage Severus nicht, ob es wahr ist! Er glaubt nachher noch, ich hätte das Gerücht überhaupt erst in die Welt gesetzt.“
„Sicherlich würde ich der Erste sein, der erfahren wird, ob etwas an dem Gerede wahr ist, denn er wird kündigen müssen.“
Harry nickte, sagte jedoch nichts mehr, weil sie nun den Tisch erreicht hatten. Septina, Pomona und Rolanda, die mit einigem Abstand Albus und Harry gefolgt waren, tuschelten noch, während sie die große Halle durchschritten. Kaum hatten sie sich zwischen die anderen Kollegen gesetzt, informierten sie die, die rechts und links neben ihnen saßen, was Harry mit einem flauen Gefühl in der Magengegend beobachtete. Die Besenflug-Lehrerin hatte sich zu Filius gebeugt, Pomona flüsterte Poppy etwas ins Ohr und Septina unterrichtete Remus, aber bestimmt nicht im Fach Arithmantik, sondern über den neuesten Klatsch.
„Herrje“, murmelte Harry, der das Schauspiel um sich herum noch einen Moment beobachtete und der festen Überzeugung war, dass seine Kollegen viel schlimmer tratschen konnten als die Schüler.
Hinten hörte man leise eine Tür ins Schloss fallen. Ausnahmslos jeder am Lehrertisch drehte sich um, weswegen Severus für einen Moment strauchelte und hinter sich blickte, um zu schauen, ob seine Kollegen vielleicht auf jemand anderen ihr Augenmerk gerichtet hatten, doch hinter ihm war niemand. Unsicher strich er sich über die Brust, um aus lauter Verlegenheit seinen Umhang glattzustreichen, bevor er den leeren Stuhl zwischen Harry und Remus anvisierte. Die starrenden Kollegen ignorierend setzte er sich.
Für die anderer Lehrer hörbar fragte Remus Severus sofort: „Ist das Gerücht wahr?“ Hagrid, ganz am Ende eines Tischendes, horchte auf.
Einen Moment lang überlegte Severus, welches Thema ihn betreffend seine Kollegen so sehr interessieren könnte, bis er sich darüber klar wurde, dass es sich nur um berufliches Interesse handeln könnte. Womöglich hatte Draco absichtlich oder unabsichtlich verlauten lassen, dass er bei dem Erstellen eines Kündigungsschreibens geholfen hatte, woraus man schließen konnte, dass Severus demnächst seine Stelle als Lehrer aufgeben würde. So oder so würde er Draco dafür einen Satz heiße Ohren verpassen – natürlich nur mit einem relativ harmlosen Fluch, der ein wenig zwicken und kribbeln sollte.
„Ja, es ist wahr.“ Severus hatte für alle deutlich, aber desinteressiert geantwortet.
Hagrid schien aus allen Wolken zu fallen. „Dann sind Sie wirklich ein Vampir?“
Offenbar war die neue Kunde noch nicht bis zum Ende des Tisches gelangt. Severus rollte mit den Augen, doch Filius nahm es ihm ab, darauf zu antworten.
„Nicht das Gerücht, du großer dummer Zausel! Severus wird hier aufhören“, hörte man den kleinwüchsigen Lehrer für Zauberkunst mit seiner hohen Stimme klarstellen.
„Tatsächlich? Aber warum? Gefällt‘s Ihnen hier nich‘ mehr?“
Hagrid war lieb und nett, aber von Feingefühl verstand er wenig. So konnte er Severus‘ ablehnende Körpersprache, die für alle anderen deutlich zeigte, dass er darüber nicht reden wollte, leider nicht interpretieren. Filius war so frei, Hagrid in ein Gespräch über Tiere zu verwickeln, um ihn vom momentanen Thema abzulenken. Auch sonst hakte niemand mehr nach, nicht einmal Albus, der jedoch einige Male einen Blick zu Severus hinüberwarf.
Harrys Stimme war nur unmerklich lauter als das Geräusch, das sein Messer verursachte, während es die kross gebackene Kruste des überbackenen Camemberts durchschnitt. „Ich hab es von einer Schülerin gehört.“
Severus horchte auf. „Und da dachtest du, jeden anderen zu fragen würde dir schneller eine Antwort bringen, als zu mir zu kommen?“
„Nein, ich wollte nur …“ Harry musste sich eingestehen, dass Severus Recht behielt. Er hätte ihn fragen sollen.
„Es kommt mir gelegen, dass jeder von meiner bevorstehenden beruflichen Luftveränderung zu wissen scheint. Das erspart mir eine von Albus gemachte Ankündigung im Lehrerzimmer.“
Von Severus‘ anderer Seite kam plötzlich die Frage: „Was machst du danach?“ Remus blickte ihn interessiert an, während er auf die Antwort wartete.
„Muss ich darauf wirklich antworten?“
„Nein“, versicherte Remus grinsend, „ich wollte nur meine Vermutung bestätigt wissen, aber ich kann auch warten, bis ich es mit eigenen Augen sehen.“ Schmunzelnd machte er sich über die Fleischplatte her.
„Dann fängst du bei Hermine an?“ Nach seiner Frage schob sich Harry ein Stück von dem Camembert in den Mund, bevor er mit offenem Mund hechelte, weil der Käse noch so heiß war. Severus bestätigte die Frage mit einem Kopfnicken, woraufhin Harry wissen wollte: „Als Angestellter?“
Severus senkte sein Besteck und blickte ihn ungläubig an. „Ich würde mich mit meinen Referenzen nur ungern in einen Angestelltenstatus begeben.“
Harry kam nicht dazu, eine weitere Frage zu stellen, denn Albus beugte sich am Tisch vor und fragte an Minerva vorbei: „Severus, wie wäre es heute nach dem Unterricht mit einem Tässchen Kaffee?“
„Ich habe heute keine …“
„Es wird nicht lange dauern, mein Guter. Ich denke, es liegt ohnehin in deiner Absicht, mir etwas zu überreichen.“
Seufzend stimmte Severus zu, bevor er endlich dazu kam, sich etwas von dem Käse aufzutun, an dem Harry sich bereits den Mund verbrannt hatte.
In Malfoy Manor dauerte es noch eine halbe Stunde, bis das Mittagessen fertig sein würde, das hatte Lucius zumindest von Narzissa erfahren, die zusammen mit ihrer Schwiegertochter in der Küche stand und kochte, dabei auch noch Spaß zu haben schien. Lucius sprach selten mit der Frau seines Sohnes, die er in Gedanken noch immer Miss Bones nannte. Die Zeit vertrieb er sich damit, die wartenden Posteulen in der kleinen Anflugstelle neben dem Haus von ihrer Last zu befreien. Ein Streifenkauz hatte ihm doch tatsächlich in den Daumen gebissen. Wütend stupste er ihn mit seinem Gehstock an, doch das Tier flog nicht weg. Viele der fremden Vögel blieben beharrlich auf den Stangen der hauseigenen Eulerei sitzen, die er damals, als er noch Hauselfen besaß, höchstens einmal im Jahr freiwillig betreten hatte. Seiner Meinung nach war dieser Ort viel zu verdreckt, als dass jemand mit seinem Ansehen sich hier aufhalten sollte.
„Was denn?“, keifte er die sturen Tiere an, bis ihm einfiel, dass sie wohl auf Bezahlung, zumindest aber auf ein wenig Wegzehrung hofften.
Aus der Geldbüchse, die sein Sohn hier oben verstaut hatte, entnahm er eine Hand Galleonen. Sofort kam eine der Eulen zu ihm geflogen und scharrte einmal mit dem Füßchen. Ihr steckte er eine Galleone in das kleine Säckchen am Fuß. Die Eule flog von dannen. So langsam hatte Lucius den Dreh mit den Vögeln raus. Sie scharrten so oft mit ihren Krallen – manche jedoch schuhuten –, um die Anzahl der Galleonen mitzuteilen, die er ihnen schuldig war.
Die neun Eulen plus des frechen Kauzes bekamen ihre Bezahlung und verschwanden. Nur zwei Eulen bestanden auf Wasser und ein paar Körnern, weil sie von dem weiten Weg zu erschöpft waren. Per Zauberstab war die Verpflegung schnell erledigt, so dass Lucius diesen dreckigen Ort mit gerümpfter Nase flugs verlassen konnte.
Sein Weg führte ihn über einige Natursteine, die im Rasen eingelassen waren. Es war der kürzeste Weg von der Eulerei zurück zum Haus, den er allerdings kaum kannte. Erfreut war er über die blühenden Narzissen und die Maiglöckchen, die ringsherum aus dem Boden sprossen. Ein paar wilde Grasnelken hatten sich auf der sonst so gepflegten Grünfläche ausgebreitet. Ihre rosafarbenen Blüten harmonierten farblich mit den weißgelben Osterglocken, von denen er mit Hilfe seines Zauberstabes sieben pflückte, um sie seiner Frau zu mitzubringen.
Zurück im Haus suchte er den Raum auf, der mit der Küche verbunden war. Das eigentliche Esszimmer lag einige Räume weiter, doch es wurde schon lange nicht mehr benutzt. Künftig die Mahlzeiten hier in der Nähe der Küche einzunehmen war Narzissas Vorschlag gewesen, dem Lucius nur knurrend zugestimmt hatte. Die Hauselfen fehlten hinten und vorne. Mit denen war es nie ein Problem gewesen, die Mahlzeiten von der Küche ins Esszimmer zu bringen, ohne dass es auf dem Weg dorthin kalt wurde.
In eine der kostbaren Vasen füllte er mit einem Aguamenti-Zauber etwas Wasser, bevor er die sieben Narzissen hineinstellte. Mit der Post in der Hand begab er sich zu dem Sessel am Kamin. Die Tür zur Küche hatte er im Blickfeld. Sie war nur angelehnt, weil seine Schwiegertochter das Kind immer in der Nähe hatte, so auch diesmal. Das Kinderbettchen stand natürlich nicht direkt in der Küche, sondern hier bei Lucius im Raum. Trotz der nicht gerade leisen Geräusche, die aus der Küche kamen, schien Charles fest zu schlafen, denn man hörte keinen Mucks aus der Wiege. Vielleicht war das so, dachte Lucius, weil das Kind die Stimme seiner Mutter vernehmen konnte. Lucius konnte sich noch daran erinnern, dass er selbst als Kind immer schnell eingeschlafen war, wenn seine Mutter ihm eine Gutenachtgeschichte vorgelesen hatte – nicht wegen des Inhalts, sondern wegen ihrer warmen Stimme.
Durch die angelehnte Tür strömte ein appetitanregender Duft. Mit Vorfreude auf das Mittagessen ging Lucius die Post durch. Es war ernüchternd, dass die meisten Briefe an seinen Sohn adressiert waren, selbst die von seinen ehemaligen Geschäftspartnern. Einige waren für die neue Mrs. Malfoy und nur einer für Narzissa; der stammte von ihrer Schwester. Ein Brief war an ihn selbst gerichtet. Er war vom Mungos und beinhaltete sicherlich eine Rechnung. Dem Ministerium würde er zutrauen, dass man ihn an seinen Behandlungskosten teilhaben ließ. Den Brief öffnete Lucius nicht, denn Rechnungen waren die Angelegenheit seines Sohnes. Das nächste Mal, das nahm er sich fest vor, würde er sich nicht mehr um die Post kümmern, wenn für ihn schon nichts dabei war. Nachdem er die Post auf ein Beistelltischlein abgelegt hatte, betrachtete er die Blumen, die er für Narzissa besorgt hatte, bevor ihn nicht zum ersten Mal an diesem Tag die Langeweile übermannte.
In Gedanken malte er sich aus, wie er in Zukunft seine Zeit verbringen könnte. Die Idee, sich erneut im Ministerium zu bewerben, hatte er sich schnell wieder aus dem Kopf geschlagen. Damals war es für Voldemort von Vorteil gewesen, einen Verbündeten in der Politik zu haben, der den Minister um den Finger wickeln konnte. Bei Fudge war Lucius diese Aufgabe nicht einmal schwergefallen. Mit all dem Reichtum war der Minister leicht zu beeindrucken. Lucius konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, was überhaupt seine Aufgabe im Ministerium gewesen war – außer natürlich der Aufgabe, für Voldemort zu agieren. Keiner der Malfoys hatte es je nötig gehabt zu arbeiten. Geschäftemacherei in Form von Krediten oder Unternehmensbeteiligungen hatten die Männer in seiner Familie eher als eine Art Zeitvertreib gesehen. Die Verliese platzten damals schon aus allen Nähten. Heute waren die malfoyschen Räume bei Gringotts noch immer bis zum Rand gefüllt mit Galleonen und anderen Schätzen, doch all das gehörte nicht mehr ihm, sondern seinem Sohn. Rein theoretisch müsste er sich eine Arbeit suchen, um für sein Leben und das seiner Gattin aufkommen zu können, doch Draco war so freundlich, für seine Eltern zu sorgen. Lucius fühlte sich nutzlos.
Missgelaunt schnaufte er, bevor er einen sehnsüchtigen Blick in Richtung Küche warf. Die Essenszeiten waren etwas Besonderes, weil es dann weniger langweilig war. Erschrocken stellte Lucius fest, dass er so ähnlich schon einmal gedacht hatte. Zu dieser Zeit war er allerdings noch Patient im Mungos.
„Verflucht nochmal“, murmelte er griesgrämig. Er würde bald fünfzig Jahre alt werden. ‘Jung‘, verbesserte er in Gedanken. Mit einer bei Zauberern üblichen Lebenserwartung mit bis an die 200 Jahre waren fünfzig Jahre noch gar nichts. Er würde bald ein halbes Jahrhundert alt sein und hätte in seinem Leben nichts vorzuweisen. „Verdammt“, grummelte Lucius, bevor Worte folgten wie „bemitleidenswert“, „armselig“ und sogar „schändlich“.
Erinnerungen an vergangene Geburtstagsfeiern frischten auf. Von allen Gästen, die ihm damals einmal im Jahr die Ehre erwiesen hatten, gab es heute nur noch einen und das war Severus. Bei ihm war er sich überhaupt nicht sicher, ob der einer Einladung heute noch folgen würde. Auf Lucius‘ imaginärer Geburtstagsfeier, die er sich in Gedanken ausmalte, saß er allein mit einer Flasche Feuerwhisky am Kamin und betrank sich. Anders würde es sehr wahrscheinlich auch nicht kommen, vermutete er.
Von einem Glucksen wurde Lucius aus seinen Gedanken gerissen. Der Junge in der Wiege war offenbar erwacht. Dem Glucksen folgte ein Wimmern und bevor das zu einem Weinen heranwachsen konnte, war Lucius schon bei ihm.
„Was ist denn los?“, fragte er mit hoher, sanfter Stimme. Charles verzog den Mund und die Lippen bebten. Der Junge war kurz davor, in Geplärr auszubrechen, doch das würde er verhindern, dachte er sich, als er das Bündel auf den Arm nahm. Mit gekräuselter Nase nahm Lucius einen stechenden Geruch wahr. „Oh ja“, sagte er verständnisvoll zu dem Jungen, „wenn ich so einen Gestank verbreiten würde, wäre mir auch zum Weinen zumute.“ Nachdem sich Lucius mit Charles im Arm umgedreht hatte, um das nächste Badezimmer aufzusuchen, erschrak er, denn seine Schwiegertochter stand hinter ihm. Sie trocknete sich die Hände an einem Handtuch.
„Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich dachte, ich hätte ihn weinen hören.“
„Geweint hat er nicht“, beteuerte er. Ihm sollte niemand nachsagen können, dass er das Kind sich selbst überlassen würde.
„Ist die Windel voll?“, wollte Susan wissen. Sie streckte bereits ihre Arme aus, um ihr Kind entgegenzunehmen, doch Lucius gab den Jungen nicht her.
„Ich kümmere mich darum“, versicherte Lucius. „Es wäre freundlich von Ihnen, wenn Sie sich weiterhin um das Mittagessen sorgen könnten. Langsam aber sicher könnte ich einen Happen vertragen.“
An den kühlen Tonfall hatte sich Susan längst gewöhnt, auch wenn sie es schade fand, dass in ihrem neuen Zuhause so eine familiäre Kälte herrschte. „Es dauert nicht mehr lange, Mr. Malfoy.“
Lucius nickte ihr zu und verließ den Raum. Der Hauch eines unangenehmen Geruchs lag im Zimmer, der Susan bestätigte, dass die Windeln tatsächlich gewechselt werden mussten. Mit einem Wink ihres Stabes sorgte sie für einen dezenten Rosenduft, bevor sie zurück in die Küche ging. Der Strauß Narzissen war ihr nicht entgangen.
„Dein Mann hat dir Blumen aus dem Garten mitgebracht“, sagte Susan mit einem Schmunzeln, bevor sie sich wieder daran machte, das fertige Essen in Schalen umzufüllen, die sie auf den Tisch stellen wollten.
„Blumen? Wie lieb von ihm. Wo ist er?“
„Mit Charles im Bad.“
„Er scheint seinen Enkel sehr zu mögen“, sagte Narzissa mit Bedauern, weil es nicht auch so bei Susan sein konnte.
Über dem Wickeltisch im geräumigen Badezimmer hing ein Spielzeug, an dessen drei Fäden eine Rassel, ein quietschendes Entchen und ein Spiegel befestigt waren. Charles konnte es, wenn er seine kleinen Arme ausstreckte, noch nicht erreichen, obwohl er es versuchte, aber seine wachen Augen war auf die drei bunten Dinge gerichtet, die bewegungslos über seiner Nase hingen. Mit seinem Zauberstab beförderte Lucius die schmutzige Windel per Evanesco gerade ins magische Nirwana, ging dabei einen Schritt zurück, um sich nicht versehentlich zu beschmutzen, da bewegte sich plötzlich die Rassel, die der Junge mit seinen Augen fixiert hatte. Charles giggelte und ruderte fröhlich mit den Armen, während Lucius beinahe die Augen aus dem Kopf fielen. Um zu prüfen, ob das kein Zufall gewesen war, wutschte Lucius mit seinem Stab, damit die Rassel wieder still wurde. Obwohl sein Magen knurrte, nahm sich Lucius einen Moment Zeit, um das Baby zu beobachten. Charles blickte so starr auf das Spielzeug über sich, dass man meinen könnte, er würde es hypnotisieren wollen. Lucius sprach das Ereignis einem Zufall zu und fuhr mit seiner Aufgabe fort. Gerade schon wollte er dem Jungen die frische Windel anlegen, als die Rassel erneut ihre vertrauten Geräusche von sich gab, woraufhin Charles glücklich quiekte. Lucius ging den einen Schritt auf den Wickeltisch zu und beugte sich über das Kind.
„Sowas, sowas, sowas.“ Von dem breiten Lächeln auf dem Kindergesicht ließ sich Lucius gern anstecken. „Was werden sie mich beneiden, wenn ich ihnen das erzähle“, sagte er zu dem Kleinen, während er die neue Windel befestigte. „Nicht die Frau Mama, nicht der Papa“, er zog dem Jungen den Strampelanzug über die Windel, „sondern der ungeliebte Großvater hat deinen ersten Spontanzauber miterleben dürfen.“
Das letzte Knöpfchen war geschlossen. Lucius nahm den Jungen auf den Arm. Ein zufriedenes Lächeln hatte sich auf beiden Gesichtern niedergelassen, als sie den Rückweg antraten.
„Das werde ich den beiden gleich brühwarm erzählen!“
„Was willst du uns erzählen?“, fragte Narzissa, die bereits am Tisch saß und das Essen auftat. Susan saß neben ihr und beäugte ihren Jungen.
„Ich durfte eben dabei sein, als Charles von seinem langweiligen Spielzeug offenbar genug hatte und es dazu brachte, sich von allein zu bewegen.“
„Nein wirklich?“ Beide Frauen waren ganz aus dem Häuschen.
„Wenn ich es doch sage! Die Rassel hat es ihm angetan. Hörte sich wie eine junge Klapperschlange an. Vielleicht kommt er eines Tages nach Slytherin?“ Gut gelaunt legte Lucius den Jungen zurück in die Wiege, bevor er neben seiner Frau Platz nahm, die ihm schon reichlich auf den Teller getan hatte. „Das dürfte aber seiner Mutter wenig gefallen, wie ich annehme.“
„Warum nicht?“ Susan zuckte mit den Schultern. „Ich habe immerhin einen geheiratet.“
„Wie wahr …“ Beim Anblick des Schmorbratens, selbst bei dem Duft lief ihm das Wasser im Mund zusammen. „Vielleicht ist die Haarfarbe das Einzige, das er mütterlicherseits geerbt hat? Und selbst da sehe ich bereits ein leichtes Aufhellen.“
„Das bildest du dir ein Lucius“, winkte seine Frau ab.
„Hopfen und Malz scheint bei dem Jungen jedenfalls nicht gänzlich verloren.“
Susan hätte böse sein müssen, aber das beständige Lächeln auf dem Gesicht ihres Schwiegervaters entschärfte die Situation. Trotzdem tat sie beleidigt, aber so, dass beide bemerken mussten, wie sie es vorgaukelte.
„Oh Mr. Malfoy, da tun Sie mir und meiner Familie aber Unrecht, wenn Sie so etwas sagen.“
Lucius legte den Kopf schräg und hob beide Augenbrauen. „Ich drücke mich mal anders aus: Solang der Junge später nicht nach Hufflepuff sortiert wird, kann er mich nicht enttäuschen.“
„Lucius!“, mahnte seine Frau, doch Susan nahm es gelassen.
„Hufflepuff bringt all die freundlichen, loyalen und strebsamen Bürger hervor“, zählte sie bedächtig auf. „Außerdem war ich die Ausnahme meiner Familie. Mein Vater war in Ravenclaw, meinte Tante in Gryffindor.“
„Und die Frau Mutter?“ Über seine Frage stutzte er selbst. „Oh, verzeihen Sie. Ich vergaß, dass Ihre Mutter ein Muggel ist.“
„Das haben Sie vergessen?“, fragte Susan in einem nur ganz leicht provozierenden Unterton nach. „Dabei ging ich davon aus, dass das der Grund für unsere familiären Differenzen ist.“
Die Gabel in seiner Hand ließ Lucius wieder sinken, wie er auch ihre Worte sinken ließ, die ihn nicht einmal aus der Ruhe gebracht hatten. Zu sehr war er von dem Erlebnis mit seinem Enkel fasziniert. Bei Dracos erstem Spontanzauber war er leider gerade bei einem Treffen mit Voldemort gewesen.
„Unsere Differenzen“, begann Lucius wohl überlegt und daher sehr langsam, „sind das Resultat von uralten Traditionen, deren Unantastbarkeit respektlos mit Füßen getreten wurde. Dieser über mehrere Jahrhunderte überlieferte Brauch hat durch diesen abrupten Bruch mit einem Schlag an Bedeutsamkeit verloren. Auf diese Weise wurde er geradezu mit einer solchen Geringschätzigkeit abgetan, dass man meine könnte, die Malfoys hätten seit jeher eine Lächerlichkeit begangen.“
Über eine derart hochgestochene Ausdrucksweise verfügte Susan dank ihrer Arbeit im Ministerium auch und sie war gewillt, genauso geschwollen zu sprechen, als sie ihm die passende Antwort servierte.
„Traditionen werden von neuen Generationen selten einfach hingenommen, sondern in Augenschein genommen, um zu prüfen, ob sie von Nutzen sind oder lediglich das darstellen, was sie oftmals sind und zwar eine überlieferte Gewohnheit, die nur einer Sache zweckdienlich ist: Dem Schutz vor Neuerungen. Dennoch bieten Traditionen keinesfalls Schutz davor, denn ein Wandel findet unabänderlich statt und zwar in der Gesellschaft, die mittlerweile einen großen Schritt in Richtung Zukunft gewagt hat, anstatt sich verunsichert an vergangene Gepflogenheiten zu klammern.“
Narzissa hatte längst mit dem Essen aufgehört und hörte den beiden zu. Beide Seiten konnte sie verstehen. Lucius war in dem Glauben erzogen worden, durch die Einhaltung alter Familienbräuche eine kleine sichere Welt aufrechtzuerhalten, so dass kein Außenstehender in sie eindringen und sie durcheinanderwirbeln konnte. Sie verstand jedoch auch ihre Schwiegertochter, die bei ihrer Familie frei von Zwängen dieser Art aufgewachsen war und daher nichts in dieser Hinsicht vermisste.
„Wollen Sie damit andeuten“, grummelte Lucius verärgert, „dass meine Familie altmodisch sei, nur weil wir das, was unsere Ahnen schon getan haben, in Gedenken an sie weiterführen möchten?“
Hier musste Narzissa schlucken, denn ein lautes Ja als Antwort lag ungehört in der Luft. Susan würde bejahen, das ahnte Narzissa, doch ihre Schwiegertochter wusste auch, dass sie ihre Antwort gut begründen sollte. Diese Frage unbegründet zu bejahen würde bei Lucius nur die Abneigung wachsen lassen, weil er sich darin bestätigt fühlen würde, dass seine Schwiegertochter ihm nicht gewachsen sei.
„Die Ansichten von Verstorbenen müssen nicht zwingend fortgeführt werden, um ihrer weiterhin respektvoll gedenken zu können. Jeder Mensch muss für sich selbst abwägen, was für ihn gewichtiger ist, besonders wenn die Frage aufkommt, lieber eine Tradition zu brechen oder ein Herz.“
Lucius wollte dagegenhalten, doch er rechnete damit, dass Narzissa die von den Eltern arrangierte Hochzeit ihrer Schwester als negatives Beispiel anführen würde, sollte er es wagen, alte Traditionen zu verteidigen. Stattdessen legte er sein Besteck beiseite und entledigte sich seiner Serviette, obwohl er kaum etwas gegessen hatte.
„Wenn die Damen mich entschuldigen würden?“
„Lucius, bitte …“
Den Worten seiner Frau schenkte er keinerlei Beachtung. Stattdessen ging er hinüber zum Kinderbett. Für einen Moment hatte Susan ein schlechtes Gefühl. Narzissa schien es genauso zu gehen.
„Was tust du da, Lucius?“, fragte sie mit etwas Sorge in der Stimme.
„Der Junge hat sicherlich Hunger.“
Schon hatte er ihn aus der Wiege genommen und war in der Küche verschwunden, um ein Fläschchen Babymilch zu holen, die er dem Jungen in aller Ruhe im grünen Salon geben wollte.
Betreten schaute Susan zur Tür hinüber, durch die ihr Schwiegervater mit Charles verschwunden war. Ein Blick hinüber zu Narzissa zeigte, dass auch sie über den Verlauf des Gesprächs nicht gerade glücklich war.
„Entschuldigung“, flüsterte Susan reuevoll.
„Nein nein, keine Sorge. Wenn er nicht sofort antwortet, dann bedeutet das, er wird sich Gedanken über die Unterhaltung machen.“
Susans Augen funkelten. „Wirklich?“
Narzissa lächelte, bevor beide sich wieder ihrem Mittagesen widmeten.
Nachdem sie später den Tisch gemeinsam abgeräumt hatten, schaute Susan die Post durch. Von Draco hatte sie die Erlaubnis, alle Briefe für ihn zu öffnen, falls etwas Wichtiges dabei sein würde. Einer der Briefe, die an sie gerichtet war, war vom Ministerium. Kingsley fragte sie, ob sie nach ihrer Mutter-Kind-Zeit wieder anfangen wollte zu arbeiten oder ob sie noch ein halbes Jahr anhängen wollte. Es war ein privater Brief ihres Kollegen und keinesfalls eine offizielle Anfrage.
„Narzissa?“ Als ihre Schwiegermutter sie anblickte, fragte sie: „Wenn ich wieder arbeiten gehen sollte, würdest du dich um Charles kümmern? Sonst würde ich ein Kindermädchen …“
„Wir kümmern uns um ihn!“, bestätigte die Blonde freundlich lächelnd. „Wozu ist eine Familie da?“
Zufrieden nickte Susan und nahm sich vor, Kingsley nachher zurückzuschreiben, dass sie so schnell wie möglich wieder anfangen wollte, da fiel ihr der Brief in die Hand, der an Lucius adressiert war. „Hier ist ein Brief für deinen Mann. Er hat ihn nicht geöffnet.“
„Zeig mal.“ Den Brief vom Mungos nahm Narzissa entgegen, um ihn zu öffnen. Offenbar hatte sie von ihrem Mann die gleiche Erlaubnis wie Susan von dem ihren. Das zweimal gefaltete Pergament beinhaltete keine Rechnung. „Oh, eine Erinnerung vom Krankenhaus zur Nachuntersuchung. Ich werde es ihm besser geben.“
Am Nachmittag brach ein Gewitter herein. Im Hause Malfoy eines in Form einer hitzigen Diskussion zwischen Lucius und Narzissa über den Sinn und Unsinn von Nachuntersuchungen und über Hogwarts eines, das viele dunkle Wolken und literweise Regen mit sich brachte.
Auf seinem Weg zum Direktorenbüro beobachtete Severus durch die Fenster die wenigen vom Unwetter überraschten Schüler, die über die Wiesen rannten und im Schloss das Trockene suchten. Der steinerne Wasserspeier gab nach genanntem Passwort den Weg nach oben frei. Albus – das konnte Severus schon riechen – erwartete ihn mit Kaffee und frischem Gebäck. Die Tür oben öffnete sich von allein und ließ Severus eintreten.
„Ah, mein Freund. Nimm doch Platz.“ Albus beäugte den Umschlag in Severus‘ Händen, mit dem der Tränkemeister unsicher spielte. „Einen Kaffee nimmst du aber zusammen mit mir ein oder?“
„Ich denke, die Zeit habe ich.“ Severus setzte sich und betrachtete die vielen Kuchenplatten. Nougattorte war mit dabei. Er mochte Nougat. „Und ein Stück davon.“ Er deutete auf entsprechenden Kuchen und überraschte sich damit selbst. Womöglich vermisste er jetzt schon die süßen Angebote des Direktors, obwohl er sie meist abgelehnt hatte.
Ungeniert starrte Albus auf den Brief, den Severus nach einigem Zögern an den alten Zauberer reichte.
„Du ahnst sicherlich, was der Brief beinhaltet.“
Albus nickte, bevor er den Umschlag öffnete und den Brief las. Der Inhalt schien Albus glücklich zu machen.
„Darf ich fragen, wie du deine Zukunft gestalten wirst?“, fragte Albus, der den Brief beiseite legte und den Kuchen auftat.
„Du wirst mich in der Winkelgasse finden.“
„In der Apotheke, nehme ich an?“
„Natürlich!“, erwiderte Severus gereizt, denn er ging davon aus, dass Albus das längst wusste.
Albus hatte die Gelassenheit inne zu lachen. „Es ist gut zu hören, dass du etwas gefunden hast, was dir Freude bereitet. Und es ist freundlich, dass du mir rechtzeitig Bescheid gibst.“
„Es ist vertraglich geregelt, dass eine Kündigung mindestens vier Wochen vorher eingereicht werden muss“, rief Severus ihm ins Gedächtnis.
„Sicher, sicher. Bis zur Frist ist es noch etwas hin, Severus. Ich werde genügend Zeit haben, die Stelle neu besetzen zu können.“
„Ich bin sicher, du findest jemand, der mich ersetzen kann.“
Albus blickte auf. „Ersetzen wird dich niemand können, mein Guter. Es fällt mir keinesfalls leicht, dich gehen zu lassen, aber dein Glück hat Vorrang. Ich habe eine Liste mit Kandidaten, die die Voraussetzungen für die Stelle mit sich bringen. Möchtest du sie sehen?“
„Ja“, erwiderte er knapp.
Er würde gern sehen, wen Albus für die Position als Zaubertränkelehrer vorschlagen würde. Die Liste war im Nu herbeigezaubert und Severus überflog die Namen. Nur zwei kannte er persönlich, die anderen gar nicht, aber eine Person vom Namen her.
„Und wer ist dein Favorit?“, wollte Severus wissen.
Albus atmete einmal durch. „Ich dachte, du könntest mir erst deine Meinung sagen.“
Nochmals blickte Severus auf die Liste, bevor er bei seinem ehemaligen Mitschüler begann. „Popovich hatte in der Schule bereits gute Noten. Er hat später seinen Tränkemeister gemacht und hat diesen Berufszweig nie verlassen. Er ist auf diesem Gebiet immer auf dem Laufenden und eignet sich daher bestens.“ Er ging zum nächsten Kandidaten über. „Von Slughorn würde ich abraten, wenn er überhaupt, was ich bezweifle, zusagen würde. Seinen Ruhestand wird er dir zuliebe nicht ein zweites Mal aufgeben.“ Das waren die beiden, die er persönlich kannte. „Professor Junot ist die Leichenbeschauerin des Mungos und Dozentin für das Fach 'Inaugenscheinnahme'.“ Das wusste er von Hermine. „Sie ist einige Zeit aus dem Bereich des Tränkebrauens raus, aber ihr könnte dennoch viel daran liegen, ihren nicht gerade erfreulichen Beruf aufzugeben und in Hogwarts zu beginnen.“ Bei den weiteren Namen musste er passen. „Die anderen kenne ich nicht.“
„Die anderen sind auch nur die Reserve, falls keiner der drei zusagen sollte.“
„Und dein Favorit?“, fragte Severus erneut, nachdem er nun seine Meinung kundgetan hatte.
„Ich denke, Mr. Popovich eignet sich, wie du bereits sagtest, bestens. Zudem ist er ein sehr freundlicher und aufgeschlossener …“
„Solche Eigenarten sind nicht zwingend notwendig, um Zaubertränke unterrichten zu können“, unterbrach Severus etwas verärgert. „Fachkompetenz ist ausschlaggebend!“
„Aber solche Eigenarten schaden auch nicht.“ Bevor Severus die Möglichkeit fand, sich und seine Eigenarten zu verteidigen, wechselte Albus abrupt das Thema. „Dann wirst du ab Juli als Tränkemeister in der Apotheke arbeiten?“
Die Worte, die ihm zuvor auf der Zunge gelegen hatten, purzelten lautlos zurück in seine Kehle, bevor er antwortete: „Ja, im Hintergrund. Ich reiße mich nicht darum, Kunden zu bedienen.“
„Ich hoffe sehr, du findest dann auch mehr Zeit für deine eigene Forschung. Mr. Worple und Mr. Sanguini wären nicht die Einzigen, die davon profitieren würden.“
„Mein Augenmerk liegt zurzeit eher auf Miss Grangers Erfindung.“
„Ah“, machte Albus erstaunt. „Du solltest deine Erfindungen trotzdem nicht in den Hintergrund drängen. Sie haben genauso viel Potenzial.“
„Sie sind nur ein wenig illegal, nicht der Rede wert“, stellte Severus sarkastisch klar. Sein Bluttrank war noch nicht ausgereift, auch wenn er bereits so weit gekommen war, nicht einmal mehr Blut verwenden zu müssen.
Albus klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. „Dein Name wird sicherlich bald in allen Zeitungen stehen sowie der deiner Partnerin.“
Die beiden taten sich an ihrem Kuchen gütlich. Albus blickte immer wieder zu Severus hinüber, was der natürlich bemerkte. Er forderte den Direktor jedoch nicht auf, sich mitzuteilen. Wenn Albus etwas sagen wollte, benötigte er keine Aufforderung. So kam es, dass Albus seinen Kuchenteller abstellte und sich seinem Gast zuwandte.
„Wie fühlst du dich?“
Die unerwartete Frage nach seinem Wohlbefinden irritierte Severus, denn er war der Meinung, gesundheitlich keinen schlechten Eindruck zu machen, bis er ahnte, dass Albus eine bestimmte Sache meinen musste. Eine Angelegenheit, über die Severus nur ungern sprach.
„Ich habe Hoffnung.“
„Severus, wenn ich etwas tun kann, dann …“
„Hast du Vorschläge? Miss Granger und ich hören sie uns gern an. Ansonsten wäre es mir ganz recht, wenn so wenig Menschen wie nur möglich involviert wären.“
„Ich verstehe das, aber hast du auch daran gedacht, dass es gerade dieser Aspekt sein könnte, der dir erst Hoffnung gegeben hat?“
„Albus, ich bitte dich innig, offen mit mir zu reden.“ Für kryptische Aussagen hatte Severus im Moment keine Verwendung.
Albus kam seiner Bitte nach und teilte seine Vermutung frank und frei mit: „Ist es nicht denkbar, dass nicht nur eine bestimmte Person eine Heilung herbeiführen könnte? Wenn es mehrerer Personen bedarf, solltest du das mit einbeziehen. Du würdest gut daran tun, niemanden auszuschließen, der seine Hilfe freiwillig anbietet. Ich habe all die Jahre so sehr gewünscht, dass ich mit meinen damaligen Worten falsch gelegen habe, als ich sagte, alles wäre für immer verloren. Der Zeitpunkt ist nun gekommen, Severus, denn auch ich bin guter Dinge. Ich sehe Veränderungen, die mich hoffen lassen. Ich war nie so glücklich, mich geirrt zu haben.“
Severus schwieg. Seine Gedanken kreisten um den Besuch bei Takeda. Bilder der magischen Pflanzen huschten durch seinen Kopf. Besonders oft sah er vor seinem inneren Auge die klaffende Lücke, die entstanden war, nachdem Takeda eine Pflanze umgetopft hatte. Für lange Zeit hatte sich Severus wie die Pflanze gefühlt, die die Lücke geschaffen hatte; wie jemand, der aus einem vertrauten Kreis herausgerissen worden war und allein zurechtkommen musste. Der Ewige See hatte seine von vornherein nicht sehr ausgeprägte soziale Ader vollends unterdrückt und ihn davon abgehalten, mit anderen Menschen engere Kontakte zu pflegen. Er konnte guten Gewissens von sich sagen, dass er sich mittlerweile nach Gesellschaft sehnte. Er war nicht unbeweglich wie eine Pflanze. Er war in der Lage, sich die Menschen auszusuchen, die er an sich heranlassen wollte; deren Magie auf ihn einwirken durfte. Das Experiment mit Harry und Draco, aber besonders der Abend mit Hermine hatte deutlich gezeigt, dass Magie auf Mitmenschen reagierte. Das war es, was Albus meinte. Severus brauchte Menschen um sich herum, von deren Magie er seinen Vorteil ziehen könnte.
„Ich verstehe, was du meinst“, bestätigte Severus, der sich klar darüber geworden war, sein Leben als Einzelgänger aufgeben zu müssen, wenn er die Lösung seines Problems herbeiführen wollte. Und genau das wollte er, denn er wusste, was er zu fühlen imstande war und das wollte er zurückhaben. Severus wollte wieder empfinden. Plötzlich fühlte er eine Hand auf seiner Schulter, die seine für sich selbst gemachte Entscheidung Mut machend zu begrüßen schien. Eine andere Frage drängte sich in seinen Kopf, die seiner Meinung nach nur sein alter Freund beantworten konnte. „Albus?“ Der Direktor horchte auf. „Aus welchen Gründen weint ein Phönix?“
„Oh, da gibt es verschiedene Gründe. Selbst ich kenne nicht alle, obwohl Fawkes mich viele Jahrzehnte begleitet hat. Diese Vögel sind sehr klug, das weißt du. Sie mögen Worte nicht verstehen können, aber sie durchschauen Gefühle und reagieren darauf. Fawkes weint, wenn jemand, den er mag, traurig oder verletzt ist. Das finde ich so bewundernswert an diesen Vögeln. Sie selbst müssen den Tod nicht fürchten, aber sie scheinen genau zu wissen, dass er für alle anderen Lebewesen endgültig ist.“ Albus vermutete, dass hinter Severus‘ Frage mehr zu stecken schien, weswegen er seine nächsten Worte genau überdachte. „Du weißt, denn wir haben die Möglichkeit nicht außer Acht gelassen, dass Phönixtränen nicht auf die Psyche eines Menschen einwirken können. Sie haben heilende Kräfte, doch die beschränken sich auf körperliche Versehrtheit.“
„Ich weiß, Albus.“ Severus seufzte.
Es war vor mehr als zwei Jahrzehnten der erste Gedanke gewesen, die Wirkung des Trankes durch Fawkes Tränen aufzuheben, doch es war enttäuschend zu erfahren, dass es keine Besserung gebracht hatte.
„Miss Granger …“ Severus stoppte sich selbst und begann von vorn. „Hermine denkt, dass es wieder wachsen könnte. Ihre Vermutung stützt sich auf die Tatsache, dass der eine Teil in mir nicht vollständig inaktiv ist, sondern dazu gebracht werden kann, auf bestimmte Umstände Reaktionen zu zeigen.“
„Ich …“
Diesmal war es Albus, der den Satz nicht zu Ende bringen konnte. Es schien, als wäre auch er – wie Severus selbst – niemals auf die Idee gekommen, an ein mögliches Wachstum zu denken. Unerwartet erhob sich der Direktor von seinem Platz und ging hinüber zu einem der hohen Bücherregale, deren Titel er überflog, bis er in Augenhöhe einen Band fand, den er hinauszog. Mit diesem Buch kam er zurück zu Severus, um es ihm in die Hand zu drücken.
„Es ist lange her, als ich es gelesen habe, aber vielleicht findet ihr dort etwas, das euch bei eurer Suche ein wenig Hilfe verspricht.“
Severus las den Titel des sehr alt aussehendes Buches vor: „Die magische Abhandlung von ‘Liber subtilitatum diversarum naturarum creaturarum‘ – von Hildegard von Bingen; überarbeitet von Vesta Lovegood.“ Severus blinzelte einige Male. „Lovegood?“
„Das Buch ist von 1183, Severus. Es ist gut möglich, dass Vesta Lovegood eine Vorfahrin deiner ehemaligen Schülerin darstellt, aber mit Gewissheit kann ich das nicht sagen.“ Albus tippte auf das antike Buch. „Es wurde vier Jahre nach dem Tod der Muggel-Autorin für die magische Gesellschaft aufgearbeitet. Übersetzt heißt es sinngemäß ‘Buch über das innere Wesen der verschiedenen Kreaturen und Pflanzen‘. Es behandelt die Beschaffenheit und die Heilkraft dieses angesprochenen inneren Wesens.“
„Ich kann mir nicht vorstellen, inwiefern das Buch eines Muggels von Nutzen sein könnte.“
„Das Buch, das du in deinen Händen hältst, wurde nicht von einem Muggel geschrieben. Mrs. Lovegood hat die bestehenden Theorien aus der Muggelwelt aufgegriffen und in die magische Welt übertragen. Einen Blick hineinzuwerfen könnte nicht schaden. Vielleicht solltest du es Hermine überreichen?“
„Du willst mir ein mehrere Jahrhunderte altes Buch überlassen?“
Albus lächelte. „Ich werde es sicherlich eines Tages zurückerhalten. Ich bin auch im Besitz sämtlicher Originalbände dieser Muggel-Autorin. Sie muss eine fantastische Frau gewesen sein.“
Bei Albus‘ nicht aufzuhaltender Bekundung seiner Liebe zu Muggeln rollte Severus genervt mit den Augen.
Als Harry mit Albus auf den Lehrertisch zusteuerte, bemerkte er bereits einige Kollegen und Angestellte, darunter Hagrid, der ganz außen saß und Filius gleich daneben, aber auch Minerva wartete bereits darauf, dass endlich ihr Gatte neben ihr Platz nehmen würde. Noch bevor sie in Hörweite waren, richtete Albus das Wort an ihn.
„Harry, Gerüchte können sich genauso unaufhaltsam verbreiten wie Krankheiten. Die einzige Heilung wäre, das Übel an der Wurzel zu packen.“
„Ich frage Severus nicht, ob es wahr ist! Er glaubt nachher noch, ich hätte das Gerücht überhaupt erst in die Welt gesetzt.“
„Sicherlich würde ich der Erste sein, der erfahren wird, ob etwas an dem Gerede wahr ist, denn er wird kündigen müssen.“
Harry nickte, sagte jedoch nichts mehr, weil sie nun den Tisch erreicht hatten. Septina, Pomona und Rolanda, die mit einigem Abstand Albus und Harry gefolgt waren, tuschelten noch, während sie die große Halle durchschritten. Kaum hatten sie sich zwischen die anderen Kollegen gesetzt, informierten sie die, die rechts und links neben ihnen saßen, was Harry mit einem flauen Gefühl in der Magengegend beobachtete. Die Besenflug-Lehrerin hatte sich zu Filius gebeugt, Pomona flüsterte Poppy etwas ins Ohr und Septina unterrichtete Remus, aber bestimmt nicht im Fach Arithmantik, sondern über den neuesten Klatsch.
„Herrje“, murmelte Harry, der das Schauspiel um sich herum noch einen Moment beobachtete und der festen Überzeugung war, dass seine Kollegen viel schlimmer tratschen konnten als die Schüler.
Hinten hörte man leise eine Tür ins Schloss fallen. Ausnahmslos jeder am Lehrertisch drehte sich um, weswegen Severus für einen Moment strauchelte und hinter sich blickte, um zu schauen, ob seine Kollegen vielleicht auf jemand anderen ihr Augenmerk gerichtet hatten, doch hinter ihm war niemand. Unsicher strich er sich über die Brust, um aus lauter Verlegenheit seinen Umhang glattzustreichen, bevor er den leeren Stuhl zwischen Harry und Remus anvisierte. Die starrenden Kollegen ignorierend setzte er sich.
Für die anderer Lehrer hörbar fragte Remus Severus sofort: „Ist das Gerücht wahr?“ Hagrid, ganz am Ende eines Tischendes, horchte auf.
Einen Moment lang überlegte Severus, welches Thema ihn betreffend seine Kollegen so sehr interessieren könnte, bis er sich darüber klar wurde, dass es sich nur um berufliches Interesse handeln könnte. Womöglich hatte Draco absichtlich oder unabsichtlich verlauten lassen, dass er bei dem Erstellen eines Kündigungsschreibens geholfen hatte, woraus man schließen konnte, dass Severus demnächst seine Stelle als Lehrer aufgeben würde. So oder so würde er Draco dafür einen Satz heiße Ohren verpassen – natürlich nur mit einem relativ harmlosen Fluch, der ein wenig zwicken und kribbeln sollte.
„Ja, es ist wahr.“ Severus hatte für alle deutlich, aber desinteressiert geantwortet.
Hagrid schien aus allen Wolken zu fallen. „Dann sind Sie wirklich ein Vampir?“
Offenbar war die neue Kunde noch nicht bis zum Ende des Tisches gelangt. Severus rollte mit den Augen, doch Filius nahm es ihm ab, darauf zu antworten.
„Nicht das Gerücht, du großer dummer Zausel! Severus wird hier aufhören“, hörte man den kleinwüchsigen Lehrer für Zauberkunst mit seiner hohen Stimme klarstellen.
„Tatsächlich? Aber warum? Gefällt‘s Ihnen hier nich‘ mehr?“
Hagrid war lieb und nett, aber von Feingefühl verstand er wenig. So konnte er Severus‘ ablehnende Körpersprache, die für alle anderen deutlich zeigte, dass er darüber nicht reden wollte, leider nicht interpretieren. Filius war so frei, Hagrid in ein Gespräch über Tiere zu verwickeln, um ihn vom momentanen Thema abzulenken. Auch sonst hakte niemand mehr nach, nicht einmal Albus, der jedoch einige Male einen Blick zu Severus hinüberwarf.
Harrys Stimme war nur unmerklich lauter als das Geräusch, das sein Messer verursachte, während es die kross gebackene Kruste des überbackenen Camemberts durchschnitt. „Ich hab es von einer Schülerin gehört.“
Severus horchte auf. „Und da dachtest du, jeden anderen zu fragen würde dir schneller eine Antwort bringen, als zu mir zu kommen?“
„Nein, ich wollte nur …“ Harry musste sich eingestehen, dass Severus Recht behielt. Er hätte ihn fragen sollen.
„Es kommt mir gelegen, dass jeder von meiner bevorstehenden beruflichen Luftveränderung zu wissen scheint. Das erspart mir eine von Albus gemachte Ankündigung im Lehrerzimmer.“
Von Severus‘ anderer Seite kam plötzlich die Frage: „Was machst du danach?“ Remus blickte ihn interessiert an, während er auf die Antwort wartete.
„Muss ich darauf wirklich antworten?“
„Nein“, versicherte Remus grinsend, „ich wollte nur meine Vermutung bestätigt wissen, aber ich kann auch warten, bis ich es mit eigenen Augen sehen.“ Schmunzelnd machte er sich über die Fleischplatte her.
„Dann fängst du bei Hermine an?“ Nach seiner Frage schob sich Harry ein Stück von dem Camembert in den Mund, bevor er mit offenem Mund hechelte, weil der Käse noch so heiß war. Severus bestätigte die Frage mit einem Kopfnicken, woraufhin Harry wissen wollte: „Als Angestellter?“
Severus senkte sein Besteck und blickte ihn ungläubig an. „Ich würde mich mit meinen Referenzen nur ungern in einen Angestelltenstatus begeben.“
Harry kam nicht dazu, eine weitere Frage zu stellen, denn Albus beugte sich am Tisch vor und fragte an Minerva vorbei: „Severus, wie wäre es heute nach dem Unterricht mit einem Tässchen Kaffee?“
„Ich habe heute keine …“
„Es wird nicht lange dauern, mein Guter. Ich denke, es liegt ohnehin in deiner Absicht, mir etwas zu überreichen.“
Seufzend stimmte Severus zu, bevor er endlich dazu kam, sich etwas von dem Käse aufzutun, an dem Harry sich bereits den Mund verbrannt hatte.
In Malfoy Manor dauerte es noch eine halbe Stunde, bis das Mittagessen fertig sein würde, das hatte Lucius zumindest von Narzissa erfahren, die zusammen mit ihrer Schwiegertochter in der Küche stand und kochte, dabei auch noch Spaß zu haben schien. Lucius sprach selten mit der Frau seines Sohnes, die er in Gedanken noch immer Miss Bones nannte. Die Zeit vertrieb er sich damit, die wartenden Posteulen in der kleinen Anflugstelle neben dem Haus von ihrer Last zu befreien. Ein Streifenkauz hatte ihm doch tatsächlich in den Daumen gebissen. Wütend stupste er ihn mit seinem Gehstock an, doch das Tier flog nicht weg. Viele der fremden Vögel blieben beharrlich auf den Stangen der hauseigenen Eulerei sitzen, die er damals, als er noch Hauselfen besaß, höchstens einmal im Jahr freiwillig betreten hatte. Seiner Meinung nach war dieser Ort viel zu verdreckt, als dass jemand mit seinem Ansehen sich hier aufhalten sollte.
„Was denn?“, keifte er die sturen Tiere an, bis ihm einfiel, dass sie wohl auf Bezahlung, zumindest aber auf ein wenig Wegzehrung hofften.
Aus der Geldbüchse, die sein Sohn hier oben verstaut hatte, entnahm er eine Hand Galleonen. Sofort kam eine der Eulen zu ihm geflogen und scharrte einmal mit dem Füßchen. Ihr steckte er eine Galleone in das kleine Säckchen am Fuß. Die Eule flog von dannen. So langsam hatte Lucius den Dreh mit den Vögeln raus. Sie scharrten so oft mit ihren Krallen – manche jedoch schuhuten –, um die Anzahl der Galleonen mitzuteilen, die er ihnen schuldig war.
Die neun Eulen plus des frechen Kauzes bekamen ihre Bezahlung und verschwanden. Nur zwei Eulen bestanden auf Wasser und ein paar Körnern, weil sie von dem weiten Weg zu erschöpft waren. Per Zauberstab war die Verpflegung schnell erledigt, so dass Lucius diesen dreckigen Ort mit gerümpfter Nase flugs verlassen konnte.
Sein Weg führte ihn über einige Natursteine, die im Rasen eingelassen waren. Es war der kürzeste Weg von der Eulerei zurück zum Haus, den er allerdings kaum kannte. Erfreut war er über die blühenden Narzissen und die Maiglöckchen, die ringsherum aus dem Boden sprossen. Ein paar wilde Grasnelken hatten sich auf der sonst so gepflegten Grünfläche ausgebreitet. Ihre rosafarbenen Blüten harmonierten farblich mit den weißgelben Osterglocken, von denen er mit Hilfe seines Zauberstabes sieben pflückte, um sie seiner Frau zu mitzubringen.
Zurück im Haus suchte er den Raum auf, der mit der Küche verbunden war. Das eigentliche Esszimmer lag einige Räume weiter, doch es wurde schon lange nicht mehr benutzt. Künftig die Mahlzeiten hier in der Nähe der Küche einzunehmen war Narzissas Vorschlag gewesen, dem Lucius nur knurrend zugestimmt hatte. Die Hauselfen fehlten hinten und vorne. Mit denen war es nie ein Problem gewesen, die Mahlzeiten von der Küche ins Esszimmer zu bringen, ohne dass es auf dem Weg dorthin kalt wurde.
In eine der kostbaren Vasen füllte er mit einem Aguamenti-Zauber etwas Wasser, bevor er die sieben Narzissen hineinstellte. Mit der Post in der Hand begab er sich zu dem Sessel am Kamin. Die Tür zur Küche hatte er im Blickfeld. Sie war nur angelehnt, weil seine Schwiegertochter das Kind immer in der Nähe hatte, so auch diesmal. Das Kinderbettchen stand natürlich nicht direkt in der Küche, sondern hier bei Lucius im Raum. Trotz der nicht gerade leisen Geräusche, die aus der Küche kamen, schien Charles fest zu schlafen, denn man hörte keinen Mucks aus der Wiege. Vielleicht war das so, dachte Lucius, weil das Kind die Stimme seiner Mutter vernehmen konnte. Lucius konnte sich noch daran erinnern, dass er selbst als Kind immer schnell eingeschlafen war, wenn seine Mutter ihm eine Gutenachtgeschichte vorgelesen hatte – nicht wegen des Inhalts, sondern wegen ihrer warmen Stimme.
Durch die angelehnte Tür strömte ein appetitanregender Duft. Mit Vorfreude auf das Mittagessen ging Lucius die Post durch. Es war ernüchternd, dass die meisten Briefe an seinen Sohn adressiert waren, selbst die von seinen ehemaligen Geschäftspartnern. Einige waren für die neue Mrs. Malfoy und nur einer für Narzissa; der stammte von ihrer Schwester. Ein Brief war an ihn selbst gerichtet. Er war vom Mungos und beinhaltete sicherlich eine Rechnung. Dem Ministerium würde er zutrauen, dass man ihn an seinen Behandlungskosten teilhaben ließ. Den Brief öffnete Lucius nicht, denn Rechnungen waren die Angelegenheit seines Sohnes. Das nächste Mal, das nahm er sich fest vor, würde er sich nicht mehr um die Post kümmern, wenn für ihn schon nichts dabei war. Nachdem er die Post auf ein Beistelltischlein abgelegt hatte, betrachtete er die Blumen, die er für Narzissa besorgt hatte, bevor ihn nicht zum ersten Mal an diesem Tag die Langeweile übermannte.
In Gedanken malte er sich aus, wie er in Zukunft seine Zeit verbringen könnte. Die Idee, sich erneut im Ministerium zu bewerben, hatte er sich schnell wieder aus dem Kopf geschlagen. Damals war es für Voldemort von Vorteil gewesen, einen Verbündeten in der Politik zu haben, der den Minister um den Finger wickeln konnte. Bei Fudge war Lucius diese Aufgabe nicht einmal schwergefallen. Mit all dem Reichtum war der Minister leicht zu beeindrucken. Lucius konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, was überhaupt seine Aufgabe im Ministerium gewesen war – außer natürlich der Aufgabe, für Voldemort zu agieren. Keiner der Malfoys hatte es je nötig gehabt zu arbeiten. Geschäftemacherei in Form von Krediten oder Unternehmensbeteiligungen hatten die Männer in seiner Familie eher als eine Art Zeitvertreib gesehen. Die Verliese platzten damals schon aus allen Nähten. Heute waren die malfoyschen Räume bei Gringotts noch immer bis zum Rand gefüllt mit Galleonen und anderen Schätzen, doch all das gehörte nicht mehr ihm, sondern seinem Sohn. Rein theoretisch müsste er sich eine Arbeit suchen, um für sein Leben und das seiner Gattin aufkommen zu können, doch Draco war so freundlich, für seine Eltern zu sorgen. Lucius fühlte sich nutzlos.
Missgelaunt schnaufte er, bevor er einen sehnsüchtigen Blick in Richtung Küche warf. Die Essenszeiten waren etwas Besonderes, weil es dann weniger langweilig war. Erschrocken stellte Lucius fest, dass er so ähnlich schon einmal gedacht hatte. Zu dieser Zeit war er allerdings noch Patient im Mungos.
„Verflucht nochmal“, murmelte er griesgrämig. Er würde bald fünfzig Jahre alt werden. ‘Jung‘, verbesserte er in Gedanken. Mit einer bei Zauberern üblichen Lebenserwartung mit bis an die 200 Jahre waren fünfzig Jahre noch gar nichts. Er würde bald ein halbes Jahrhundert alt sein und hätte in seinem Leben nichts vorzuweisen. „Verdammt“, grummelte Lucius, bevor Worte folgten wie „bemitleidenswert“, „armselig“ und sogar „schändlich“.
Erinnerungen an vergangene Geburtstagsfeiern frischten auf. Von allen Gästen, die ihm damals einmal im Jahr die Ehre erwiesen hatten, gab es heute nur noch einen und das war Severus. Bei ihm war er sich überhaupt nicht sicher, ob der einer Einladung heute noch folgen würde. Auf Lucius‘ imaginärer Geburtstagsfeier, die er sich in Gedanken ausmalte, saß er allein mit einer Flasche Feuerwhisky am Kamin und betrank sich. Anders würde es sehr wahrscheinlich auch nicht kommen, vermutete er.
Von einem Glucksen wurde Lucius aus seinen Gedanken gerissen. Der Junge in der Wiege war offenbar erwacht. Dem Glucksen folgte ein Wimmern und bevor das zu einem Weinen heranwachsen konnte, war Lucius schon bei ihm.
„Was ist denn los?“, fragte er mit hoher, sanfter Stimme. Charles verzog den Mund und die Lippen bebten. Der Junge war kurz davor, in Geplärr auszubrechen, doch das würde er verhindern, dachte er sich, als er das Bündel auf den Arm nahm. Mit gekräuselter Nase nahm Lucius einen stechenden Geruch wahr. „Oh ja“, sagte er verständnisvoll zu dem Jungen, „wenn ich so einen Gestank verbreiten würde, wäre mir auch zum Weinen zumute.“ Nachdem sich Lucius mit Charles im Arm umgedreht hatte, um das nächste Badezimmer aufzusuchen, erschrak er, denn seine Schwiegertochter stand hinter ihm. Sie trocknete sich die Hände an einem Handtuch.
„Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich dachte, ich hätte ihn weinen hören.“
„Geweint hat er nicht“, beteuerte er. Ihm sollte niemand nachsagen können, dass er das Kind sich selbst überlassen würde.
„Ist die Windel voll?“, wollte Susan wissen. Sie streckte bereits ihre Arme aus, um ihr Kind entgegenzunehmen, doch Lucius gab den Jungen nicht her.
„Ich kümmere mich darum“, versicherte Lucius. „Es wäre freundlich von Ihnen, wenn Sie sich weiterhin um das Mittagessen sorgen könnten. Langsam aber sicher könnte ich einen Happen vertragen.“
An den kühlen Tonfall hatte sich Susan längst gewöhnt, auch wenn sie es schade fand, dass in ihrem neuen Zuhause so eine familiäre Kälte herrschte. „Es dauert nicht mehr lange, Mr. Malfoy.“
Lucius nickte ihr zu und verließ den Raum. Der Hauch eines unangenehmen Geruchs lag im Zimmer, der Susan bestätigte, dass die Windeln tatsächlich gewechselt werden mussten. Mit einem Wink ihres Stabes sorgte sie für einen dezenten Rosenduft, bevor sie zurück in die Küche ging. Der Strauß Narzissen war ihr nicht entgangen.
„Dein Mann hat dir Blumen aus dem Garten mitgebracht“, sagte Susan mit einem Schmunzeln, bevor sie sich wieder daran machte, das fertige Essen in Schalen umzufüllen, die sie auf den Tisch stellen wollten.
„Blumen? Wie lieb von ihm. Wo ist er?“
„Mit Charles im Bad.“
„Er scheint seinen Enkel sehr zu mögen“, sagte Narzissa mit Bedauern, weil es nicht auch so bei Susan sein konnte.
Über dem Wickeltisch im geräumigen Badezimmer hing ein Spielzeug, an dessen drei Fäden eine Rassel, ein quietschendes Entchen und ein Spiegel befestigt waren. Charles konnte es, wenn er seine kleinen Arme ausstreckte, noch nicht erreichen, obwohl er es versuchte, aber seine wachen Augen war auf die drei bunten Dinge gerichtet, die bewegungslos über seiner Nase hingen. Mit seinem Zauberstab beförderte Lucius die schmutzige Windel per Evanesco gerade ins magische Nirwana, ging dabei einen Schritt zurück, um sich nicht versehentlich zu beschmutzen, da bewegte sich plötzlich die Rassel, die der Junge mit seinen Augen fixiert hatte. Charles giggelte und ruderte fröhlich mit den Armen, während Lucius beinahe die Augen aus dem Kopf fielen. Um zu prüfen, ob das kein Zufall gewesen war, wutschte Lucius mit seinem Stab, damit die Rassel wieder still wurde. Obwohl sein Magen knurrte, nahm sich Lucius einen Moment Zeit, um das Baby zu beobachten. Charles blickte so starr auf das Spielzeug über sich, dass man meinen könnte, er würde es hypnotisieren wollen. Lucius sprach das Ereignis einem Zufall zu und fuhr mit seiner Aufgabe fort. Gerade schon wollte er dem Jungen die frische Windel anlegen, als die Rassel erneut ihre vertrauten Geräusche von sich gab, woraufhin Charles glücklich quiekte. Lucius ging den einen Schritt auf den Wickeltisch zu und beugte sich über das Kind.
„Sowas, sowas, sowas.“ Von dem breiten Lächeln auf dem Kindergesicht ließ sich Lucius gern anstecken. „Was werden sie mich beneiden, wenn ich ihnen das erzähle“, sagte er zu dem Kleinen, während er die neue Windel befestigte. „Nicht die Frau Mama, nicht der Papa“, er zog dem Jungen den Strampelanzug über die Windel, „sondern der ungeliebte Großvater hat deinen ersten Spontanzauber miterleben dürfen.“
Das letzte Knöpfchen war geschlossen. Lucius nahm den Jungen auf den Arm. Ein zufriedenes Lächeln hatte sich auf beiden Gesichtern niedergelassen, als sie den Rückweg antraten.
„Das werde ich den beiden gleich brühwarm erzählen!“
„Was willst du uns erzählen?“, fragte Narzissa, die bereits am Tisch saß und das Essen auftat. Susan saß neben ihr und beäugte ihren Jungen.
„Ich durfte eben dabei sein, als Charles von seinem langweiligen Spielzeug offenbar genug hatte und es dazu brachte, sich von allein zu bewegen.“
„Nein wirklich?“ Beide Frauen waren ganz aus dem Häuschen.
„Wenn ich es doch sage! Die Rassel hat es ihm angetan. Hörte sich wie eine junge Klapperschlange an. Vielleicht kommt er eines Tages nach Slytherin?“ Gut gelaunt legte Lucius den Jungen zurück in die Wiege, bevor er neben seiner Frau Platz nahm, die ihm schon reichlich auf den Teller getan hatte. „Das dürfte aber seiner Mutter wenig gefallen, wie ich annehme.“
„Warum nicht?“ Susan zuckte mit den Schultern. „Ich habe immerhin einen geheiratet.“
„Wie wahr …“ Beim Anblick des Schmorbratens, selbst bei dem Duft lief ihm das Wasser im Mund zusammen. „Vielleicht ist die Haarfarbe das Einzige, das er mütterlicherseits geerbt hat? Und selbst da sehe ich bereits ein leichtes Aufhellen.“
„Das bildest du dir ein Lucius“, winkte seine Frau ab.
„Hopfen und Malz scheint bei dem Jungen jedenfalls nicht gänzlich verloren.“
Susan hätte böse sein müssen, aber das beständige Lächeln auf dem Gesicht ihres Schwiegervaters entschärfte die Situation. Trotzdem tat sie beleidigt, aber so, dass beide bemerken mussten, wie sie es vorgaukelte.
„Oh Mr. Malfoy, da tun Sie mir und meiner Familie aber Unrecht, wenn Sie so etwas sagen.“
Lucius legte den Kopf schräg und hob beide Augenbrauen. „Ich drücke mich mal anders aus: Solang der Junge später nicht nach Hufflepuff sortiert wird, kann er mich nicht enttäuschen.“
„Lucius!“, mahnte seine Frau, doch Susan nahm es gelassen.
„Hufflepuff bringt all die freundlichen, loyalen und strebsamen Bürger hervor“, zählte sie bedächtig auf. „Außerdem war ich die Ausnahme meiner Familie. Mein Vater war in Ravenclaw, meinte Tante in Gryffindor.“
„Und die Frau Mutter?“ Über seine Frage stutzte er selbst. „Oh, verzeihen Sie. Ich vergaß, dass Ihre Mutter ein Muggel ist.“
„Das haben Sie vergessen?“, fragte Susan in einem nur ganz leicht provozierenden Unterton nach. „Dabei ging ich davon aus, dass das der Grund für unsere familiären Differenzen ist.“
Die Gabel in seiner Hand ließ Lucius wieder sinken, wie er auch ihre Worte sinken ließ, die ihn nicht einmal aus der Ruhe gebracht hatten. Zu sehr war er von dem Erlebnis mit seinem Enkel fasziniert. Bei Dracos erstem Spontanzauber war er leider gerade bei einem Treffen mit Voldemort gewesen.
„Unsere Differenzen“, begann Lucius wohl überlegt und daher sehr langsam, „sind das Resultat von uralten Traditionen, deren Unantastbarkeit respektlos mit Füßen getreten wurde. Dieser über mehrere Jahrhunderte überlieferte Brauch hat durch diesen abrupten Bruch mit einem Schlag an Bedeutsamkeit verloren. Auf diese Weise wurde er geradezu mit einer solchen Geringschätzigkeit abgetan, dass man meine könnte, die Malfoys hätten seit jeher eine Lächerlichkeit begangen.“
Über eine derart hochgestochene Ausdrucksweise verfügte Susan dank ihrer Arbeit im Ministerium auch und sie war gewillt, genauso geschwollen zu sprechen, als sie ihm die passende Antwort servierte.
„Traditionen werden von neuen Generationen selten einfach hingenommen, sondern in Augenschein genommen, um zu prüfen, ob sie von Nutzen sind oder lediglich das darstellen, was sie oftmals sind und zwar eine überlieferte Gewohnheit, die nur einer Sache zweckdienlich ist: Dem Schutz vor Neuerungen. Dennoch bieten Traditionen keinesfalls Schutz davor, denn ein Wandel findet unabänderlich statt und zwar in der Gesellschaft, die mittlerweile einen großen Schritt in Richtung Zukunft gewagt hat, anstatt sich verunsichert an vergangene Gepflogenheiten zu klammern.“
Narzissa hatte längst mit dem Essen aufgehört und hörte den beiden zu. Beide Seiten konnte sie verstehen. Lucius war in dem Glauben erzogen worden, durch die Einhaltung alter Familienbräuche eine kleine sichere Welt aufrechtzuerhalten, so dass kein Außenstehender in sie eindringen und sie durcheinanderwirbeln konnte. Sie verstand jedoch auch ihre Schwiegertochter, die bei ihrer Familie frei von Zwängen dieser Art aufgewachsen war und daher nichts in dieser Hinsicht vermisste.
„Wollen Sie damit andeuten“, grummelte Lucius verärgert, „dass meine Familie altmodisch sei, nur weil wir das, was unsere Ahnen schon getan haben, in Gedenken an sie weiterführen möchten?“
Hier musste Narzissa schlucken, denn ein lautes Ja als Antwort lag ungehört in der Luft. Susan würde bejahen, das ahnte Narzissa, doch ihre Schwiegertochter wusste auch, dass sie ihre Antwort gut begründen sollte. Diese Frage unbegründet zu bejahen würde bei Lucius nur die Abneigung wachsen lassen, weil er sich darin bestätigt fühlen würde, dass seine Schwiegertochter ihm nicht gewachsen sei.
„Die Ansichten von Verstorbenen müssen nicht zwingend fortgeführt werden, um ihrer weiterhin respektvoll gedenken zu können. Jeder Mensch muss für sich selbst abwägen, was für ihn gewichtiger ist, besonders wenn die Frage aufkommt, lieber eine Tradition zu brechen oder ein Herz.“
Lucius wollte dagegenhalten, doch er rechnete damit, dass Narzissa die von den Eltern arrangierte Hochzeit ihrer Schwester als negatives Beispiel anführen würde, sollte er es wagen, alte Traditionen zu verteidigen. Stattdessen legte er sein Besteck beiseite und entledigte sich seiner Serviette, obwohl er kaum etwas gegessen hatte.
„Wenn die Damen mich entschuldigen würden?“
„Lucius, bitte …“
Den Worten seiner Frau schenkte er keinerlei Beachtung. Stattdessen ging er hinüber zum Kinderbett. Für einen Moment hatte Susan ein schlechtes Gefühl. Narzissa schien es genauso zu gehen.
„Was tust du da, Lucius?“, fragte sie mit etwas Sorge in der Stimme.
„Der Junge hat sicherlich Hunger.“
Schon hatte er ihn aus der Wiege genommen und war in der Küche verschwunden, um ein Fläschchen Babymilch zu holen, die er dem Jungen in aller Ruhe im grünen Salon geben wollte.
Betreten schaute Susan zur Tür hinüber, durch die ihr Schwiegervater mit Charles verschwunden war. Ein Blick hinüber zu Narzissa zeigte, dass auch sie über den Verlauf des Gesprächs nicht gerade glücklich war.
„Entschuldigung“, flüsterte Susan reuevoll.
„Nein nein, keine Sorge. Wenn er nicht sofort antwortet, dann bedeutet das, er wird sich Gedanken über die Unterhaltung machen.“
Susans Augen funkelten. „Wirklich?“
Narzissa lächelte, bevor beide sich wieder ihrem Mittagesen widmeten.
Nachdem sie später den Tisch gemeinsam abgeräumt hatten, schaute Susan die Post durch. Von Draco hatte sie die Erlaubnis, alle Briefe für ihn zu öffnen, falls etwas Wichtiges dabei sein würde. Einer der Briefe, die an sie gerichtet war, war vom Ministerium. Kingsley fragte sie, ob sie nach ihrer Mutter-Kind-Zeit wieder anfangen wollte zu arbeiten oder ob sie noch ein halbes Jahr anhängen wollte. Es war ein privater Brief ihres Kollegen und keinesfalls eine offizielle Anfrage.
„Narzissa?“ Als ihre Schwiegermutter sie anblickte, fragte sie: „Wenn ich wieder arbeiten gehen sollte, würdest du dich um Charles kümmern? Sonst würde ich ein Kindermädchen …“
„Wir kümmern uns um ihn!“, bestätigte die Blonde freundlich lächelnd. „Wozu ist eine Familie da?“
Zufrieden nickte Susan und nahm sich vor, Kingsley nachher zurückzuschreiben, dass sie so schnell wie möglich wieder anfangen wollte, da fiel ihr der Brief in die Hand, der an Lucius adressiert war. „Hier ist ein Brief für deinen Mann. Er hat ihn nicht geöffnet.“
„Zeig mal.“ Den Brief vom Mungos nahm Narzissa entgegen, um ihn zu öffnen. Offenbar hatte sie von ihrem Mann die gleiche Erlaubnis wie Susan von dem ihren. Das zweimal gefaltete Pergament beinhaltete keine Rechnung. „Oh, eine Erinnerung vom Krankenhaus zur Nachuntersuchung. Ich werde es ihm besser geben.“
Am Nachmittag brach ein Gewitter herein. Im Hause Malfoy eines in Form einer hitzigen Diskussion zwischen Lucius und Narzissa über den Sinn und Unsinn von Nachuntersuchungen und über Hogwarts eines, das viele dunkle Wolken und literweise Regen mit sich brachte.
Auf seinem Weg zum Direktorenbüro beobachtete Severus durch die Fenster die wenigen vom Unwetter überraschten Schüler, die über die Wiesen rannten und im Schloss das Trockene suchten. Der steinerne Wasserspeier gab nach genanntem Passwort den Weg nach oben frei. Albus – das konnte Severus schon riechen – erwartete ihn mit Kaffee und frischem Gebäck. Die Tür oben öffnete sich von allein und ließ Severus eintreten.
„Ah, mein Freund. Nimm doch Platz.“ Albus beäugte den Umschlag in Severus‘ Händen, mit dem der Tränkemeister unsicher spielte. „Einen Kaffee nimmst du aber zusammen mit mir ein oder?“
„Ich denke, die Zeit habe ich.“ Severus setzte sich und betrachtete die vielen Kuchenplatten. Nougattorte war mit dabei. Er mochte Nougat. „Und ein Stück davon.“ Er deutete auf entsprechenden Kuchen und überraschte sich damit selbst. Womöglich vermisste er jetzt schon die süßen Angebote des Direktors, obwohl er sie meist abgelehnt hatte.
Ungeniert starrte Albus auf den Brief, den Severus nach einigem Zögern an den alten Zauberer reichte.
„Du ahnst sicherlich, was der Brief beinhaltet.“
Albus nickte, bevor er den Umschlag öffnete und den Brief las. Der Inhalt schien Albus glücklich zu machen.
„Darf ich fragen, wie du deine Zukunft gestalten wirst?“, fragte Albus, der den Brief beiseite legte und den Kuchen auftat.
„Du wirst mich in der Winkelgasse finden.“
„In der Apotheke, nehme ich an?“
„Natürlich!“, erwiderte Severus gereizt, denn er ging davon aus, dass Albus das längst wusste.
Albus hatte die Gelassenheit inne zu lachen. „Es ist gut zu hören, dass du etwas gefunden hast, was dir Freude bereitet. Und es ist freundlich, dass du mir rechtzeitig Bescheid gibst.“
„Es ist vertraglich geregelt, dass eine Kündigung mindestens vier Wochen vorher eingereicht werden muss“, rief Severus ihm ins Gedächtnis.
„Sicher, sicher. Bis zur Frist ist es noch etwas hin, Severus. Ich werde genügend Zeit haben, die Stelle neu besetzen zu können.“
„Ich bin sicher, du findest jemand, der mich ersetzen kann.“
Albus blickte auf. „Ersetzen wird dich niemand können, mein Guter. Es fällt mir keinesfalls leicht, dich gehen zu lassen, aber dein Glück hat Vorrang. Ich habe eine Liste mit Kandidaten, die die Voraussetzungen für die Stelle mit sich bringen. Möchtest du sie sehen?“
„Ja“, erwiderte er knapp.
Er würde gern sehen, wen Albus für die Position als Zaubertränkelehrer vorschlagen würde. Die Liste war im Nu herbeigezaubert und Severus überflog die Namen. Nur zwei kannte er persönlich, die anderen gar nicht, aber eine Person vom Namen her.
„Und wer ist dein Favorit?“, wollte Severus wissen.
Albus atmete einmal durch. „Ich dachte, du könntest mir erst deine Meinung sagen.“
Nochmals blickte Severus auf die Liste, bevor er bei seinem ehemaligen Mitschüler begann. „Popovich hatte in der Schule bereits gute Noten. Er hat später seinen Tränkemeister gemacht und hat diesen Berufszweig nie verlassen. Er ist auf diesem Gebiet immer auf dem Laufenden und eignet sich daher bestens.“ Er ging zum nächsten Kandidaten über. „Von Slughorn würde ich abraten, wenn er überhaupt, was ich bezweifle, zusagen würde. Seinen Ruhestand wird er dir zuliebe nicht ein zweites Mal aufgeben.“ Das waren die beiden, die er persönlich kannte. „Professor Junot ist die Leichenbeschauerin des Mungos und Dozentin für das Fach 'Inaugenscheinnahme'.“ Das wusste er von Hermine. „Sie ist einige Zeit aus dem Bereich des Tränkebrauens raus, aber ihr könnte dennoch viel daran liegen, ihren nicht gerade erfreulichen Beruf aufzugeben und in Hogwarts zu beginnen.“ Bei den weiteren Namen musste er passen. „Die anderen kenne ich nicht.“
„Die anderen sind auch nur die Reserve, falls keiner der drei zusagen sollte.“
„Und dein Favorit?“, fragte Severus erneut, nachdem er nun seine Meinung kundgetan hatte.
„Ich denke, Mr. Popovich eignet sich, wie du bereits sagtest, bestens. Zudem ist er ein sehr freundlicher und aufgeschlossener …“
„Solche Eigenarten sind nicht zwingend notwendig, um Zaubertränke unterrichten zu können“, unterbrach Severus etwas verärgert. „Fachkompetenz ist ausschlaggebend!“
„Aber solche Eigenarten schaden auch nicht.“ Bevor Severus die Möglichkeit fand, sich und seine Eigenarten zu verteidigen, wechselte Albus abrupt das Thema. „Dann wirst du ab Juli als Tränkemeister in der Apotheke arbeiten?“
Die Worte, die ihm zuvor auf der Zunge gelegen hatten, purzelten lautlos zurück in seine Kehle, bevor er antwortete: „Ja, im Hintergrund. Ich reiße mich nicht darum, Kunden zu bedienen.“
„Ich hoffe sehr, du findest dann auch mehr Zeit für deine eigene Forschung. Mr. Worple und Mr. Sanguini wären nicht die Einzigen, die davon profitieren würden.“
„Mein Augenmerk liegt zurzeit eher auf Miss Grangers Erfindung.“
„Ah“, machte Albus erstaunt. „Du solltest deine Erfindungen trotzdem nicht in den Hintergrund drängen. Sie haben genauso viel Potenzial.“
„Sie sind nur ein wenig illegal, nicht der Rede wert“, stellte Severus sarkastisch klar. Sein Bluttrank war noch nicht ausgereift, auch wenn er bereits so weit gekommen war, nicht einmal mehr Blut verwenden zu müssen.
Albus klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. „Dein Name wird sicherlich bald in allen Zeitungen stehen sowie der deiner Partnerin.“
Die beiden taten sich an ihrem Kuchen gütlich. Albus blickte immer wieder zu Severus hinüber, was der natürlich bemerkte. Er forderte den Direktor jedoch nicht auf, sich mitzuteilen. Wenn Albus etwas sagen wollte, benötigte er keine Aufforderung. So kam es, dass Albus seinen Kuchenteller abstellte und sich seinem Gast zuwandte.
„Wie fühlst du dich?“
Die unerwartete Frage nach seinem Wohlbefinden irritierte Severus, denn er war der Meinung, gesundheitlich keinen schlechten Eindruck zu machen, bis er ahnte, dass Albus eine bestimmte Sache meinen musste. Eine Angelegenheit, über die Severus nur ungern sprach.
„Ich habe Hoffnung.“
„Severus, wenn ich etwas tun kann, dann …“
„Hast du Vorschläge? Miss Granger und ich hören sie uns gern an. Ansonsten wäre es mir ganz recht, wenn so wenig Menschen wie nur möglich involviert wären.“
„Ich verstehe das, aber hast du auch daran gedacht, dass es gerade dieser Aspekt sein könnte, der dir erst Hoffnung gegeben hat?“
„Albus, ich bitte dich innig, offen mit mir zu reden.“ Für kryptische Aussagen hatte Severus im Moment keine Verwendung.
Albus kam seiner Bitte nach und teilte seine Vermutung frank und frei mit: „Ist es nicht denkbar, dass nicht nur eine bestimmte Person eine Heilung herbeiführen könnte? Wenn es mehrerer Personen bedarf, solltest du das mit einbeziehen. Du würdest gut daran tun, niemanden auszuschließen, der seine Hilfe freiwillig anbietet. Ich habe all die Jahre so sehr gewünscht, dass ich mit meinen damaligen Worten falsch gelegen habe, als ich sagte, alles wäre für immer verloren. Der Zeitpunkt ist nun gekommen, Severus, denn auch ich bin guter Dinge. Ich sehe Veränderungen, die mich hoffen lassen. Ich war nie so glücklich, mich geirrt zu haben.“
Severus schwieg. Seine Gedanken kreisten um den Besuch bei Takeda. Bilder der magischen Pflanzen huschten durch seinen Kopf. Besonders oft sah er vor seinem inneren Auge die klaffende Lücke, die entstanden war, nachdem Takeda eine Pflanze umgetopft hatte. Für lange Zeit hatte sich Severus wie die Pflanze gefühlt, die die Lücke geschaffen hatte; wie jemand, der aus einem vertrauten Kreis herausgerissen worden war und allein zurechtkommen musste. Der Ewige See hatte seine von vornherein nicht sehr ausgeprägte soziale Ader vollends unterdrückt und ihn davon abgehalten, mit anderen Menschen engere Kontakte zu pflegen. Er konnte guten Gewissens von sich sagen, dass er sich mittlerweile nach Gesellschaft sehnte. Er war nicht unbeweglich wie eine Pflanze. Er war in der Lage, sich die Menschen auszusuchen, die er an sich heranlassen wollte; deren Magie auf ihn einwirken durfte. Das Experiment mit Harry und Draco, aber besonders der Abend mit Hermine hatte deutlich gezeigt, dass Magie auf Mitmenschen reagierte. Das war es, was Albus meinte. Severus brauchte Menschen um sich herum, von deren Magie er seinen Vorteil ziehen könnte.
„Ich verstehe, was du meinst“, bestätigte Severus, der sich klar darüber geworden war, sein Leben als Einzelgänger aufgeben zu müssen, wenn er die Lösung seines Problems herbeiführen wollte. Und genau das wollte er, denn er wusste, was er zu fühlen imstande war und das wollte er zurückhaben. Severus wollte wieder empfinden. Plötzlich fühlte er eine Hand auf seiner Schulter, die seine für sich selbst gemachte Entscheidung Mut machend zu begrüßen schien. Eine andere Frage drängte sich in seinen Kopf, die seiner Meinung nach nur sein alter Freund beantworten konnte. „Albus?“ Der Direktor horchte auf. „Aus welchen Gründen weint ein Phönix?“
„Oh, da gibt es verschiedene Gründe. Selbst ich kenne nicht alle, obwohl Fawkes mich viele Jahrzehnte begleitet hat. Diese Vögel sind sehr klug, das weißt du. Sie mögen Worte nicht verstehen können, aber sie durchschauen Gefühle und reagieren darauf. Fawkes weint, wenn jemand, den er mag, traurig oder verletzt ist. Das finde ich so bewundernswert an diesen Vögeln. Sie selbst müssen den Tod nicht fürchten, aber sie scheinen genau zu wissen, dass er für alle anderen Lebewesen endgültig ist.“ Albus vermutete, dass hinter Severus‘ Frage mehr zu stecken schien, weswegen er seine nächsten Worte genau überdachte. „Du weißt, denn wir haben die Möglichkeit nicht außer Acht gelassen, dass Phönixtränen nicht auf die Psyche eines Menschen einwirken können. Sie haben heilende Kräfte, doch die beschränken sich auf körperliche Versehrtheit.“
„Ich weiß, Albus.“ Severus seufzte.
Es war vor mehr als zwei Jahrzehnten der erste Gedanke gewesen, die Wirkung des Trankes durch Fawkes Tränen aufzuheben, doch es war enttäuschend zu erfahren, dass es keine Besserung gebracht hatte.
„Miss Granger …“ Severus stoppte sich selbst und begann von vorn. „Hermine denkt, dass es wieder wachsen könnte. Ihre Vermutung stützt sich auf die Tatsache, dass der eine Teil in mir nicht vollständig inaktiv ist, sondern dazu gebracht werden kann, auf bestimmte Umstände Reaktionen zu zeigen.“
„Ich …“
Diesmal war es Albus, der den Satz nicht zu Ende bringen konnte. Es schien, als wäre auch er – wie Severus selbst – niemals auf die Idee gekommen, an ein mögliches Wachstum zu denken. Unerwartet erhob sich der Direktor von seinem Platz und ging hinüber zu einem der hohen Bücherregale, deren Titel er überflog, bis er in Augenhöhe einen Band fand, den er hinauszog. Mit diesem Buch kam er zurück zu Severus, um es ihm in die Hand zu drücken.
„Es ist lange her, als ich es gelesen habe, aber vielleicht findet ihr dort etwas, das euch bei eurer Suche ein wenig Hilfe verspricht.“
Severus las den Titel des sehr alt aussehendes Buches vor: „Die magische Abhandlung von ‘Liber subtilitatum diversarum naturarum creaturarum‘ – von Hildegard von Bingen; überarbeitet von Vesta Lovegood.“ Severus blinzelte einige Male. „Lovegood?“
„Das Buch ist von 1183, Severus. Es ist gut möglich, dass Vesta Lovegood eine Vorfahrin deiner ehemaligen Schülerin darstellt, aber mit Gewissheit kann ich das nicht sagen.“ Albus tippte auf das antike Buch. „Es wurde vier Jahre nach dem Tod der Muggel-Autorin für die magische Gesellschaft aufgearbeitet. Übersetzt heißt es sinngemäß ‘Buch über das innere Wesen der verschiedenen Kreaturen und Pflanzen‘. Es behandelt die Beschaffenheit und die Heilkraft dieses angesprochenen inneren Wesens.“
„Ich kann mir nicht vorstellen, inwiefern das Buch eines Muggels von Nutzen sein könnte.“
„Das Buch, das du in deinen Händen hältst, wurde nicht von einem Muggel geschrieben. Mrs. Lovegood hat die bestehenden Theorien aus der Muggelwelt aufgegriffen und in die magische Welt übertragen. Einen Blick hineinzuwerfen könnte nicht schaden. Vielleicht solltest du es Hermine überreichen?“
„Du willst mir ein mehrere Jahrhunderte altes Buch überlassen?“
Albus lächelte. „Ich werde es sicherlich eines Tages zurückerhalten. Ich bin auch im Besitz sämtlicher Originalbände dieser Muggel-Autorin. Sie muss eine fantastische Frau gewesen sein.“
Bei Albus‘ nicht aufzuhaltender Bekundung seiner Liebe zu Muggeln rollte Severus genervt mit den Augen.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
~ Muggelchen.net ~
~ Muggelchen.net ~
- Muggelchen
- Eule
- Beiträge: 345
- Registriert: 07.06.2008 22:29
- Wohnort: Gemälde im 1. Stock
Rest von Kapitel 191
In der Eingangshalle von Hogwarts war Sirius hingegen kurz davor, mit den Augen zu rollen. Er musste wegen der vielen ausgelassenen Schülern, die sich hier tummelten, einen Augenblick stehenbleiben, damit er nicht von ihnen umgerannt wurde. Das Abendessen schien gerade zu beginnen. Vorsichtig setzte er seinen Weg durch die Schülermengen fort, die sich noch in Grüppchen vor der großen Halle aufhielten, weil sie auf Freunde warteten oder ungestört reden wollten. Sie kicherten, tuschelten und manche beäugten den Gast, der an ihnen vorüberging.
„Vielleicht ist das der neue Lehrer für Zaubertränke?“, hörte Sirius ein Mädchen sagen. Er drehte sich erstaunt um und bemerkte, wie fünf Schülerinnen ihn anstarrten, bevor sie wieder die Köpfe zusammensteckten und verhalten giggelten. Warum sie gerade ihn als neuen Lehrer für Zaubertränke hielten, war ihm ein Rätsel, denn es war nie eines seiner Lieblingsfächer gewesen. Nachdem er sich diese Frage gestellt hatte, folgte gleich die nächste. Warum ein neuer Lehrer?
Fernab der vielen Teenager war er endlich bei seinem Patensohn angekommen und klopfte höflich an die Tür, die ihm von dem Hauself geöffnet wurde. Wobbel trug Nicholas im Arm.
„Guten Abend, Sir. Treten Sie doch bitte ein. Ich werde Mr. Potter Bescheid geben, dass er Besuch hat“, sagte der Elf, der die Tür weiter öffnete, damit Sirius eintreten konnte.
Während er auf Harry wartete, bemerkte er Ginny, die am Kamin hockte – den Kopf weit ins Feuer gebeugt. Er hörte, wie die Tür zum Arbeitszimmer sich öffnete, weswegen er hinüber zu Harry schaute.
„Sirius!“
„Harry, wie geht’s?“ Die Begrüßung war von Harrys Seite aus wesentlich herzlicher als sonst, was Sirius verwunderte. Harry drückte ihn und ließ eine ganze Weile nicht mehr los. „Harry?“
Erst jetzt löste sein Patensohn die Umarmung. Für einen Moment glaubte Sirius, Harrys Augen würden so sehr glänzten, weil sie feucht waren. „Alles okay mit dir?“
Schnell lenkte Harry von sich selbst ab. „Klar, setzt dich doch. Hast du schon gegessen?“
Das Essen auf dem Tisch betrachtend verneinte Sirius. „Ich wollte eigentlich übers Flohnetz kommen, damit ich zum Essen wieder Zuhause bin, aber jetzt weiß ich ja, warum kein Durchkommen war.“ Er grinste und nickte zu Ginny hinüber, die noch immer am Kamin hockte und ihn blockierte.
„Ja, sie spricht schon fast eine Dreiviertelstunde mit Molly. Länger warte ich mit dem Essen aber nicht auf sie. Wenn es um die Hochzeit geht, und das vermute ich ganz stark, könnte es noch eine Weile dauern.“
„Ah, die Hochzeit“, schwärmte Sirius voller Vorfreude. „Wer wird dein Trauzeuge sein?“
„Natürlich Ron! Ich glaube, er würde mich umbringen, sollte ich jemand anderen nehmen“, erwiderte Harry mit einem Schmunzeln. So ähnlich hatte Ron sich nämlich ausgedrückt, als er fragte, wen Harry als Trauzeugen nehmen möchte. „Greif zu, Sirius. Für Ginny kann ich nachher noch was nachbestellen.“ Sirius kam der Aufforderung sofort nach, denn sein Magen knurrte. „Was führt dich her?“, wollte Harry wissen.
„Neben dem vorzüglichen Essen, das die Elfen in Hogwarts herbeizaubern, wollte ich dir von etwas erzählen, das dich sowieso nicht interessieren wird.“
Irritiert legte Harry seine Stirn in Falten. „Was wird mich nicht interessieren?“
„Ich verstehe vollkommen, wenn du keine Lust dazu hast. Das ist wirklich kein Problem, Harry.“
„Sagst du mir bitte erst einmal, um was es geht? Ich hatte nämlich nie besonders gute Noten in Hellsehen und bei Legilimentik hakt es bei mir auch.“
„Lass uns erst was essen, bevor du ablehnst.“
Jetzt war Harry richtig neugierig. „Sirius! Vielleicht habe ich ja Lust drauf, was auch immer du mir erzählen möchtest.“
Sein Patenonkel stöhnte. „Na gut, du lässt ja keine Ruhe. Es geht um die neuen Gesetze und wir überlegen uns, wie man die Öffentlichkeit im Vorfeld dafür gewinnen könnte. Wenn sie in Kraft treten, soll sich niemand überrumpelt fühlen. Es soll keinen Aufstand geben, also müssen die Bürger der magischen Welt schon jetzt damit in Berührung kommen. Genau da wird’s aber knifflig, denn wer ist beliebt genug, dass er mit seinen Äußerungen bei den Bürgern Gehör finden könnte? Man müsste jemand mit großem Ansehen für die Sache gewinnen; jemand, der sich positiv für die neuen Arbeitsgesetze für Werwölfe äußert oder auch befürwortet, dass Elfen und Kobolde Zauberstäbe benutzen dürfen. Ich weiß, dass es dir gegen den Strich geht, für solche Zwecke herangezogen zu werden, aber …“
„Ich mach‘s!“, sagte Harry, bevor er sich eine volle Gabel mit Rotkohl in den Mund schob.
„Was?“
Mit vollem Mund wiederholte Harry die beiden Wörter brabbelnd, doch die waren noch weniger verständlich. Sirius ahnte jedoch, dass Harry ihm tatsächlich eine Zusage gegeben hatte, was ihn sehr erfreute. Nachdem sein Patensohn geschluckt hatte, stellte er eine Frage.
„Du arbeitest mit Mr. Bloom zusammen, oder?“
„Kennst du ihn?“ Sirius schien sehr erstaunt.
„Hermine hat mich mal zu einer seiner Veranstaltungen mitgeschleppt. War ganz nett, bis auf den Vampir und den Angriff der Todesser. Kurzum: Ich hätte drauf verzichten können.“
Sirius nickte. „Ja, ich erinnere mich daran. Zum Glück hat Remus gleich eingegriffen, sonst wäre noch viel mehr passiert.“
„Arbeitest du also mit Mr. Bloom?“
„Jein, ich arbeite Hand in Hand mit der Initiative, das ist richtig, ich arbeite aber auch im Auftrag des Ministeriums, aber auf freiberuflicher Basis. Ich habe einen, ähm, Kollegen, mit dem ich am selben Strang ziehe. Er kann sehr gut mit Worten umgehen und weiß, auf was es bei Gesetzen ankommt. Außerdem nimmt er jeden Vorschlag ernst.“
Sirius erzählte so stolz von seiner Arbeit, dass Harry nichts anderes tun konnte als sich für ihn zu freuen. Endlich hatte sein Patenonkel Spaß an etwas gefunden, das seinem Leben auch noch einen Sinn gab.
„Kenne ich ihn?“, wollte Harry wissen.
„Denke nicht. Er war …“ Dass Duvall der Beistand von Malfoy gewesen war, wollte er nicht ausplaudern. „Er war bis vor Kurzem noch im Ministerium beschäftigt, hat aber gekündigt.“
„War ihm wohl zu langweilig“, murmelte Harry verständnisvoll.
Wenn beim Ministerium angestellt, dachte er, dann als Auror. Der Job brachte wenigstens Abwechslung mit sich, wenn auch eine Menge Gefahren, was aber vielleicht viel besser war, als im Büro an Langeweile zu sterben. Mich wachem Auge beobachtete Harry, wie Wobbel den Jungen auf dem Boden absetzte, damit der ein wenig krabbeln konnte. Sein Elf sorgte immer dafür, dass eine magische Barriere zu gefährlichen Gegenständen aufgebaut war. Nicholas, so sehr er auch wollte, konnte sich dem Kamin, an dem seine Mami noch immer hockte, nicht nähern. Er begann zu quengeln.
„Nicholas“, rief Harry mit hoher Stimme. Zwei große blaue Augen richteten ihren Blick auf ihn. Harry beugte sich nach vorn und klatschte in die Hände. „Komm her, mein Kleiner.“ Das Kind robbte mit zuversichtlichem Lächeln auf Harry zu, machte aber vor den ausgestreckten Armen seines Vaters Halt und beäugte Sirius. „Oha, jetzt hat er dich im Visier!“
Sein Schälchen Vanillepudding stellte Sirius auf dem Tisch ab, bevor er Harry nachahmte und den Jungen rief, dabei die Arme ausstreckte. Nicholas kroch mit schelmischem Grinsen, mit dem er mehr Sirius glich als Harry, auf ihn zu. Als der Junge an seinen Beinen angelangt war, hob Sirius ihn hoch und setzte ihn gemütlich auf seinen Schoß.
„Wie alt ist er jetzt nochmal?“
„Etwas über neun Monate.“
Sirius blickte Nicholas an und fragte mit verstellter Stimme: „Neun Monate und da kannst du noch nicht stehen?“
„Ginny meinte, das müsste jeden Tag soweit sein“, bestätigte Harry.
„Du, Harry, hast dich mit acht Monaten schon an der Tischdecke im Esszimmer hochgezogen!“ Sirius musste schnaufen, bevor er amüsiert weitererzählte: „Zwar ist alles andere hinuntergefallen, weil du immer weiter an der Decke gezogen hast, aber immerhin: Du hast gestanden, ganz ohne fremde Hilfe!“
„Ehrlich? Das habe ich gemacht?“ Harry hörte sich solche Anekdoten von früher immer sehr gern an.
„Lily hat mächtig mit James geschimpft, weil der auf dich aufpassen sollte. Dir hätte ja was passieren können bei dem ganzen Besteck, das auf dem Tisch gelegen hat.“ Gedankenverloren und mit einem erfüllten Ausdruck der Freude auf dem Gesicht erinnerte sich Sirius an diesen Moment. „Ich hab mich köstlich über dich amüsiert.“
Als er seinen Patenonkel mit Nicholas im Arm gegenüber sitzen sah, musste er unweigerlich an Szenen aus Severus‘ Erinnerung denken. In seiner Vorstellungskraft versuchte Harry für einen Moment, sich in Nicholas hineinzuversetzen. Er stellte sich vor, wie Sirius früher mit ihm geredet haben musste und ob er da auch die hohe Stimme benutzt oder Grimassen geschnitten hatte, um ihm ein vergnügtes Glucksen zu entlocken. Sirius griff nach dem Schälchen Pudding, tat etwas auf den Löffel und machte mit dem Besteck geräuschuntermalte Flugbewegungen.
„Und da kommt der Schnatz geflogen.“
Nicholas‘ Mund öffnete sich weit. Der Löffel kam näher.
Viel zu spät schritt Harry ein: „Nicht, er mag keinen …“
Kaum hatte der Vanillepudding Nicholas Geschmacksknospen auf der Zunge benetzt, prustete der Junge, um sich von dem Inhalt seines Mundes zu befreien. Mit Vanillepudding in Haaren und Gesicht blinzelte Sirius einige Male verwundert.
„… Vanillegeschmack“, beendete Harry seine viel zu späte Warnung.
Verdutzt blickte Sirius auf den Jungen. „Was bist für ein Kind, dass du keine Vanille magst?“ Es war Wobbel gewesen, der mit einer kaum merklichen Bewegung seiner Hand den Gast von dem Schmutz befreite. Harry reichte Sirius seine Schale.
„Versuch’s mit Schokolade.“
Schokolade machte Nicholas glücklich. Ginny könnte davon auch etwas gebrauchten, dachte Harry, als sie endlich das Gespräch mit ihrer Mutter beendet hatte und sich sichtlich wütend neben ihn auf die Couch setzte. Dabei verschränkte sie noch die Arme, was ihm zeigte, wie sauer sie wirklich war.
„Hallo Sirius“, grüßte sie trotz ihrer Wut.
„Hallöchen Ginny!. Der Kamin endlich wieder frei?“
Nach Scherzen war ihr gar nicht zumute. Nach etwas zu Essen offenbar auch nicht, denn als Harry anbot, ihr etwas aus der Küche zu besorgen, lehnte sie ab.
„Nein danke, ich bekomme nichts mehr runter nach den ganzen Gesprächen über Hochzeitstorten, Vorsuppen und Desserts“, meckerte sie.
„Warum denn so schlecht gelaunt?“, wollte Sirius wissen, der Nicholas weiterhin mit Schokoladenpudding fütterte.
„Wir wollten eine kleine Hochzeitsgesellschaft haben! Klein!“ Sie blickte Harry an. „Oder?“
„Ja“, bestätigte er, denn in dieser Verfassung sollte man ihr lieber nicht widersprechen.
„Mum ist da anderer Meinung und sie glaubt, weil wir ihr die ganze Planung überlassen, dass sie sämtliche Jahrgänge Hogwarts’ einladen kann und darüber hinaus …“ Sie seufzte. „Ach, egal.“
„Also wird es nichts Kleines?“, fragte Harry vorsichtig nach.
„Offensichtlich nicht!“
„Was soll’s?“ Harry hob und senkte gelassen die Schultern. „Dann wird es eben das nächste Mal eine kleine Feier.“
„Das nächste Mal?“ Erst nach ihrer Nachfrage wurde Harry sich seines kleinen Fehlers bewusst. „Wie oft hast du denn vor zu heiraten?“
„Nur dich, Ginny! Wieder und wieder“, beteuerte er grinsend.
Mit ihrem Zeigefinger stach sie ihm in die Seite, weswegen er einige Zentimeter auf dem Sitzpolster hochhüpfte und ihm dabei ein Laut entwich, den man normalerweise von jungen Mädchen gewohnt sein könnte, die man erschreckt hatte. Harry griff nach dem Kissen hinter sich und – wie er es sich von Hermine abgeguckt hatte – schlug damit zaghaft auf Ginny ein.
Nicholas beobachtete vom Schoß seines Onkels aus die sich neckenden Eltern mit einem breiten und nicht mehr zahnfreien Grinsen. Sirius lehnte sich zu dem kleinen Ohr und flüsterte: „Wenn Eltern sich kabbeln, dann wird es immer lustig.“ Die Worte verstand der Junge nicht, aber die langen Haare von dem Mann, auf dessen Schoß er saß, kitzelten ihn an seinem Ohr, woraufhin er quietschend in die Hände klatschte.
„Hey, was flüstert ihr beide da?“ Harry war etwas aus der Puste, weil Ginny ihn mehrmals gekitzelt hatte und es enorm anstrengend war sie abzuwehren.
„Wir lästern nur über euch“, erklärte Sirius mit einem Schmunzeln, „macht ruhig weiter.“
Auf ihrer Stange beobachtete Hedwig das vergnügte Treiben, behielt dabei immer Fawkes im Auge, als wollte sie ihm zur Seite stehen, falls er sich nicht wohl fühlen würde. Als der Phönix wonnig zu singen begann, um seiner eigenen Freude Ausdruck zu verleihen, war es mit einem Male still im Wohnzimmer. Selbst Nicholas war von dem Gesang so fasziniert, dass er mit großen Kulleraugen den nicht mehr so hübschen Vogel anblickte.
„Wow, das war wunderschön“, flüsterte Ginny ehrfürchtig, als der Gesang wieder verstummte.
Wobbel hatte sich Sirius genäherte. „Das war das Schlaflied für den Kleinen.“ Bei der ihm vertrauten Stimme richtete Nicholas seinen Blick auf Wobbel und streckte sich nach ihm, so dass Sirius den Jungen an den Elf übergab, der ihn behutsam an sich nahm. „Zeit fürs Bad.“
„Ich möchte ihn baden“, warf Harry ein.
„Sie, Mr. Potter, haben Besuch.“
„Aber …“
„Sie können ihn ein anderes Mal baden. Guten Abend die Herrschaften.“ Schon war Wobbel verschwunden und Harry lehnte sich beleidigt zurück wie ein Kind, dem man den Schnatz weggenommen hatte.
„Aha“, machte Sirius, „jetzt weiß ich ja, wer hier die Hosen an hat.“
„Haha“, Harry tat so, als würde er schmollen, „nur weil ich ihn nicht herumkommandiere, heißt das noch lange nicht, dass er hier der Boss ist.“
„Nein“, bestätigte Ginny, „denn der bin ich.“ Frech streckte sie ihm die Zunge raus und als er antworten wollte, piekte sie ihm erneut in die Seite.
Nachdem die Elfen aus der Küche den Tisch geräumt hatten, fiel Ginnys Blick auf eine Sache, die sie extra wegen Hermine in Reichweite gelegt hatte.
„Ich glaub’s nicht, ich hab schon wieder vergessen, ihr das Schreibfederset mitzugeben.“ Beim letzten Besuch war Hermine allerdings auch nicht besonders ansprechbar gewesen.
Sirius bot einen Gefallen an. „Ich kann es mitnehmen. In nächster Zeit werde ich häufiger in der Winkelgasse sein. Ich kann es ihr bringen.“
„Wirklich? Das wäre nett von dir. Sag ihr, es tut mir leid, dass ich es überhaupt so weit weggelegt habe, dass es eine Zeit lang unauffindbar war.“
Neugierig, wie Sirius war, öffnete er vorsichtig die Schachtel. Drei weiße Gänsefedern lagen säuberlich aneinander gereiht in der Box, die mit dunkelblauem Samt ausgekleidet war.
„Sieht edel aus“, bemerkte Sirius mit Bewunderung.
„War ein Geschenk von Severus“, erklärte Harry. „Es sind magische Federn. Man prägt sie auf die eigene Handschrift und kann ihnen dann Texte diktieren. Einen Unterschied zur Originalhandschrift erkennt man gar nicht mehr.“
„Was es alles gibt. Zu meiner Zeit haben wir von sowas geträumt. Solche magischen Federn hatten höchstens bestimmte Berufszweige. Journalisten oder Sekretärinnen und so weiter.“
„Hermine schreibt sehr viel, wenn sie recherchiert“, begründete Harry das nicht gerade preiswerte Geschenk.
Ginny schnaufte. „War doch früher schon so, als wir für die Schule gelernt haben.“
„Ich werde es ihr bringen“, bestätigte Sirius nochmals, bevor er die Box in seiner Innentasche verschwinden ließ. „Ich muss auch langsam wieder los. Anne wird schon längst Zuhause sein. Mittlerweile passiert es häufiger, dass sie früher Daheim ist als ich. Das war vor einigen Wochen noch anders.“
„Macht es dir denn Spaß?“ Eigentlich hätte Harry nicht fragen müssen, doch er wollte noch einmal, bevor er ging, das zufriedene Lächeln von Sirius sehen. Er musste darauf nicht lange warten.
„Es ist eine tolle Arbeit! Besonders weil ich weiß, dass damit auch etwas bewirkt wird. Es geht sehr schnell voran. Wir sind fast fertig. Danach wird das Gesetz noch einmal von Ministeriumsangestellten beäugt – ich nehmen an, das wird Kingsley sich nicht nehmen lassen –, bevor es in Kraft tritt.“
Harry nickte, denn er war der gleichen Meinung. „Ach Sirius, bevor du gehst: Wie stellst du dir meine Mithilfe vor?“
„Arbeitet Luna nicht bei einer Zeitung?“, suggerierte Sirius.
„Was für eine Mitarbeit?“, fragte Ginny zwischen.
„Erkläre ich dir nachher.“ Er wandte sich wieder Sirius zu, der bereits aufgestanden war. „Ich könnte mich natürlich mal mit ihr treffen. Gibt es ein bestimmtes Thema, dass das Interview behandeln soll?“
„Was ich vorhin sagte: Gelockerte Arbeitsgesetze für Werwölfe und Zauberstäbe für Elfen und Kobolde. Ich könnte dir natürlich eine Kopie des Gesetzesentwurfs zuspielen, damit ihr das Interview richtig ausarbeiten könnt, aber das muss geheim bleiben.“
„Kein Problem, Sirius. Ich werde dich schon nicht enttäuschen und meine Fans auch nicht.“
Harry begleitete seinen Patenonkel zum Kamin und umarmte ihn zum Abschied. Die grünen Flammen züngelten auf und verpufften wieder, nachdem Sirius den Heimweg angetreten hatte.
„Jetzt erzähl schon, Harry. Was hast du mit Luna vor und was für ein Interview willst du geben?“
Er grinste überlegen. „Du hast es doch gehört, es ist geheim!“
„So so, ‘geheim‘. Ich werde es schon noch aus dir herauskitzeln.“
Mit katzenähnlich geschmeidigen Bewegungen näherte sie sich ihm. Seine Mundwinkel zuckten bereits, denn er ahnte, was sie ihm Schilde führte. Trotzdem war er nicht vor ihren flinken Fingern gefeit, die die besonders kitzligen Stellen an den Seiten seines Oberkörpers attackierten. Harry krümmte sich vor Lachen und versuchte zu fliehen.
Viele Kilometer entfernt von Ginny, die gerade Oberhand über Harry gewonnen hatte, saß Hermine nachdenklich in ihrem Labor. Zum Lachen war ihr nicht zumute. Der Sturm über London sorgte für eine Winkelgasse, die wie ausgestorben wirkte. Die Apotheke hatte sie schon früh geschlossen. Die Ladentür war so verzaubert, dass es im Labor schellen würde, sollte doch jemand Interesse an ihrem Sortiment zeigen, doch Kunden blieben aus. Bei den Zwillingen sah es nicht anders aus. Schon gegen halb eins hatte George sie abgeholt, um mit ihr Gringotts aufzusuchen, wie sie es zweimal die Woche taten. Danach war er wieder in den Scherzartikelladen gegangen und sie war wieder allein. Allein mit achtzehn Büchern, die sie sich bei Flourish und Blotts gekauft hatte. Drei davon waren nach näherem Betrachten ihr Geld nicht wert. Sie würde sie morgen zurückbringen. Die Verkäufer würden bestimmt nicht annehmen, dass sie alle drei in Windeseile schon durchgelesen hatte. Manches hatte sie nur überflogen, weil der Autor von seiner Sache nichts zu verstehen schien. Selbst sie schien mehr Ahnung von Kräuterkunde zu haben als diese drei Männer. Dabei hatten sich die Titel vielversprechend angehört und die Bände waren edel gestaltet. Man durfte ein Buch eben doch nicht nach dem Umschlag bewerten.
Ein Geräusch ließ sie aufhorchen, doch nach einem kurzen Moment wurde sie sich klar darüber, dass sie lediglich geseufzt hatte. Müde schaute sie sich um. Fellini hatte es sich auf seiner Decke auf der Fensterbank mit Sicht auf den kleinen Garten im Hof gemütlich gemacht. Er hatte sich eingerollt und schlief fest. Die Blitze und das Grollen störten ihn nicht im Geringsten, noch weniger der ans Fenster peitschende Regen.
Es tat ihr gut, ihre Augen mal nicht auf Buchstaben ruhen zu lassen, doch ihre Neugier beraubte sie ihrer kurzen Pause, so dass sie sich wieder den Büchern widmete. Kräuterkunde, Zauberkunst, Zaubertränke. Diese drei Abteilungen hatte sie vorhin während der Mittagspause in dem Buchladen, der nie geschlossen zu haben schien, durchstöbert. Die Wirkung vieler Zutaten und Zaubersprüche war ihr klar, doch worauf sie sich konzentrierte war die Frage, wie diese Wirkung zustande kam. Wie war Dianthuskraut dazu in der Lage, Kiemen wachsen zu lassen, obwohl der menschliche Körper nicht einmal ansatzweise über Kiemen verfügte? Die Antwort darauf war schnell gefunden. Der Mensch, bevor er überhaupt in der heute bekannten Form das Land erkundete, war dem Wasser entsprungen. Entwicklungsgeschichtlich besaß er ehemalige Kiemengänge. Wie aber konnte Dianthuskraut bewirken, dass etwas, das seit Millionen von Jahren genetisch stilleglegt war, wieder wachsen konnte?
Hermine bekam Kopfschmerzen, konnte sich dennoch nicht von diesen Büchern losreißen. Immer wieder dachte sie an Neville und wie sie ihn mit einbeziehen könnte, ohne zu viel von Severus preiszugeben. Ihre Gedanken schweiften. Sie erinnerte sich daran, wie sie im zweiten Jahr in „Höchst potente Zaubertränke“ gestöbert hatte. Schon dort hatten es ihr die unfassbaren Illustrationen angetan. Die Zeichnung einer Frau, aus deren Kopf mehrere Arme gewachsen waren, verfolgte sie bis heute. Oft hatte sie sich gefragt, ob der Künstler nur eine rege Fantasie gehabt oder ob er der Frau tatsächlich gegenübergestanden hatte. Wenn es diese Frau gegeben haben sollte, wenn es also tatsächlich möglich wäre, dass einem Arme aus dem Kopf wuchsen, dann war das der Beweis dafür, dass auch Dinge an Stellen wachsen könnten, wo sie nicht vorgesehen waren. Hermines Gedanken drifteten in ihr fünftes Schuljahr, als sie bis zu den ZAGs den altbekannten Wachstumszauber gelernt hatte, der ein Lebewesen wachsen lassen konnte. Dank Draco musste sie persönlich die Erfahrung machen, dass auch nur bestimmte Körperstellen größer werden konnten, wie beispielsweise Zähne, die mit dem Densaugeo gar nicht mehr aufhören wollten sich auszudehnen. Hermine hoffte nicht mehr nur, nein sie wusste, dass es etwas geben musste, das so starke Impulse auslösen würde, die Severus‘ Seelenkern zum Gedeihen bringen konnten. In ihren Augen stellte Harry so einen Impuls dar, zumindest seine Magie. Möglicherweise war Harry einfach nur mit einer starken Zauberkraft gesegnet, aber womöglich hatte allein seine Anwesenheit bereits eine so große Auswirkung, weil Severus durch ihn sehr intensiv an damals erinnert wurde und an all die Gefühle, die der Ewige See vernichten sollte. Harry konnte aus einem bisher nicht erklärlichen Grund Severus‘ Seelenkern manipulieren.
Erneut wollte Hermine ihren Augen eine kurze Ruhe gönnen. Sie blickte sich um und sah Severus im Türrahmen stehen. Ihre Augen spielten ihr manchmal einen Streich, wenn sie sich allein im Labor aufhielt. Es half, an ihn zu denken. Bald würde sie ihn nicht mehr herbeiwünschen müssen, denn ab Juli würde er bei ihr arbeiten. Zufrieden lächelnd wandte sie sich wieder ihrem Buch zu.
„Hermine?“
Sie erschrak furchtbar, als die vermeintlich eingebildete Person am Türrahmen sprach. „Severus!“
Severus konnte sich keinen Reim daraus machen, warum sie sich erschrocken hatte, obwohl sie über seine Anwesenheit informiert war. Langsam näherte er sich dem Labortisch, betrachtete dabei die vielen Bücher. Es war klar, warum sie diese Bücher las.
„Ich habe etwas, das sehr gut zu deinem momentanen Lesestoff passt.“ Er zog das Buch von Albus aus seiner Innentasche und vergrößerte es wieder, bevor er es ihr vor die Nase legte. „Albus hat es mir gegeben.“
Hermine las den Titel. „Eine magische Abhandlung von einem Muggelbuch? Das ist interessant.“ Dann fiel ihr Blick auf den Namen der Autorin. „Vesta Lovegood?“ Sie blickte auf und wiederholte verstört: „Lovegood?“
„Ob eine Verwandtschaft besteht, kann ich weder bestätigen noch dementieren.“ Mit einem Finger deutete er auf all die Bücher. „Du sagtest, du würdest kaum Bücher über Kräuterkunde besitzen?“
„Hab sie heute erst gekauft.“ Ihr aktuelles Buch schlug sie zu. „Ich hab mit dem Essen gewartet, Severus. Hast du Hunger?“
Nach zwei Schnitten Nougattorte und unzähligen süßen Häppchen hatte Severus nicht einmal mehr Appetit. „Nein, wie schon erwähnt war ich bei Albus.“
„Verstehe. Es gab Kuchen?“, fragte sie, woraufhin er nickte. „Warst du wegen etwas Bestimmten bei ihm?“
„Ich habe ihm meine Kündigung überreicht.“
„Oh.“ Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Was hat er gesagt?“
„Das Übliche in solchen Situationen. Er hat seine Glückwünsche ausgesprochen und hofft, dass unsere Zusammenarbeit fruchten wird.“
Hermine nickte. Für einen Moment glaubte er, sie würde etwas sagen wollen, doch er hatte sich offenbar getäuscht.
„Hast du Brau-Aufträge, die erledigt werden müssen?“, wollte er wissen.
„Nicht viele, nur zwei. Die sind schnell fertig.“ Ein weiteres Mal setzte sie an, um etwas zu sagen, bevor sie sich erneut stoppte. Diesmal hatte er sich nicht getäuscht.
„Was ist es, dass du nicht anzusprechen wagst?“ Sein Blick schweifte erneut über die Bücher. „Hast du etwa was gefunden?“
„Nein“, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen. „Es ist nur …“
„Ich kann unbeendete Sätze nicht ausstehen!“
„Ja, ich weiß.“ Ein Seufzer entwich ihr. „Ich habe heute mit meinen Eltern gesprochen. Sie …“ Hermine zögerte einen Moment, gab sich jedoch einen Ruck. „Sie haben uns beide zum Essen eingeladen.“
„Warum denn das?“
„Ich denke, sie möchten einfach nur den Mann kennen lernen, mit dem ich zusammen bin. Zusammen arbeite, meine ich.“ Sie schenkte ihm ein scheues Lächeln. „Meinen Partner.“
„Ich glaube nicht, dass das von Nöten sein wird.“
„Sie wollen doch nur sehen, wem ich scheinbar unüberlegt die Hälfte des Geschäfts angeboten habe. Sie sorgen sich um mich.“
„Und du glaubst, wenn sie mich zu Gesicht bekommen, dass all ihre Sorgen verfliegen?“, spottete er.
Hermine presse ihre Lippen kurz zusammen. „Wenn wir absagen, wird das auch keinen guten Eindruck hinterlassen. Ich kenne meine Eltern! Sie werden dann herkommen und das kann richtig unangenehm werden.“
„Ich lasse mich nicht unter Druck …“
„Severus“, beruhigte sie ihn sanft, „sie wollen nur wissen, wem ihre Tochter so sehr vertraut.“ Hermine legte ihren Kopf schräg. „Ein Abendessen, ein wenig Plaudern und gut ist. Sie erwarten nicht viel, nur dass du die Einladung annimmst.“ Er haderte mit sich, war hin- und hergerissen, was sie an seinem unruhigen Blick erkannte. „Würden deine Eltern nicht auch wissen wollen, mit wem du den Sprung in die Selbstständigkeit wagst?“
„Meinen Vater interessieren solche Dinge nicht.“
„Nein, aber deine Mutter hätte es wissen wollen, würde sie noch leben. Hättest du mich ihr nicht vorgestellt?“
Hier bejahte er innerlich. Seine Mutter hatte ihn immer ermutigt, Freunde mit nachhause zu bringen. Sie hätte sie gern kennen gelernt, nur hatte er nie welche, die er ihr vorstellen konnte. In seinem Tagtraum war deutlich geworden, wie seine Mutter seiner Meinung nach reagiert hätte.
„Nun gut“, sagte er etwas missgelaunt. „Wann?“
„Diesen Samstag gegen 18 Uhr?“
„Erwarten deine Eltern irgendeinen gesellschaftlichen Schnickschnack?“
Hermine lachte. „Nicht mehr als die Malfoys.“
„Dann also Blumen und Whisky.“
„Mein Vater ist eher ein Weintrinker.“
Hermine hörte ein gemurmeltes „Auch noch Sonderwünsche.“, bevor Severus nickte und sich der Liste mit den Brauaufträgen zuwandte, die immer an einer bestimmten Stelle des Labors hing. Während sie sich das Buch von Albus zur Brust nahm, begann Severus zu brauen.
Schon im ersten Kapitel stieß sie auf etwas, das sie in einem ihrer Lexika nachschlagen musste. Es war der Begriff „Saiwaz“. Dieses Wort wurde in Bezug auf die Seele genannt, wenn auch nur so beiläufig, dass man normalerweise nicht sofort nach der Bedeutung schauen würde. Hermine fand in keinem ihrer Tränke-, Heiler- oder Kräuterkunde-Nachschlagewerke diesen Begriff und wandte sich daher einem Band zu, der aus der Muggelwelt stammte. Ihre Eltern hatten ihr das Buch vor langer Zeit geschenkt. Ein Buch über Mythologie stellte die letzte Enzyklopädie, die ihr im Moment noch blieb, doch erstaunlicherweise wurde sie hier fündig. „Saiwaz“ war eine uralte Bezeichnung für „See“; nach altgermanischem Glauben einer der Orte, an denen vor der Geburt und nach dem Tod die Seelen hausen sollten.
Hermine las und las und ließ sich nicht davon stören, dass Severus in ihren Vorräten für Ordnung sorgte. Er versah Gläschen mit seiner ihr aus der Schule bekannten Handschrift und sortierte Zutaten aus, die er für verdorben hielt. Die leeren Phiolen ordnete er so an, wie er es in seinem eigenen Labor handhabte. Erst bei der Tasse Tee, die er ihr an den Tisch brachte, blickte sie auf.
„Was Interessantes gefunden?“ Er hatte sich neben sie gesetzt und nahm einen Schluck von seinem Kaffee, während sie an dem Tee roch.
„Ich glaube ja, aber ich kann es noch nicht ganz miteinander verbinden.“
„Hast du was dagegen, wenn ich die Zulieferer nochmal durchgehe? Manche Zutaten lassen zu wünschen übrig. Wir sollten uns von der Qualität anderer Händler überzeugen.“
„Mach, wie du möchtest.“
Mit ihrer Antwort schien er mehr als zufrieden. Obwohl es schon spät war, ging Severus nicht, obwohl die Auftragsarbeiten längst gebraut waren. Er hatte nichts dagegen einzuwenden, dass Hermine weiter in den Büchern las, als er sich anderen Arbeiten widmete. Kreuz und quer las sie hier und da, auch immer wieder in dem Buch von Albus.
Vesta Lovegood widmete sich nach den mythologischen Hintergründen im Vorwort den heilenden Kräften magischer Pflanzen und Kreaturen, griff dafür auch die Theorien von Hildegard von Bingen auf, die man als eine der ersten Ärztinnen bezeichnen konnte. Ihr Wissen über Naturheilkunde war damals schon sehr umfangreich. Hermine ging davon aus, dass man den Trank „Ewiger See“ genannt hatte, weil die durch ihn zerstörten Seelen nie wieder in den Körper zurückkommen könnten. Sie würden auf ewig in diesen fiktiven Seen hausen. In dieser Hinsicht schöpfte Hermine keine Hoffnung. Severus‘ Seele war verloren, nur der Kern war vorhanden. Es gab keine Seen, in denen Seelen warten würden. Selbst wenn es welche gäbe, war die von Severus‘ nicht mit dabei. Hermine hat mit eigenen Augen gesehen, dass die Seelenteile von Severus verloren waren. Es wäre falsch, ihm eine andere Seele zu geben. Er wäre nicht mehr er selbst.
Weg von der Mythologie und hin zur Wissenschaft, dachte sich Hermine, als sie weiterlas. Auch die Autorin hielt sich nicht mehr an überlieferten Sagen auf.
Als sie ein Kapitel über Animagusgestalten las, begann Hermines Herz zu rasen. Vesta Lovegood behauptet – was Hermine natürlich noch prüfen müsste –, dass die tierische Gestalt eines Menschen eine eigene Seele haben würde. Doch nicht nur das ließ Hermine unruhig auf ihrem Stuhl hin und her rutschen. Vesta beteuerte zudem, dass Federn, Haare, Schuppen, schlichtweg alles von einem Animagus eine außergewöhnlich potente Trankzutat darstellen würde. Das hatte noch nie jemand getestet.
„Severus?“ Er drehte sich zu ihr um. „Hast du jemals davon gehört, dass man etwas von einem Animagus als Trankzutat verwendet hat?“
„Nein, noch nie.“
Eine ganze Weile lang blickte sie ihn eindringlich an, während ihre grauen Zellen so sehr arbeiteten, dass ihre Kopfschmerzen wieder stärker wurden. Er hielt ihren Blick und versuchte, ihre Gedanken zu lesen, was selbst ohne Legilimentik nicht besonders schwer war. Sie verbarg nichts vor ihm; nicht so, wie er stets seine Gefühle vor anderen verhüllte.
„Bist du ein Animagus?“
Diese Frage erstaunte ihn. Sofort musste er an Pettigrew denken, verzog deswegen angewiderte das Gesicht. „Nein.“
„Würdest du …“
„Nein!“
„Severus, bevor du gleich abblockst, solltest du das hier lesen. Das scheint unvorstellbar, aber dennoch bekomme ich Hoffnung, wenn ich Lovegoods Theorien über Animagusformen lese.“
„Ich verstehe nicht, inwiefern eine Animagusform in meinem Fall hilfreich sein sollte.“
Langsam schloss sie das Buch, bevor sie sich die Haare aus dem Gesicht wischte. Es war eine winzige Hoffnung. Die Möglichkeit, eine Zutat zu finden, die bei einem Gegentrank hilfreich sein könnte. Das Problem war, ihn davon zu überzeugen, es wenigstens zu versuchen. Hermine atmete tief durch und erhoffte sich Kraft und Durchsetzungsvermögen.
„Ich möchte etwas von deiner Animagusform haben, Severus. Für dich ist es sicher leicht, deine persönliche Form zu finden. Du könntest Minerva fragen …“
Er unterbrach spottend. „Minerva fragen, ob sie es mich lehrt? Ich bin kein Schüler mehr und ich hatte nie das Bedürfnis nach einer tierischen Form!“ Voller Abscheu dachte er an Black und seine Hundegestalt.
Severus stand mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen. Hermine musste anders vorgehen, wenn sie etwas erreichen wollte. Nur wissenschaftliche Fakten könnten ihn überzeugen.
„Wenn ich Tests mit anderen Animagi durchführe und zu einem erfolgsversprechenden Ergebnis komme, die darauf hindeuten, dass ein Teil deiner Animagusform eine sehr hilfreiche Zutat für ein Gegenmittel zum Ewigen See wäre, würdest du es dann versuchen?“
„Ich verstehe nicht, wie das in Zusammenhang steht.“ Er klang nicht sauer, sondern viel mehr interessiert.
„Mrs. Lovegood spricht davon, dass das ‘zweite Wesen‘ in einem Menschen unversehrt bleibt, wenn der menschliche Körper leidet. Als ‘zweites Wesen‘ würde ich eine Animagusform bezeichnen. Deine tierische Gestalt könnte laut ihrer Theorie ein Ebenbild deiner Seele beherbergen und zwar unversehrt!“
Das Geräusch des metallenden Löffels, den Severus versehentlich fallengelassen hatte, hallte im Labor nach.
In der Eingangshalle von Hogwarts war Sirius hingegen kurz davor, mit den Augen zu rollen. Er musste wegen der vielen ausgelassenen Schülern, die sich hier tummelten, einen Augenblick stehenbleiben, damit er nicht von ihnen umgerannt wurde. Das Abendessen schien gerade zu beginnen. Vorsichtig setzte er seinen Weg durch die Schülermengen fort, die sich noch in Grüppchen vor der großen Halle aufhielten, weil sie auf Freunde warteten oder ungestört reden wollten. Sie kicherten, tuschelten und manche beäugten den Gast, der an ihnen vorüberging.
„Vielleicht ist das der neue Lehrer für Zaubertränke?“, hörte Sirius ein Mädchen sagen. Er drehte sich erstaunt um und bemerkte, wie fünf Schülerinnen ihn anstarrten, bevor sie wieder die Köpfe zusammensteckten und verhalten giggelten. Warum sie gerade ihn als neuen Lehrer für Zaubertränke hielten, war ihm ein Rätsel, denn es war nie eines seiner Lieblingsfächer gewesen. Nachdem er sich diese Frage gestellt hatte, folgte gleich die nächste. Warum ein neuer Lehrer?
Fernab der vielen Teenager war er endlich bei seinem Patensohn angekommen und klopfte höflich an die Tür, die ihm von dem Hauself geöffnet wurde. Wobbel trug Nicholas im Arm.
„Guten Abend, Sir. Treten Sie doch bitte ein. Ich werde Mr. Potter Bescheid geben, dass er Besuch hat“, sagte der Elf, der die Tür weiter öffnete, damit Sirius eintreten konnte.
Während er auf Harry wartete, bemerkte er Ginny, die am Kamin hockte – den Kopf weit ins Feuer gebeugt. Er hörte, wie die Tür zum Arbeitszimmer sich öffnete, weswegen er hinüber zu Harry schaute.
„Sirius!“
„Harry, wie geht’s?“ Die Begrüßung war von Harrys Seite aus wesentlich herzlicher als sonst, was Sirius verwunderte. Harry drückte ihn und ließ eine ganze Weile nicht mehr los. „Harry?“
Erst jetzt löste sein Patensohn die Umarmung. Für einen Moment glaubte Sirius, Harrys Augen würden so sehr glänzten, weil sie feucht waren. „Alles okay mit dir?“
Schnell lenkte Harry von sich selbst ab. „Klar, setzt dich doch. Hast du schon gegessen?“
Das Essen auf dem Tisch betrachtend verneinte Sirius. „Ich wollte eigentlich übers Flohnetz kommen, damit ich zum Essen wieder Zuhause bin, aber jetzt weiß ich ja, warum kein Durchkommen war.“ Er grinste und nickte zu Ginny hinüber, die noch immer am Kamin hockte und ihn blockierte.
„Ja, sie spricht schon fast eine Dreiviertelstunde mit Molly. Länger warte ich mit dem Essen aber nicht auf sie. Wenn es um die Hochzeit geht, und das vermute ich ganz stark, könnte es noch eine Weile dauern.“
„Ah, die Hochzeit“, schwärmte Sirius voller Vorfreude. „Wer wird dein Trauzeuge sein?“
„Natürlich Ron! Ich glaube, er würde mich umbringen, sollte ich jemand anderen nehmen“, erwiderte Harry mit einem Schmunzeln. So ähnlich hatte Ron sich nämlich ausgedrückt, als er fragte, wen Harry als Trauzeugen nehmen möchte. „Greif zu, Sirius. Für Ginny kann ich nachher noch was nachbestellen.“ Sirius kam der Aufforderung sofort nach, denn sein Magen knurrte. „Was führt dich her?“, wollte Harry wissen.
„Neben dem vorzüglichen Essen, das die Elfen in Hogwarts herbeizaubern, wollte ich dir von etwas erzählen, das dich sowieso nicht interessieren wird.“
Irritiert legte Harry seine Stirn in Falten. „Was wird mich nicht interessieren?“
„Ich verstehe vollkommen, wenn du keine Lust dazu hast. Das ist wirklich kein Problem, Harry.“
„Sagst du mir bitte erst einmal, um was es geht? Ich hatte nämlich nie besonders gute Noten in Hellsehen und bei Legilimentik hakt es bei mir auch.“
„Lass uns erst was essen, bevor du ablehnst.“
Jetzt war Harry richtig neugierig. „Sirius! Vielleicht habe ich ja Lust drauf, was auch immer du mir erzählen möchtest.“
Sein Patenonkel stöhnte. „Na gut, du lässt ja keine Ruhe. Es geht um die neuen Gesetze und wir überlegen uns, wie man die Öffentlichkeit im Vorfeld dafür gewinnen könnte. Wenn sie in Kraft treten, soll sich niemand überrumpelt fühlen. Es soll keinen Aufstand geben, also müssen die Bürger der magischen Welt schon jetzt damit in Berührung kommen. Genau da wird’s aber knifflig, denn wer ist beliebt genug, dass er mit seinen Äußerungen bei den Bürgern Gehör finden könnte? Man müsste jemand mit großem Ansehen für die Sache gewinnen; jemand, der sich positiv für die neuen Arbeitsgesetze für Werwölfe äußert oder auch befürwortet, dass Elfen und Kobolde Zauberstäbe benutzen dürfen. Ich weiß, dass es dir gegen den Strich geht, für solche Zwecke herangezogen zu werden, aber …“
„Ich mach‘s!“, sagte Harry, bevor er sich eine volle Gabel mit Rotkohl in den Mund schob.
„Was?“
Mit vollem Mund wiederholte Harry die beiden Wörter brabbelnd, doch die waren noch weniger verständlich. Sirius ahnte jedoch, dass Harry ihm tatsächlich eine Zusage gegeben hatte, was ihn sehr erfreute. Nachdem sein Patensohn geschluckt hatte, stellte er eine Frage.
„Du arbeitest mit Mr. Bloom zusammen, oder?“
„Kennst du ihn?“ Sirius schien sehr erstaunt.
„Hermine hat mich mal zu einer seiner Veranstaltungen mitgeschleppt. War ganz nett, bis auf den Vampir und den Angriff der Todesser. Kurzum: Ich hätte drauf verzichten können.“
Sirius nickte. „Ja, ich erinnere mich daran. Zum Glück hat Remus gleich eingegriffen, sonst wäre noch viel mehr passiert.“
„Arbeitest du also mit Mr. Bloom?“
„Jein, ich arbeite Hand in Hand mit der Initiative, das ist richtig, ich arbeite aber auch im Auftrag des Ministeriums, aber auf freiberuflicher Basis. Ich habe einen, ähm, Kollegen, mit dem ich am selben Strang ziehe. Er kann sehr gut mit Worten umgehen und weiß, auf was es bei Gesetzen ankommt. Außerdem nimmt er jeden Vorschlag ernst.“
Sirius erzählte so stolz von seiner Arbeit, dass Harry nichts anderes tun konnte als sich für ihn zu freuen. Endlich hatte sein Patenonkel Spaß an etwas gefunden, das seinem Leben auch noch einen Sinn gab.
„Kenne ich ihn?“, wollte Harry wissen.
„Denke nicht. Er war …“ Dass Duvall der Beistand von Malfoy gewesen war, wollte er nicht ausplaudern. „Er war bis vor Kurzem noch im Ministerium beschäftigt, hat aber gekündigt.“
„War ihm wohl zu langweilig“, murmelte Harry verständnisvoll.
Wenn beim Ministerium angestellt, dachte er, dann als Auror. Der Job brachte wenigstens Abwechslung mit sich, wenn auch eine Menge Gefahren, was aber vielleicht viel besser war, als im Büro an Langeweile zu sterben. Mich wachem Auge beobachtete Harry, wie Wobbel den Jungen auf dem Boden absetzte, damit der ein wenig krabbeln konnte. Sein Elf sorgte immer dafür, dass eine magische Barriere zu gefährlichen Gegenständen aufgebaut war. Nicholas, so sehr er auch wollte, konnte sich dem Kamin, an dem seine Mami noch immer hockte, nicht nähern. Er begann zu quengeln.
„Nicholas“, rief Harry mit hoher Stimme. Zwei große blaue Augen richteten ihren Blick auf ihn. Harry beugte sich nach vorn und klatschte in die Hände. „Komm her, mein Kleiner.“ Das Kind robbte mit zuversichtlichem Lächeln auf Harry zu, machte aber vor den ausgestreckten Armen seines Vaters Halt und beäugte Sirius. „Oha, jetzt hat er dich im Visier!“
Sein Schälchen Vanillepudding stellte Sirius auf dem Tisch ab, bevor er Harry nachahmte und den Jungen rief, dabei die Arme ausstreckte. Nicholas kroch mit schelmischem Grinsen, mit dem er mehr Sirius glich als Harry, auf ihn zu. Als der Junge an seinen Beinen angelangt war, hob Sirius ihn hoch und setzte ihn gemütlich auf seinen Schoß.
„Wie alt ist er jetzt nochmal?“
„Etwas über neun Monate.“
Sirius blickte Nicholas an und fragte mit verstellter Stimme: „Neun Monate und da kannst du noch nicht stehen?“
„Ginny meinte, das müsste jeden Tag soweit sein“, bestätigte Harry.
„Du, Harry, hast dich mit acht Monaten schon an der Tischdecke im Esszimmer hochgezogen!“ Sirius musste schnaufen, bevor er amüsiert weitererzählte: „Zwar ist alles andere hinuntergefallen, weil du immer weiter an der Decke gezogen hast, aber immerhin: Du hast gestanden, ganz ohne fremde Hilfe!“
„Ehrlich? Das habe ich gemacht?“ Harry hörte sich solche Anekdoten von früher immer sehr gern an.
„Lily hat mächtig mit James geschimpft, weil der auf dich aufpassen sollte. Dir hätte ja was passieren können bei dem ganzen Besteck, das auf dem Tisch gelegen hat.“ Gedankenverloren und mit einem erfüllten Ausdruck der Freude auf dem Gesicht erinnerte sich Sirius an diesen Moment. „Ich hab mich köstlich über dich amüsiert.“
Als er seinen Patenonkel mit Nicholas im Arm gegenüber sitzen sah, musste er unweigerlich an Szenen aus Severus‘ Erinnerung denken. In seiner Vorstellungskraft versuchte Harry für einen Moment, sich in Nicholas hineinzuversetzen. Er stellte sich vor, wie Sirius früher mit ihm geredet haben musste und ob er da auch die hohe Stimme benutzt oder Grimassen geschnitten hatte, um ihm ein vergnügtes Glucksen zu entlocken. Sirius griff nach dem Schälchen Pudding, tat etwas auf den Löffel und machte mit dem Besteck geräuschuntermalte Flugbewegungen.
„Und da kommt der Schnatz geflogen.“
Nicholas‘ Mund öffnete sich weit. Der Löffel kam näher.
Viel zu spät schritt Harry ein: „Nicht, er mag keinen …“
Kaum hatte der Vanillepudding Nicholas Geschmacksknospen auf der Zunge benetzt, prustete der Junge, um sich von dem Inhalt seines Mundes zu befreien. Mit Vanillepudding in Haaren und Gesicht blinzelte Sirius einige Male verwundert.
„… Vanillegeschmack“, beendete Harry seine viel zu späte Warnung.
Verdutzt blickte Sirius auf den Jungen. „Was bist für ein Kind, dass du keine Vanille magst?“ Es war Wobbel gewesen, der mit einer kaum merklichen Bewegung seiner Hand den Gast von dem Schmutz befreite. Harry reichte Sirius seine Schale.
„Versuch’s mit Schokolade.“
Schokolade machte Nicholas glücklich. Ginny könnte davon auch etwas gebrauchten, dachte Harry, als sie endlich das Gespräch mit ihrer Mutter beendet hatte und sich sichtlich wütend neben ihn auf die Couch setzte. Dabei verschränkte sie noch die Arme, was ihm zeigte, wie sauer sie wirklich war.
„Hallo Sirius“, grüßte sie trotz ihrer Wut.
„Hallöchen Ginny!. Der Kamin endlich wieder frei?“
Nach Scherzen war ihr gar nicht zumute. Nach etwas zu Essen offenbar auch nicht, denn als Harry anbot, ihr etwas aus der Küche zu besorgen, lehnte sie ab.
„Nein danke, ich bekomme nichts mehr runter nach den ganzen Gesprächen über Hochzeitstorten, Vorsuppen und Desserts“, meckerte sie.
„Warum denn so schlecht gelaunt?“, wollte Sirius wissen, der Nicholas weiterhin mit Schokoladenpudding fütterte.
„Wir wollten eine kleine Hochzeitsgesellschaft haben! Klein!“ Sie blickte Harry an. „Oder?“
„Ja“, bestätigte er, denn in dieser Verfassung sollte man ihr lieber nicht widersprechen.
„Mum ist da anderer Meinung und sie glaubt, weil wir ihr die ganze Planung überlassen, dass sie sämtliche Jahrgänge Hogwarts’ einladen kann und darüber hinaus …“ Sie seufzte. „Ach, egal.“
„Also wird es nichts Kleines?“, fragte Harry vorsichtig nach.
„Offensichtlich nicht!“
„Was soll’s?“ Harry hob und senkte gelassen die Schultern. „Dann wird es eben das nächste Mal eine kleine Feier.“
„Das nächste Mal?“ Erst nach ihrer Nachfrage wurde Harry sich seines kleinen Fehlers bewusst. „Wie oft hast du denn vor zu heiraten?“
„Nur dich, Ginny! Wieder und wieder“, beteuerte er grinsend.
Mit ihrem Zeigefinger stach sie ihm in die Seite, weswegen er einige Zentimeter auf dem Sitzpolster hochhüpfte und ihm dabei ein Laut entwich, den man normalerweise von jungen Mädchen gewohnt sein könnte, die man erschreckt hatte. Harry griff nach dem Kissen hinter sich und – wie er es sich von Hermine abgeguckt hatte – schlug damit zaghaft auf Ginny ein.
Nicholas beobachtete vom Schoß seines Onkels aus die sich neckenden Eltern mit einem breiten und nicht mehr zahnfreien Grinsen. Sirius lehnte sich zu dem kleinen Ohr und flüsterte: „Wenn Eltern sich kabbeln, dann wird es immer lustig.“ Die Worte verstand der Junge nicht, aber die langen Haare von dem Mann, auf dessen Schoß er saß, kitzelten ihn an seinem Ohr, woraufhin er quietschend in die Hände klatschte.
„Hey, was flüstert ihr beide da?“ Harry war etwas aus der Puste, weil Ginny ihn mehrmals gekitzelt hatte und es enorm anstrengend war sie abzuwehren.
„Wir lästern nur über euch“, erklärte Sirius mit einem Schmunzeln, „macht ruhig weiter.“
Auf ihrer Stange beobachtete Hedwig das vergnügte Treiben, behielt dabei immer Fawkes im Auge, als wollte sie ihm zur Seite stehen, falls er sich nicht wohl fühlen würde. Als der Phönix wonnig zu singen begann, um seiner eigenen Freude Ausdruck zu verleihen, war es mit einem Male still im Wohnzimmer. Selbst Nicholas war von dem Gesang so fasziniert, dass er mit großen Kulleraugen den nicht mehr so hübschen Vogel anblickte.
„Wow, das war wunderschön“, flüsterte Ginny ehrfürchtig, als der Gesang wieder verstummte.
Wobbel hatte sich Sirius genäherte. „Das war das Schlaflied für den Kleinen.“ Bei der ihm vertrauten Stimme richtete Nicholas seinen Blick auf Wobbel und streckte sich nach ihm, so dass Sirius den Jungen an den Elf übergab, der ihn behutsam an sich nahm. „Zeit fürs Bad.“
„Ich möchte ihn baden“, warf Harry ein.
„Sie, Mr. Potter, haben Besuch.“
„Aber …“
„Sie können ihn ein anderes Mal baden. Guten Abend die Herrschaften.“ Schon war Wobbel verschwunden und Harry lehnte sich beleidigt zurück wie ein Kind, dem man den Schnatz weggenommen hatte.
„Aha“, machte Sirius, „jetzt weiß ich ja, wer hier die Hosen an hat.“
„Haha“, Harry tat so, als würde er schmollen, „nur weil ich ihn nicht herumkommandiere, heißt das noch lange nicht, dass er hier der Boss ist.“
„Nein“, bestätigte Ginny, „denn der bin ich.“ Frech streckte sie ihm die Zunge raus und als er antworten wollte, piekte sie ihm erneut in die Seite.
Nachdem die Elfen aus der Küche den Tisch geräumt hatten, fiel Ginnys Blick auf eine Sache, die sie extra wegen Hermine in Reichweite gelegt hatte.
„Ich glaub’s nicht, ich hab schon wieder vergessen, ihr das Schreibfederset mitzugeben.“ Beim letzten Besuch war Hermine allerdings auch nicht besonders ansprechbar gewesen.
Sirius bot einen Gefallen an. „Ich kann es mitnehmen. In nächster Zeit werde ich häufiger in der Winkelgasse sein. Ich kann es ihr bringen.“
„Wirklich? Das wäre nett von dir. Sag ihr, es tut mir leid, dass ich es überhaupt so weit weggelegt habe, dass es eine Zeit lang unauffindbar war.“
Neugierig, wie Sirius war, öffnete er vorsichtig die Schachtel. Drei weiße Gänsefedern lagen säuberlich aneinander gereiht in der Box, die mit dunkelblauem Samt ausgekleidet war.
„Sieht edel aus“, bemerkte Sirius mit Bewunderung.
„War ein Geschenk von Severus“, erklärte Harry. „Es sind magische Federn. Man prägt sie auf die eigene Handschrift und kann ihnen dann Texte diktieren. Einen Unterschied zur Originalhandschrift erkennt man gar nicht mehr.“
„Was es alles gibt. Zu meiner Zeit haben wir von sowas geträumt. Solche magischen Federn hatten höchstens bestimmte Berufszweige. Journalisten oder Sekretärinnen und so weiter.“
„Hermine schreibt sehr viel, wenn sie recherchiert“, begründete Harry das nicht gerade preiswerte Geschenk.
Ginny schnaufte. „War doch früher schon so, als wir für die Schule gelernt haben.“
„Ich werde es ihr bringen“, bestätigte Sirius nochmals, bevor er die Box in seiner Innentasche verschwinden ließ. „Ich muss auch langsam wieder los. Anne wird schon längst Zuhause sein. Mittlerweile passiert es häufiger, dass sie früher Daheim ist als ich. Das war vor einigen Wochen noch anders.“
„Macht es dir denn Spaß?“ Eigentlich hätte Harry nicht fragen müssen, doch er wollte noch einmal, bevor er ging, das zufriedene Lächeln von Sirius sehen. Er musste darauf nicht lange warten.
„Es ist eine tolle Arbeit! Besonders weil ich weiß, dass damit auch etwas bewirkt wird. Es geht sehr schnell voran. Wir sind fast fertig. Danach wird das Gesetz noch einmal von Ministeriumsangestellten beäugt – ich nehmen an, das wird Kingsley sich nicht nehmen lassen –, bevor es in Kraft tritt.“
Harry nickte, denn er war der gleichen Meinung. „Ach Sirius, bevor du gehst: Wie stellst du dir meine Mithilfe vor?“
„Arbeitet Luna nicht bei einer Zeitung?“, suggerierte Sirius.
„Was für eine Mitarbeit?“, fragte Ginny zwischen.
„Erkläre ich dir nachher.“ Er wandte sich wieder Sirius zu, der bereits aufgestanden war. „Ich könnte mich natürlich mal mit ihr treffen. Gibt es ein bestimmtes Thema, dass das Interview behandeln soll?“
„Was ich vorhin sagte: Gelockerte Arbeitsgesetze für Werwölfe und Zauberstäbe für Elfen und Kobolde. Ich könnte dir natürlich eine Kopie des Gesetzesentwurfs zuspielen, damit ihr das Interview richtig ausarbeiten könnt, aber das muss geheim bleiben.“
„Kein Problem, Sirius. Ich werde dich schon nicht enttäuschen und meine Fans auch nicht.“
Harry begleitete seinen Patenonkel zum Kamin und umarmte ihn zum Abschied. Die grünen Flammen züngelten auf und verpufften wieder, nachdem Sirius den Heimweg angetreten hatte.
„Jetzt erzähl schon, Harry. Was hast du mit Luna vor und was für ein Interview willst du geben?“
Er grinste überlegen. „Du hast es doch gehört, es ist geheim!“
„So so, ‘geheim‘. Ich werde es schon noch aus dir herauskitzeln.“
Mit katzenähnlich geschmeidigen Bewegungen näherte sie sich ihm. Seine Mundwinkel zuckten bereits, denn er ahnte, was sie ihm Schilde führte. Trotzdem war er nicht vor ihren flinken Fingern gefeit, die die besonders kitzligen Stellen an den Seiten seines Oberkörpers attackierten. Harry krümmte sich vor Lachen und versuchte zu fliehen.
Viele Kilometer entfernt von Ginny, die gerade Oberhand über Harry gewonnen hatte, saß Hermine nachdenklich in ihrem Labor. Zum Lachen war ihr nicht zumute. Der Sturm über London sorgte für eine Winkelgasse, die wie ausgestorben wirkte. Die Apotheke hatte sie schon früh geschlossen. Die Ladentür war so verzaubert, dass es im Labor schellen würde, sollte doch jemand Interesse an ihrem Sortiment zeigen, doch Kunden blieben aus. Bei den Zwillingen sah es nicht anders aus. Schon gegen halb eins hatte George sie abgeholt, um mit ihr Gringotts aufzusuchen, wie sie es zweimal die Woche taten. Danach war er wieder in den Scherzartikelladen gegangen und sie war wieder allein. Allein mit achtzehn Büchern, die sie sich bei Flourish und Blotts gekauft hatte. Drei davon waren nach näherem Betrachten ihr Geld nicht wert. Sie würde sie morgen zurückbringen. Die Verkäufer würden bestimmt nicht annehmen, dass sie alle drei in Windeseile schon durchgelesen hatte. Manches hatte sie nur überflogen, weil der Autor von seiner Sache nichts zu verstehen schien. Selbst sie schien mehr Ahnung von Kräuterkunde zu haben als diese drei Männer. Dabei hatten sich die Titel vielversprechend angehört und die Bände waren edel gestaltet. Man durfte ein Buch eben doch nicht nach dem Umschlag bewerten.
Ein Geräusch ließ sie aufhorchen, doch nach einem kurzen Moment wurde sie sich klar darüber, dass sie lediglich geseufzt hatte. Müde schaute sie sich um. Fellini hatte es sich auf seiner Decke auf der Fensterbank mit Sicht auf den kleinen Garten im Hof gemütlich gemacht. Er hatte sich eingerollt und schlief fest. Die Blitze und das Grollen störten ihn nicht im Geringsten, noch weniger der ans Fenster peitschende Regen.
Es tat ihr gut, ihre Augen mal nicht auf Buchstaben ruhen zu lassen, doch ihre Neugier beraubte sie ihrer kurzen Pause, so dass sie sich wieder den Büchern widmete. Kräuterkunde, Zauberkunst, Zaubertränke. Diese drei Abteilungen hatte sie vorhin während der Mittagspause in dem Buchladen, der nie geschlossen zu haben schien, durchstöbert. Die Wirkung vieler Zutaten und Zaubersprüche war ihr klar, doch worauf sie sich konzentrierte war die Frage, wie diese Wirkung zustande kam. Wie war Dianthuskraut dazu in der Lage, Kiemen wachsen zu lassen, obwohl der menschliche Körper nicht einmal ansatzweise über Kiemen verfügte? Die Antwort darauf war schnell gefunden. Der Mensch, bevor er überhaupt in der heute bekannten Form das Land erkundete, war dem Wasser entsprungen. Entwicklungsgeschichtlich besaß er ehemalige Kiemengänge. Wie aber konnte Dianthuskraut bewirken, dass etwas, das seit Millionen von Jahren genetisch stilleglegt war, wieder wachsen konnte?
Hermine bekam Kopfschmerzen, konnte sich dennoch nicht von diesen Büchern losreißen. Immer wieder dachte sie an Neville und wie sie ihn mit einbeziehen könnte, ohne zu viel von Severus preiszugeben. Ihre Gedanken schweiften. Sie erinnerte sich daran, wie sie im zweiten Jahr in „Höchst potente Zaubertränke“ gestöbert hatte. Schon dort hatten es ihr die unfassbaren Illustrationen angetan. Die Zeichnung einer Frau, aus deren Kopf mehrere Arme gewachsen waren, verfolgte sie bis heute. Oft hatte sie sich gefragt, ob der Künstler nur eine rege Fantasie gehabt oder ob er der Frau tatsächlich gegenübergestanden hatte. Wenn es diese Frau gegeben haben sollte, wenn es also tatsächlich möglich wäre, dass einem Arme aus dem Kopf wuchsen, dann war das der Beweis dafür, dass auch Dinge an Stellen wachsen könnten, wo sie nicht vorgesehen waren. Hermines Gedanken drifteten in ihr fünftes Schuljahr, als sie bis zu den ZAGs den altbekannten Wachstumszauber gelernt hatte, der ein Lebewesen wachsen lassen konnte. Dank Draco musste sie persönlich die Erfahrung machen, dass auch nur bestimmte Körperstellen größer werden konnten, wie beispielsweise Zähne, die mit dem Densaugeo gar nicht mehr aufhören wollten sich auszudehnen. Hermine hoffte nicht mehr nur, nein sie wusste, dass es etwas geben musste, das so starke Impulse auslösen würde, die Severus‘ Seelenkern zum Gedeihen bringen konnten. In ihren Augen stellte Harry so einen Impuls dar, zumindest seine Magie. Möglicherweise war Harry einfach nur mit einer starken Zauberkraft gesegnet, aber womöglich hatte allein seine Anwesenheit bereits eine so große Auswirkung, weil Severus durch ihn sehr intensiv an damals erinnert wurde und an all die Gefühle, die der Ewige See vernichten sollte. Harry konnte aus einem bisher nicht erklärlichen Grund Severus‘ Seelenkern manipulieren.
Erneut wollte Hermine ihren Augen eine kurze Ruhe gönnen. Sie blickte sich um und sah Severus im Türrahmen stehen. Ihre Augen spielten ihr manchmal einen Streich, wenn sie sich allein im Labor aufhielt. Es half, an ihn zu denken. Bald würde sie ihn nicht mehr herbeiwünschen müssen, denn ab Juli würde er bei ihr arbeiten. Zufrieden lächelnd wandte sie sich wieder ihrem Buch zu.
„Hermine?“
Sie erschrak furchtbar, als die vermeintlich eingebildete Person am Türrahmen sprach. „Severus!“
Severus konnte sich keinen Reim daraus machen, warum sie sich erschrocken hatte, obwohl sie über seine Anwesenheit informiert war. Langsam näherte er sich dem Labortisch, betrachtete dabei die vielen Bücher. Es war klar, warum sie diese Bücher las.
„Ich habe etwas, das sehr gut zu deinem momentanen Lesestoff passt.“ Er zog das Buch von Albus aus seiner Innentasche und vergrößerte es wieder, bevor er es ihr vor die Nase legte. „Albus hat es mir gegeben.“
Hermine las den Titel. „Eine magische Abhandlung von einem Muggelbuch? Das ist interessant.“ Dann fiel ihr Blick auf den Namen der Autorin. „Vesta Lovegood?“ Sie blickte auf und wiederholte verstört: „Lovegood?“
„Ob eine Verwandtschaft besteht, kann ich weder bestätigen noch dementieren.“ Mit einem Finger deutete er auf all die Bücher. „Du sagtest, du würdest kaum Bücher über Kräuterkunde besitzen?“
„Hab sie heute erst gekauft.“ Ihr aktuelles Buch schlug sie zu. „Ich hab mit dem Essen gewartet, Severus. Hast du Hunger?“
Nach zwei Schnitten Nougattorte und unzähligen süßen Häppchen hatte Severus nicht einmal mehr Appetit. „Nein, wie schon erwähnt war ich bei Albus.“
„Verstehe. Es gab Kuchen?“, fragte sie, woraufhin er nickte. „Warst du wegen etwas Bestimmten bei ihm?“
„Ich habe ihm meine Kündigung überreicht.“
„Oh.“ Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Was hat er gesagt?“
„Das Übliche in solchen Situationen. Er hat seine Glückwünsche ausgesprochen und hofft, dass unsere Zusammenarbeit fruchten wird.“
Hermine nickte. Für einen Moment glaubte er, sie würde etwas sagen wollen, doch er hatte sich offenbar getäuscht.
„Hast du Brau-Aufträge, die erledigt werden müssen?“, wollte er wissen.
„Nicht viele, nur zwei. Die sind schnell fertig.“ Ein weiteres Mal setzte sie an, um etwas zu sagen, bevor sie sich erneut stoppte. Diesmal hatte er sich nicht getäuscht.
„Was ist es, dass du nicht anzusprechen wagst?“ Sein Blick schweifte erneut über die Bücher. „Hast du etwa was gefunden?“
„Nein“, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen. „Es ist nur …“
„Ich kann unbeendete Sätze nicht ausstehen!“
„Ja, ich weiß.“ Ein Seufzer entwich ihr. „Ich habe heute mit meinen Eltern gesprochen. Sie …“ Hermine zögerte einen Moment, gab sich jedoch einen Ruck. „Sie haben uns beide zum Essen eingeladen.“
„Warum denn das?“
„Ich denke, sie möchten einfach nur den Mann kennen lernen, mit dem ich zusammen bin. Zusammen arbeite, meine ich.“ Sie schenkte ihm ein scheues Lächeln. „Meinen Partner.“
„Ich glaube nicht, dass das von Nöten sein wird.“
„Sie wollen doch nur sehen, wem ich scheinbar unüberlegt die Hälfte des Geschäfts angeboten habe. Sie sorgen sich um mich.“
„Und du glaubst, wenn sie mich zu Gesicht bekommen, dass all ihre Sorgen verfliegen?“, spottete er.
Hermine presse ihre Lippen kurz zusammen. „Wenn wir absagen, wird das auch keinen guten Eindruck hinterlassen. Ich kenne meine Eltern! Sie werden dann herkommen und das kann richtig unangenehm werden.“
„Ich lasse mich nicht unter Druck …“
„Severus“, beruhigte sie ihn sanft, „sie wollen nur wissen, wem ihre Tochter so sehr vertraut.“ Hermine legte ihren Kopf schräg. „Ein Abendessen, ein wenig Plaudern und gut ist. Sie erwarten nicht viel, nur dass du die Einladung annimmst.“ Er haderte mit sich, war hin- und hergerissen, was sie an seinem unruhigen Blick erkannte. „Würden deine Eltern nicht auch wissen wollen, mit wem du den Sprung in die Selbstständigkeit wagst?“
„Meinen Vater interessieren solche Dinge nicht.“
„Nein, aber deine Mutter hätte es wissen wollen, würde sie noch leben. Hättest du mich ihr nicht vorgestellt?“
Hier bejahte er innerlich. Seine Mutter hatte ihn immer ermutigt, Freunde mit nachhause zu bringen. Sie hätte sie gern kennen gelernt, nur hatte er nie welche, die er ihr vorstellen konnte. In seinem Tagtraum war deutlich geworden, wie seine Mutter seiner Meinung nach reagiert hätte.
„Nun gut“, sagte er etwas missgelaunt. „Wann?“
„Diesen Samstag gegen 18 Uhr?“
„Erwarten deine Eltern irgendeinen gesellschaftlichen Schnickschnack?“
Hermine lachte. „Nicht mehr als die Malfoys.“
„Dann also Blumen und Whisky.“
„Mein Vater ist eher ein Weintrinker.“
Hermine hörte ein gemurmeltes „Auch noch Sonderwünsche.“, bevor Severus nickte und sich der Liste mit den Brauaufträgen zuwandte, die immer an einer bestimmten Stelle des Labors hing. Während sie sich das Buch von Albus zur Brust nahm, begann Severus zu brauen.
Schon im ersten Kapitel stieß sie auf etwas, das sie in einem ihrer Lexika nachschlagen musste. Es war der Begriff „Saiwaz“. Dieses Wort wurde in Bezug auf die Seele genannt, wenn auch nur so beiläufig, dass man normalerweise nicht sofort nach der Bedeutung schauen würde. Hermine fand in keinem ihrer Tränke-, Heiler- oder Kräuterkunde-Nachschlagewerke diesen Begriff und wandte sich daher einem Band zu, der aus der Muggelwelt stammte. Ihre Eltern hatten ihr das Buch vor langer Zeit geschenkt. Ein Buch über Mythologie stellte die letzte Enzyklopädie, die ihr im Moment noch blieb, doch erstaunlicherweise wurde sie hier fündig. „Saiwaz“ war eine uralte Bezeichnung für „See“; nach altgermanischem Glauben einer der Orte, an denen vor der Geburt und nach dem Tod die Seelen hausen sollten.
Hermine las und las und ließ sich nicht davon stören, dass Severus in ihren Vorräten für Ordnung sorgte. Er versah Gläschen mit seiner ihr aus der Schule bekannten Handschrift und sortierte Zutaten aus, die er für verdorben hielt. Die leeren Phiolen ordnete er so an, wie er es in seinem eigenen Labor handhabte. Erst bei der Tasse Tee, die er ihr an den Tisch brachte, blickte sie auf.
„Was Interessantes gefunden?“ Er hatte sich neben sie gesetzt und nahm einen Schluck von seinem Kaffee, während sie an dem Tee roch.
„Ich glaube ja, aber ich kann es noch nicht ganz miteinander verbinden.“
„Hast du was dagegen, wenn ich die Zulieferer nochmal durchgehe? Manche Zutaten lassen zu wünschen übrig. Wir sollten uns von der Qualität anderer Händler überzeugen.“
„Mach, wie du möchtest.“
Mit ihrer Antwort schien er mehr als zufrieden. Obwohl es schon spät war, ging Severus nicht, obwohl die Auftragsarbeiten längst gebraut waren. Er hatte nichts dagegen einzuwenden, dass Hermine weiter in den Büchern las, als er sich anderen Arbeiten widmete. Kreuz und quer las sie hier und da, auch immer wieder in dem Buch von Albus.
Vesta Lovegood widmete sich nach den mythologischen Hintergründen im Vorwort den heilenden Kräften magischer Pflanzen und Kreaturen, griff dafür auch die Theorien von Hildegard von Bingen auf, die man als eine der ersten Ärztinnen bezeichnen konnte. Ihr Wissen über Naturheilkunde war damals schon sehr umfangreich. Hermine ging davon aus, dass man den Trank „Ewiger See“ genannt hatte, weil die durch ihn zerstörten Seelen nie wieder in den Körper zurückkommen könnten. Sie würden auf ewig in diesen fiktiven Seen hausen. In dieser Hinsicht schöpfte Hermine keine Hoffnung. Severus‘ Seele war verloren, nur der Kern war vorhanden. Es gab keine Seen, in denen Seelen warten würden. Selbst wenn es welche gäbe, war die von Severus‘ nicht mit dabei. Hermine hat mit eigenen Augen gesehen, dass die Seelenteile von Severus verloren waren. Es wäre falsch, ihm eine andere Seele zu geben. Er wäre nicht mehr er selbst.
Weg von der Mythologie und hin zur Wissenschaft, dachte sich Hermine, als sie weiterlas. Auch die Autorin hielt sich nicht mehr an überlieferten Sagen auf.
Als sie ein Kapitel über Animagusgestalten las, begann Hermines Herz zu rasen. Vesta Lovegood behauptet – was Hermine natürlich noch prüfen müsste –, dass die tierische Gestalt eines Menschen eine eigene Seele haben würde. Doch nicht nur das ließ Hermine unruhig auf ihrem Stuhl hin und her rutschen. Vesta beteuerte zudem, dass Federn, Haare, Schuppen, schlichtweg alles von einem Animagus eine außergewöhnlich potente Trankzutat darstellen würde. Das hatte noch nie jemand getestet.
„Severus?“ Er drehte sich zu ihr um. „Hast du jemals davon gehört, dass man etwas von einem Animagus als Trankzutat verwendet hat?“
„Nein, noch nie.“
Eine ganze Weile lang blickte sie ihn eindringlich an, während ihre grauen Zellen so sehr arbeiteten, dass ihre Kopfschmerzen wieder stärker wurden. Er hielt ihren Blick und versuchte, ihre Gedanken zu lesen, was selbst ohne Legilimentik nicht besonders schwer war. Sie verbarg nichts vor ihm; nicht so, wie er stets seine Gefühle vor anderen verhüllte.
„Bist du ein Animagus?“
Diese Frage erstaunte ihn. Sofort musste er an Pettigrew denken, verzog deswegen angewiderte das Gesicht. „Nein.“
„Würdest du …“
„Nein!“
„Severus, bevor du gleich abblockst, solltest du das hier lesen. Das scheint unvorstellbar, aber dennoch bekomme ich Hoffnung, wenn ich Lovegoods Theorien über Animagusformen lese.“
„Ich verstehe nicht, inwiefern eine Animagusform in meinem Fall hilfreich sein sollte.“
Langsam schloss sie das Buch, bevor sie sich die Haare aus dem Gesicht wischte. Es war eine winzige Hoffnung. Die Möglichkeit, eine Zutat zu finden, die bei einem Gegentrank hilfreich sein könnte. Das Problem war, ihn davon zu überzeugen, es wenigstens zu versuchen. Hermine atmete tief durch und erhoffte sich Kraft und Durchsetzungsvermögen.
„Ich möchte etwas von deiner Animagusform haben, Severus. Für dich ist es sicher leicht, deine persönliche Form zu finden. Du könntest Minerva fragen …“
Er unterbrach spottend. „Minerva fragen, ob sie es mich lehrt? Ich bin kein Schüler mehr und ich hatte nie das Bedürfnis nach einer tierischen Form!“ Voller Abscheu dachte er an Black und seine Hundegestalt.
Severus stand mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen. Hermine musste anders vorgehen, wenn sie etwas erreichen wollte. Nur wissenschaftliche Fakten könnten ihn überzeugen.
„Wenn ich Tests mit anderen Animagi durchführe und zu einem erfolgsversprechenden Ergebnis komme, die darauf hindeuten, dass ein Teil deiner Animagusform eine sehr hilfreiche Zutat für ein Gegenmittel zum Ewigen See wäre, würdest du es dann versuchen?“
„Ich verstehe nicht, wie das in Zusammenhang steht.“ Er klang nicht sauer, sondern viel mehr interessiert.
„Mrs. Lovegood spricht davon, dass das ‘zweite Wesen‘ in einem Menschen unversehrt bleibt, wenn der menschliche Körper leidet. Als ‘zweites Wesen‘ würde ich eine Animagusform bezeichnen. Deine tierische Gestalt könnte laut ihrer Theorie ein Ebenbild deiner Seele beherbergen und zwar unversehrt!“
Das Geräusch des metallenden Löffels, den Severus versehentlich fallengelassen hatte, hallte im Labor nach.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
~ Muggelchen.net ~
~ Muggelchen.net ~
- Muggelchen
- Eule
- Beiträge: 345
- Registriert: 07.06.2008 22:29
- Wohnort: Gemälde im 1. Stock
192 Wie ein Fisch im Wasser
Die folgende Woche bescherte viele volle Terminkalender.
Wie versprochen wollte Sirius vor seinem Treffen mit Sid noch kurz vor Ladenschluss bei Hermine vorbeischauen, um ihr das magische Schreibfederset zu überreichen, das schon seit Hermines Umzug bei Ginny zwischenlagerte. Womit er nicht gerechnet hatte, war der Ansturm in der Apotheke. Geduldig wartete er, bis der letzte Kunde bedient war und Hermine den Laden schließen wollte.
„Sirius!“ Sie hatte ihn erst jetzt gesehen, weil er sich dezent in eine Ecke der Apotheke zurückgezogen hatte. Unerwartet tauchte hinter Hermine noch ein anderes Gesicht auf. Anstatt ihren Gruß zu erwidern, hatte die Anwesenheit der anderen Person ihm die Sprache verschlagen, obwohl er damit hätte rechnen müssen.
„Black“, giftete Severus ihn an, bevor seine Lippen sich zu einem hämischen Grinsen verzogen. „Was führt Sie her? Ein Mittel gegen Staupe?“
„Muss das sein?“, zischelte Hermine leise über ihre Schulter, dennoch konnte Sirius es hören. Zu seinem Erstaunen zog sich Severus nach der Ermahnung wieder in die hinteren Räume zurück, so dass Hermine sich wieder ihm widmen konnte. „Sirius, egal was dich herführt: Es ist gut, dass du hier bist. Ich wollte dich nämlich um etwas bitten.“
„Mich? Wie könnte ich dir helfen?“
„Ich benötige ein Paar Hundehaare! Wärst du so lieb?“
Er schien dem Braten nicht zu trauen, kniff die Augen zusammen und fragte mit einem verschmitzten Lächeln: „Warum von mir? Severus hat einen Hund, nimm sie doch von ihm.“
„Nein, ich habe mich wohl falsch ausgedrückt. Ich brauche die Haare eines Animagus.“
Die richtiggestellte Frage von Hermine war ihm ebenfalls nicht geheuer. „Hermine.“ Unsicher lachend stieß er Luft durch die Nase aus, schüttelte seinen Kopf. „Warum …? Ich meine, was hast du vor? Willst du versuchen, ob es möglich ist, einen Vielsafttrank von einem Animagus herzustellen?“
„Nein, aber“, sie hielt kurz inne, „das wäre wirklich mal einen Test wert! Ich habe keine Ahnung, ob das geht.“
„Wofür brauchst du die Haare dann?“
„Ich möchte damit experimentieren. Mich interessiert, ob die Haare von einer Animagusform magische Eigenschaften besitzen. Rein theoretisch müssten sie, denn die Form wird durch Magie herbeigeführt.“
Sirius runzelte die Stirn. „Was willst du mit den Haaren tun, sollte sich deine Vermutung bestätigen? Vielleicht ein neues Sortiment an Trankzutaten anzubieten?“
„Nein, ich möchte nur wissen, was möglich wäre. Mich … Es interessiert mich, Sirius. Das ist ein Forschungsprojekt von mir.“
Hermine konnte nichts gegen die Röte auf ihren Wangen unternehmen, weil sie ihm nicht die ganze Wahrheit sagte. Diese Informationen mussten jedoch ausreichen.
„Ein Forschungsprojekt“, wiederholte er skeptisch nickend und mit scharfem Blick. „Von mir aus, aber stell damit ja keinen Unsinn an, Hermine.“
„Würde ich nie tun! Ich brauch nur ein Büschel Haare.“
„Okay“, stimmte er zu. „Willst du sie abschneiden? Wenn ich vorschlagen dürfte: Wenn du mich kämmst, bekommst du eine Menge Haare! Daraus könnte man beinahe einen Pullover stricken.“
Hermine schloss die Ladentür und bat Sirius nach oben in die Wohnung. Am Labor vorbeigehend bemerkte er durch die leicht offen stehende Tür, wie Severus irgendwelche Pflanzen betrachtete und sortierte. Oben angekommen verwandelte Hermine eine Packung Streichhölzer in eine Hundebürste, die sie ihm breit lächelnd zeigte. Mit seinen Gedanken war Sirius allerdings noch unten im Labor.
„Er arbeitet hier?“, fragte er flüsternd.
„Noch nicht fest, aber er wird bald anfangen.“
„Ah, deswegen das Getuschel der Schüler“, murmelte er. „Ich habe durch Zufall in Hogwarts erfahren, dass es wohl demnächst einen neuen Tränkemeister geben soll.“
Sie nickte. „Er macht das Schuljahr noch zu Ende und fängt ab Juli hier an.“ Nachdem sie seine Worte in Gedanken wiederholt hatte, wollte sie wissen: „Warum warst du denn in Hogwarts? Hast du Harry besucht?“
„Ja!“ Jetzt strahlte Sirius über das ganze Gesicht. „Das war mal wieder an der Zeit.“
Fröhlich erzählte Sirius von seinem Erlebnis mit Nicholas, was Hermines Augen glänzen ließ. Der Junge war ihr Patensohn. Sie machte sich die gedankliche Notiz, demnächst etwas mit ihm zu unternehmen. Sie würde ihn zu Eeylops Eulenkaufhaus mitnehmen. Sich die Vögel anzusehen würde ihm bestimmt Spaß machen. Später, wenn er älter wäre – das hatte sie sich vorgenommen – wollte sie mit ihm zusammen in der Magischen Menagerie nach einem Tier schauen, um das er sich kümmern könnte. Damals bei ihren Eltern hatte sie immer irgendwelche Tiere gehabt, meistens Kaninchen, die im Garten hinterm Haus in den Ställen untergebracht waren. Als Sirius etwas von Hochzeit sagte, war Hermine wieder hellwach.
„Ginny schien nicht sehr begeistert darüber, dass Molly ihre Hochzeit doch ein wenig umfangreicher gestalten will.“
Hermine musste kurz auflachen. „Das ist eben Molly. Man darf nicht vergessen, dass Ginny die Erste war, die Molly zur Großmutter gemacht hat – und jetzt auch die Erste ihrer Kinder sein wird, die den Bund der Ehe eingehen möchte.“
„Von den Zwillingen in dieser Hinsicht mal was gehört? Ich dachte, Fred wollte irgendwann seine Verity heiraten.“
„Das Gerücht besteht schon, seit sie ein Paar sind. Ich glaube, sie sind glücklich so wie es ist.“
„Was ist mit Bill und Fleur? Die wollten doch längst …“
Hermine unterbrach ihn. „Das kam während des Krieges alles etwas anders als geplant.“ Es war Bedauern in ihrer Stimme zu hören. „Bill und Fleur sind noch verlobt, keine Frage. Er war trotz seiner Verletzung ein wichtiger Verbindungsmann zu den Kobolden und …“ Sie seufzte. „Ich möchte jetzt nicht darüber reden“, bat sie kleinlaut, denn das würde zu viel wachrufen.
„Kein Problem, Hermine. Tut mir leid, wenn ich an schlechte Zeiten erinnert haben sollte.“
„Nein, schon gut. Als ich letztens in Frankreich war“, sie verbesserte, „was heißt ‘letztens‘? Das ist auch schon wieder einige Jahre her. Ginny und ich haben uns mit Bill und Fleur getroffen; haben eine Menge Fotos geschossen. Sie wollen heiraten, das hat er mir gesagt. Nur wann ...?“ Hermine hob und senkte ihre Schultern.
„Ist ja im Grunde auch nicht wichtig zu heiraten.“ Sirius betrachtete nebenbei das Zimmer, weil er das erste Mal bei Hermine in der Wohnung war.
„Und das sagt jemand, der selbst vor den Traualtar getreten ist. Wie geht es denn Anne?“
„Es geht ihr fantastisch. Hab ich erzählt, dass ihr Arbeitgeber hier in die Winkelgasse gezogen ist?“
„‘Stock & Hut‘, ja, das habe ich mitbekommen. Was treibt dich in die Winkelgasse? Der Hutladen hat längst geschlossen.“
Ihm fielen eine Menge Bücher auf, die hier herumlagen und deren Titel er überflog. Bücher, mit denen er wenig anfangen konnte, doch irgendwie schien eine immense Wichtigkeit von ihnen auszugehen – das spürte er. Das magische Schreibfederset, wegen dem er gekommen war, war längst vergessen.
„Ich besuche hier jemand, mit dem ich an den Gesetzesänderungen arbeite. Wenn das in dem Tempo weitergeht, haben Remus und Tonks bald grünes Licht. Der Mann, mit dem du mich hier zusammengebracht hast – du weißt schon, der nicht registrierte Werwolf …“ Hermine nickte. „Der hat sich der Initiative angeschlossen und noch drei Paare dazu überreden können, sich mit ihren Kindern zu zeigen. Der Fluch ist definitiv nicht durch pure Vererbung übertragbar, Hermine. Das allein ist schon ein großer Lichtblick.“
„Das ist erleichternd zu wissen!“ Sie winkte mit der Hundebürste. „Darf ich?“
„Sicher, aber bitte nicht gegen den Strich und am liebsten habe ich lange, gleichmäßige …“
„Jetzt mach schon!“, forderte sie ihn lachend auf.
Im Nu stand ein großer schwarzer Hund vor ihr, der sie mit treuen Augen anblickte. Das Fell bürstete sie erst zaghaft, dann mit etwas Druck, was Tatze zu gefallen schien. Von den Schulterblättern bis hin zu den Hinterläufen bürstete sie sein Fell in langen Strichen aus.
In dieser Zeit überlegte sie, was Severus für eine Gestalt haben würde. Von Minerva und aus Büchern wusste Hermine, dass eine Animagusform ganz ähnlich wie ein gestaltlicher Patronus von der Persönlichkeit des Zauberers abhing und keinesfalls von Äußerlichkeiten. Ob sie ihn so gut kannte, dass sie von selbst darauf kommen würde? Sie verneinte, denn selbst wenn sie grob seine Charakterzüge einem Tier zuschreiben würde, wären da noch so viele Feinheiten, die ausschlaggebend für die endgültige Form waren. Trotzdem sie wusste, dass das Aussehen nichts mit der Animagusform zu tun haben würde, hatte sich aufgrund der Farbe unweigerlich das Bild eines Raben in ihre Überlegungen eingeschlichen. Raben waren intelligent, konnten sogar komplexe Abläufe im Vorfeld planen und sie kamen darüber hinaus in mythologischen Überlieferungen sehr gut weg, litten allerdings sehr unter der Verteufelung durch christianisierte Völker. Allerdings – und das schied diesen Vogel in Hermines Augen als Animagusgestalt aus – waren Raben sehr gesellige und soziale Tiere, die meist auch sehr keck waren. Das Gegenteil von Severus. ‘Und eine Fledermaus?‘, überlegte Hermine. Die waren nachtaktiv wie Severus und hielten sich tagsüber gern in Höhlen und Felsspalten auf, was den Kerkern gleichkam. Doch auch diese Tiere waren für ihr enorm ausgeprägtes Sozialverhalten bekannt, auch wenn es sporadisch Einzelgänger gab, wie wohl bei jeder Tierart. Fledermäuse kämpften nicht, stellten sich lieber tot, wenn Gefahr drohte. Severus würde sich höchstens totstellen, wenn er damit seinen Gegner in Sicherheit wiegen könnte, nur um dann unvorhergesehen zum vernichtenden Schlag auszuholen. Fledermäuse kamen jedoch über ihre Drohgebärden nicht hinaus.
Immer mehr Haare sammelten sich zwischen den weichen Borsten, als sie Tatze lang und ausgiebig bürstete. Als sie genug hatte, hörte sie auf. Tatze winselte einmal, verwandelte sich aber gleich wieder zurück.
„Und was genau hast du nun damit vor?“, fragte er, als er ihr auf die Treppe nach unten ins Labor folgte.
„Ich mache Tests.“
„Jaaa“, sagte er lang gezogen, als er nach ihr das Labor betrat. „Das hast du bereits gesagt.“ An Severus Anwesenheit störte er sich nicht. „Ich kann mir nur nicht vorstellen, wie diese Tests aussehen sollen und zu welchem Zweck du sie durchführen willst.“
Auf die beiden war Severus natürlich aufmerksam geworden. Er blickte von seinem Kessel auf und ließ es sich nicht nehmen, Sirius vor Augen zu halten, dass er ihn nicht gerade für helle hielt.
„Selbst wenn Hermine es Ihnen erklären sollte, würden Sie es nicht verstehen, also lassen Sie es lieber, Black, bevor Sie sich die intellektuelle Blöße geben.“
„Dich hat niemand gefragt.“ Ein Blick auf die Uhr neben Severus an der Wand verriet ihm, dass er schon zehn Minuten zu spät zu seiner Verabredung mit Sid war. In dem Wissen, damit Severus zu ärgern, sagte er an Hermine gewandt mit verführerisch warmer Stimme: „Dir, Hermine, danke ich vielmals für die sehr angenehme Ganzkörpermassage.“ Zur Verabschiedung drückte er ihr unerwartet einen Kuss auf die Wange. „Bis dann.“ Severus verabschiedete er mit den Worten: „Lass ja nichts überkochen!“
Mit ihrem Stab öffnete Hermine die Ladentür, durch die Sirius hinaustrat, um den Weg zu Sid anzutreten. Als sich Hermine zu Severus umdrehte, deutete sie mit flatterndem Zeigefinger auf den Kessel.
„Severus, Achtung!“
Gerade noch rechtzeitig reduzierte er die Temperatur unter dem Kessel, bevor das Euphorie-Elixier überkochen konnte. Schnaufend legte er den hölzernen Löffel beiseite, vermied dabei den Augenkontakt mit Hermine, obwohl er sie die ganze Zeit davor mit zusammengekniffenen Augen ins Visier genommen hatte, nachdem das Wort „Ganzkörpermassage“ gefallen war.
Als wäre nichts gewesen näherte sie sich dem Tisch, um die Haare aus der Bürste zu entfernen und sie Büschel für Büschel in eine Schale zu legen. Gleich darauf zog sie ihren Stab. Severus beobachtete sie mit einer Miene, die ihr seine schlechte Laune zeigen würde, sollte sie zu ihm hinüberblicken, was sie nicht tat. Momentan war sie damit beschäftigt, die Hundehaare auf mögliche magische Wirkstoffe zu überprüfen. Dank ihrer Ausbildung beim Mungos beherrschte sie nicht nur die einfachen Zaubersprüche, sondern auch die komplexen, die selbst geringste Mengen magischer Wirkung aufzeigen würden. Nach und nach wandte sie die verschiedenen Aufschlüsselungszauber an und mit jedem Spruch materialisierte sich ein Pergament, auf dem das Resultat der Untersuchung festgehalten wurde. Der letzte Zauber sengte das zu untersuchende Objekt an.
„Hier riecht’s irgendwie nach verbrannten Hundehaaren“, beklagte sich ein mürrischer Severus.
„Ich habe ja auch eben die Haare unter Einwirkung von Hitze getestet.“
Das letzte Pergament schwebte auf den kleinen Stapel herab, so dass sie endlich Zeit fand aufzublicken. Die Muskeln in seinem Kiefer waren angespannt. Wenn er die Zähne zusammenbiss, war das ein Anzeichen dafür, dass ihn irgendetwas verärgert hatte. Die Pergamente nahm Hermine in die Hand, um sie zu überfliegen, doch dass sich Severus so verdrossen zeigte, ließ ihr keine Ruhe.
„Severus, was ist los? Habe ich irgendwas getan?“
Es schien, als hätte er nur auf ihre Frage gewartet, denn er pfefferte sofort zurück: „Das frage ich mich allerdings auch. Was habt ihr beide da oben getrieben?“ Weil sie nicht zu verstehen schien, warf er ihr ein einziges Wort vor die Füße. „Massage?“
Jetzt verstand Hermine, weshalb er so ungenießbar war. Sie wollte die Stimmung daher mit etwas Witz etwas auflockern. „War das ein Angebot?“ Sie fasste sich an das eigene Schulterblatt. „Ich bin wirklich verspannt.“ In seiner Mimik wich die schlechte Laune seiner Überraschung, was sie zum Lachen brachte. Sie griff zur Hundebürste und winkte ihm damit zu. „DAS war damit gemeint. Ich habe nur einen Hund gebürstet.“ Frech legte sie ihren Kopf schräg. „Je nachdem, was bei dir rauskommt …“ Sie winkte nochmals mit der Bürste, als sie ihm das Angebot unterbreitete.
Einen Augenblick lang schaute er sie zurückhaltend an, bevor er kurz schnaufte und sich wieder seiner Arbeit widmete. Seine Laune hatte sich um 180 Grad gedreht. Er war wieder versöhnlich gestimmt, so dass Hermine die benötigte innere Ruhe fand, die Ergebnisse zu studieren. Nach einer Weile sagte sie Bescheid, dass sie sich von oben ein paar Bücher holen würde. Sie kam schnell wieder zurück, setzte sich und wälzte dicke Nachschlagewerke, während Severus die neu eingetroffenen Lenkpflaumen abwog.
„Hermine?“
„Mmmh?“, machte sie gedankenverloren.
„Ist diese Waage korrekt adjustiert?“
Sie blickte auf. „Ja, warum?“
„Weil ich das wissen muss, bevor ich den Händler wegen Betrugs beim Ministerium anzeige.“ Interessiert hob sie beide Augenbrauen, so dass er erklärte: „Alle Zutaten aus der Lieferung wiegen 18 bis 34 Gramm weniger, als es im Lieferschein deklariert wurde. Das mag bei einer so preiswerten Zutat wie Flubberwürmern nicht weiter ins Gewicht fallen, aber 34 Gramm Einhornhaar einzubehalten bringt dem Händler einen Gewinn von immerhin fast zwei Galleonen. Für uns im Jahr hochgerechnet ein enormer Verlust, den ich nicht zu tragen bereit bin.“
Hermine war froh, dass er solche Dinge überprüfte. Sie selbst wäre bei der Menge Arbeit nicht auf die Idee zu kommen, die Lieferscheine so genau mit der erhaltenen Ware zu überprüfen. Bei ihr zählte nur, ob alles frisch war.
„Wie wäre es, wenn du persönlich zu dem Händler gehst und ihm deine Meinung über den Betrug mitteilst? Aber nur, wenn ich zugucken darf.“
Es war nur ein Spaß ihrerseits gewesen, doch er hatte sie offenbar missverstanden, weil er enttäuscht fragte: „Hältst du mich für kleinlich?“
„Nein, keinesfalls!“, wies sie vehement zurück. „Ich dachte nur, weil solche Angelegenheiten übers Ministerium immer so lange … Nein, schon gut. Eine Anzeige ist in Ordnung.“ Sie nickte zustimmend, doch noch immer schien er nicht sonderlich glücklich über ihre vorherige Äußerung zu sein. „Ich halte dich nicht für kleinlich, Severus“, beteuerte sie.
„Gut, denn ich befürchte, ich werde diese Eigenschaft nicht ändern können“, gab er ihr zu seinem Leidwesen zu verstehen.
„Du musst dich überhaupt nicht ändern.“
Das Lächeln, das sie ihm schenkte, brachte die Muskeln seiner Wangen dazu, sich so zu kräuseln, dass er es erwiderte, was das ihre nur noch breiter werden ließ. Beide fuhren mit ihrer Arbeit fort, ohne einem bedrückenden Gefühl ausgesetzt zu sein.
Wieder widmete sich Hermine den Büchern. Sie war nie großartig dazu gekommen, nach der Schule Arithmantik anzuwenden, obwohl sie dieses Fach immer sehr gern hatte. Es war eine schwierige Aufgabe, die erhaltenen Ergebnisse aus den Tests mit den Animagushaaren auf ihre mögliche Wichtigkeit in Tränken umzurechnen. Sie wusste jedoch, dass nur dieser Weg genaue Resultate versprach, wenn sie es richtig anpackte.
Während sich andere Menschen zu dieser Stunde im warmen Daunenfederbett niederlegten, versank Hermine in Tabellen und Zahlenwerten und verglich verschiedene Strukturen auf ihre Muster. Hermine musste die Gesamtheit aller Aussagen, die auf dem Gebiet der Zauberei und des Tränkebrauens galten, exakt beachten und für ihre Zwecke in Zahlen umwandeln. Die Resultate der Tests mit den Hundehaaren mussten ebenfalls vollständig isoliert werden, um eigene Zahlenwerte darzustellen, denn für die gab es keine festgelegten Ausgangswerte. Wie Severus schon sagte, hatte auch er noch nie gehört, dass es Zutaten von Animagi geben würde. Hermine versuchte sich hier an etwas völlig Neuem. Könnte sie den Hundehaaren erst einmal einen Wert zuordnen, würden weitere Berechnungen demnach logisch erfolgen. Bei der Arithmantik kam es nicht nur darauf an, Ordnung in die Zahlenwerte zu bringen, mit denen man Rechnen wollte. Je nachdem, wie genau sie die Werte von Tatzes Haaren bestimmen könnte, desto treffender versprach das Gesamtergebnis zu werden.
Hermine schrieb und schrieb, hielt manchmal inne, um verträumt in die Gegend zu schauen, während ihr Kopf rechnete. Erneut kritzelte die Feder das Ergebnis nieder, das mehrmals auf seine Richtigkeit geprüft wurde. Wie sehr wünschte sie sich in diesem Moment das magische Schreibfederset herbei, das Severus ihr geschenkt hatte. Andererseits würden ihr dann zwar nicht die Finger vom Schreiben wehtun, dafür wäre sie aber vom Diktieren ganz heiser.
Bei ihren Berechnungen beschränkte sich Hermine auf ein Minimum an Wahrscheinlichkeiten, begann daher immer wieder von vorn, bis sie am Ende jene Zahlenwerte isolieren konnte, die sie den Haaren und ihrer Wirkung zuschreiben konnte. Wie hatte Professor Vektor damals in der Schule so schön gesagt? ‘Schätzungen sind etwas für Anfänger‘, hallte die Stimme der Professorin in Hermines Kopf wider.
Trocken, wie manch einer glauben mochte, war Arithmantik nicht, jedenfalls nicht für Hermine. Jeder einzelne Zahlenwert stand für eine Zutat und deren Beschaffenheit, Alter, Erntebedingung und Qualität. Andere standen für eine Temperatur, die verwendete Kesselbodendicke oder sogar für das Material, aus dem der Löffel war, den man zum Umrühren benutzte. Das alles konnte sie vor ihrem inneren Auge sehen. Ron und Harry konnten sich damals nie etwas unter dem Fach vorstellen, wenn sie davon erzählt hatte. Selbst wenn die beiden es belegt hätten, da war sich Hermine sicher, hätten sie nicht so ein umfangreiches Bild vor Augen gehabt wie sie. Die meisten sahen weiterhin nur Zahlen auf dem Pergament, doch Hermine sah den gesamten Vorgang glasklar in ihren Gedanken – von den verwendeten Arbeitsmitteln und Zutaten bis hin zum eigentlichen Brauprozess. Arithmantik war für sie lebendig.
Etwa vier Stunden später konnte sie sich mit den ermittelten Werten der Hundehaare auf die eigentliche Arbeit konzentrieren. Das rechnerische Erfassen des Zusammenspiels mit anderen Zutaten stand nun an erster Stelle sowie eine mathematische Klärung der Kausalität. Kurzum: Ursache und Wirkung wollten berechnet werden. Hermine braute einen Trank nach dem anderen und das alles nur auf dem Papier. Viel Zeit verbrachte sie mit Begründungen ihrer Rechnungen, gerade weil sie wenig schätzen wollte. Alles sollte am Ende nachvollziehbar, besonders aber so präzise wie nur möglich sein. Dank der Tatsache, dass mittlerweile logische Schlussfolgerungen gefragt waren, hatte sie es wieder leichter. Logik lag ihr.
Den Duft von Tee nahm sie nur nebenher wahr, doch die Hand auf ihrer linken spürte sie sehr deutlich. Hermine drehte sich zur Seite. Severus hatte neben ihr Platz genommen und Tee gebracht, sogar etwas zu Essen. Seine Hand ließ wieder los, nachdem er ihre Aufmerksamkeit erlangt hatte.
„Wie kommst du voran?“, wollte er wissen.
„Gut!“ Ihre Stimme klang sehr euphorisch. „Ich habe endlich Werte, mit denen ich rechnen kann.“
Severus blickte auf ihre Aufzeichnungen. „Arithmantik? Ich dachte, du würdest normale Brauberechnungen durchführen.“
„Wie sollte ich das können?“ Sie legte ihre Feder in die Halterung, widmete sich danach wieder ihm. „Es gibt keine Daten oder Aufzeichnungen über die Arbeit mit Animagus-Ingredienzien. Ich bin darauf angewiesen, mit Hilfe der Zahlen vorherzusagen, was für eine Wirkung diese Haare in einem Trank haben würden.“
„Wahrsagen mit Zahlen“, sagte er abwertend. „Ich habe nie viel von Wahrsagen gehalten.“
„Das ist viel präziser als nur ‘Wahrsagen‘, Severus. Ich habe keine Zeit, Experimente mit den Haaren durchzuführen. An einem Tag würde ich höchstens zwei Tests im Labor machen können. Hier“, sie wedelte mit ihren Pergamenten, „habe ich in wenigen Stunden schon fünfzehn Testläufe durchgeführt – theoretisch auf der Basis von Begriffsbestimmung und Wertezuordnung.“
„Humbug“, hörte sie ihn murmeln, was sie verletzte.
„Das hier ist Fachrechnen mit einem Hauch Wahrsagen – und ich meine wirklich nur einen Hauch, weil ich sehr genaue Werte bestimmt habe! Dafür ist die meiste Zeit draufgegangen.“ Sie atmete tief durch und bemerkte erst jetzt, wie müde sie war.
„Ich sag ja gar nichts“, verteidigte er sich.
Diesmal war sie es, die das Wort „Humbug“ wiederholte und ihm somit vor Augen hielt, wie sehr er mit diesem einzigen Begriff ihre Bemühungen herabgewürdigt hatte. Er versuchte, sie wieder milde zu stimmen.
„Wenn diese Berechnungen helfen …“
„Ich bin sehr zuversichtlich, Severus. Die Haare der Animagusform haben Magie inne. Man muss nur noch prüfen, wie sie wirkt.“ Hermine ließ ihren Blick einen Moment auf ihrer Arbeit ruhen; nicht auf den einzelnen Berechnungen und Formeln, sondern auf dem Ausmaß an Pergamenten. Über eine Sache war sie sich im Klaren und das ließ sie bedrückt durchatmen. „Wenn ich mit dem Ergebnis zufrieden bin, werde ich alles nochmal machen müssen.“
Fragend blickte er sie an. „Warum?“
„Ich werde mit dem Teil deiner Animagusform von vorn beginnen müssen.“ Ihre Erschöpfung schlug sich mit einem Male in der Stimme nieder. „Erst die Aufschlüsselungszauber, dann die zeitintensive Wertezuordnung und am Ende unzählige Berechnungen. Es ist egal, was ich von dir erhalten sollte, den Wert davon werde ich erneut bestimmen müssen. Nichts gleicht sich, ob nun Haare, Schuppen oder Federn.“
Mit dieser Aussage bekam Severus tatsächlich ein schlechtes Gewissen. Sie machte sich all die Mühe nur aus dem Grund, ihm zu zeigen, dass sie von der Theorie der Vesta Lovegood überzeugt war. Hermine war der Meinung, dass ein Teil seiner Animagusform eine wichtige Zutat des Gegenmittels zum Ewigen See darstellen würde. Nun saß sie hier und rechnete stundenlang eine Zutat durch, die sie niemals verwenden würde, nur um ihn mit dem Ergebnis dazu zu bewegen, sich seiner persönlichen Tiergestalt zu widmen. Sie vergeudete ihm zuliebe ihre Zeit mit Blacks Haaren.
„Dann lass die Berechnungen vorerst bleiben“, schlug er vor.
„Nein, nicht doch! Das ist wichtig, Severus.“ Mit ihrem Blick flehte sie, jetzt nicht aufhören zu müssen. „Wir kommen doch endlich voran.“
„Wir werden auch in Zukunft vorankommen“, beruhigte er sie. „Ich werde jedoch nicht dabei zusehen, wie du deine Zeit weiterhin mit Hundehaaren verschwendest. Vielleicht …“
Er räusperte sich und griff nach einem ihrer Pergamente, das er in Augenschein nahm. Nicht die vielen Zahlen und Tabellen, die sie niedergeschrieben hatte, nicht die Kalkulationen und Formeln waren der Grund für den Kloß in seinem Hals, sondern einzig ihr Bestreben, nichts unversucht zu lassen, um ihm zu helfen.
„Warum?“ Seine Stimme war so leise, dass Hermine sie beinahe nicht wahrgenommen hätte.
„Warum ich all das mache?“ Sie sah ihn kräftig schlucken, bevor er lediglich mit einem Nicken antwortete, weil er seiner Stimme nicht zu trauen schien. Hermine wollte ehrlich sein, wie sie auch zu jedem anderen Freund aufrichtig sein würde. „Ich hab dich gern, deswegen.“
Diesmal war ihre Stimme fast so unhörbar leise wie der Flügelschlag einer Eule gewesen. Er warf ihr einen nervösen, wenn auch neugierigen Blick zu und Hermine glaubte, er hätte sie nicht verstanden. Es war jedoch nicht auszuschließen, dass er ihre Worte zwar gehört hatte, aber womöglich seinen Ohren nicht traute. Hermine war so mutig, ihre Worte zu wiederholen und ihm dabei – was ihr noch mehr Tapferkeit abverlangte – in die braunen Augen zu sehen. In diesen eben erwähnten Augen regte sich das Leben hinter einer scheinbar meterdicken Eisschicht, die sie zu schmelzen gewillt war. Wie es schien, waren ihre Worte schon beim ersten Mal keinesfalls ungehört geblieben, doch erst beim zweiten Mal bewahrheitete sich auch für ihn ihre soeben bekundete Zuneigung, die er anfangs nur seiner Fantasie entsprungen glaubte. Mit sich selbst uneins wägte er eine Äußerung gleichen Inhalts ab. Etwas hielt ihn jedoch davon ab, denn auch wenn er wusste, was er zu empfinden imstande war – und diese Fähigkeit hoffentlich auch in Zukunft wiedererlangen zu können –, würde er jetzt lügen, denn nach dem von Harry ermöglichten Ausflug in die ihm so fremde Gefühlswelt war jetzt alles wieder beim Alten. Seine Empfindungen waren hinter Schloss und Riegel. Sie beschränkten sich auf ein Minimum dessen, wozu er eigentlich fähig war. Severus wusste, wie er für sie empfand, aber im Moment war dieses Gefühl weiter weg als ihm lieb war. Er hoffte, sie würde das verstehen.
„Ich …“ Er musste sich räuspern. „Ich weiß das sehr zu würdigen, Hermine. Bitte verwechsle aufgrund meiner momentanen Lage meine Reserviertheit nicht mit Ablehnung. Ich weiß, dass ich unter anderen Umständen nicht minder empfinde.“ Im Moment, das war Hermine nun auch bewusst, waren seine Gefühle für ihn selbst unerreichbar. In seiner Seele war durch den Ewigen See der Winter eingebrochen, den man mit Hilfe eines einzigen Sommertages nicht zu vertreiben imstande war. „Dennoch …“ Er ergriff ihre Hand und blickte ihr in die Augen. „Ich schätze die Arbeit mit dir. Sie ist sehr“, eine Augenbraue zuckte, „inspirierend, geradezu erfrischend. Dein Eifer beeindruckt mich in hohem Maße und deine Gesellschaft ist eine Bereicherung, auf die ich nicht mehr verzichten möchte.“ Ein Mundwinkel wanderte nach oben, doch bei seinen nächsten Worten war Sarkasmus durch Neckerei ersetzt. „Und ich hoffe, das Gleiche werde ich von deinen Eltern sagen können.“
Das alles konnte er guten Gewissens zu ihr sagen, denn es entsprach der Wahrheit. Versuchte er jedoch, sich an das Gefühl zu klammern, das er am Tag des großen Quidditch-Spiels erfahren durfte, blieb ihm nur die blasse Erinnerung und das Wissen um seine Sehnsucht, die in ihm schlummerte. Nur Nerhegeb war dazu befähigt, dieses Fünkchen Begehren unverhüllt zu zeigen.
Hermine tätschelte zufrieden seine Hand. Er war ihr dankbar, dass sie so verständnisvoll reagierte. Nachdem sie sich gestreckt hatte, räumte sie ihre Sachen zusammen. Für heute hatte sie genug.
„Ich glaube, wir sollten Schluss machen. Es ist bestimmt schon spät.“
„Nein, es ist früh.“
„Wieviel Uhr ist es denn?“ Ihre eigene Frage beantwortete ein Blick auf die kleine Pendeluhr. „Halb acht morgens? Herrje …“
„Ich werde etwas zum Frühstücken besorgen. Oder möchtest du dich lieber noch eine Stunde hinlegen?“
„Bloß nicht! Sonst fühle ich mich den ganzen Tag wie gerädert. Ein Frühstück wäre schön.“ Sie lächelte ihn an. „Ich mache Kaffee.“
Die Zeit war bei den ganzen Berechnungen unbeachtet an Hermine vorbeigezogen. Sie hatte den ganzen Abend und die ganze Nacht gerechnet. Dafür sah ihr Labor wie geleckt aus, denn Severus hatte sich selbst beschäftigt und sich offenbar jeder noch so kleinen Unordnung angenommen, um sie nicht allein hier sitzen zu lassen.
Um die Zeit, zu der Severus und Hermine frühstückten, saßen auch die Malfoys zusammen am Tisch. Draco hatte sich diesen Morgen dazu entschlossen, das üppige Frühstück in der großen Halle mit all den fröhlichen Mitschülern gegen ein dezentes Mahl in der kühlen Atmosphäre seiner Familie zu tauschen. Heimelig war nur die Umgebung, nicht aber das Schweigen am Tisch. Sein Vater hatte sich schwungvoll die Serviette über den Schoß geworfen, bevor er zu den Rühreiern griff – zeitgleich mit Susan. Es ging ihm zwar gegen den Strich, was sei verzogener Mund und der missbilligende Blick untermalte, doch er ließ ihr höflich den Vortritt.
„Ich frage mich“, begann Lucius, während er darauf wartete, bis die Damen sich bedient hatten, „warum ich den Tag überhaupt so früh beginne? Ein, zwei Stunden mehr Schlaf könnten mir nicht schaden.“
Von seinen Worten zu einer Unterhaltung animiert, die jeder gern unterstützte, damit nur die frostige Stimmung verschwand, erwiderte Narzissa: „Weil es um diese Zeit nun einmal Frühstück gibt, Lucius. Das war schon immer so.“ Als er noch im Ministerium gearbeitet hatte, war halb acht eine angenehme Zeit gewesen, um die erste Mahlzeit des Tages einzunehmen.
„Das macht den Tag doch nur länger“, hielt er dagegen.
„Es hat dich doch sonst nie gestört.“
„Aber es stört mich jetzt!“ Ohne es zu wollen hatte er seine Stimme leicht erhoben.
Die Unterhaltung wollte niemand mehr bei diesem unangenehmen Verlauf fortführen, so dass sich jeder stillschweigend um seinen Teller kümmerte. Aus der Wiege, die nur wenige Meter entfernt stand, hörte man plötzlich Charles schreien. Lucius und Susan standen beide gemeinsam auf, doch er fühlte sich allein durch ihre Anwesenheit in die Schranken verwiesen, weswegen er beleidigt wieder Platz nahm, während Susan sich um das Kind kümmerte.
„Ach Draco, hat man dir mitgeteilt, dass ich Zeuge des ersten Spontanzaubers von Charles war?“
„Ja, Susan hat es mir erzählt. Ich wäre zu gern dabei gewesen. Ich kann es kaum erwarten, die Schule endlich hinter mir zu lassen.“
„Ja, die Schule“, murmelte Lucius gedankenverloren. „Wie sind deine Noten?“
Für einen Moment stutzten alle über seine Worte, er selbst am meisten. Es war früher, wenn Draco in den Ferien Zuhause war, vollkommen normal gewesen, über die schulischen Leistungen zu sprechen, doch solche Gespräche hatte es lange Zeit nicht mehr gegeben. Draco riss sich zusammen, auch wenn ihn diese Frage auf einen Schlag in die Vergangenheit katapultiert hatte.
„Meine Noten sind bestens, Vater. Ich rechne damit, dass ich fast überall ein ‘Ohnegleichen‘ erhalten werde. In ‘Geschichte der Zauberei‘ werde ich wohl nur ‘Erwartungen übertroffen‘ bekommen.“
„Warum das?“, fragte Lucius so interessiert wie damals.
„Weil ich nichts dagegen tun kann, bei Professor Binns dann und wann von Schlaf übermannt zu werden.“
Man hörte Lucius amüsiert, aber sehr leise lachen. „Ein ‘E‘ in diesem Fach ist nicht deine Schuld. Es liegt an Dumbledore. Ich verstehe nicht, wie er weiterhin einen Geist als Professor beschäftigen kann? Und dazu noch einen so langweiligen.“
Narzissa verteidigte entweder Professor Binns oder den Direktor, indem sie ihm vor Augen hielt: „Du hast erzählt, dir hätte das Fach immer sehr gefallen.“
„Ja, meine Liebe, aber auch nur, weil ich dort Zeit fand, Briefe an dich zu verfassen oder Hausaufgaben nachzuholen, die ich vergessen habe. Das ist auch der Grund, warum ich die gleiche Note bekam, die unser Sohn jetzt erwartet.“
Susan kam wieder an den Tisch zurück und hörte der nur leicht angespannten Unterhaltung zu.
„Wie sieht es in ‘Pflege magischer Geschöpfe‘ aus, Draco? Das Fach hat dich nie sehr interessiert.“
Draco holte tief Luft, denn wenn er sagen würde, wer das Fach unterrichtete, würde die Stimmung mit einem Male von etwas kühl auf Minusgrade umschlagen. „Auch dort erwarte ich ein ‘O‘. Professor Lupin“, sein Vater blickte erstaunt auf, „kann den Stoff sehr gut vermitteln. Selbst die Theorie ist nicht mehr so langweilig wie … Na ja, wie früher eben.“
„Lupin? Dumbledore lässt wieder diesen Werwolf unterrich…“
„Lucius“, mahnte Narzissa leise.
„Wissen die anderen Eltern davon? Ich denke nicht.“ Ein fieses Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Es gehört sich nicht, so eine Bestie in einer Schule für …“
„Lucius!“, fauchte Narzissa. „Professor Lupin – Remus – ist ein sehr netter und kompetenter Lehrer, zudem der Verlobte meiner Nichte, also ein Mitglied unserer Familie. Ich lege dir ans Herz, genau das zu bedenken, bevor du etwas sagst oder tust, das dir später leidtun wird.“
„Ich befürchte trotzdem, dass ein Internat kein geeigneter Ort für ihn ist, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen oder, Draco?“
Verlegen stocherte Draco in seinem Rührei. Gern wollte er seinem Vater zustimmen, nur um mit ihm überhaupt mal wieder einer Meinung zu sein, doch er konnte nicht. Nicht bei diesem Thema.
„Es ist schon richtig, dass Professor Lupin sehr kompetent ist, sonst hätte ich sicherlich eine schlechtere Note zu erwarten. Und zu seinem, ähm, Problem: Die Schüler und Eltern wissen es und es macht ihnen nichts aus.“
Seinem Gesichtsausdruck konnte man entnehmen, dass Lucius gern etwas anderes gehört hätte. Statt seinen Standpunkt energisch zu vertreten, ließ er das Thema fallen, denn es war eine ermüdende Erfahrung, ständig drei Personen gegen sich zu haben. Zu seinem Glück begann Charles in seiner Wiege erneut zu schluchzen. Wie von selbst erhob sich Lucius, diesmal davon irritiert, dass Susan am Tisch sitzen blieb. Zunächst zögerlich, dann jedoch davon überzeugt, die stille Erlaubnis erhalten zu haben, sich um den Jungen kümmern zu dürfen, nahm er ihn aus der Wiege.
Draco blickte Susan fragend an, wurde jedoch von seinem Vater abgelenkt, der wissen wollte, ob Charles schon seine Flasche bekommen hatte. Susan verneinte, so dass Lucius sich wie selbstverständlich in die Küche begab. Als sein Vater außer Hörweite war, beugte sich Draco zu seiner Frau hinüber.
„Was sollte das? Hast du Charles nicht eben gefüttert?“
„Nein, hab ich nicht. Du hast doch gehört, dass dein Vater nichts mit seiner Zeit anzufangen weiß. Ich dachte, er könnte ihm die Flasche geben.“
„Das hast du so eingefädelt?“ Nachdem Susan genickt hatte, musste Draco grinsen, denn irgendwie erinnerte ihn ihr Handeln an sich selbst.
Seine Mutter nutzte es ebenfalls aus, dass sich Lucius gerade nicht im Raum befand, denn sie legte ihrem Sohn nahe: „Schatz, könntest du mal mit deinem Vater reden? Es geht um eine Nachuntersuchung seiner Augen. Er will einfach nicht ins Mungos gehen, dabei ist das so wichtig.“
„Ich glaube nicht, dass er auf mich hören wird, aber ich werde es versuchen.“
Jetzt konnte Draco der Bitte seiner Mutter nicht mehr nachkommen, wenn er pünktlich zum Unterricht erscheinen wollte. Er verabschiedete sich und nahm den Kamin, der ihn im Nu nach Hogwarts zurückbrachte.
Die folgende Woche bescherte viele volle Terminkalender.
Wie versprochen wollte Sirius vor seinem Treffen mit Sid noch kurz vor Ladenschluss bei Hermine vorbeischauen, um ihr das magische Schreibfederset zu überreichen, das schon seit Hermines Umzug bei Ginny zwischenlagerte. Womit er nicht gerechnet hatte, war der Ansturm in der Apotheke. Geduldig wartete er, bis der letzte Kunde bedient war und Hermine den Laden schließen wollte.
„Sirius!“ Sie hatte ihn erst jetzt gesehen, weil er sich dezent in eine Ecke der Apotheke zurückgezogen hatte. Unerwartet tauchte hinter Hermine noch ein anderes Gesicht auf. Anstatt ihren Gruß zu erwidern, hatte die Anwesenheit der anderen Person ihm die Sprache verschlagen, obwohl er damit hätte rechnen müssen.
„Black“, giftete Severus ihn an, bevor seine Lippen sich zu einem hämischen Grinsen verzogen. „Was führt Sie her? Ein Mittel gegen Staupe?“
„Muss das sein?“, zischelte Hermine leise über ihre Schulter, dennoch konnte Sirius es hören. Zu seinem Erstaunen zog sich Severus nach der Ermahnung wieder in die hinteren Räume zurück, so dass Hermine sich wieder ihm widmen konnte. „Sirius, egal was dich herführt: Es ist gut, dass du hier bist. Ich wollte dich nämlich um etwas bitten.“
„Mich? Wie könnte ich dir helfen?“
„Ich benötige ein Paar Hundehaare! Wärst du so lieb?“
Er schien dem Braten nicht zu trauen, kniff die Augen zusammen und fragte mit einem verschmitzten Lächeln: „Warum von mir? Severus hat einen Hund, nimm sie doch von ihm.“
„Nein, ich habe mich wohl falsch ausgedrückt. Ich brauche die Haare eines Animagus.“
Die richtiggestellte Frage von Hermine war ihm ebenfalls nicht geheuer. „Hermine.“ Unsicher lachend stieß er Luft durch die Nase aus, schüttelte seinen Kopf. „Warum …? Ich meine, was hast du vor? Willst du versuchen, ob es möglich ist, einen Vielsafttrank von einem Animagus herzustellen?“
„Nein, aber“, sie hielt kurz inne, „das wäre wirklich mal einen Test wert! Ich habe keine Ahnung, ob das geht.“
„Wofür brauchst du die Haare dann?“
„Ich möchte damit experimentieren. Mich interessiert, ob die Haare von einer Animagusform magische Eigenschaften besitzen. Rein theoretisch müssten sie, denn die Form wird durch Magie herbeigeführt.“
Sirius runzelte die Stirn. „Was willst du mit den Haaren tun, sollte sich deine Vermutung bestätigen? Vielleicht ein neues Sortiment an Trankzutaten anzubieten?“
„Nein, ich möchte nur wissen, was möglich wäre. Mich … Es interessiert mich, Sirius. Das ist ein Forschungsprojekt von mir.“
Hermine konnte nichts gegen die Röte auf ihren Wangen unternehmen, weil sie ihm nicht die ganze Wahrheit sagte. Diese Informationen mussten jedoch ausreichen.
„Ein Forschungsprojekt“, wiederholte er skeptisch nickend und mit scharfem Blick. „Von mir aus, aber stell damit ja keinen Unsinn an, Hermine.“
„Würde ich nie tun! Ich brauch nur ein Büschel Haare.“
„Okay“, stimmte er zu. „Willst du sie abschneiden? Wenn ich vorschlagen dürfte: Wenn du mich kämmst, bekommst du eine Menge Haare! Daraus könnte man beinahe einen Pullover stricken.“
Hermine schloss die Ladentür und bat Sirius nach oben in die Wohnung. Am Labor vorbeigehend bemerkte er durch die leicht offen stehende Tür, wie Severus irgendwelche Pflanzen betrachtete und sortierte. Oben angekommen verwandelte Hermine eine Packung Streichhölzer in eine Hundebürste, die sie ihm breit lächelnd zeigte. Mit seinen Gedanken war Sirius allerdings noch unten im Labor.
„Er arbeitet hier?“, fragte er flüsternd.
„Noch nicht fest, aber er wird bald anfangen.“
„Ah, deswegen das Getuschel der Schüler“, murmelte er. „Ich habe durch Zufall in Hogwarts erfahren, dass es wohl demnächst einen neuen Tränkemeister geben soll.“
Sie nickte. „Er macht das Schuljahr noch zu Ende und fängt ab Juli hier an.“ Nachdem sie seine Worte in Gedanken wiederholt hatte, wollte sie wissen: „Warum warst du denn in Hogwarts? Hast du Harry besucht?“
„Ja!“ Jetzt strahlte Sirius über das ganze Gesicht. „Das war mal wieder an der Zeit.“
Fröhlich erzählte Sirius von seinem Erlebnis mit Nicholas, was Hermines Augen glänzen ließ. Der Junge war ihr Patensohn. Sie machte sich die gedankliche Notiz, demnächst etwas mit ihm zu unternehmen. Sie würde ihn zu Eeylops Eulenkaufhaus mitnehmen. Sich die Vögel anzusehen würde ihm bestimmt Spaß machen. Später, wenn er älter wäre – das hatte sie sich vorgenommen – wollte sie mit ihm zusammen in der Magischen Menagerie nach einem Tier schauen, um das er sich kümmern könnte. Damals bei ihren Eltern hatte sie immer irgendwelche Tiere gehabt, meistens Kaninchen, die im Garten hinterm Haus in den Ställen untergebracht waren. Als Sirius etwas von Hochzeit sagte, war Hermine wieder hellwach.
„Ginny schien nicht sehr begeistert darüber, dass Molly ihre Hochzeit doch ein wenig umfangreicher gestalten will.“
Hermine musste kurz auflachen. „Das ist eben Molly. Man darf nicht vergessen, dass Ginny die Erste war, die Molly zur Großmutter gemacht hat – und jetzt auch die Erste ihrer Kinder sein wird, die den Bund der Ehe eingehen möchte.“
„Von den Zwillingen in dieser Hinsicht mal was gehört? Ich dachte, Fred wollte irgendwann seine Verity heiraten.“
„Das Gerücht besteht schon, seit sie ein Paar sind. Ich glaube, sie sind glücklich so wie es ist.“
„Was ist mit Bill und Fleur? Die wollten doch längst …“
Hermine unterbrach ihn. „Das kam während des Krieges alles etwas anders als geplant.“ Es war Bedauern in ihrer Stimme zu hören. „Bill und Fleur sind noch verlobt, keine Frage. Er war trotz seiner Verletzung ein wichtiger Verbindungsmann zu den Kobolden und …“ Sie seufzte. „Ich möchte jetzt nicht darüber reden“, bat sie kleinlaut, denn das würde zu viel wachrufen.
„Kein Problem, Hermine. Tut mir leid, wenn ich an schlechte Zeiten erinnert haben sollte.“
„Nein, schon gut. Als ich letztens in Frankreich war“, sie verbesserte, „was heißt ‘letztens‘? Das ist auch schon wieder einige Jahre her. Ginny und ich haben uns mit Bill und Fleur getroffen; haben eine Menge Fotos geschossen. Sie wollen heiraten, das hat er mir gesagt. Nur wann ...?“ Hermine hob und senkte ihre Schultern.
„Ist ja im Grunde auch nicht wichtig zu heiraten.“ Sirius betrachtete nebenbei das Zimmer, weil er das erste Mal bei Hermine in der Wohnung war.
„Und das sagt jemand, der selbst vor den Traualtar getreten ist. Wie geht es denn Anne?“
„Es geht ihr fantastisch. Hab ich erzählt, dass ihr Arbeitgeber hier in die Winkelgasse gezogen ist?“
„‘Stock & Hut‘, ja, das habe ich mitbekommen. Was treibt dich in die Winkelgasse? Der Hutladen hat längst geschlossen.“
Ihm fielen eine Menge Bücher auf, die hier herumlagen und deren Titel er überflog. Bücher, mit denen er wenig anfangen konnte, doch irgendwie schien eine immense Wichtigkeit von ihnen auszugehen – das spürte er. Das magische Schreibfederset, wegen dem er gekommen war, war längst vergessen.
„Ich besuche hier jemand, mit dem ich an den Gesetzesänderungen arbeite. Wenn das in dem Tempo weitergeht, haben Remus und Tonks bald grünes Licht. Der Mann, mit dem du mich hier zusammengebracht hast – du weißt schon, der nicht registrierte Werwolf …“ Hermine nickte. „Der hat sich der Initiative angeschlossen und noch drei Paare dazu überreden können, sich mit ihren Kindern zu zeigen. Der Fluch ist definitiv nicht durch pure Vererbung übertragbar, Hermine. Das allein ist schon ein großer Lichtblick.“
„Das ist erleichternd zu wissen!“ Sie winkte mit der Hundebürste. „Darf ich?“
„Sicher, aber bitte nicht gegen den Strich und am liebsten habe ich lange, gleichmäßige …“
„Jetzt mach schon!“, forderte sie ihn lachend auf.
Im Nu stand ein großer schwarzer Hund vor ihr, der sie mit treuen Augen anblickte. Das Fell bürstete sie erst zaghaft, dann mit etwas Druck, was Tatze zu gefallen schien. Von den Schulterblättern bis hin zu den Hinterläufen bürstete sie sein Fell in langen Strichen aus.
In dieser Zeit überlegte sie, was Severus für eine Gestalt haben würde. Von Minerva und aus Büchern wusste Hermine, dass eine Animagusform ganz ähnlich wie ein gestaltlicher Patronus von der Persönlichkeit des Zauberers abhing und keinesfalls von Äußerlichkeiten. Ob sie ihn so gut kannte, dass sie von selbst darauf kommen würde? Sie verneinte, denn selbst wenn sie grob seine Charakterzüge einem Tier zuschreiben würde, wären da noch so viele Feinheiten, die ausschlaggebend für die endgültige Form waren. Trotzdem sie wusste, dass das Aussehen nichts mit der Animagusform zu tun haben würde, hatte sich aufgrund der Farbe unweigerlich das Bild eines Raben in ihre Überlegungen eingeschlichen. Raben waren intelligent, konnten sogar komplexe Abläufe im Vorfeld planen und sie kamen darüber hinaus in mythologischen Überlieferungen sehr gut weg, litten allerdings sehr unter der Verteufelung durch christianisierte Völker. Allerdings – und das schied diesen Vogel in Hermines Augen als Animagusgestalt aus – waren Raben sehr gesellige und soziale Tiere, die meist auch sehr keck waren. Das Gegenteil von Severus. ‘Und eine Fledermaus?‘, überlegte Hermine. Die waren nachtaktiv wie Severus und hielten sich tagsüber gern in Höhlen und Felsspalten auf, was den Kerkern gleichkam. Doch auch diese Tiere waren für ihr enorm ausgeprägtes Sozialverhalten bekannt, auch wenn es sporadisch Einzelgänger gab, wie wohl bei jeder Tierart. Fledermäuse kämpften nicht, stellten sich lieber tot, wenn Gefahr drohte. Severus würde sich höchstens totstellen, wenn er damit seinen Gegner in Sicherheit wiegen könnte, nur um dann unvorhergesehen zum vernichtenden Schlag auszuholen. Fledermäuse kamen jedoch über ihre Drohgebärden nicht hinaus.
Immer mehr Haare sammelten sich zwischen den weichen Borsten, als sie Tatze lang und ausgiebig bürstete. Als sie genug hatte, hörte sie auf. Tatze winselte einmal, verwandelte sich aber gleich wieder zurück.
„Und was genau hast du nun damit vor?“, fragte er, als er ihr auf die Treppe nach unten ins Labor folgte.
„Ich mache Tests.“
„Jaaa“, sagte er lang gezogen, als er nach ihr das Labor betrat. „Das hast du bereits gesagt.“ An Severus Anwesenheit störte er sich nicht. „Ich kann mir nur nicht vorstellen, wie diese Tests aussehen sollen und zu welchem Zweck du sie durchführen willst.“
Auf die beiden war Severus natürlich aufmerksam geworden. Er blickte von seinem Kessel auf und ließ es sich nicht nehmen, Sirius vor Augen zu halten, dass er ihn nicht gerade für helle hielt.
„Selbst wenn Hermine es Ihnen erklären sollte, würden Sie es nicht verstehen, also lassen Sie es lieber, Black, bevor Sie sich die intellektuelle Blöße geben.“
„Dich hat niemand gefragt.“ Ein Blick auf die Uhr neben Severus an der Wand verriet ihm, dass er schon zehn Minuten zu spät zu seiner Verabredung mit Sid war. In dem Wissen, damit Severus zu ärgern, sagte er an Hermine gewandt mit verführerisch warmer Stimme: „Dir, Hermine, danke ich vielmals für die sehr angenehme Ganzkörpermassage.“ Zur Verabschiedung drückte er ihr unerwartet einen Kuss auf die Wange. „Bis dann.“ Severus verabschiedete er mit den Worten: „Lass ja nichts überkochen!“
Mit ihrem Stab öffnete Hermine die Ladentür, durch die Sirius hinaustrat, um den Weg zu Sid anzutreten. Als sich Hermine zu Severus umdrehte, deutete sie mit flatterndem Zeigefinger auf den Kessel.
„Severus, Achtung!“
Gerade noch rechtzeitig reduzierte er die Temperatur unter dem Kessel, bevor das Euphorie-Elixier überkochen konnte. Schnaufend legte er den hölzernen Löffel beiseite, vermied dabei den Augenkontakt mit Hermine, obwohl er sie die ganze Zeit davor mit zusammengekniffenen Augen ins Visier genommen hatte, nachdem das Wort „Ganzkörpermassage“ gefallen war.
Als wäre nichts gewesen näherte sie sich dem Tisch, um die Haare aus der Bürste zu entfernen und sie Büschel für Büschel in eine Schale zu legen. Gleich darauf zog sie ihren Stab. Severus beobachtete sie mit einer Miene, die ihr seine schlechte Laune zeigen würde, sollte sie zu ihm hinüberblicken, was sie nicht tat. Momentan war sie damit beschäftigt, die Hundehaare auf mögliche magische Wirkstoffe zu überprüfen. Dank ihrer Ausbildung beim Mungos beherrschte sie nicht nur die einfachen Zaubersprüche, sondern auch die komplexen, die selbst geringste Mengen magischer Wirkung aufzeigen würden. Nach und nach wandte sie die verschiedenen Aufschlüsselungszauber an und mit jedem Spruch materialisierte sich ein Pergament, auf dem das Resultat der Untersuchung festgehalten wurde. Der letzte Zauber sengte das zu untersuchende Objekt an.
„Hier riecht’s irgendwie nach verbrannten Hundehaaren“, beklagte sich ein mürrischer Severus.
„Ich habe ja auch eben die Haare unter Einwirkung von Hitze getestet.“
Das letzte Pergament schwebte auf den kleinen Stapel herab, so dass sie endlich Zeit fand aufzublicken. Die Muskeln in seinem Kiefer waren angespannt. Wenn er die Zähne zusammenbiss, war das ein Anzeichen dafür, dass ihn irgendetwas verärgert hatte. Die Pergamente nahm Hermine in die Hand, um sie zu überfliegen, doch dass sich Severus so verdrossen zeigte, ließ ihr keine Ruhe.
„Severus, was ist los? Habe ich irgendwas getan?“
Es schien, als hätte er nur auf ihre Frage gewartet, denn er pfefferte sofort zurück: „Das frage ich mich allerdings auch. Was habt ihr beide da oben getrieben?“ Weil sie nicht zu verstehen schien, warf er ihr ein einziges Wort vor die Füße. „Massage?“
Jetzt verstand Hermine, weshalb er so ungenießbar war. Sie wollte die Stimmung daher mit etwas Witz etwas auflockern. „War das ein Angebot?“ Sie fasste sich an das eigene Schulterblatt. „Ich bin wirklich verspannt.“ In seiner Mimik wich die schlechte Laune seiner Überraschung, was sie zum Lachen brachte. Sie griff zur Hundebürste und winkte ihm damit zu. „DAS war damit gemeint. Ich habe nur einen Hund gebürstet.“ Frech legte sie ihren Kopf schräg. „Je nachdem, was bei dir rauskommt …“ Sie winkte nochmals mit der Bürste, als sie ihm das Angebot unterbreitete.
Einen Augenblick lang schaute er sie zurückhaltend an, bevor er kurz schnaufte und sich wieder seiner Arbeit widmete. Seine Laune hatte sich um 180 Grad gedreht. Er war wieder versöhnlich gestimmt, so dass Hermine die benötigte innere Ruhe fand, die Ergebnisse zu studieren. Nach einer Weile sagte sie Bescheid, dass sie sich von oben ein paar Bücher holen würde. Sie kam schnell wieder zurück, setzte sich und wälzte dicke Nachschlagewerke, während Severus die neu eingetroffenen Lenkpflaumen abwog.
„Hermine?“
„Mmmh?“, machte sie gedankenverloren.
„Ist diese Waage korrekt adjustiert?“
Sie blickte auf. „Ja, warum?“
„Weil ich das wissen muss, bevor ich den Händler wegen Betrugs beim Ministerium anzeige.“ Interessiert hob sie beide Augenbrauen, so dass er erklärte: „Alle Zutaten aus der Lieferung wiegen 18 bis 34 Gramm weniger, als es im Lieferschein deklariert wurde. Das mag bei einer so preiswerten Zutat wie Flubberwürmern nicht weiter ins Gewicht fallen, aber 34 Gramm Einhornhaar einzubehalten bringt dem Händler einen Gewinn von immerhin fast zwei Galleonen. Für uns im Jahr hochgerechnet ein enormer Verlust, den ich nicht zu tragen bereit bin.“
Hermine war froh, dass er solche Dinge überprüfte. Sie selbst wäre bei der Menge Arbeit nicht auf die Idee zu kommen, die Lieferscheine so genau mit der erhaltenen Ware zu überprüfen. Bei ihr zählte nur, ob alles frisch war.
„Wie wäre es, wenn du persönlich zu dem Händler gehst und ihm deine Meinung über den Betrug mitteilst? Aber nur, wenn ich zugucken darf.“
Es war nur ein Spaß ihrerseits gewesen, doch er hatte sie offenbar missverstanden, weil er enttäuscht fragte: „Hältst du mich für kleinlich?“
„Nein, keinesfalls!“, wies sie vehement zurück. „Ich dachte nur, weil solche Angelegenheiten übers Ministerium immer so lange … Nein, schon gut. Eine Anzeige ist in Ordnung.“ Sie nickte zustimmend, doch noch immer schien er nicht sonderlich glücklich über ihre vorherige Äußerung zu sein. „Ich halte dich nicht für kleinlich, Severus“, beteuerte sie.
„Gut, denn ich befürchte, ich werde diese Eigenschaft nicht ändern können“, gab er ihr zu seinem Leidwesen zu verstehen.
„Du musst dich überhaupt nicht ändern.“
Das Lächeln, das sie ihm schenkte, brachte die Muskeln seiner Wangen dazu, sich so zu kräuseln, dass er es erwiderte, was das ihre nur noch breiter werden ließ. Beide fuhren mit ihrer Arbeit fort, ohne einem bedrückenden Gefühl ausgesetzt zu sein.
Wieder widmete sich Hermine den Büchern. Sie war nie großartig dazu gekommen, nach der Schule Arithmantik anzuwenden, obwohl sie dieses Fach immer sehr gern hatte. Es war eine schwierige Aufgabe, die erhaltenen Ergebnisse aus den Tests mit den Animagushaaren auf ihre mögliche Wichtigkeit in Tränken umzurechnen. Sie wusste jedoch, dass nur dieser Weg genaue Resultate versprach, wenn sie es richtig anpackte.
Während sich andere Menschen zu dieser Stunde im warmen Daunenfederbett niederlegten, versank Hermine in Tabellen und Zahlenwerten und verglich verschiedene Strukturen auf ihre Muster. Hermine musste die Gesamtheit aller Aussagen, die auf dem Gebiet der Zauberei und des Tränkebrauens galten, exakt beachten und für ihre Zwecke in Zahlen umwandeln. Die Resultate der Tests mit den Hundehaaren mussten ebenfalls vollständig isoliert werden, um eigene Zahlenwerte darzustellen, denn für die gab es keine festgelegten Ausgangswerte. Wie Severus schon sagte, hatte auch er noch nie gehört, dass es Zutaten von Animagi geben würde. Hermine versuchte sich hier an etwas völlig Neuem. Könnte sie den Hundehaaren erst einmal einen Wert zuordnen, würden weitere Berechnungen demnach logisch erfolgen. Bei der Arithmantik kam es nicht nur darauf an, Ordnung in die Zahlenwerte zu bringen, mit denen man Rechnen wollte. Je nachdem, wie genau sie die Werte von Tatzes Haaren bestimmen könnte, desto treffender versprach das Gesamtergebnis zu werden.
Hermine schrieb und schrieb, hielt manchmal inne, um verträumt in die Gegend zu schauen, während ihr Kopf rechnete. Erneut kritzelte die Feder das Ergebnis nieder, das mehrmals auf seine Richtigkeit geprüft wurde. Wie sehr wünschte sie sich in diesem Moment das magische Schreibfederset herbei, das Severus ihr geschenkt hatte. Andererseits würden ihr dann zwar nicht die Finger vom Schreiben wehtun, dafür wäre sie aber vom Diktieren ganz heiser.
Bei ihren Berechnungen beschränkte sich Hermine auf ein Minimum an Wahrscheinlichkeiten, begann daher immer wieder von vorn, bis sie am Ende jene Zahlenwerte isolieren konnte, die sie den Haaren und ihrer Wirkung zuschreiben konnte. Wie hatte Professor Vektor damals in der Schule so schön gesagt? ‘Schätzungen sind etwas für Anfänger‘, hallte die Stimme der Professorin in Hermines Kopf wider.
Trocken, wie manch einer glauben mochte, war Arithmantik nicht, jedenfalls nicht für Hermine. Jeder einzelne Zahlenwert stand für eine Zutat und deren Beschaffenheit, Alter, Erntebedingung und Qualität. Andere standen für eine Temperatur, die verwendete Kesselbodendicke oder sogar für das Material, aus dem der Löffel war, den man zum Umrühren benutzte. Das alles konnte sie vor ihrem inneren Auge sehen. Ron und Harry konnten sich damals nie etwas unter dem Fach vorstellen, wenn sie davon erzählt hatte. Selbst wenn die beiden es belegt hätten, da war sich Hermine sicher, hätten sie nicht so ein umfangreiches Bild vor Augen gehabt wie sie. Die meisten sahen weiterhin nur Zahlen auf dem Pergament, doch Hermine sah den gesamten Vorgang glasklar in ihren Gedanken – von den verwendeten Arbeitsmitteln und Zutaten bis hin zum eigentlichen Brauprozess. Arithmantik war für sie lebendig.
Etwa vier Stunden später konnte sie sich mit den ermittelten Werten der Hundehaare auf die eigentliche Arbeit konzentrieren. Das rechnerische Erfassen des Zusammenspiels mit anderen Zutaten stand nun an erster Stelle sowie eine mathematische Klärung der Kausalität. Kurzum: Ursache und Wirkung wollten berechnet werden. Hermine braute einen Trank nach dem anderen und das alles nur auf dem Papier. Viel Zeit verbrachte sie mit Begründungen ihrer Rechnungen, gerade weil sie wenig schätzen wollte. Alles sollte am Ende nachvollziehbar, besonders aber so präzise wie nur möglich sein. Dank der Tatsache, dass mittlerweile logische Schlussfolgerungen gefragt waren, hatte sie es wieder leichter. Logik lag ihr.
Den Duft von Tee nahm sie nur nebenher wahr, doch die Hand auf ihrer linken spürte sie sehr deutlich. Hermine drehte sich zur Seite. Severus hatte neben ihr Platz genommen und Tee gebracht, sogar etwas zu Essen. Seine Hand ließ wieder los, nachdem er ihre Aufmerksamkeit erlangt hatte.
„Wie kommst du voran?“, wollte er wissen.
„Gut!“ Ihre Stimme klang sehr euphorisch. „Ich habe endlich Werte, mit denen ich rechnen kann.“
Severus blickte auf ihre Aufzeichnungen. „Arithmantik? Ich dachte, du würdest normale Brauberechnungen durchführen.“
„Wie sollte ich das können?“ Sie legte ihre Feder in die Halterung, widmete sich danach wieder ihm. „Es gibt keine Daten oder Aufzeichnungen über die Arbeit mit Animagus-Ingredienzien. Ich bin darauf angewiesen, mit Hilfe der Zahlen vorherzusagen, was für eine Wirkung diese Haare in einem Trank haben würden.“
„Wahrsagen mit Zahlen“, sagte er abwertend. „Ich habe nie viel von Wahrsagen gehalten.“
„Das ist viel präziser als nur ‘Wahrsagen‘, Severus. Ich habe keine Zeit, Experimente mit den Haaren durchzuführen. An einem Tag würde ich höchstens zwei Tests im Labor machen können. Hier“, sie wedelte mit ihren Pergamenten, „habe ich in wenigen Stunden schon fünfzehn Testläufe durchgeführt – theoretisch auf der Basis von Begriffsbestimmung und Wertezuordnung.“
„Humbug“, hörte sie ihn murmeln, was sie verletzte.
„Das hier ist Fachrechnen mit einem Hauch Wahrsagen – und ich meine wirklich nur einen Hauch, weil ich sehr genaue Werte bestimmt habe! Dafür ist die meiste Zeit draufgegangen.“ Sie atmete tief durch und bemerkte erst jetzt, wie müde sie war.
„Ich sag ja gar nichts“, verteidigte er sich.
Diesmal war sie es, die das Wort „Humbug“ wiederholte und ihm somit vor Augen hielt, wie sehr er mit diesem einzigen Begriff ihre Bemühungen herabgewürdigt hatte. Er versuchte, sie wieder milde zu stimmen.
„Wenn diese Berechnungen helfen …“
„Ich bin sehr zuversichtlich, Severus. Die Haare der Animagusform haben Magie inne. Man muss nur noch prüfen, wie sie wirkt.“ Hermine ließ ihren Blick einen Moment auf ihrer Arbeit ruhen; nicht auf den einzelnen Berechnungen und Formeln, sondern auf dem Ausmaß an Pergamenten. Über eine Sache war sie sich im Klaren und das ließ sie bedrückt durchatmen. „Wenn ich mit dem Ergebnis zufrieden bin, werde ich alles nochmal machen müssen.“
Fragend blickte er sie an. „Warum?“
„Ich werde mit dem Teil deiner Animagusform von vorn beginnen müssen.“ Ihre Erschöpfung schlug sich mit einem Male in der Stimme nieder. „Erst die Aufschlüsselungszauber, dann die zeitintensive Wertezuordnung und am Ende unzählige Berechnungen. Es ist egal, was ich von dir erhalten sollte, den Wert davon werde ich erneut bestimmen müssen. Nichts gleicht sich, ob nun Haare, Schuppen oder Federn.“
Mit dieser Aussage bekam Severus tatsächlich ein schlechtes Gewissen. Sie machte sich all die Mühe nur aus dem Grund, ihm zu zeigen, dass sie von der Theorie der Vesta Lovegood überzeugt war. Hermine war der Meinung, dass ein Teil seiner Animagusform eine wichtige Zutat des Gegenmittels zum Ewigen See darstellen würde. Nun saß sie hier und rechnete stundenlang eine Zutat durch, die sie niemals verwenden würde, nur um ihn mit dem Ergebnis dazu zu bewegen, sich seiner persönlichen Tiergestalt zu widmen. Sie vergeudete ihm zuliebe ihre Zeit mit Blacks Haaren.
„Dann lass die Berechnungen vorerst bleiben“, schlug er vor.
„Nein, nicht doch! Das ist wichtig, Severus.“ Mit ihrem Blick flehte sie, jetzt nicht aufhören zu müssen. „Wir kommen doch endlich voran.“
„Wir werden auch in Zukunft vorankommen“, beruhigte er sie. „Ich werde jedoch nicht dabei zusehen, wie du deine Zeit weiterhin mit Hundehaaren verschwendest. Vielleicht …“
Er räusperte sich und griff nach einem ihrer Pergamente, das er in Augenschein nahm. Nicht die vielen Zahlen und Tabellen, die sie niedergeschrieben hatte, nicht die Kalkulationen und Formeln waren der Grund für den Kloß in seinem Hals, sondern einzig ihr Bestreben, nichts unversucht zu lassen, um ihm zu helfen.
„Warum?“ Seine Stimme war so leise, dass Hermine sie beinahe nicht wahrgenommen hätte.
„Warum ich all das mache?“ Sie sah ihn kräftig schlucken, bevor er lediglich mit einem Nicken antwortete, weil er seiner Stimme nicht zu trauen schien. Hermine wollte ehrlich sein, wie sie auch zu jedem anderen Freund aufrichtig sein würde. „Ich hab dich gern, deswegen.“
Diesmal war ihre Stimme fast so unhörbar leise wie der Flügelschlag einer Eule gewesen. Er warf ihr einen nervösen, wenn auch neugierigen Blick zu und Hermine glaubte, er hätte sie nicht verstanden. Es war jedoch nicht auszuschließen, dass er ihre Worte zwar gehört hatte, aber womöglich seinen Ohren nicht traute. Hermine war so mutig, ihre Worte zu wiederholen und ihm dabei – was ihr noch mehr Tapferkeit abverlangte – in die braunen Augen zu sehen. In diesen eben erwähnten Augen regte sich das Leben hinter einer scheinbar meterdicken Eisschicht, die sie zu schmelzen gewillt war. Wie es schien, waren ihre Worte schon beim ersten Mal keinesfalls ungehört geblieben, doch erst beim zweiten Mal bewahrheitete sich auch für ihn ihre soeben bekundete Zuneigung, die er anfangs nur seiner Fantasie entsprungen glaubte. Mit sich selbst uneins wägte er eine Äußerung gleichen Inhalts ab. Etwas hielt ihn jedoch davon ab, denn auch wenn er wusste, was er zu empfinden imstande war – und diese Fähigkeit hoffentlich auch in Zukunft wiedererlangen zu können –, würde er jetzt lügen, denn nach dem von Harry ermöglichten Ausflug in die ihm so fremde Gefühlswelt war jetzt alles wieder beim Alten. Seine Empfindungen waren hinter Schloss und Riegel. Sie beschränkten sich auf ein Minimum dessen, wozu er eigentlich fähig war. Severus wusste, wie er für sie empfand, aber im Moment war dieses Gefühl weiter weg als ihm lieb war. Er hoffte, sie würde das verstehen.
„Ich …“ Er musste sich räuspern. „Ich weiß das sehr zu würdigen, Hermine. Bitte verwechsle aufgrund meiner momentanen Lage meine Reserviertheit nicht mit Ablehnung. Ich weiß, dass ich unter anderen Umständen nicht minder empfinde.“ Im Moment, das war Hermine nun auch bewusst, waren seine Gefühle für ihn selbst unerreichbar. In seiner Seele war durch den Ewigen See der Winter eingebrochen, den man mit Hilfe eines einzigen Sommertages nicht zu vertreiben imstande war. „Dennoch …“ Er ergriff ihre Hand und blickte ihr in die Augen. „Ich schätze die Arbeit mit dir. Sie ist sehr“, eine Augenbraue zuckte, „inspirierend, geradezu erfrischend. Dein Eifer beeindruckt mich in hohem Maße und deine Gesellschaft ist eine Bereicherung, auf die ich nicht mehr verzichten möchte.“ Ein Mundwinkel wanderte nach oben, doch bei seinen nächsten Worten war Sarkasmus durch Neckerei ersetzt. „Und ich hoffe, das Gleiche werde ich von deinen Eltern sagen können.“
Das alles konnte er guten Gewissens zu ihr sagen, denn es entsprach der Wahrheit. Versuchte er jedoch, sich an das Gefühl zu klammern, das er am Tag des großen Quidditch-Spiels erfahren durfte, blieb ihm nur die blasse Erinnerung und das Wissen um seine Sehnsucht, die in ihm schlummerte. Nur Nerhegeb war dazu befähigt, dieses Fünkchen Begehren unverhüllt zu zeigen.
Hermine tätschelte zufrieden seine Hand. Er war ihr dankbar, dass sie so verständnisvoll reagierte. Nachdem sie sich gestreckt hatte, räumte sie ihre Sachen zusammen. Für heute hatte sie genug.
„Ich glaube, wir sollten Schluss machen. Es ist bestimmt schon spät.“
„Nein, es ist früh.“
„Wieviel Uhr ist es denn?“ Ihre eigene Frage beantwortete ein Blick auf die kleine Pendeluhr. „Halb acht morgens? Herrje …“
„Ich werde etwas zum Frühstücken besorgen. Oder möchtest du dich lieber noch eine Stunde hinlegen?“
„Bloß nicht! Sonst fühle ich mich den ganzen Tag wie gerädert. Ein Frühstück wäre schön.“ Sie lächelte ihn an. „Ich mache Kaffee.“
Die Zeit war bei den ganzen Berechnungen unbeachtet an Hermine vorbeigezogen. Sie hatte den ganzen Abend und die ganze Nacht gerechnet. Dafür sah ihr Labor wie geleckt aus, denn Severus hatte sich selbst beschäftigt und sich offenbar jeder noch so kleinen Unordnung angenommen, um sie nicht allein hier sitzen zu lassen.
Um die Zeit, zu der Severus und Hermine frühstückten, saßen auch die Malfoys zusammen am Tisch. Draco hatte sich diesen Morgen dazu entschlossen, das üppige Frühstück in der großen Halle mit all den fröhlichen Mitschülern gegen ein dezentes Mahl in der kühlen Atmosphäre seiner Familie zu tauschen. Heimelig war nur die Umgebung, nicht aber das Schweigen am Tisch. Sein Vater hatte sich schwungvoll die Serviette über den Schoß geworfen, bevor er zu den Rühreiern griff – zeitgleich mit Susan. Es ging ihm zwar gegen den Strich, was sei verzogener Mund und der missbilligende Blick untermalte, doch er ließ ihr höflich den Vortritt.
„Ich frage mich“, begann Lucius, während er darauf wartete, bis die Damen sich bedient hatten, „warum ich den Tag überhaupt so früh beginne? Ein, zwei Stunden mehr Schlaf könnten mir nicht schaden.“
Von seinen Worten zu einer Unterhaltung animiert, die jeder gern unterstützte, damit nur die frostige Stimmung verschwand, erwiderte Narzissa: „Weil es um diese Zeit nun einmal Frühstück gibt, Lucius. Das war schon immer so.“ Als er noch im Ministerium gearbeitet hatte, war halb acht eine angenehme Zeit gewesen, um die erste Mahlzeit des Tages einzunehmen.
„Das macht den Tag doch nur länger“, hielt er dagegen.
„Es hat dich doch sonst nie gestört.“
„Aber es stört mich jetzt!“ Ohne es zu wollen hatte er seine Stimme leicht erhoben.
Die Unterhaltung wollte niemand mehr bei diesem unangenehmen Verlauf fortführen, so dass sich jeder stillschweigend um seinen Teller kümmerte. Aus der Wiege, die nur wenige Meter entfernt stand, hörte man plötzlich Charles schreien. Lucius und Susan standen beide gemeinsam auf, doch er fühlte sich allein durch ihre Anwesenheit in die Schranken verwiesen, weswegen er beleidigt wieder Platz nahm, während Susan sich um das Kind kümmerte.
„Ach Draco, hat man dir mitgeteilt, dass ich Zeuge des ersten Spontanzaubers von Charles war?“
„Ja, Susan hat es mir erzählt. Ich wäre zu gern dabei gewesen. Ich kann es kaum erwarten, die Schule endlich hinter mir zu lassen.“
„Ja, die Schule“, murmelte Lucius gedankenverloren. „Wie sind deine Noten?“
Für einen Moment stutzten alle über seine Worte, er selbst am meisten. Es war früher, wenn Draco in den Ferien Zuhause war, vollkommen normal gewesen, über die schulischen Leistungen zu sprechen, doch solche Gespräche hatte es lange Zeit nicht mehr gegeben. Draco riss sich zusammen, auch wenn ihn diese Frage auf einen Schlag in die Vergangenheit katapultiert hatte.
„Meine Noten sind bestens, Vater. Ich rechne damit, dass ich fast überall ein ‘Ohnegleichen‘ erhalten werde. In ‘Geschichte der Zauberei‘ werde ich wohl nur ‘Erwartungen übertroffen‘ bekommen.“
„Warum das?“, fragte Lucius so interessiert wie damals.
„Weil ich nichts dagegen tun kann, bei Professor Binns dann und wann von Schlaf übermannt zu werden.“
Man hörte Lucius amüsiert, aber sehr leise lachen. „Ein ‘E‘ in diesem Fach ist nicht deine Schuld. Es liegt an Dumbledore. Ich verstehe nicht, wie er weiterhin einen Geist als Professor beschäftigen kann? Und dazu noch einen so langweiligen.“
Narzissa verteidigte entweder Professor Binns oder den Direktor, indem sie ihm vor Augen hielt: „Du hast erzählt, dir hätte das Fach immer sehr gefallen.“
„Ja, meine Liebe, aber auch nur, weil ich dort Zeit fand, Briefe an dich zu verfassen oder Hausaufgaben nachzuholen, die ich vergessen habe. Das ist auch der Grund, warum ich die gleiche Note bekam, die unser Sohn jetzt erwartet.“
Susan kam wieder an den Tisch zurück und hörte der nur leicht angespannten Unterhaltung zu.
„Wie sieht es in ‘Pflege magischer Geschöpfe‘ aus, Draco? Das Fach hat dich nie sehr interessiert.“
Draco holte tief Luft, denn wenn er sagen würde, wer das Fach unterrichtete, würde die Stimmung mit einem Male von etwas kühl auf Minusgrade umschlagen. „Auch dort erwarte ich ein ‘O‘. Professor Lupin“, sein Vater blickte erstaunt auf, „kann den Stoff sehr gut vermitteln. Selbst die Theorie ist nicht mehr so langweilig wie … Na ja, wie früher eben.“
„Lupin? Dumbledore lässt wieder diesen Werwolf unterrich…“
„Lucius“, mahnte Narzissa leise.
„Wissen die anderen Eltern davon? Ich denke nicht.“ Ein fieses Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Es gehört sich nicht, so eine Bestie in einer Schule für …“
„Lucius!“, fauchte Narzissa. „Professor Lupin – Remus – ist ein sehr netter und kompetenter Lehrer, zudem der Verlobte meiner Nichte, also ein Mitglied unserer Familie. Ich lege dir ans Herz, genau das zu bedenken, bevor du etwas sagst oder tust, das dir später leidtun wird.“
„Ich befürchte trotzdem, dass ein Internat kein geeigneter Ort für ihn ist, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen oder, Draco?“
Verlegen stocherte Draco in seinem Rührei. Gern wollte er seinem Vater zustimmen, nur um mit ihm überhaupt mal wieder einer Meinung zu sein, doch er konnte nicht. Nicht bei diesem Thema.
„Es ist schon richtig, dass Professor Lupin sehr kompetent ist, sonst hätte ich sicherlich eine schlechtere Note zu erwarten. Und zu seinem, ähm, Problem: Die Schüler und Eltern wissen es und es macht ihnen nichts aus.“
Seinem Gesichtsausdruck konnte man entnehmen, dass Lucius gern etwas anderes gehört hätte. Statt seinen Standpunkt energisch zu vertreten, ließ er das Thema fallen, denn es war eine ermüdende Erfahrung, ständig drei Personen gegen sich zu haben. Zu seinem Glück begann Charles in seiner Wiege erneut zu schluchzen. Wie von selbst erhob sich Lucius, diesmal davon irritiert, dass Susan am Tisch sitzen blieb. Zunächst zögerlich, dann jedoch davon überzeugt, die stille Erlaubnis erhalten zu haben, sich um den Jungen kümmern zu dürfen, nahm er ihn aus der Wiege.
Draco blickte Susan fragend an, wurde jedoch von seinem Vater abgelenkt, der wissen wollte, ob Charles schon seine Flasche bekommen hatte. Susan verneinte, so dass Lucius sich wie selbstverständlich in die Küche begab. Als sein Vater außer Hörweite war, beugte sich Draco zu seiner Frau hinüber.
„Was sollte das? Hast du Charles nicht eben gefüttert?“
„Nein, hab ich nicht. Du hast doch gehört, dass dein Vater nichts mit seiner Zeit anzufangen weiß. Ich dachte, er könnte ihm die Flasche geben.“
„Das hast du so eingefädelt?“ Nachdem Susan genickt hatte, musste Draco grinsen, denn irgendwie erinnerte ihn ihr Handeln an sich selbst.
Seine Mutter nutzte es ebenfalls aus, dass sich Lucius gerade nicht im Raum befand, denn sie legte ihrem Sohn nahe: „Schatz, könntest du mal mit deinem Vater reden? Es geht um eine Nachuntersuchung seiner Augen. Er will einfach nicht ins Mungos gehen, dabei ist das so wichtig.“
„Ich glaube nicht, dass er auf mich hören wird, aber ich werde es versuchen.“
Jetzt konnte Draco der Bitte seiner Mutter nicht mehr nachkommen, wenn er pünktlich zum Unterricht erscheinen wollte. Er verabschiedete sich und nahm den Kamin, der ihn im Nu nach Hogwarts zurückbrachte.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
~ Muggelchen.net ~
~ Muggelchen.net ~
- Muggelchen
- Eule
- Beiträge: 345
- Registriert: 07.06.2008 22:29
- Wohnort: Gemälde im 1. Stock
Rest von Kapitel 192
Der Schultag verging ruhig, so schien es jedenfalls. Severus war etwas durcheinander. Der Unterricht rauschte so schnell an ihm vorbei wie die Landschaft am Fenster, wenn man in einem Abteil des Hogwarts-Express saß. Einerseits wollte er Hermine den Gefallen tun und seine Animagusform zum Vorschein bringen, andererseits war er nicht gewillt, Minerva um Hilfe zu bitten. Allein würde er es jedoch nicht bewerkstelligen, weil er eine nicht zu leugnende Abscheu gegen diese Art der Verwandlung hegte und gerade diese ablehnende Haltung einem Erfolg im Wege stehen würde. Er war unschlüssig. Minerva würde ihm sicherlich in Windeseile das Wissen vermitteln, das er für eine erfolgreiche Verwandlung benötigte, doch ihm gefiel nicht, sich ihr auf diese sehr persönliche Weise offenbaren zu müssen.
Es war die Hoffnung, eines Tages wieder fühlen zu dürfen, die den Entschluss für ihn fällte.
„Minerva?“ Die Angesprochene blieb auf ihrem Weg in die große Halle, in der gerade das Abendessen serviert wurde, stehen. „Ich möchte dir ein Anliegen vorbringen. Unter vier Augen, wenn möglich.“
„Du möchtest etwas von mir, Severus?“ Nur ihre Stirn kräuselte sich vor Verwunderung, während sie ihn mit ansonsten neutralem Gesichtsausdruck musterte. „Da bin ich aber gespannt.“
Sie folgte ihm ins Lehrerzimmer, das sie nun zur Essenszeit ganz für sich allein hatten und begutachtete ihren jungen Kollegen geduldig. Severus gab nicht sofort preis, über was er mit ihr reden wollte. Einen Moment gönnte sie ihm noch, beobachtete währenddessen die deutliche Zerrissenheit, die für ihn sehr untypisch war. Er blickte sie mehrmals an, versuchte ein Gespräch zu beginnen, doch stoppte er sich jedesmal wieder selbst, um seine Worte zu überdenken. Als er tief durchatmete, war für Minerva ersichtlich, dass er sich zusammenriss.
„Ich wäre gezwungen, dir einen Fluch entgegenzuwerfen, solltest du mich wegen der Bitte, die ich gleich an dich richte, verspotten.“
Gemächlich legte sie eine Hand in die andere und blickte ihn dabei streng an. „Das, Severus, ist wahrlich der falsche Weg, um an mich heranzutreten, denn wie du ja bereits betont hast, bist du derjenige, der etwas von mir möchte.“ Sie schnaufte echauffiert. „Mir drohen? Ich bitte dich!“
„Es war lediglich als Aufforderung gedacht, mich ernst zu nehmen.“
„Was mir schwerfällt, wenn du so von mir denkst. Ich bin kein Feind, den man im Vorfeld zurechtweisen muss, Severus. Wir sind Kollegen, also behandle mich entsprechend.“
„Du musst meine Worte nicht überbewerten. Würde es einen einfacheren Weg geben, wäre ich nicht gezwungen, deinen Rat einzuholen.“
Minerva spitzte die Ohren. Noch nie war sie von Severus nach Rat gefragt worden, nicht in schulischen Belangen und schon gar nicht in persönlichen. Ein ungutes Gefühl machte sich in ihr breit.
„Severus, was ist? Geht es um einen Schüler? Ist etwas vorgefallen?“
„Nein“, beruhigte er, „nichts dergleichen. Es geht um eine Fähigkeit, in der ich Einweisung benötige.“
„Fähigkeit?“, platzte es ungläubig aus Minerva heraus. Was, fragte sie sich, könnte sie besser als er selbst? „Geht es um einen komplizierten Verwandlungszauber? Du weißt, Severus, dass ich für schwierige Aufgaben dieser Art immer zu haben bin“, verkündete sie stolz. „Nun sprich!“
„In gewisser Weise geht es um Verwandlung. Um genau zu sein, um tierische Formen.“
„Ah“, machte sie, als sie begriffen hatte. „Es geht um die Animagusform. Wer deiner Schützlinge ist es denn, der Potenzial zeigt?“
„Wie schon gesagt geht es nicht um einen Schüler.“
Eine Weile blickte sie ihn an, blinzelte dabei nachdenklich. Sie wollte nicht sagen, was ihr auf der Zunge lag, denn sie würde sicher falsch damit liegen, dass er sich selbst meinen könnte. Sie rief sich seine Worte ins Gedächtnis zurück. ‘Es geht um eine Fähigkeit, in der ich Einweisung benötige‘, hörte sie seine Stimme. Sie konnte sich nicht irren.
„Du selbst?“
Severus nickte. „Ich wäre dir sehr verbunden, würdest du mir hilfreiche Lektüre empfehlen, damit ich …“
Sie war so erstaunt, dass sie ihn unterbrach, ohne es selbst zu merken. „Du möchtest deine Animagusform finden?“ Missgestimmt über ihre Unterbrechung nickte er lediglich. „Das ist …“ Sie war sprachlos.
„Ein paar Buchtitel“, fuhr er fort, „Anleitungen für Konzentrationsübungen und die Klärung wichtiger Abläufe, mehr benötige ich nicht, Minerva.“
Endlich war sie wieder bei Sinnen. Breit grinsend zeigte sie ihm ihre Beglückwünschung zu dieser Entscheidung, die er mit verzogenem Mund kommentierte. Wenige Augenblicke später war Minerva voll in ihrem Element.
„Jedes Buch über die Wandlung zum Tier wird dir ans Herz legen, niemals allein nach dem Wesen in dir zu suchen. Es ist viel zu gefährlich!“
Ihren Ratschlag schlug er mit einem hämischen Grinsen in den Wind. „Das lass nur meine Sorge sein, Minerva.“
„Nichts da, Severus. Ich werde so eine risikobereite Ansicht nicht auch noch unterstützen. Die Mahnung, in Anwesenheit einer zweiten Person an der Animagusform zu arbeiten, kommt nicht von ungefähr.“
„Was meinst du mit risikobereit? Ich möchte so lernen, wie immer. Viele Dinge habe ich mir autodidaktisch angeeignet. Ich benötige kein Aufsichtspersonal.“
„Wie ich sehe, wäre es angemessen, deinen Dickkopf zunächst mit einer ganz anderen Lektüre zu füllen. Es gibt nicht wenige Berichte über Menschen, die sich verloren haben.“ Solche Warnungen würde Minerva nicht aus Jux und Tollerei von sich geben, das wusste Severus. Geduldig hörte er ihrer Ausführung zu. „Vor lauter Euphorie über die erste geglückte Verwandlung zum Tier ist so manch einem Alleingänger die Fähigkeit abhanden gekommen, sich auch wieder in einen Menschen zurückverwandeln zu können. In solchen Fällen muss die Person einschreiten, die du als ‘Aufsichtspersonal‘ bezeichnest. Es gibt Gründe, warum das Ministerium jeden Animagus registriert sehen möchte. Nicht weil sie dann Kontrolle über sie haben, sondern weil es einem nicht registrierten Tier sehr schwerfallen würde, auf sich und sein Problem bei der Rückverwandlung aufmerksam zu machen. Versuch nur mal als Schnecke, mit einem Menschen Kontakt aufzunehmen.“
„Als Schnecke?“
„Oder was auch immer du sein magst.“
Er kniff die Augen zusammen. „Ganz sicher nicht so ein träges Tier. Warum nennst du gerade das als Beispiel?“
„Verzeih mir, ich habe wohl an die ganzen Gläser denken müssen, die in deinem Büro stehen.“ An die schleimigen Kreaturen in ihnen, dachte sie mit zurückhaltend belustigter Miene.
Wieder schien Severus abzuwägen, wie er reagieren sollte. Minerva glaubte, es wäre an der Zeit, ihre Hilfe direkt anzubieten.
„Du kannst nach dem Abendessen in mein Büro kommen, um alle Aspekte zu besprechen, die dich interessieren. Ich werde es dennoch nicht zulassen, dass du in dieser Angelegenheit allein tätig wirst. Jeder erfolgreiche Animagus hat mit einem Vertrauten zusammengearbeitet, Severus. Viele von denen, die es ohne Hilfe überwinden wollten, wurden von der Panik übermannt, als die Rückverwandlung auf sich warten ließ.“
Den Termin für eine Unterredung nahm Severus sofort an. Nach dem Abendessen fand er sich sehr pünktlich bei Minerva ein, womit er ihr ungewollt die Dringlichkeit offenbarte.
„Severus, tritt ein und nimm Platz.“
Mit einer Geste ihrer Hand deutete sie auf einen Sessel am Kamin, der von seinem Zwillingsbruder durch ein kleines Beistelltischlein getrennt war. Auf dem anderen nahm sie Platz, bevor sie in lehrerhafter Stimme mit den Fakten begann.
„Ein Animagus kann in jedem Zauberer und in jeder Hexe darauf warten, erweckt zu werden. Ihn zu finden schreckt viele leider ab. Es gibt Menschen, die Vorlieben und Abneigungen gegenüber gewissen Tierarten haben.“ Sie blickte ihn an. „Gibt es ein Tier, dem du weniger zugetan bist?“
Gelassen hob und senkte er seine Schultern. „Nein, es ist mir gleichgültig.“
„Das ist die beste Voraussetzung, Severus. Selbst ich konnte es damals nicht vermeiden, unbewusst das eine Tier zu bevorzugen und ein anderes zu verabscheuen. Nur sehr schwer hätte ich die Form eines Reptils akzeptieren können.“
„Warum warst du damals so darauf erpicht, deine Animagusform zu finden, wenn du nicht ausschließen konntest, womöglich zu einem Tier zu werden, das du widerlich findest?“
„Weil es am Ende auch mir egal war. Die Chance war gering, dass meine Persönlichkeit einem Waran entsprechen könnte. Du weißt sicherlich, dass ein Animagus der Persönlichkeit entspringt. Einmal gefunden wird er ewig diese Gestalt beibehalten, dein zweites Ich werden und zusammen mit dir altern.“
‘Zweites Ich‘, wiederholte Severus in Gedanken. Mit einem Male war auch er von Hermines Theorie überzeugt, sein Animagus würde eine eigene Seele besitzen. Was ihm Sorgen machte, war die Vermutung, sich mit seiner momentan beschränkten Fähigkeit zu Emotionen überhaupt in ein Tier verwandeln zu können. Er war dennoch bereit, es wenigstens zu versuchen. Wenn selbst so ein durchschnittlich begabter Mensch wie Pettigrew in der Lage gewesen war, eine Gestalt zu finden, würde es ihm nicht sonderlich schwerfallen dürfen.
„Darf ich nach deinen Ambitionen fragen, Severus?“
„Darfst du nicht“, erwiderte er knapp, was sie verärgerte.
„Ich frage aus einem bestimmten Grund und nicht aus Neugierde. Eine hohe Erwartungshaltung an sich selbst kann den Erfolg nämlich vereiteln. Sich zu einer Verwandlung zu entscheiden sollte nicht aus einem inneren Druck heraus resultieren.“ Minerva dachte an einige ehemalige Studenten, die ihre Animagusform unbedingt finden wollten, um somit ihren Beruf als Auror zu bereichern, doch gerade dieser innige Wunsch behinderte den Fortschritt.
„Lass mich dir versichern, dass ich nicht unter psychischem Druck stehe. Ich will den Versuch starten. Sollte es mir versagt bleiben, eine Form zu finden, werde ich daran sicherlich nicht zerbrechen.“
Seinen Worten mussten sie innerlich zustimmen. Severus wirkte nicht wie jemand, der alles in seiner Macht stehende tun würde, seine Form zu erlangen und noch weniger würde er daran zugrunde gehen, sollte er bei diesem Vorhaben scheitern.
„Nun gut, dann sollten wir mit der Theorie beginnen.“ Minerva ging hinüber zu einem Bücherregel zog einen dicken Wälzer hinaus, den sie mit zurück zum Sessel nahm. „Wie in jedem Fach muss man sich zunächst darüber informieren, was summa summarum auf einen zukommt. Du lässt deine Erstklässler auch nicht sofort mit Zutaten hantieren und sie nach Lust und Laune fröhlich in einen Kessel werfen.“
Dass Minerva ihn indirekt als Schüler betrachtete, konnte er nur schwer verdauen. Trotzdem musste er sich eingestehen, dass sie Recht hatte. Er war hier, um sich durch ihr Wissen und mit Hilfe ihrer eigenen Erfahrungen in die Materie einzuarbeiten.
„Zu den wichtigsten Punkten: Die erste Verwandlung ist nicht nur entscheidend, sondern stellt zudem die schwierigste Prozedur dar. Die Arbeit ist aber noch lange nicht erledigt, solltest du deinen Animagus gefunden haben. Die Rückwandlung ist genauso anstrengend. Hast du beides ein einziges Mal erfolgreich bewerkstelligt, wird es dir nie wieder Probleme bereiten.“ Interessiert blickte Severus auf, als Minerva ein Beispiel nannte. „Das ist wie mit Besenfliegen, das verlernst du auch nicht mehr.“
Severus wusste, was sie meinte. Lange Zeit hatte er einen Besen nicht mehr angerührt, doch als er damals von Albus während Harrys erstem Schuljahr zum Schiedsrichter eines Quidditch-Spiels bestimmt wurde, war es zwar ein ungewöhnliches Gefühl, wieder auf einem Besen zu sitzen, aber er beherrschte es einwandfrei.
„Du, Severus, meisterst etwas, das dir dabei hilft, deinen Geist von allen beeinflussenden Dingen zu leeren.“
„Die Vorstufe der Okklumentik“, vermutete er laut.
„Ganz genau. In der Regel würde nun eine Meditationstechnik folgen, mit der du dich von allen Wünschen bezüglich deiner Form lösen kannst.“
„Ich habe keine Wünsche, Minerva“, brachte er in Erinnerung.
„Das sagtest du bereits. Konzentrationsübungen wie die, die man beim Erlernen der Okklumentik anwendet, werden dir helfen, dich von allen äußeren Einflüssen abzuschotten, damit du in aller Ruhe in dich hineinsehen kannst. Suche nicht nach einer bestimmten Form – such einfach.“
„Wie soll ich das anstellen?“ Severus war ratlos. Man konnte nur nach etwas suchen, wenn man eine vage Vorstellung davon hatte, wie es aussehen könnte.
„Du wirst es finden, auch wenn du nicht weißt, nach was du Ausschau halten sollst. Viele finden ihre Form nicht, weil sie nach ihren Vorlieben suchen oder weil sie sich auf das, was sie aufspüren, nicht einlassen möchten.“ Mit strenger Miene blickte Minerva zu ihm hinüber. „Sag mir, Severus: Was würdest du tun, solltest du einen Hirsch in dir finden? Nimmst du die Gestalt an oder verachtest du sie?“
Daran hatte er bisher keinen Gedanken verschwendet. Er wusste nicht, wie er reagieren würde, sollte seine Animagusform mit der seines ehemaligen Rivalen übereinstimmen. Grauenvoller wäre es für ihn, sollte eine Ratte in ihm schlummern oder ein Hund.
„Willst du absichtlich Aversionen schüren, damit es mir schwerer fällt?“
„Ich will dich vorbereiten, mein lieber Kollege. Wenn du ein Animagus werden willst, dann muss es dir vollkommen gleichgültig sein, wie deine Form aussehen wird.“
„Wie bitte soll ich nach etwas suchen, von dem ich nicht die geringste Ahnung habe, wie es überhaupt aussehen könnte?“
„Kein Grund, so grantig zu werden“, mahnte sie ihn. „Sei offen für alles, was deine Persönlichkeit dir an Form anbietet. Lass mich dir etwas vorlesen, das seit fast zweihundert Jahren in fast jedem Buch über Animagusformen zitiert wird.“
Das dicke Buch auf ihrem Schoß schlug sie auf, aber sie blätterte nicht viel herum, sondern widmete sich gleich dem Vorwort, das sie mit ruhiger Stimme und hörbarer Verzückung vorlas.
„Wenn mein ruheloser Geist in die Verachtung aller Dinge und Menschen zurücksinkt, berauscht sich mein tierischer Leib an allen Trunkenheiten des Lebens. Ich liebe den Himmel wie ein Vogel, die Wälder wie ein schweifender Wolf, die Felsen wie eine Gemse, das hohe Gras, um mich darin zu wälzen, um mich wie ein Pferd darin zu tummeln, und das klare Wasser, um wie ein Fisch darin zu schwimmen. In mir schauert etwas von allen Tieren, von allen Instinkten, von allen dumpfen Begierden der niederen Geschöpfe. Ich liebe mit einer tierischen, tiefen, heiligen und erbärmlichen Liebe alles, was lebt, was wächst, was man sieht.“
Minerva schloss das Buch und ließ Severus einen Moment über diese Worte nachdenken. Den Sinn hatte er sicherlich verstanden, doch sie wollte es klar und deutlich aussprechen.
„Es ist vollkommen egal, was du bist, Severus. Du wirst an jeder Form Gefallen finden, denn es ist nicht nur die Form selbst, sondern das, was du mit ihr wahrnehmen wirst. Die Welt um dich herum wird deine Sinne bereichern. Das ist es, was diese Worte vermitteln können.“
„Von welchem Zauberer stammt der Text?“
„Oh“, sie lächelte und schüttelte den Kopf, „von keinem Zauberer. Derjenige, der die Gefühle für seine Umwelt auf diese Weise festgehalten hat, war ein Muggel.“
„Ein Muggel?“
„Guy de Maupassant, ein französischer Schriftsteller. Jemand, der ohne es zu wissen jedem Animagi aus dem Herzen sprach.“
Gefühlvoll strich Minerva mit ihren Fingern über den ledernen Deckel, bevor sie Severus das Buch reichte.
„Lies die ersten drei Kapitel. Morgen beginnen wir mit der Suche.“
„Morgen kann ich leider nicht, Minerva.“
„Warum? Es wird Hermine nicht umbringen, wenn du einen Samstag mal fernbleiben wirst. Meine Zeit ist auch begrenzt, Severus.“
Mit einem Blick, der töten könnte, rügte er Minerva für ihre ausfallende Bemerkung, bevor er sich dazu aufraffte, ihr den wahren Grund zu nennen. „Nicht die Apotheke ist mein morgiges Ziel, sondern der Herr, der es Hermine erst ermöglichte, sie zu erwerben.“
„Wie soll ich das verstehen?“
Severus erhob sich von seinem Stuhl. Das Buch klemmte er unter den Arm. „Ich werde morgen mit Mr. und Mrs. Granger zusammentreffen.“
„Oh“, war ihr einziges Wort, mit dem sie ihrer Überraschung Ausdruck verleihen konnte.
„Oh“ machte auch Harry, der von Sirius eine Eule erhalten hatte. Eine Abschrift des Gesetzestextes bezüglich der Arbeitsrechte für Werwölfe war ihm zugesandt worden. Anbei auch eine Kopie der geplanten Regelungen für Kobolde und Hauselfen, die demnächst Zauberstäbe tragen durften, wenn sie es wünschten.
„Was hast du da?“ Ginny war ins Wohnzimmer getreten und betrachtete die dicke Mappe, die von einer sehr großen und kräftigen Eule gebracht worden war.
„Sirius hat mir was geschickt. Ach ja, Ginny, ich treffe mich heute mit Luna, wenn du nichts dagegen hast.“
„Warum sollte ich etwas dagegen haben? Grüß sie von mir.“
Per Apparation suchte Harry das Haus von Lunas Vaters auf. Nachdem er den Garten betreten hatte, sah er überall die wunderschönen Blumen aus der Erde sprießen. Der Mai sorgte für eine wahre Augenweide. Er schritt an Blumen mit herzförmigen Blüten vorbei und an welchen mit so vielen Blättern, dass man sie nicht einmal zählen könnte. Weiter hinten in der Nähe zweier Birnenbäume bemerkte er die Überreste eines großen Schuppens. Laut Lunas Aussage hatte ihre Mutter dort früher Experimente gemacht. Nach der Explosion, bei der ihre Mutter starb, hatte ihr Vater es nicht übers Herz gebracht, die Überreste des Gebäudes abzureißen.
An der Tür angekommen klopfte er. Es war ihr Vater, der ihn begrüßte.
„Mr. Potter! Das ist schön, dass wir uns mal wieder gegenüberstehen. Es muss mehr als ein Jahr her sein, als Sie das letzte Mal hier waren.“ Harrys Hand wurde so sehr geschüttelt, dass er sie für einen Augenblick in Gefahr sah.
Von hinten hörte man Lunas Stimme sagen: „Wir werden nicht bleiben, Vater. Harry und ich gehen ein wenig raus, damit wir unsere Ruhe haben.“
„Sicher, Schatz. Viel Spaß euch beiden. Und Mr. Potter …?“ Harry drehte sich nochmals zu Lunas Vater um. „Es wäre mir eine Ehre, Sie für ein Interview für den Klitterer zu gewinnen.“
Harry runzelte die Stirn. „Über was möchten Sie mich denn befragen?“
„Ihre Meinung zu Heliopathen und ihre heutige Rolle für den Minister. Oder auch über Schrumpfhörnige Schnarchkackler und wie sie …“
„Bis nachher, Dad.“
Luna nahm Harry am Oberarm und rettete ihn vor den seltsamen Themen, über die man ständig im Klitterer lesen konnte. Sie gingen zusammen in die Nähe des anliegenden Waldes.
„Es tut mir leid, wenn mein Vater …“
„Nein, nein“, winkte Harry ab. „Es ist in Ordnung. Den Klitterer lese ich sehr gern, weißt du? Habe ihn sogar abonniert. Er ist um Längen interessanter als der Tagesprophet und enthält auch viel weniger Lügen.“
Dankbar lächelnd drückte sie einmal seine Hand. „Es würde Vater gefallen, wenn er wüsste, dass du so über seine Zeitschrift denkst.“
„Wo gehen wir hin?“, wollte Harry wissen, als sie ihn in den Wald zu führen gedachte.
„Ganz in der Nähe ist ein See. Wir können uns auf die Baumstümpfe setzen und unser Interview halten.“ Mit leuchtenden Augen fügte sie hinzu: „Und wenn wir Glück haben, dann sehen wir den sprechenden Fisch.“
„Den sprechenden Fisch?“
„Meine Mutter hat mir früher das Märchen vorgelesen.“
„Wäre es aber nicht besser, den Fisch nicht zur zu sehen, sondern auch reden zu hören?“ Harry grinste. „Ich meine nur, damit man auch weiß, dass es der Richtige ist.“
„Mir würde es schon reichen, ihn nur zu sehen“, beteuerte Luna.
Der See war schnell erreicht. Wie Luna es gesagt hatte fanden sich hier Baumstümpfe, die dem letzten großen Sturm offenbar nicht standgehalten hatten. Einige Stämme ragten bis ins Wasser.
„Wo setzen wir uns hin?“ Harry blickte sich um, um nach einem hübschen Plätzchen zu suchen und bemerkte, wie Luna ihre Schuhe und Strümpfe auszog und barfuß auf einen der Stämme zuging, von dem ein Ende über dem Wasser schwebte. „Pass auf, Luna!“
„Setzen wir uns hier hin.“
Sie hatte bereits den Baumstamm betreten und ging so weit, wie es möglich war, bevor sie sich setzte und die Füße im Wasser baumeln ließ. Harry folgte ihr, jedoch mit Schuhwerk. Luna hatte längst ihre magische Schreibfeder ausgepackt, die vor den beiden in Kopfhöhe schwebte. Vorsichtig, damit er nicht hineinfallen würde, hockte er sich erst hin und ging dann in eine sitzende Position über. Erst jetzt hatte er einen Augenblick Zeit, sich die Gegend anzusehen. Sie war so traumhaft schön, dass es ihm den Atem verschlug. An den Seiten des Sees wuchs eine Art Schilf. Jeder Grünton war hier vertreten. Die Bäume rundherum trugen längst ihr Blätterkleid und an ihren Wurzeln hatte sich Moos niedergelassen. Harry kam es so vor, als würde er alles wie durch einen Weichzeichner sehen. Die Gegend schien einem Märchen entsprungen. Sollte Luna sich seit ihrer Kindheit häufiger hier aufhalten, dachte Harry, dann war es verständlich, warum sie diesen verträumten Blick innehatte. Der Ort konnte verzaubern und das ganz ohne Magie.
„Gibt’s hier Grindelohs?“, wollte er wissen, als er Lunas Füße unter der Wasseroberfläche verzerrt ausmachen konnte.
„Wenn, dann hat mich all die Jahre nie einer angefallen.“ Luna winkte in Richtung ihrer Schreibfeder, die in Reichweite über dem Schreibblock schwebte. „Du besitzt einen Hauself, Harry.“ Harry war von der plötzlich schreibenden Feder irritiert wie auch von Lunas abrupten Themenwechsel. Das Interview hatte begonnen. „Wie beschreibst du dein Verhältnis zu ihm?“
„Ich, ähm, ich würde sagen, freundschaftlich. Ja, freundschaftlich“, bestätigte er nochmals. „Ich mag ihn und ich denke, er mag mich auch.“
„Was ist seine Aufgabe?“
„Er kümmert sich um unser Kind, wenn Ginny noch in der Schule ist und ich bei der Arbeit.“
„Ein Kindermädchen?“
Sich Wobbel mit der Bezeichnung Kindermädchen vorzustellen war seltsam. „Ja, so eine Art. Ich würde ihn als Betreuer bezeichnen.“
Die Feder schrieb alles mit. „Was tut er noch?“
„Eigentlich macht er alles, beziehungsweise will er alles machen, aber manche Dinge möchte ich allein erledigen. Außerdem gibt er mir gute Ratschläge, wenn ich mal nicht weiter weiß.“
„Wenn du es ihm befielst?“, fragte sie provozierend.
„Nein! Ich befehle ihm nichts, ich bitte ihn. Manchmal macht er von sich aus Vorschläge. Er arbeitet sehr selbstständig. Mir gefällt, dass er mitdenkt und nicht einfach alles hinnimmt.“
Luna nickte und spielte dabei mit ihren Füßen im Wasser. „Glaubst du, dein Elf hat es gut bei dir?“
Einen Moment lang überlegte Harry, obwohl es da nichts zu überlegen gab. „Er hat es gut bei mir, aber sicher kann ich mir nur sein, wenn er nicht mein Elf wäre, sondern nur für mich arbeiten würde. Gegen Bezahlung meine ich.“
„Dann befürwortest du die Bezahlung von Hauselfen für ihre Arbeit?“
„Ja, das tu ich. Ich weiß aber auch, dass die meisten Elfen das nicht möchten. Das ist schade. Ich kenne zwei freie Hauselfen. Der eine kommt mit seiner Situation bestens zurecht, die andere leidet darunter. Es ist wohl tief in ihrer Geschichte verankert, dass Hauselfen sich für ihren Herrn aufopfern wollen, ohne Rücksicht auf Verluste.“
„Was meinst du mit ‘ohne Rücksicht auf Verluste‘?“, fragte Luna nach.
„Na ja, nicht jeder Elf wird von seinem Herrn gut behandelt. Es gibt Schläge und andere Bestrafungen für Missgeschicke oder Fehler, die ein Elf macht. Das ist nicht richtig.“
„Die Elfen stören sich nicht daran.“
„Luna!“ Aufgebracht schüttelte er den Kopf. „Die Elfen würden sich nie gegen ihre Herren auflehnen oder sie zurechtweisen, das weißt du doch. Es ist nicht notwendig, den Elfen zu sagen, dass körperliche Bestrafung falsch ist – man muss es den Hexen und Zauberern beibringen!“
Luna lächelte verträumt. Natürlich wusste sie, was Harry meinte, aber nur auf diese Weise kam ein Gespräch zustande, das sie für einen journalistischen Beitrag überarbeiten konnte.
„Die Elfen sind für viele nur eine Sache, die sie nach Lust und Laune behandeln können“, rief sie ihm ins Gedächtnis zurück.
„Leider ist das so!“, stimmte Harry ihr zu. „Es ist einfach nicht richtig. Haustiere werden viel besser behandelt als Hauselfen, dabei können sie so viel tun und sind so nett. Mein Hauself ist mein Freund! Ich habe ihn nie als Eigentum betrachtet und auch niemals so behandelt, kannst ihn fragen.“
„Ein Elf würde jemand anderem gegenüber nicht die Wahrheit sagen, wenn er damit gegen den Willen seines Herrn verstoßen würde.“
Harry schnaufte. „Dann muss man es eben so regeln, dass die Elfen eine Anlaufstelle haben, falls sie misshandelt werden. Man darf sich nicht als Mensch bezeichnen, wenn man wie eine Bestie handelt.“
„Oh Harry, das war ein wunderschöner Satz. Den übernehme ich eins zu eins“, schwärmte Luna, die ihn damit aus dem Gleichgewicht brachte, denn er hatte sich gerade warm geredet.
Eine Weile redeten sie noch über Elfen und ihre Aufgabe in der Zaubererwelt, zudem über Zauberer und Hexen, die die Verantwortung für diese Mitlebewesen übernahmen. Harry hatte Luna die Gesetzesentwürfe gezeigt, so dass sich ihr Thema bald nicht mehr nur auf die Elfen beschränkte, sondern auch – wie Sirius es schon vorgeschlagen hatte – über die Möglichkeit, ihnen Zauberstäbe zu gewähren. Geschickt lenkte Luna das Thema auf die wirtschaftlichen Aspekte, die so eine gesetzliche Entscheidung mit sich bringen würde.
Die Werwölfe waren das nächste Thema. Oft musste sich Harry zurückhalten, um Remus nicht beim Namen zu nennen, denn bei fast jedem Satz dachte er nur an ihn und wie schwer er es gehabt hatte, einen anständigen Job zu finden. Wolfsbanntränke, verbesserte Arbeitsgesetze, mehr Aufklärung und weniger Vorurteile waren die Dinge, die Harry mit seiner Meinung über Werwölfe zu vermitteln hoffte. Langsam wurde es dunkler, so dass Luna das Ende des Interviews ansteuerte.
„Erzähl mir, was du so in deinem Leben machst, Harry.“
Er konnte nichts dagegen tun, sein Gesicht zu verziehen. „Warum willst du unbedingt darüber schreiben?“
„Weil die Menschen nach dem Krieg nichts mehr von dir gehört haben. Journalisten stürzen sich auf deine Freunde und ehemaligen Klassenkameraden, die nur vereinzelt Informationen über dich preisgeben. Die Öffentlichkeit weiß nur, dass du jetzt in Hogwarts als Lehrer für Verteidigung gegen die Dunklen Künste arbeitest und dass du mit Ginny verlobt bist. Man weiß nicht, wie du dein Leben verbringst, aber die Leute würden es sehr gern wissen.“
„Ich weiß nicht, Luna …“
„Der Artikel würde viel mehr wirken, wenn er gleichzeitig Neuigkeiten über dein Leben enthält und nicht nur deine Meinung zu politischen Themen. Du musst aber nicht.“
Die Frage war, ob er der magischen Gesellschaft in dieser Hinsicht etwas schuldig war. Er wollte verneinen, dachte aber an die vielen Briefe, die man ihm besonders in den ersten Monaten nachdem dem Krieg geschickt hatte. Briefe von Kindern, die ihm mit einem gemalten Bild ihre Anerkennung zeigten. Briefe von Menschen, die ihm ihr Leben verdankten. Leute, von denen er niemals etwas gehört hatte, schrieben ihm noch heute und teilten ihm mit, wie glücklich sie wären, dass Voldemort nicht mehr existierte. Diesen Menschen hatte er nur äußerst selten persönlich geantwortet. Vielleicht war ihm mit dem Artikel die Möglichkeit gegeben, einen Dank an alle nachzuholen.
„Na gut“, stimmte er zu. „Was willst du über mich schreiben?“
„Wie gefällt dir deine Arbeit als Lehrer?“
Ein seliges Lächeln zierte sein Gesicht. „Es ist schön. Mir gefällt es, mit Kindern zu arbeiten. Ich kann mir vorstellen, mit noch jüngeren etwas zu machen. Vielleicht mit denen, die seit dem Krieg keine Eltern mehr haben.“
„Die meisten haben wieder Eltern, Harry. In der magischen Welt geht das schneller als in der Muggelwelt. Kinder bleiben nicht lange allein.“
„Hört sich an“, sagte er grinsend, „als würdest du aus Erfahrung sprechen.“
Ihr fröhliches Gesicht änderte die Miene nicht, als sie erzählte: „Nachdem meine Mutter gestorben war, musste Vater ins Krankenhaus. Er war am Arm verletzt, war zu dicht am Schuppen dran, als der explodierte. Und später, da war mein Vater so traurig über ihren Tod, dass sie ihn noch im Krankenhaus behalten mussten. Man hat mich gefragt, bei wem ich leben möchte, bis es ihm wieder gut geht.“
„Tatsächlich?“, flüsterte er. „Das wusste ich gar nicht.“
„Es waren nur acht Monate. Die Nachbarn haben mich aufgenommen. So war ich immer in meiner vertrauten Umgebung.“
„Mmmh“, summte Harry. „Scheint so, als würden die Zauberer sich prächtig um die Kinder ihrer Welt kümmern.“
„Solange diese Kinder zaubern können …“
Irritiert schaute er zur Seite, um ihr Profil zu studieren. „Wie meinst du das?“
„Squibs sind nicht beliebt. Sie finden keine Eltern. Keiner will sie.“
Ein Gefühl der Ohnmacht kam in Harry auf, als er von dieser Ungerechtigkeit hörte. Squibs waren genauso freundliche und verspielte Kinder wie Zauberer und hatten es verdient, die gleiche Behandlung zu erhalten.
„Aber dagegen muss man doch was tun können?“, murmelte er gedankenverloren.
„Vielleicht wirst sogar du später mal etwas dagegen tun. Aber zurück zu dir. Wie lange hast du vor, in Hogwarts zu arbeiten?“
„Das kann ich nicht genau sagen. Albus hat mir nach dem Krieg die Schule als Unterschlupf angeboten; der Lehrerjob ergab sich als Zufall. Den vielen Menschen wollte ich mich nicht auf den unzähligen Siegesfeiern stellen. Ich konnte einfach nicht. Mit so etwas kann ich wenig anfangen, auch wenn ich verstehe, dass sie mich sehen wollen, mit mir reden wollen. Ich möchte eigentlich nur meine Ruhe haben. Es ist nicht böse gemeint, aber endlich habe ich nach seinem Tod …“, er verbesserte, „nach Voldemorts Tod die Möglichkeit, ein normales Leben zu führen. Normal zu sein.“
„Warst du als kleines Kind denn nicht normal?“, wollte sie wissen, weswegen er betreten das Gesicht verzog. „Harry, würdest du deine Kindheit als normal beschreiben?“
„Es gibt Menschen, deren Kindheit weitaus schlechter verlaufen ist als meine. Natürlich hätte meine auch besser sein können. Auf sehr vieles musste ich verzichten, darunter waren einige Dinge, die man einem Kind nicht vorenthalten sollte.“
„Und das wäre?“
Harry schluckte. Der Presse hatte er nie von seinen Muggelverwandten erzählt und er wusste nicht, ob er überhaupt wollte, dass fremde Menschen davon erfahren würden.
„Geburtstagsfeiern“, nannte er zögerlich als erstes Beispiel. „Ich hab nie eine Torte oder Geschenke bekommen, außer zu meinem elften. Da hat mir Hagrid einen Kuchen geschenkt.“ Seit dem Tag hatte sich sein Leben schlagartig verändert. Luna wartete geduldig, bis er weitere Beispiele nannte, auf die er als Kind verzichten musste. „Ich hatte keine Freunde, kaum Spaß und …“ Er musste kräftig schlucken. „Zuneigung fehlte völlig. Was meine Eltern mir vor ihrem Tod an Liebe gegeben haben, musste für die nächsten zehn Jahre reichen.“ Normal hatten seine Verwandten ihn nie behandelt. Für sie war er eine Missgeburt gewesen, die man zwar durchfüttern musste, aber nicht lieben brauchte.
„Und jetzt?“ Luna blickte nach oben gen Himmel und beobachtete die Wolken, die über die Baumwipfel zogen. „Geburtstagsfeiern, Geschenke, Freunde?“ Sie forderte ihn auf nette Weise auf, noch ein wenig zu erzählen.
„Nachdem ich das erste Mal Hogwarts betrat, war das so, als würde ich mit nur einem einzigen Schritt mein altes Leben verlassen. Schon im Zug bin ich auf jemand getroffen, der bis heute mein bester Freund ist. So etwas erfahren zu dürfen ist unbezahlbar. Freunde meine ich. Freunde sind unbezahlbar. Kein Geschenk ist wertvoller.“
Völlig unerwartet fand er sich mit einem Armvoll Luna wieder, die ihn so fest an sich drückte, dass er beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. Plötzlich hörten beide hinter sich ein glucksendes Geräusch, weil etwas im Wasser gesprungen war.
„Da, der sprechende Fisch!“
Mit Harry im Arm schaute Luna hinter sich und zeigte aufgeregt auf die Stelle, und als Harry sich ebenfalls umdrehte, begann der Stamm zu wackeln. Beide klammerten sich aneinander, bis sie am Ende doch die Balance verloren und rücklings ins Wasser plumpsten.
Der Schultag verging ruhig, so schien es jedenfalls. Severus war etwas durcheinander. Der Unterricht rauschte so schnell an ihm vorbei wie die Landschaft am Fenster, wenn man in einem Abteil des Hogwarts-Express saß. Einerseits wollte er Hermine den Gefallen tun und seine Animagusform zum Vorschein bringen, andererseits war er nicht gewillt, Minerva um Hilfe zu bitten. Allein würde er es jedoch nicht bewerkstelligen, weil er eine nicht zu leugnende Abscheu gegen diese Art der Verwandlung hegte und gerade diese ablehnende Haltung einem Erfolg im Wege stehen würde. Er war unschlüssig. Minerva würde ihm sicherlich in Windeseile das Wissen vermitteln, das er für eine erfolgreiche Verwandlung benötigte, doch ihm gefiel nicht, sich ihr auf diese sehr persönliche Weise offenbaren zu müssen.
Es war die Hoffnung, eines Tages wieder fühlen zu dürfen, die den Entschluss für ihn fällte.
„Minerva?“ Die Angesprochene blieb auf ihrem Weg in die große Halle, in der gerade das Abendessen serviert wurde, stehen. „Ich möchte dir ein Anliegen vorbringen. Unter vier Augen, wenn möglich.“
„Du möchtest etwas von mir, Severus?“ Nur ihre Stirn kräuselte sich vor Verwunderung, während sie ihn mit ansonsten neutralem Gesichtsausdruck musterte. „Da bin ich aber gespannt.“
Sie folgte ihm ins Lehrerzimmer, das sie nun zur Essenszeit ganz für sich allein hatten und begutachtete ihren jungen Kollegen geduldig. Severus gab nicht sofort preis, über was er mit ihr reden wollte. Einen Moment gönnte sie ihm noch, beobachtete währenddessen die deutliche Zerrissenheit, die für ihn sehr untypisch war. Er blickte sie mehrmals an, versuchte ein Gespräch zu beginnen, doch stoppte er sich jedesmal wieder selbst, um seine Worte zu überdenken. Als er tief durchatmete, war für Minerva ersichtlich, dass er sich zusammenriss.
„Ich wäre gezwungen, dir einen Fluch entgegenzuwerfen, solltest du mich wegen der Bitte, die ich gleich an dich richte, verspotten.“
Gemächlich legte sie eine Hand in die andere und blickte ihn dabei streng an. „Das, Severus, ist wahrlich der falsche Weg, um an mich heranzutreten, denn wie du ja bereits betont hast, bist du derjenige, der etwas von mir möchte.“ Sie schnaufte echauffiert. „Mir drohen? Ich bitte dich!“
„Es war lediglich als Aufforderung gedacht, mich ernst zu nehmen.“
„Was mir schwerfällt, wenn du so von mir denkst. Ich bin kein Feind, den man im Vorfeld zurechtweisen muss, Severus. Wir sind Kollegen, also behandle mich entsprechend.“
„Du musst meine Worte nicht überbewerten. Würde es einen einfacheren Weg geben, wäre ich nicht gezwungen, deinen Rat einzuholen.“
Minerva spitzte die Ohren. Noch nie war sie von Severus nach Rat gefragt worden, nicht in schulischen Belangen und schon gar nicht in persönlichen. Ein ungutes Gefühl machte sich in ihr breit.
„Severus, was ist? Geht es um einen Schüler? Ist etwas vorgefallen?“
„Nein“, beruhigte er, „nichts dergleichen. Es geht um eine Fähigkeit, in der ich Einweisung benötige.“
„Fähigkeit?“, platzte es ungläubig aus Minerva heraus. Was, fragte sie sich, könnte sie besser als er selbst? „Geht es um einen komplizierten Verwandlungszauber? Du weißt, Severus, dass ich für schwierige Aufgaben dieser Art immer zu haben bin“, verkündete sie stolz. „Nun sprich!“
„In gewisser Weise geht es um Verwandlung. Um genau zu sein, um tierische Formen.“
„Ah“, machte sie, als sie begriffen hatte. „Es geht um die Animagusform. Wer deiner Schützlinge ist es denn, der Potenzial zeigt?“
„Wie schon gesagt geht es nicht um einen Schüler.“
Eine Weile blickte sie ihn an, blinzelte dabei nachdenklich. Sie wollte nicht sagen, was ihr auf der Zunge lag, denn sie würde sicher falsch damit liegen, dass er sich selbst meinen könnte. Sie rief sich seine Worte ins Gedächtnis zurück. ‘Es geht um eine Fähigkeit, in der ich Einweisung benötige‘, hörte sie seine Stimme. Sie konnte sich nicht irren.
„Du selbst?“
Severus nickte. „Ich wäre dir sehr verbunden, würdest du mir hilfreiche Lektüre empfehlen, damit ich …“
Sie war so erstaunt, dass sie ihn unterbrach, ohne es selbst zu merken. „Du möchtest deine Animagusform finden?“ Missgestimmt über ihre Unterbrechung nickte er lediglich. „Das ist …“ Sie war sprachlos.
„Ein paar Buchtitel“, fuhr er fort, „Anleitungen für Konzentrationsübungen und die Klärung wichtiger Abläufe, mehr benötige ich nicht, Minerva.“
Endlich war sie wieder bei Sinnen. Breit grinsend zeigte sie ihm ihre Beglückwünschung zu dieser Entscheidung, die er mit verzogenem Mund kommentierte. Wenige Augenblicke später war Minerva voll in ihrem Element.
„Jedes Buch über die Wandlung zum Tier wird dir ans Herz legen, niemals allein nach dem Wesen in dir zu suchen. Es ist viel zu gefährlich!“
Ihren Ratschlag schlug er mit einem hämischen Grinsen in den Wind. „Das lass nur meine Sorge sein, Minerva.“
„Nichts da, Severus. Ich werde so eine risikobereite Ansicht nicht auch noch unterstützen. Die Mahnung, in Anwesenheit einer zweiten Person an der Animagusform zu arbeiten, kommt nicht von ungefähr.“
„Was meinst du mit risikobereit? Ich möchte so lernen, wie immer. Viele Dinge habe ich mir autodidaktisch angeeignet. Ich benötige kein Aufsichtspersonal.“
„Wie ich sehe, wäre es angemessen, deinen Dickkopf zunächst mit einer ganz anderen Lektüre zu füllen. Es gibt nicht wenige Berichte über Menschen, die sich verloren haben.“ Solche Warnungen würde Minerva nicht aus Jux und Tollerei von sich geben, das wusste Severus. Geduldig hörte er ihrer Ausführung zu. „Vor lauter Euphorie über die erste geglückte Verwandlung zum Tier ist so manch einem Alleingänger die Fähigkeit abhanden gekommen, sich auch wieder in einen Menschen zurückverwandeln zu können. In solchen Fällen muss die Person einschreiten, die du als ‘Aufsichtspersonal‘ bezeichnest. Es gibt Gründe, warum das Ministerium jeden Animagus registriert sehen möchte. Nicht weil sie dann Kontrolle über sie haben, sondern weil es einem nicht registrierten Tier sehr schwerfallen würde, auf sich und sein Problem bei der Rückverwandlung aufmerksam zu machen. Versuch nur mal als Schnecke, mit einem Menschen Kontakt aufzunehmen.“
„Als Schnecke?“
„Oder was auch immer du sein magst.“
Er kniff die Augen zusammen. „Ganz sicher nicht so ein träges Tier. Warum nennst du gerade das als Beispiel?“
„Verzeih mir, ich habe wohl an die ganzen Gläser denken müssen, die in deinem Büro stehen.“ An die schleimigen Kreaturen in ihnen, dachte sie mit zurückhaltend belustigter Miene.
Wieder schien Severus abzuwägen, wie er reagieren sollte. Minerva glaubte, es wäre an der Zeit, ihre Hilfe direkt anzubieten.
„Du kannst nach dem Abendessen in mein Büro kommen, um alle Aspekte zu besprechen, die dich interessieren. Ich werde es dennoch nicht zulassen, dass du in dieser Angelegenheit allein tätig wirst. Jeder erfolgreiche Animagus hat mit einem Vertrauten zusammengearbeitet, Severus. Viele von denen, die es ohne Hilfe überwinden wollten, wurden von der Panik übermannt, als die Rückverwandlung auf sich warten ließ.“
Den Termin für eine Unterredung nahm Severus sofort an. Nach dem Abendessen fand er sich sehr pünktlich bei Minerva ein, womit er ihr ungewollt die Dringlichkeit offenbarte.
„Severus, tritt ein und nimm Platz.“
Mit einer Geste ihrer Hand deutete sie auf einen Sessel am Kamin, der von seinem Zwillingsbruder durch ein kleines Beistelltischlein getrennt war. Auf dem anderen nahm sie Platz, bevor sie in lehrerhafter Stimme mit den Fakten begann.
„Ein Animagus kann in jedem Zauberer und in jeder Hexe darauf warten, erweckt zu werden. Ihn zu finden schreckt viele leider ab. Es gibt Menschen, die Vorlieben und Abneigungen gegenüber gewissen Tierarten haben.“ Sie blickte ihn an. „Gibt es ein Tier, dem du weniger zugetan bist?“
Gelassen hob und senkte er seine Schultern. „Nein, es ist mir gleichgültig.“
„Das ist die beste Voraussetzung, Severus. Selbst ich konnte es damals nicht vermeiden, unbewusst das eine Tier zu bevorzugen und ein anderes zu verabscheuen. Nur sehr schwer hätte ich die Form eines Reptils akzeptieren können.“
„Warum warst du damals so darauf erpicht, deine Animagusform zu finden, wenn du nicht ausschließen konntest, womöglich zu einem Tier zu werden, das du widerlich findest?“
„Weil es am Ende auch mir egal war. Die Chance war gering, dass meine Persönlichkeit einem Waran entsprechen könnte. Du weißt sicherlich, dass ein Animagus der Persönlichkeit entspringt. Einmal gefunden wird er ewig diese Gestalt beibehalten, dein zweites Ich werden und zusammen mit dir altern.“
‘Zweites Ich‘, wiederholte Severus in Gedanken. Mit einem Male war auch er von Hermines Theorie überzeugt, sein Animagus würde eine eigene Seele besitzen. Was ihm Sorgen machte, war die Vermutung, sich mit seiner momentan beschränkten Fähigkeit zu Emotionen überhaupt in ein Tier verwandeln zu können. Er war dennoch bereit, es wenigstens zu versuchen. Wenn selbst so ein durchschnittlich begabter Mensch wie Pettigrew in der Lage gewesen war, eine Gestalt zu finden, würde es ihm nicht sonderlich schwerfallen dürfen.
„Darf ich nach deinen Ambitionen fragen, Severus?“
„Darfst du nicht“, erwiderte er knapp, was sie verärgerte.
„Ich frage aus einem bestimmten Grund und nicht aus Neugierde. Eine hohe Erwartungshaltung an sich selbst kann den Erfolg nämlich vereiteln. Sich zu einer Verwandlung zu entscheiden sollte nicht aus einem inneren Druck heraus resultieren.“ Minerva dachte an einige ehemalige Studenten, die ihre Animagusform unbedingt finden wollten, um somit ihren Beruf als Auror zu bereichern, doch gerade dieser innige Wunsch behinderte den Fortschritt.
„Lass mich dir versichern, dass ich nicht unter psychischem Druck stehe. Ich will den Versuch starten. Sollte es mir versagt bleiben, eine Form zu finden, werde ich daran sicherlich nicht zerbrechen.“
Seinen Worten mussten sie innerlich zustimmen. Severus wirkte nicht wie jemand, der alles in seiner Macht stehende tun würde, seine Form zu erlangen und noch weniger würde er daran zugrunde gehen, sollte er bei diesem Vorhaben scheitern.
„Nun gut, dann sollten wir mit der Theorie beginnen.“ Minerva ging hinüber zu einem Bücherregel zog einen dicken Wälzer hinaus, den sie mit zurück zum Sessel nahm. „Wie in jedem Fach muss man sich zunächst darüber informieren, was summa summarum auf einen zukommt. Du lässt deine Erstklässler auch nicht sofort mit Zutaten hantieren und sie nach Lust und Laune fröhlich in einen Kessel werfen.“
Dass Minerva ihn indirekt als Schüler betrachtete, konnte er nur schwer verdauen. Trotzdem musste er sich eingestehen, dass sie Recht hatte. Er war hier, um sich durch ihr Wissen und mit Hilfe ihrer eigenen Erfahrungen in die Materie einzuarbeiten.
„Zu den wichtigsten Punkten: Die erste Verwandlung ist nicht nur entscheidend, sondern stellt zudem die schwierigste Prozedur dar. Die Arbeit ist aber noch lange nicht erledigt, solltest du deinen Animagus gefunden haben. Die Rückwandlung ist genauso anstrengend. Hast du beides ein einziges Mal erfolgreich bewerkstelligt, wird es dir nie wieder Probleme bereiten.“ Interessiert blickte Severus auf, als Minerva ein Beispiel nannte. „Das ist wie mit Besenfliegen, das verlernst du auch nicht mehr.“
Severus wusste, was sie meinte. Lange Zeit hatte er einen Besen nicht mehr angerührt, doch als er damals von Albus während Harrys erstem Schuljahr zum Schiedsrichter eines Quidditch-Spiels bestimmt wurde, war es zwar ein ungewöhnliches Gefühl, wieder auf einem Besen zu sitzen, aber er beherrschte es einwandfrei.
„Du, Severus, meisterst etwas, das dir dabei hilft, deinen Geist von allen beeinflussenden Dingen zu leeren.“
„Die Vorstufe der Okklumentik“, vermutete er laut.
„Ganz genau. In der Regel würde nun eine Meditationstechnik folgen, mit der du dich von allen Wünschen bezüglich deiner Form lösen kannst.“
„Ich habe keine Wünsche, Minerva“, brachte er in Erinnerung.
„Das sagtest du bereits. Konzentrationsübungen wie die, die man beim Erlernen der Okklumentik anwendet, werden dir helfen, dich von allen äußeren Einflüssen abzuschotten, damit du in aller Ruhe in dich hineinsehen kannst. Suche nicht nach einer bestimmten Form – such einfach.“
„Wie soll ich das anstellen?“ Severus war ratlos. Man konnte nur nach etwas suchen, wenn man eine vage Vorstellung davon hatte, wie es aussehen könnte.
„Du wirst es finden, auch wenn du nicht weißt, nach was du Ausschau halten sollst. Viele finden ihre Form nicht, weil sie nach ihren Vorlieben suchen oder weil sie sich auf das, was sie aufspüren, nicht einlassen möchten.“ Mit strenger Miene blickte Minerva zu ihm hinüber. „Sag mir, Severus: Was würdest du tun, solltest du einen Hirsch in dir finden? Nimmst du die Gestalt an oder verachtest du sie?“
Daran hatte er bisher keinen Gedanken verschwendet. Er wusste nicht, wie er reagieren würde, sollte seine Animagusform mit der seines ehemaligen Rivalen übereinstimmen. Grauenvoller wäre es für ihn, sollte eine Ratte in ihm schlummern oder ein Hund.
„Willst du absichtlich Aversionen schüren, damit es mir schwerer fällt?“
„Ich will dich vorbereiten, mein lieber Kollege. Wenn du ein Animagus werden willst, dann muss es dir vollkommen gleichgültig sein, wie deine Form aussehen wird.“
„Wie bitte soll ich nach etwas suchen, von dem ich nicht die geringste Ahnung habe, wie es überhaupt aussehen könnte?“
„Kein Grund, so grantig zu werden“, mahnte sie ihn. „Sei offen für alles, was deine Persönlichkeit dir an Form anbietet. Lass mich dir etwas vorlesen, das seit fast zweihundert Jahren in fast jedem Buch über Animagusformen zitiert wird.“
Das dicke Buch auf ihrem Schoß schlug sie auf, aber sie blätterte nicht viel herum, sondern widmete sich gleich dem Vorwort, das sie mit ruhiger Stimme und hörbarer Verzückung vorlas.
„Wenn mein ruheloser Geist in die Verachtung aller Dinge und Menschen zurücksinkt, berauscht sich mein tierischer Leib an allen Trunkenheiten des Lebens. Ich liebe den Himmel wie ein Vogel, die Wälder wie ein schweifender Wolf, die Felsen wie eine Gemse, das hohe Gras, um mich darin zu wälzen, um mich wie ein Pferd darin zu tummeln, und das klare Wasser, um wie ein Fisch darin zu schwimmen. In mir schauert etwas von allen Tieren, von allen Instinkten, von allen dumpfen Begierden der niederen Geschöpfe. Ich liebe mit einer tierischen, tiefen, heiligen und erbärmlichen Liebe alles, was lebt, was wächst, was man sieht.“
Minerva schloss das Buch und ließ Severus einen Moment über diese Worte nachdenken. Den Sinn hatte er sicherlich verstanden, doch sie wollte es klar und deutlich aussprechen.
„Es ist vollkommen egal, was du bist, Severus. Du wirst an jeder Form Gefallen finden, denn es ist nicht nur die Form selbst, sondern das, was du mit ihr wahrnehmen wirst. Die Welt um dich herum wird deine Sinne bereichern. Das ist es, was diese Worte vermitteln können.“
„Von welchem Zauberer stammt der Text?“
„Oh“, sie lächelte und schüttelte den Kopf, „von keinem Zauberer. Derjenige, der die Gefühle für seine Umwelt auf diese Weise festgehalten hat, war ein Muggel.“
„Ein Muggel?“
„Guy de Maupassant, ein französischer Schriftsteller. Jemand, der ohne es zu wissen jedem Animagi aus dem Herzen sprach.“
Gefühlvoll strich Minerva mit ihren Fingern über den ledernen Deckel, bevor sie Severus das Buch reichte.
„Lies die ersten drei Kapitel. Morgen beginnen wir mit der Suche.“
„Morgen kann ich leider nicht, Minerva.“
„Warum? Es wird Hermine nicht umbringen, wenn du einen Samstag mal fernbleiben wirst. Meine Zeit ist auch begrenzt, Severus.“
Mit einem Blick, der töten könnte, rügte er Minerva für ihre ausfallende Bemerkung, bevor er sich dazu aufraffte, ihr den wahren Grund zu nennen. „Nicht die Apotheke ist mein morgiges Ziel, sondern der Herr, der es Hermine erst ermöglichte, sie zu erwerben.“
„Wie soll ich das verstehen?“
Severus erhob sich von seinem Stuhl. Das Buch klemmte er unter den Arm. „Ich werde morgen mit Mr. und Mrs. Granger zusammentreffen.“
„Oh“, war ihr einziges Wort, mit dem sie ihrer Überraschung Ausdruck verleihen konnte.
„Oh“ machte auch Harry, der von Sirius eine Eule erhalten hatte. Eine Abschrift des Gesetzestextes bezüglich der Arbeitsrechte für Werwölfe war ihm zugesandt worden. Anbei auch eine Kopie der geplanten Regelungen für Kobolde und Hauselfen, die demnächst Zauberstäbe tragen durften, wenn sie es wünschten.
„Was hast du da?“ Ginny war ins Wohnzimmer getreten und betrachtete die dicke Mappe, die von einer sehr großen und kräftigen Eule gebracht worden war.
„Sirius hat mir was geschickt. Ach ja, Ginny, ich treffe mich heute mit Luna, wenn du nichts dagegen hast.“
„Warum sollte ich etwas dagegen haben? Grüß sie von mir.“
Per Apparation suchte Harry das Haus von Lunas Vaters auf. Nachdem er den Garten betreten hatte, sah er überall die wunderschönen Blumen aus der Erde sprießen. Der Mai sorgte für eine wahre Augenweide. Er schritt an Blumen mit herzförmigen Blüten vorbei und an welchen mit so vielen Blättern, dass man sie nicht einmal zählen könnte. Weiter hinten in der Nähe zweier Birnenbäume bemerkte er die Überreste eines großen Schuppens. Laut Lunas Aussage hatte ihre Mutter dort früher Experimente gemacht. Nach der Explosion, bei der ihre Mutter starb, hatte ihr Vater es nicht übers Herz gebracht, die Überreste des Gebäudes abzureißen.
An der Tür angekommen klopfte er. Es war ihr Vater, der ihn begrüßte.
„Mr. Potter! Das ist schön, dass wir uns mal wieder gegenüberstehen. Es muss mehr als ein Jahr her sein, als Sie das letzte Mal hier waren.“ Harrys Hand wurde so sehr geschüttelt, dass er sie für einen Augenblick in Gefahr sah.
Von hinten hörte man Lunas Stimme sagen: „Wir werden nicht bleiben, Vater. Harry und ich gehen ein wenig raus, damit wir unsere Ruhe haben.“
„Sicher, Schatz. Viel Spaß euch beiden. Und Mr. Potter …?“ Harry drehte sich nochmals zu Lunas Vater um. „Es wäre mir eine Ehre, Sie für ein Interview für den Klitterer zu gewinnen.“
Harry runzelte die Stirn. „Über was möchten Sie mich denn befragen?“
„Ihre Meinung zu Heliopathen und ihre heutige Rolle für den Minister. Oder auch über Schrumpfhörnige Schnarchkackler und wie sie …“
„Bis nachher, Dad.“
Luna nahm Harry am Oberarm und rettete ihn vor den seltsamen Themen, über die man ständig im Klitterer lesen konnte. Sie gingen zusammen in die Nähe des anliegenden Waldes.
„Es tut mir leid, wenn mein Vater …“
„Nein, nein“, winkte Harry ab. „Es ist in Ordnung. Den Klitterer lese ich sehr gern, weißt du? Habe ihn sogar abonniert. Er ist um Längen interessanter als der Tagesprophet und enthält auch viel weniger Lügen.“
Dankbar lächelnd drückte sie einmal seine Hand. „Es würde Vater gefallen, wenn er wüsste, dass du so über seine Zeitschrift denkst.“
„Wo gehen wir hin?“, wollte Harry wissen, als sie ihn in den Wald zu führen gedachte.
„Ganz in der Nähe ist ein See. Wir können uns auf die Baumstümpfe setzen und unser Interview halten.“ Mit leuchtenden Augen fügte sie hinzu: „Und wenn wir Glück haben, dann sehen wir den sprechenden Fisch.“
„Den sprechenden Fisch?“
„Meine Mutter hat mir früher das Märchen vorgelesen.“
„Wäre es aber nicht besser, den Fisch nicht zur zu sehen, sondern auch reden zu hören?“ Harry grinste. „Ich meine nur, damit man auch weiß, dass es der Richtige ist.“
„Mir würde es schon reichen, ihn nur zu sehen“, beteuerte Luna.
Der See war schnell erreicht. Wie Luna es gesagt hatte fanden sich hier Baumstümpfe, die dem letzten großen Sturm offenbar nicht standgehalten hatten. Einige Stämme ragten bis ins Wasser.
„Wo setzen wir uns hin?“ Harry blickte sich um, um nach einem hübschen Plätzchen zu suchen und bemerkte, wie Luna ihre Schuhe und Strümpfe auszog und barfuß auf einen der Stämme zuging, von dem ein Ende über dem Wasser schwebte. „Pass auf, Luna!“
„Setzen wir uns hier hin.“
Sie hatte bereits den Baumstamm betreten und ging so weit, wie es möglich war, bevor sie sich setzte und die Füße im Wasser baumeln ließ. Harry folgte ihr, jedoch mit Schuhwerk. Luna hatte längst ihre magische Schreibfeder ausgepackt, die vor den beiden in Kopfhöhe schwebte. Vorsichtig, damit er nicht hineinfallen würde, hockte er sich erst hin und ging dann in eine sitzende Position über. Erst jetzt hatte er einen Augenblick Zeit, sich die Gegend anzusehen. Sie war so traumhaft schön, dass es ihm den Atem verschlug. An den Seiten des Sees wuchs eine Art Schilf. Jeder Grünton war hier vertreten. Die Bäume rundherum trugen längst ihr Blätterkleid und an ihren Wurzeln hatte sich Moos niedergelassen. Harry kam es so vor, als würde er alles wie durch einen Weichzeichner sehen. Die Gegend schien einem Märchen entsprungen. Sollte Luna sich seit ihrer Kindheit häufiger hier aufhalten, dachte Harry, dann war es verständlich, warum sie diesen verträumten Blick innehatte. Der Ort konnte verzaubern und das ganz ohne Magie.
„Gibt’s hier Grindelohs?“, wollte er wissen, als er Lunas Füße unter der Wasseroberfläche verzerrt ausmachen konnte.
„Wenn, dann hat mich all die Jahre nie einer angefallen.“ Luna winkte in Richtung ihrer Schreibfeder, die in Reichweite über dem Schreibblock schwebte. „Du besitzt einen Hauself, Harry.“ Harry war von der plötzlich schreibenden Feder irritiert wie auch von Lunas abrupten Themenwechsel. Das Interview hatte begonnen. „Wie beschreibst du dein Verhältnis zu ihm?“
„Ich, ähm, ich würde sagen, freundschaftlich. Ja, freundschaftlich“, bestätigte er nochmals. „Ich mag ihn und ich denke, er mag mich auch.“
„Was ist seine Aufgabe?“
„Er kümmert sich um unser Kind, wenn Ginny noch in der Schule ist und ich bei der Arbeit.“
„Ein Kindermädchen?“
Sich Wobbel mit der Bezeichnung Kindermädchen vorzustellen war seltsam. „Ja, so eine Art. Ich würde ihn als Betreuer bezeichnen.“
Die Feder schrieb alles mit. „Was tut er noch?“
„Eigentlich macht er alles, beziehungsweise will er alles machen, aber manche Dinge möchte ich allein erledigen. Außerdem gibt er mir gute Ratschläge, wenn ich mal nicht weiter weiß.“
„Wenn du es ihm befielst?“, fragte sie provozierend.
„Nein! Ich befehle ihm nichts, ich bitte ihn. Manchmal macht er von sich aus Vorschläge. Er arbeitet sehr selbstständig. Mir gefällt, dass er mitdenkt und nicht einfach alles hinnimmt.“
Luna nickte und spielte dabei mit ihren Füßen im Wasser. „Glaubst du, dein Elf hat es gut bei dir?“
Einen Moment lang überlegte Harry, obwohl es da nichts zu überlegen gab. „Er hat es gut bei mir, aber sicher kann ich mir nur sein, wenn er nicht mein Elf wäre, sondern nur für mich arbeiten würde. Gegen Bezahlung meine ich.“
„Dann befürwortest du die Bezahlung von Hauselfen für ihre Arbeit?“
„Ja, das tu ich. Ich weiß aber auch, dass die meisten Elfen das nicht möchten. Das ist schade. Ich kenne zwei freie Hauselfen. Der eine kommt mit seiner Situation bestens zurecht, die andere leidet darunter. Es ist wohl tief in ihrer Geschichte verankert, dass Hauselfen sich für ihren Herrn aufopfern wollen, ohne Rücksicht auf Verluste.“
„Was meinst du mit ‘ohne Rücksicht auf Verluste‘?“, fragte Luna nach.
„Na ja, nicht jeder Elf wird von seinem Herrn gut behandelt. Es gibt Schläge und andere Bestrafungen für Missgeschicke oder Fehler, die ein Elf macht. Das ist nicht richtig.“
„Die Elfen stören sich nicht daran.“
„Luna!“ Aufgebracht schüttelte er den Kopf. „Die Elfen würden sich nie gegen ihre Herren auflehnen oder sie zurechtweisen, das weißt du doch. Es ist nicht notwendig, den Elfen zu sagen, dass körperliche Bestrafung falsch ist – man muss es den Hexen und Zauberern beibringen!“
Luna lächelte verträumt. Natürlich wusste sie, was Harry meinte, aber nur auf diese Weise kam ein Gespräch zustande, das sie für einen journalistischen Beitrag überarbeiten konnte.
„Die Elfen sind für viele nur eine Sache, die sie nach Lust und Laune behandeln können“, rief sie ihm ins Gedächtnis zurück.
„Leider ist das so!“, stimmte Harry ihr zu. „Es ist einfach nicht richtig. Haustiere werden viel besser behandelt als Hauselfen, dabei können sie so viel tun und sind so nett. Mein Hauself ist mein Freund! Ich habe ihn nie als Eigentum betrachtet und auch niemals so behandelt, kannst ihn fragen.“
„Ein Elf würde jemand anderem gegenüber nicht die Wahrheit sagen, wenn er damit gegen den Willen seines Herrn verstoßen würde.“
Harry schnaufte. „Dann muss man es eben so regeln, dass die Elfen eine Anlaufstelle haben, falls sie misshandelt werden. Man darf sich nicht als Mensch bezeichnen, wenn man wie eine Bestie handelt.“
„Oh Harry, das war ein wunderschöner Satz. Den übernehme ich eins zu eins“, schwärmte Luna, die ihn damit aus dem Gleichgewicht brachte, denn er hatte sich gerade warm geredet.
Eine Weile redeten sie noch über Elfen und ihre Aufgabe in der Zaubererwelt, zudem über Zauberer und Hexen, die die Verantwortung für diese Mitlebewesen übernahmen. Harry hatte Luna die Gesetzesentwürfe gezeigt, so dass sich ihr Thema bald nicht mehr nur auf die Elfen beschränkte, sondern auch – wie Sirius es schon vorgeschlagen hatte – über die Möglichkeit, ihnen Zauberstäbe zu gewähren. Geschickt lenkte Luna das Thema auf die wirtschaftlichen Aspekte, die so eine gesetzliche Entscheidung mit sich bringen würde.
Die Werwölfe waren das nächste Thema. Oft musste sich Harry zurückhalten, um Remus nicht beim Namen zu nennen, denn bei fast jedem Satz dachte er nur an ihn und wie schwer er es gehabt hatte, einen anständigen Job zu finden. Wolfsbanntränke, verbesserte Arbeitsgesetze, mehr Aufklärung und weniger Vorurteile waren die Dinge, die Harry mit seiner Meinung über Werwölfe zu vermitteln hoffte. Langsam wurde es dunkler, so dass Luna das Ende des Interviews ansteuerte.
„Erzähl mir, was du so in deinem Leben machst, Harry.“
Er konnte nichts dagegen tun, sein Gesicht zu verziehen. „Warum willst du unbedingt darüber schreiben?“
„Weil die Menschen nach dem Krieg nichts mehr von dir gehört haben. Journalisten stürzen sich auf deine Freunde und ehemaligen Klassenkameraden, die nur vereinzelt Informationen über dich preisgeben. Die Öffentlichkeit weiß nur, dass du jetzt in Hogwarts als Lehrer für Verteidigung gegen die Dunklen Künste arbeitest und dass du mit Ginny verlobt bist. Man weiß nicht, wie du dein Leben verbringst, aber die Leute würden es sehr gern wissen.“
„Ich weiß nicht, Luna …“
„Der Artikel würde viel mehr wirken, wenn er gleichzeitig Neuigkeiten über dein Leben enthält und nicht nur deine Meinung zu politischen Themen. Du musst aber nicht.“
Die Frage war, ob er der magischen Gesellschaft in dieser Hinsicht etwas schuldig war. Er wollte verneinen, dachte aber an die vielen Briefe, die man ihm besonders in den ersten Monaten nachdem dem Krieg geschickt hatte. Briefe von Kindern, die ihm mit einem gemalten Bild ihre Anerkennung zeigten. Briefe von Menschen, die ihm ihr Leben verdankten. Leute, von denen er niemals etwas gehört hatte, schrieben ihm noch heute und teilten ihm mit, wie glücklich sie wären, dass Voldemort nicht mehr existierte. Diesen Menschen hatte er nur äußerst selten persönlich geantwortet. Vielleicht war ihm mit dem Artikel die Möglichkeit gegeben, einen Dank an alle nachzuholen.
„Na gut“, stimmte er zu. „Was willst du über mich schreiben?“
„Wie gefällt dir deine Arbeit als Lehrer?“
Ein seliges Lächeln zierte sein Gesicht. „Es ist schön. Mir gefällt es, mit Kindern zu arbeiten. Ich kann mir vorstellen, mit noch jüngeren etwas zu machen. Vielleicht mit denen, die seit dem Krieg keine Eltern mehr haben.“
„Die meisten haben wieder Eltern, Harry. In der magischen Welt geht das schneller als in der Muggelwelt. Kinder bleiben nicht lange allein.“
„Hört sich an“, sagte er grinsend, „als würdest du aus Erfahrung sprechen.“
Ihr fröhliches Gesicht änderte die Miene nicht, als sie erzählte: „Nachdem meine Mutter gestorben war, musste Vater ins Krankenhaus. Er war am Arm verletzt, war zu dicht am Schuppen dran, als der explodierte. Und später, da war mein Vater so traurig über ihren Tod, dass sie ihn noch im Krankenhaus behalten mussten. Man hat mich gefragt, bei wem ich leben möchte, bis es ihm wieder gut geht.“
„Tatsächlich?“, flüsterte er. „Das wusste ich gar nicht.“
„Es waren nur acht Monate. Die Nachbarn haben mich aufgenommen. So war ich immer in meiner vertrauten Umgebung.“
„Mmmh“, summte Harry. „Scheint so, als würden die Zauberer sich prächtig um die Kinder ihrer Welt kümmern.“
„Solange diese Kinder zaubern können …“
Irritiert schaute er zur Seite, um ihr Profil zu studieren. „Wie meinst du das?“
„Squibs sind nicht beliebt. Sie finden keine Eltern. Keiner will sie.“
Ein Gefühl der Ohnmacht kam in Harry auf, als er von dieser Ungerechtigkeit hörte. Squibs waren genauso freundliche und verspielte Kinder wie Zauberer und hatten es verdient, die gleiche Behandlung zu erhalten.
„Aber dagegen muss man doch was tun können?“, murmelte er gedankenverloren.
„Vielleicht wirst sogar du später mal etwas dagegen tun. Aber zurück zu dir. Wie lange hast du vor, in Hogwarts zu arbeiten?“
„Das kann ich nicht genau sagen. Albus hat mir nach dem Krieg die Schule als Unterschlupf angeboten; der Lehrerjob ergab sich als Zufall. Den vielen Menschen wollte ich mich nicht auf den unzähligen Siegesfeiern stellen. Ich konnte einfach nicht. Mit so etwas kann ich wenig anfangen, auch wenn ich verstehe, dass sie mich sehen wollen, mit mir reden wollen. Ich möchte eigentlich nur meine Ruhe haben. Es ist nicht böse gemeint, aber endlich habe ich nach seinem Tod …“, er verbesserte, „nach Voldemorts Tod die Möglichkeit, ein normales Leben zu führen. Normal zu sein.“
„Warst du als kleines Kind denn nicht normal?“, wollte sie wissen, weswegen er betreten das Gesicht verzog. „Harry, würdest du deine Kindheit als normal beschreiben?“
„Es gibt Menschen, deren Kindheit weitaus schlechter verlaufen ist als meine. Natürlich hätte meine auch besser sein können. Auf sehr vieles musste ich verzichten, darunter waren einige Dinge, die man einem Kind nicht vorenthalten sollte.“
„Und das wäre?“
Harry schluckte. Der Presse hatte er nie von seinen Muggelverwandten erzählt und er wusste nicht, ob er überhaupt wollte, dass fremde Menschen davon erfahren würden.
„Geburtstagsfeiern“, nannte er zögerlich als erstes Beispiel. „Ich hab nie eine Torte oder Geschenke bekommen, außer zu meinem elften. Da hat mir Hagrid einen Kuchen geschenkt.“ Seit dem Tag hatte sich sein Leben schlagartig verändert. Luna wartete geduldig, bis er weitere Beispiele nannte, auf die er als Kind verzichten musste. „Ich hatte keine Freunde, kaum Spaß und …“ Er musste kräftig schlucken. „Zuneigung fehlte völlig. Was meine Eltern mir vor ihrem Tod an Liebe gegeben haben, musste für die nächsten zehn Jahre reichen.“ Normal hatten seine Verwandten ihn nie behandelt. Für sie war er eine Missgeburt gewesen, die man zwar durchfüttern musste, aber nicht lieben brauchte.
„Und jetzt?“ Luna blickte nach oben gen Himmel und beobachtete die Wolken, die über die Baumwipfel zogen. „Geburtstagsfeiern, Geschenke, Freunde?“ Sie forderte ihn auf nette Weise auf, noch ein wenig zu erzählen.
„Nachdem ich das erste Mal Hogwarts betrat, war das so, als würde ich mit nur einem einzigen Schritt mein altes Leben verlassen. Schon im Zug bin ich auf jemand getroffen, der bis heute mein bester Freund ist. So etwas erfahren zu dürfen ist unbezahlbar. Freunde meine ich. Freunde sind unbezahlbar. Kein Geschenk ist wertvoller.“
Völlig unerwartet fand er sich mit einem Armvoll Luna wieder, die ihn so fest an sich drückte, dass er beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. Plötzlich hörten beide hinter sich ein glucksendes Geräusch, weil etwas im Wasser gesprungen war.
„Da, der sprechende Fisch!“
Mit Harry im Arm schaute Luna hinter sich und zeigte aufgeregt auf die Stelle, und als Harry sich ebenfalls umdrehte, begann der Stamm zu wackeln. Beide klammerten sich aneinander, bis sie am Ende doch die Balance verloren und rücklings ins Wasser plumpsten.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
~ Muggelchen.net ~
~ Muggelchen.net ~
- Muggelchen
- Eule
- Beiträge: 345
- Registriert: 07.06.2008 22:29
- Wohnort: Gemälde im 1. Stock
193 Buch der Freunde
Nach seinem Besuch bei Luna und dem unfreiwilligen Bad im See hatten sich beide mit einem Zauberspruch getrocknet. Trotzdem sah man besonders an Harrys Haaren, dass etwas nicht stimmte. Sie waren so aufgeplustert und wirr, dass man meinen könnte, er hätte sie nach dem Duschen nicht einmal gekämmt. Der sprechende Fisch entpuppte sich als riesiger Karpfen, der schon viele Jahre in diesem Gewässer hauste, bisher aber nie einen Ton von sich gegeben hatte.
Als Harry sein Zimmer betrat, blickte Ginny von ihren Hausaufgaben auf. Wie ein Magnet heftete sich ihr Blick auf seinen Schopf.
„Was ist denn mit dir passiert?“
„Ich …“ Weil ihre Augen auf seinen Kopf gerichtet waren, hob er eine Hand und befühlte mit der Handfläche die voluminös abstehende Frisur. „Ich hab den sprechenden Fisch gesehen.“
„Was bitte?“
Harry lachte über Ginnys Miene. „Ich war doch bei Luna.“
Er erzählte ihr, wie sein Tag verlaufen war. Das Interview mit Luna, der verträumt gelegene See, das Märchen vom sprechenden Fisch.
„Und er hat wirklich gesprochen?“
Harry schüttelte den Kopf. „Nein, aber das Tierchen ist ein Traum für jeden Angler. Von ihm könnten die ganzen Weasleys essen.“
Ginny bemerkte etwas an seiner Wange, was sie im ersten Augenblick für einen Knutschfleck hielt. Mit einem Zeigefinger berührte sie die kreisrunde Stelle. Sie brauchte nicht zu fragen, denn er erklärte von sich aus.
„Ach ja, wir haben herausgefunden, dass es in dem See bei Lunas Haus doch Grindelohs gibt.“ Der vermeintliche Knutschfleck entpuppte sich als Abdruck eines Saugnapfes. „Als wir ins Wasser gefallen sind, haben wir sie wahrscheinlich aus ihrem hundertjährigen Schlaf geweckt, denn sie hat vorher dort nie welche gesehen.“
„Ihr wolltet doch nur ein Interview führen“, rief sie ihm ins Gedächtnis zurück.
„Seit wann läuft mit Luna alles nach Schema F ab, Ginny? Das solltest du aber wissen.“
Er grinste breit. Der Tag hatte im sehr gefallen.
Sirius hingegen gefiel der Tag noch immer, beziehungsweise der Abend. Er war mit seiner Arbeit bei Sid mehr als zufrieden. Alles nahm Form an. Was bis dato nur Vorschläge oder Ideen gewesen waren, hatte er heute bereits als Entwurf in Textform lesen können. Sids sonderbar gründliche Art, alles verständlich und lückenlos niederzuschreiben, war Gold wert. Irgendwie mochte Sirius den Mann, bei dem er sich spät abends noch immer aufhielt.
„Mr. Black, Sie übernehmen die Aufgabe, Mr. Shacklebolt zu fragen, ob das Amt für die Neuzuteilung von Hauselfen in Zukunft in beratender Weise für die Elfen zur Verfügung stehen könnte, sonst wäre unser Punkt zum Schutz der Elfen nichtig. Eine Anlaufstelle für misshandelte Hauselfen ist zwingend notwendig. Hinzu kommt, dass die Abteilung eine Art Vorrecht am Besitz haben sollte.“
„Vorrecht am Besitz?“, fragte Sirius stirnrunzelnd.
„Nicht unbedingt am Besitz, aber ein Vorrecht in der Befehlsgewalt. Das wird auf die Eigentümer von Hauselfen hoffentlich einschüchternd wirken, wenn sie wissen, dass ein Teil der Mitarbeiter des Ministeriums das Recht haben, Elfen zu befragen und vor allem auch wahrheitsgemäße Antworten zu erhalten. Die Elfen haben sich schon immer an die Gesetze des Ministeriums gehalten, auch nachdem sie einer Familie zugeteilt wurden. Die Abteilung für die Neuzuteilung soll mit dem neuen Gesetz in dieser Hinsicht eine Sondergenehmigung bekommen. Ich habe das schon einmal schriftlich ausformuliert.“
Das Pergament reichte Sid seinem Gast, der es zweimal las, um den Inhalt besser im Gedächtnis zu behalten. Die besondere Bindung zwischen den Hauselfen und der Abteilung für die Neuzuordnung sollte dafür sorgen, dass Elfen nicht nur einen festen Ansprechpartner hätten, dem sie ihre Sorgen mitteilen konnten. Es war auch eine anonyme Anlaufstelle, denn den Eigentümern sollte es nicht erlaubt sein, den Hauselfen einen Besuch im Ministerium zu verwehren und schon gar nicht durften die Hauselfen mit ihren Herren über den Inhalt ihrer Gespräche reden.
„Wie wäre es“, Sirius gab Sid das Pergament zurück, „wenn wir gesetzlich festlegen, dass die Elfen einmal im Jahr im Ministerium vorstellig werden sollen?“ Sid kniff die Augen zusammen und wartete auf eine Erklärung, die Sirius ihm gern gab. „Damit die Eigentümer nicht den Elfen die Schuld geben können oder ihnen gegenüber misstrauisch werden, wenn sie sich entschließen sollten, sich mit ihrem Kummer ans Ministerium zu wenden. Es muss nicht für immer so bleiben, aber die ersten zwei, drei Jahre vielleicht. Dann würden wir auch schnell erfahren, welche Familien gegen die neuen Gesetze verstoßen und die Hauselfen trotzdem noch körperlich bestrafen.“
„Das ist gar keine so schlechte Idee, Mr. Black. Auf diese Weise ziehen nicht die Elfen den Zorn ihrer Herren auf sich, sondern das Ministerium. Ja“, er nickte, „machen wir es so.“
„Des Weiteren sollten wir auf jeden Fall die Freilassung der Elfen unterstützten. Wir könnten mit den Aussagen, die wir von den befragten Elfen haben, Standardarbeitsverträge vorformulieren. Es wird nicht viele, aber wenigstens ein paar Zauberer und Hexen geben, die so aufgeschlossen sind wie wir und ihre Elfen freilassen würden, um sie danach als Arbeitskraft einzustellen. Der Minister geht bereits mit gutem Beispiel voran. Bereits elf Prozent der Elfen, die im Ministerium beschäftigt sind, haben einen Arbeitsvertrag. Die anderen sträuben sich noch.“
Unerwartet rief Sid plötzlich den Elf, der ihnen vom Ministerium zugewiesen wurde, der geräuschlos im Wohnzimmer auftauchte.
„Was kann Smokey tun, Sir?“
Zu dem Elf war Sid genauso freundlich wie zu jedem Menschen. „Es wäre nett, wenn Sie mir bestimmte Unterlagen aus dem Ministerium besorgen könnten und zwar die von den Befragungen der Hauselfen.“
„Smokey ist gleich wieder da“, sagte er und verschwand. Sirius konnte nicht anders als zu grinsen.
„Ich habe noch nie erlebt, wie ein Hauself gesiezt wurde.“
Sid zucke mit den Schultern. „Warum sollte ich ihn duzen? Ich kenne ihn ja kaum. Es wäre unhöflich, ihn ohne Erlaubnis vertraut anzusprechen. Er ist ja nicht einmal mein Elf.“
„Es würde ihm aber nichts ausmachen.“
Sid nickte gedankenverloren. „Weil ihm eingebläut wurde, Dinge einfach hinzunehmen.“
„Oh“, machte Sirius, kam jedoch nicht dazu, auf die Aussage einzugehen, denn der Hauself kam mit dicken Akten unterm Arm zurück.
„Hier, Sir. Kann Smokey noch etwas tun, Sir?“
„Wenn Sie möchten, können Sie sich von den Ingwerpralinen“, Sid zeigte auf ein Schälchen Pralinen auf dem Tisch, „etwas nehmen und dann Feierabend machen.“
Der Elf beäugte skeptisch die Schokolade, blickte dann unsicher erst zu Sid, dann zu Sirius hinüber. Vorsichtig näherte er sich dem Tisch, nahm aber nichts, sondern verzog das Gesicht. Nur langsam steckte er die Hand aus, doch sie schien auf dem Weg in der Luft einzufrieren.
„Was ist mir dir los?“, fragte Sirius den Elf. „Magst du kein Ingwer?“
„Nein“, sagte Smokey, der sich gleich darauf den Mund erschrocken mit beiden Händen zuhielt. Aufgeregt atmend versicherte der Elf einen Moment später: „Smokey hat das nicht böse gemeint. Er wird etwas nehmen und auch essen.“
„Warum willst du etwas essen, was du nicht magst?“, wollte Sirius wissen.
Smokey war sichtlich verwirrt. Die runden Augen waren weit aufgerissen und er schien mit dem Schlimmsten zu rechnen. Sid ahnte, was in dem Elf vorging.
„Wenn Sie nichts davon möchten, müssen Sie auch nichts nehmen“, drückte Sid sich verständlicher aus.
„Ah“, hörte man Smokeys zitternden Lippen entweichen, als er begriffen hatte. „Dann hat Smokey jetzt Feierabend?“
„Ja, wir sehen uns Morgen. Gute Nacht.“
„Gute Nacht, Gentlemen.“
Smokey verbeugte sich und verschwand. Von dem kleinen Vorfall war Sirius noch etwas irritiert.
„Was war das denn eben?“
„Das, Mr. Black, war eine Demonstration der kaum vorhandenen Entscheidungsfähigkeit eines Elfs. Ich habe ihm eine Wahl gelassen, die er nicht zu treffen imstande war.“
„Es ging nur um Schokolade!“
„Ja, das ist traurig, nicht wahr?“ Die von dem Elf gebrachten Akten legte Sid auf den Tisch, bevor er Sirius anblickte. „Haben Sie Mr. Potter von der möglichen positiven Wirkung erzählt, die er auf die Bevölkerung haben könnte?“
„Ja, er sagte, er würde ein Interview mit politischem Inhalt geben. Ich kann nicht voraussagen, wann der Artikel erscheinen wird, aber wie ich ihn kenne, erledigt er das schnell.“
„Das ist schön. Man hat in den letzten Jahren wenig von ihm gehört.“
Sid schien das zu bedauern. Er war kein Mensch, das wusste Sirius, der sich an berühmte Persönlichkeiten ranschmiss, um von deren öffentlichen Ansehen zu profitieren. Er hatte nicht einmal versucht, über Sirius an Harry heranzukommen. Warum er es aber schade fand, von Harry nichts mehr zu lesen, war ihm ein Rätsel.
„Kann man nicht verstehen, warum er sich zurückgezogen hat?“
Sid nickte. „Durchaus, aber trotzdem ist er – ob er will oder nicht – eine Ikone. Eine Leitfigur, die man bewundert und über deren Handeln man auf dem Laufenden gehalten werden möchte.“ Sid lege seinen Kopf schräg. „Haben Sie nie jemanden, den Sie gar nicht kannten, aus der Ferne bewundert?“
„Oh ja, ich mag die Musik von Elvis Presley. Damals genauso wie noch heute.“
„Sie werden lachen. Der Name ist mir nicht unbekannt.“
Später am Abend, fast zu Mitternacht, verließ Sirius die Winkelgasse. Sein abgelegenes Häuschen in Thamesmead West war schnell erreicht. Es brannte noch Licht. Anne schlief noch nicht, worüber er froh war. Er dürstete nach einer Unterhaltung mit ihr. Seit er mit Sid so eng zusammenarbeitete, kam er manchmal so spät nachhause, dass er sie kaum noch sah.
„Anne?“, rief er in den Flur hinein, nachdem er eingetreten war. Sie antwortete nicht, musste sich aber im Wohnzimmer aufhalten, weil er dort das Licht gesehen hatte. Seinen leichten Umhang hängte er im Flur an einen Haken, bevor er ins Wohnzimmer ging, wo er sie antraf. Der Fernseher flimmerte. Anne schaute sich eine Science Fiction Sendung über einen Herrn im roten Cape an.
„Schatz“, grüßte er gut gelaunt, bevor er sich zu ihr beugte und sie auf die Wange küsste. „Wie war dein Tag?“ Es war seltsam, dass sie so reserviert war.
„Mein Tag war nicht so schön, seitdem ich hier etwas aufgeräumt habe.“
„Was ist passiert? Erklär mir das.“ Er setzte sich neben sie und nahm ihre Hand, was sie nur zu dulden schien. Ihr Blick war auf die Flimmerkiste gerichtet.
„Beim Aufräumen habe ich ein Bild gefunden, das du in deinem Nachttisch aufbewahrst. Warum, frage ich mich?“
„Was für ein …?“ Der Groschen fiel so laut, dass man in bis auf die Straße gehört haben musste. „Ach, das Bild von Hermine“, winkte er ab. „Ginny wollte es wegwerfen.“
„Und da nimmst du es und legst es in die Nähe deine Bettes, um“, sie zuckte provozierend mit den Schulter, „was zu tun? Immer vor dem Schlafengehen an sie zu denken?“
„Ich bitte dich, das ist doch Unfug!“, mahnte er sie sehr erbost.
„Dann erklär es mir, ich bin ganz Ohr!“
„Was soll ich da groß erklären? Ich wollte nicht, dass das Bild weggeworfen wird! Das ist nicht verboten oder?“ Ihre kühle Stimmung war auf ihn übergesprungen.
„Und hat es vielleicht auch damit zu tun“, ihre Stimme war brüchig, „dass du jetzt immer so spät in der Winkelgasse arbeitest und sie dort zufällig ihr Geschäft hat?“
„Die Zwillinge haben auch ihr Geschäft in der Winkelgasse. Willst du mir da etwa einen ähnlich haltlosen Vorwurf machen?“
Sie schnaufte. „Das ist doch was ganz anderes. Das sind deine Freunde.“
„Hermine ist auch nur eine Freundin.“
Jetzt wäre nicht der richtige Moment, Anne davon zu erzählen, dass Hermine ihn gebürstet hatte, dachte er. Sirius hatte sich wieder beruhigt und wollte dieses Missverständnis ein für alle Mal klären, nahm dafür auch Annes andere Hand in seine, damit sie sich zu ihm drehen musste.
„Ich ertrage es nicht, wenn solche Dinge weggeworfen werden sollen. Von meinen Freunden habe ich kaum noch Fotos. Die sind alle von meinen Eltern in den Müll geworfen oder im Kamin verbrannt worden, nachdem ich von Zuhause weggegangen bin. Sie haben all das, was mir gehörte, vernichtet!“ Er seufzte. „Lass mir doch diese kleine Wunderlichkeit.“
Einen Moment lang überlegte Anne, schien aber verständnisvoll zu sein. „Von mir aus, solange du nur nicht die Kontrolle verlierst und eines Tages gar nichts mehr wegwerfen kannst.“
„Wird nicht passieren, versprochen.“
Vom Flur hörten beide das Geräusch von einem aneinander reibenden Stoff, der offenbar zu Boden fiel. Sirius rechnete damit, dass sein Umhang runtergefallen sein musste und folgte Anne in den Flur.
„Hast du noch Hunger?“, wollte sie wissen, als sie den Umhang aufhob und ein auffälliges Gewicht bemerkte. Durch den Stoff tastete sie die Innentasche ab.
Wenn er bei Sid war, musste er nie Hunger leiden und erwiderte daher: „Einen kleinen Happen höchstens. Nichts Aufwändiges.“
Sie hatte die Box in seiner Tasche befühlt. „Was ist das?“
Nun fiel ihm wieder ein, weshalb er Hermine heute überhaupt aufgesucht hatte.
„Das ist ein Zeichen meiner Vergesslichkeit!“ Langsam kam er auf Anne zu und umarmte sie von hinten. „Ginny hat es mir gegeben, damit ich es bei Hermine vorbeibringe, wenn ich heute Mr. Duvall aufsuche. Siehst du? Ich hab es vergessen.“ Mit streichenden Bewegungen glitten seine Hände an ihren Armen hinauf bis zur Schulter. „Lass uns in die Küche gehen. Ich würde gern über etwas mit dir reden; wollte ich schon lange.“
„Über was?“ Trotz ihres skeptischen Gesichtsausdrucks ließ sie sich dennoch von ihm aus dem Flur in die Küche führen.
„Über Kinder und was du darüber denkst.“
„Kinder?“
In der Küche angekommen setzte er sie auf einen Stuhl, bevor er mit schelmischen Lächeln erklärte: „Ja, Kinder. Du weiß doch … Diese hüfthohen Kreaturen“, mit der Hand zeigte er eine ungefähre Größe, „die so viel Unsinn im Kopf haben.“
„Ah, du meinst dich selbst als Miniaturausgabe!“
Sirius lachte auf, nickte aber zustimmend. „So ähnlich, ja. Eine Miniaturausgabe von dir und mir, vereint.“
Sie lächelte, doch es verblasste zusehends, weshalb Sirius sich neben sie setzte und sie hoffnungsvoll anblickte.
„Ich weiß nicht, Sirius. Ich …“
„Es muss ja nicht sofort sein. Ich wollte nur wissen, wie du darüber denkst.“
„Im Prinzip denke ich positiv darüber.“
„Na bestens.“ Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Möchtest du auch etwas essen?“ Im Vorratsschrank spürte er ein Glas mit Spargel auf, das er ihr zeigte. „In Schinken eingerollt?“
„Wieso denkst du jetzt über Kinder nach?“, fragte sie vorsichtig, ohne auf sein kulinarisches Angebot einzugehen.
Das Glas Spargel umfasste er mit beiden Händen, während er nach den richtigen Worten suchte. Schon seit seinem Gespräch mit Remus und dem möglichen Nachwuchs war er keinesfalls abgeneigt, selbst Kinder zu haben.
„Ich bin jetzt bereit, so eine Verantwortung zu übernehmen.“ Unweigerlich musste er an seinen letzten Besuch bei seinem Patensohn denken und an Nicholas, der ihn dazu bewegt hatte nachzudenken, wie das Leben mit einem eigenen Kind ablaufen könnte.
„Und mein Job?“
„Kannst du natürlich behalten! Hast du etwa Angst, ich würde dich am Ende doch noch in eine altmodische Rolle drängen?“ Weil Harry mit ihm einmal über das Thema gesprochen hatte, wusste Sirius, dass er anfangs tatsächlich so gedacht und auch so gehandelt hatte. „Das wird nicht passieren. Du bist glücklich bei dem Hutmacher. Wer bin ich schon, um dieses Glück zu zerschlagen?“
Anne lächelte endlich wieder. „Es ist gut zu wissen, wie du jetzt darüber denkst. Wenn ich mich daran erinnere, wie du gezetert hast, als ich mir eine Arbeit suchen wollte …“
„Ach, das ist doch Schnee von gestern. Ich bin lernfähig, weißt du?“ Sein Schmunzeln war nicht zu übersehen. „Also möchtest du jetzt oder nicht?“
Ihre Augen wurden ganz groß. „Jetzt sofort?“
„Ich rede vom Spargel.“
„Oh.“
Dieses Edelgemüse sollte es am Samstagmittag auch bei den Grangers geben, denn die Spargelsaison reichte von April bis Juni.
Überpünktlich hatte sich Severus bei Hermine in der Apotheke eingefunden. Sie war noch nicht fertig, so dass er sich die Langeweile mit einer Zeitschrift vertrieb, die im Wohnzimmer lag. Seinen Hund hatte er mitgebracht. Das letzte Mal hatte es sich als günstig erwiesen, beide Tiere zusammen zu lassen. Fellini richtete auf diese Weise weniger Chaos an, wenn er einen Kameraden an seiner Seite hatte und Harry würde keine Gelegenheit finden, Severus‘ Schuhe zu zerkauen.
„Ich bin gleich fertig“, hörte er Hermines Stimme vom Flur, bevor die Tür zu ihrem Schlafzimmer ins Schloss fiel.
Nach nur wenigen Minuten stand sie im Türrahmen zum Wohnzimmer. Sie trug Muggelkleidung, die er nicht als besonders schick bezeichnen konnte. Eine dunkelblaue Jeans und eine helle Bluse. Die Kleidung wirkte dezent, geradezu leger, was ihn nicht überraschen sollte. Es handelte sich immerhin um einen Besuch bei ihren Eltern und nicht um einen Empfang von Diplomaten.
„Von mir aus können wir.“ Hermine zog sich eine leichte Jacke über, bevor sie noch ihre große Tasche nahm. Nachdem er aufgestanden war und sie ihn gemustert hatte, zog sie eine Augenbraue in die Höhe. „Keine Blumen?“
„Die sind sicher in meiner Innentasche verstaut – verkleinert – wie auch die Flasche Elfenwein, die ich meinen persönlichen Vorräten entnommen habe.“
„Gut, dann würde ich sagen, wir apparieren in den hinteren Teil des Gartens.“
„Du musst mich schon mitnehmen, Hermine. Ich kenne das Ziel nicht.“
Das Seit-an-Seit-Apparieren war Hermine vertraut. Auf diese Weise hatte sie während des Krieges einigen Menschen, meist Kindern, das Leben gerettet. Es war notwendig, die andere Person zu berühren. Wie selbstverständlich nahm sie Severus‘ Hand.
„Bereit?“, fragte sie.
Ein Nicken war Bestätigung genug. Mit viel Übung hatte Hermine es dank ihrer Geschicklichkeit seit einigen Jahren bewerkstelligt, mit einem unmerklichen Geräusch zu erscheinen, anstatt mit einem lauten Knall.
Severus fand sich bei strahlendem Sonnenschein in einem blühenden Garten wieder. Ein süßer Duft lag in der Luft, der von den vielen Blumen herrührte, aber auch der Geruch von Tieren war hier sehr ausgeprägt.
„Ich glaub’s ja nicht!“, rief Hermine begeistert aus. Einige überdachte kleine Ställe an der Hauswand hatten ihre Aufmerksamkeit erregt. Er wurde von ihr gezogen, als sie zu den Verschlägen hinüberging. „Kaninchen! Meine Eltern haben wieder Kaninchen.“
„Hermine?“, hörte man eine Stimme aus dem offenen Fenster rufen, so dass Hermine mit Severus an der Hand die Überdachung wieder verließ.
Severus betrachtete die Frau mit den braunen Haaren, die aus dem Fenster schaute. Nicht nur ihr stetiges Lächeln erinnerte ihn an Hermine, denn die Gesichtszüge deuteten unweigerlich auf den Fakt hin, dass es sich um ihre Mutter handeln musste. Die Ähnlichkeit war nicht von der Hand zu weisen. Erst jetzt bemerkte er, was für einen Eindruck sie beide machen mussten, weil Hermine weiterhin seine Hand hielt. Er nahm sich vor, das Seit-an-Seit-Apparieren und die dazugehörige Unverzichtbarkeit der Berührung später in einem Nebensatz fallen zu lassen, um damit die jetzige Situation erklären zu können. Severus löste seinen Griff und streckte seine Finger, aber ihre Hand wurde er trotzdem nicht los.
„Kommt doch rum zur Tür“, bat Mrs. Granger mit einem Wink ihrer Hand, bevor sie vom Fenster verschwand.
Hermine drehte sich breit grinsend zu Severus um. „Das war meine …“
„Dass es sich nicht um deinen Vater gehandelt hat, habe ich mir bereits gedacht.“ Seine Worte brachten Hermine zum Schmunzeln, bevor sie ihn leicht am Ellenbogen berührte und ihm ums Haus führte.
„Ach“, eine stoppende Geste ihrer Hand begleitete das Wort, „die Geschenke. Es ist besser, sie hier draußen zu vergrößern. Ich habe im Haus meiner Eltern schon mal was kaputtgemacht, als ich gezaubert habe. Die ganze Technik ist da sehr empfindlich.“
Ihrer Aufforderung kam Severus im Nu nach, so dass er Blumen und Flasche in der Hand hielt. Als sie gemeinsam um das Haus herumgegangen waren, fiel Severus der kitschige Gartenzwerg auf, aber er verkniff sich all die bösartigen Kommentare, die ihm auf der Zunge lagen. Die Vordertür wurde aufgerissen und Mrs. Granger stand freudig erregt und mit glänzenden Augen vor den beiden. Sie begrüßte zunächst ihre Tochter; drückte sie fest an sich. Innerlich stählte sich Severus für die bevorstehende Bekanntmachung und er hoffte, dass Hermine so geistesgegenwärtig sein würde, ihn vorzustellen.
„Das ist …“, Hermine deutet auf ihn, aber ein Moment der Stille trat ein, so dass er in Erwägung zog, seinen Namen zu nennen. Hermine kam ihm jedoch zuvor. „Das ist Severus.“
Er nahm sich vor, sie später dafür zur Rechenschaft zu ziehen, ihn beim Vornamen genannt zu haben. Es war an der Zeit, die Hand auszustrecken, um Mrs. Granger zu begrüßen. Ihre andere ruhte auf ihren Brustkorb, als sie ganz bewegt sagte: „Nennen Sie mich doch bitte Jane, Severus.“ Ihre warme Stimme erinnerte ihn ebenfalls an Hermine. Er hielt der Gastgeberin die Blumen entgegen.
„Eine kleine Aufmerksamkeit“, sagte er trocken und vermied bewusst die Anrede mit Vornamen.
Freudestrahlend nahm sie den Strauß entgegen und roch an einer der Blumen. „Das wäre doch nicht nötig gewesen.“ Severus stimmte der Aussage von Mrs. Granger innerlich zu, denn der Garten hinterm Haus war voll mit Blumen. „Kommt doch bitte rein.“
Überrascht war Severus vom angenehm eingerichteten Wohnzimmer, in dem er sich sofort heimisch fühlte. Das lag vermutlich daran, spekulierte er, dass Hermine unbewusst den Stil der Eltern übernommen hatte. Bei ihr fühlte er sich ebenso wohl. Mit geschultem Blick überflog er die Inneneinrichtung. Nur wenig Kitsch und Tinnef ließ ihn innerlich erschauern, wie das offensichtlich von einem Kind mit Tusche gemalte Bild eines Engels, das zwei Kinder bei ihrem Spiel am Fluss behütete.
Hermine bemerkte seinen Blick und verkündete stolz: „Das hab ich gemalt!“
Als Information fügte ihre Mutter fröhlich hinzu: „Sie war erst sieben.“ Beide blickten ihn an, weil sie eine Meinung erwarteten, was für Unruhe sorgen könnte, sollte er die Wahrheit sagen.
„Für dieses Alter ein überraschend sicherer Pinselstrich.“ Diese höfliche Aussage sollte genügen, ohne mitteilen zu müssen, dass er es scheußlich fand. Offenbar waren beide Damen damit zufrieden.
„Wo ist Dad?“ Nach Hermines Frage war eine männliche Stimme und Schritte von der Treppe in den ersten Stock zu hören.
„Hier kommt er schon“, präsentierte sich Mr. Granger, den Severus um einiges älter schätzte als Mrs. Granger. Der folgende Händedruck war fest und sicher. „Mr. …?“
„Nur Severus“, warf Hermine erneut als Vorstellung ein und er nahm sich vor, sie nicht erst heute Abend in der Apotheke, sondern bereits im Laufe des Tages auf ihren Fauxpas aufmerksam zu machen. Es gehörte sich nicht, Erwachsene nur mit Vornamen vorzustellen.
„Severus! Hermine hat uns schon viel von Ihnen erzählt? Ein ungewöhnlicher Name, aber ein faszinierender. Mein Name ist Joshua“, stellte sich Mr. Granger vor.
„Auch Ihnen habe ich eine Kleinigkeit mitgebracht.“
Severus war froh, die Flasche Elfenwein an Mr. Granger abgetreten zu haben, denn somit war Punkt 1 – die Bekanntmachung – auf der „To-do-Liste“ abgehakt. Der folgende Plausch und das anschließende Essen hatte er in einem Punkt zusammengefasst. Er hatte sich vorgenommen, höflich zu bleiben und auf alle Fragen zu antworten. Nach dem Essen würde der letzte Abschnitt des Tages folgen: noch mehr Plauderei. Hier nahm sich Severus vor, das Gespräch auf die geschäftliche Ebene zu ziehen, denn er wollte klären, wie er Mr. Granger die Hälfte des Kaufpreises für die Apotheke zukommen lassen konnte.
„Ein Elfenwein?“, fragte der Beschenkte heiter. „Ich werde das Etikett lösen müssen, sonst kommen nur dumme Fragen, wenn jemand die Flasche sehen sollte. Vielen Dank, Severus. Für Getränke aus der magischen Welt bin ich immer zu haben.“
Hermine flüsterte Severus zu: „Er probiert gern Neues aus.“
Das Haus war nicht überdimensional groß, aber man merkte, dass es sich bei den Grangers nicht um Not Leidende handelte. Sie schienen sehr gut zu verdienen. Das Zimmer, in das man sie nun führte, wurde fast vollends von einem Esstisch ausgefüllt und offenbar auch nur zu diesem Zweck genutzt.
„Nehmen Sie doch Platz, Severus. Darf es eine Erfrischung sein?“ Mrs. Granger strahlte ihn vorbehaltlos an, nannte ihm derweil einige Getränke, von denen er irgendeines nahm, nur um nicht mehr im Mittelpunkt zu stehen.
„Schatz?“ Hermine blickte zu ihrem Vater. „Wie läuft es mit der Apotheke? Mit der Kundschaft zufrieden?“
„Oh ja, mehr als zufrieden. Ich habe eine Menge Arbeit und würde es nicht allein schaffen.“ Die Grangers wussten natürlich, dass er der Neue an Bord war, weswegen Hermines Antwort ihren Vater dazu veranlasste, zu Severus hinüberzusehen und das Wort an ihn zu richten.
„Sie sind also auch Zaubertränkemeister?“
Severus bemühte sich, keine spitze Bemerkung von sich zu geben. Es sollte längst klar sein, dass er einer war.
„Korrekt.“ Die Antwort war selbst ihm ein wenig zu karg, beantwortete dennoch die Frage von Mr. Granger wahrheitsgemäß.
„Und Hermine hat bei Ihnen ihren Meister gemacht?“, fragte Mr. Granger nach.
„Das ist richtig.“ Zumindest waren es schon drei Wörter – langsam taute er auf.
Von Mr. Granger wurde er einen Moment lang skeptisch betrachtet, wandte sich jedoch wieder Hermine zu, um sich mit ihr über die neusten familiären Neuigkeiten auszutauschen. Mrs. Granger brachte derweil das Mittagessen herein. In dem Wissen, dass man seine Hilfe ablehnen würde, bot er sie ihr an. Sie winkte wie erwartet ab und war nach wenigen Minuten mit ihrer Arbeit fertig, begann dann, den Gästen das Essen aufzutun. Punkt 2 seiner Liste trat ein: das Essen. Severus konzentrierte sich wenig auf das Gericht, kam dennoch nicht umher, den guten Geschmack zur Kenntnis zu nehmen, was er höflichkeitshalber verbal äußerte. Sein Kompliment zauberte eine sanfte Röte auf Mrs. Grangers Gesicht, bevor sie sich für die Nettigkeit bedankte.
„Severus?“ Während Hermine mit ihrem Vater sprach, ging Mrs. Granger auf Tuchfühlung mit dem dunkel gekleideten Gast zu ihrer Rechten. „Hermine sagte, Sie seien schon sehr lange ein Meister auf Ihrem Gebiet.“
„Meine Ausbildung begann ich recht zeitig nach Beendigung der Schule“, erklärte er. Weil sie so interessiert dreinschaute, fügte er noch hinzu: „Ich habe keine zwei Jahre benötigt, um die Prüfung zu bestehen.“
„Bei wem haben Sie Ihre Ausbildung gemacht?“
„Mein ehemaliger Lehrer in Zaubertränken war so frei, mich unter seine Fittiche zu nehmen.“
Mrs. Grangers formschön gezupften Augenbrauen wanderte in die Höhe. Gerade wollte Severus etwas erklärend hinzufügen, da wurde er sich über die Stille bewusst, die im Raum herrschte. Ein Blick nach vorn und zur Seite verriet ihm den Grund. Mr. Granger sowie Hermine beobachteten ihn und folgten seinem Gespräch mit Mrs. Granger sehr aufmerksam. Mit einem Male verfinsterte sich Mr. Grangers Gesichtsausdruck.
„Das war doch nicht etwa dieser …?“
Hermine unterbrach ihn auffällig hastig. „Slughorn! Das war Professor Slughorn damals. Wir hatten ihn in der sechsten Klasse.“
„Ah“, machte ihr Vater, der von dieser Information wieder besänftigt war.
Severus hegte einen Verdacht, konnte den aber nicht analysieren, weil er sofort von der Dame des Hauses in ein Gespräch verwickelt wurde.
„Sind Ihre Eltern beide Zauberer?“
Severus verneinte mit einem Kopfschütteln. „Nur meine Mutter. Mein Vater war ein …“
Er stoppte sich, um nicht mit Worten um sich zu werfen, die eventuell als Beleidigung aufgefasst werden könnten, doch Mrs. Granger nahm es ihm ab, den Satz zu vervollständigen.
„Ein Muggel.“ Sie blickte zu Hermine. „Unsere Tochter und die Familie Weasley haben uns über einige Situationen der magischen Welt aufgeklärt. Auch über Squibs und Reinblüter.“
Nach dem Essen half Hermine ihrer Mutter, den Tisch abzuräumen, während Mr. Granger den Gast in den Garten führte, um dort ein wenig zu plaudern.
Vom offenen Fenster der Küche aus konnte Hermine die beiden sehen, als sie das Geschirr mit der Hand abwusch, weil der Geschirrspüler defekt war. Sie bemerkte, wie auch ihre Mutter beim Abtrocknen immer wieder nach draußen schaute, um den Gast zu beäugen.
„Was hältst du von ihm?“, fragte Hermine mutig. Ihre Mutter hielt einen Moment beim Abtrocknen inne, machte dann aber weiter, damit es nicht auffallen würde, wie sehr sie über eine Antwort nachdachte. „Und?“, drängte Hermine. Sie hatte das seltsame Gefühl, dass ihre Mutter den Altersunterschied ansprechen könnte, doch zusammen zu arbeiten sollte nicht vom Alter abhängen. Außerdem würde ihre Mutter bestimmt nicht darauf zu sprechen kommen, da sie selbst fast fünfzehn Jahre jünger war als ihr Gatte.
„In so einem Alter …“, begann ihre Mutter, bevor sie von Hermine unterbrochen wurde.
„Ich wusste es“, murmelte sie.
„Hermine, Schatz. Lass mich bitte ausreden.“ Hermine nickte, so dass ihre Mutter fortfahren konnte. „Ich wollte sagen, dass man auch in so einem Alter keinesfalls zu alt ist, um sich seine Zähne richten zu lassen.“
Mit vor Schreck ganz großen Augen sagte Hermine mahnend und ebenso nörgelnd: „Mum!“
„Du hast mich gefragt“, hielt sie ihrer Tochter schmunzelnd vor Augen. „Was erwartest du? Ich bin Zahnärztin! Was meinst du wohl, wo mein Augenmerk liegt.“
„Und mal abgesehen ‘davon‘ …“ Hermine konnte sich das Augenrollen nicht verkneifen. „Was denkst du sonst von ihm?“
„Na ja, er ist ein wenig, ähm, wortkarg?“
„War das eine Frage?“, spöttelte Hermine auf nette Weise.
„Ich glaube nur langsam, dass ich bei dir aufpassen muss, was ich überhaupt sage.“ Das letzte saubere Glas stellte ihre Mutter gerade ins Schränkchen zurück, bevor sie Severus und ihren Mann dabei beobachtete, wie sie es sich am Gartentisch gemütlich machten. „Er wirkt mysteriös und verschlossen. Es wundert mich, Hermine, dass du so gut mit ihm auskommst, um sogar die Apotheke mit ihm führen zu wollen.“ Draußen hatte Mr. Granger ganz offensichtlich die Gesprächsführung übernommen.
„Er ist gar nicht so schlimm, wenn man ihn erst einmal kennen gelernt hat.“
„Mag er Eis?“ Ihre Mutter nahm bereits vier Glasschälchen aus der Vitrine.
„Keine Ahnung. Ich glaube nicht.“
„Versuchen wir’s einfach. Holst du es bitte aus der Tiefkühltruhe?“
Die Konversation mit Hermines Vater zerrte an Severus‘ Nerven. Was Antworten betraf, so war Joshua Granger keinesfalls genügsam. Hermines Vater zeigte seine Unzufriedenheit über unzureichend gegebenen Antworten, indem er ständig nachfragte, um endlich eine gehaltvollere Information zu erhalten. Zwar wollte Severus höflich bleiben, aber seiner Meinung nach ging es keinen etwas an, womit er sich damals die Zeit vertreiben musste.
Mr. Granger klang bei seinem Gespräch mit Severus bereits sehr ungeduldig, als Hermine mit ihrer Mutter an den Tisch kam. Er ließ das Thema – welches es auch immer war – fallen und widmete sich den Damen, was Severus erleichtert zur Kenntnis nahm. Es war jedoch Mrs. Granger, die nun versuchte, Persönliches aus ihm herauszukitzeln.
„War Hermine eigentlich eine angenehme Schülerin, als sie ihren Meister bei Ihnen gemacht hat?“
Eine kluge Frau, dachte Severus. Das Gespräch fand zwar mit ihm statt, aber nicht über ihn. Zumindest vorerst.
„Ihre Tochter verfügt über einen scharfen Verstand, der es ihr offenbar erleichtert, viel im Gedächtnis zu behalten“, erwiderte er höflich.
„Ja, das kann ich mir vorstellen, aber war sie manchmal …“
„Mum“, warnte Hermine.
Severus hielt nicht mehr zurück. „Sie war manchmal ein wenig vorlaut, um nicht genau zu sagen“, gespannt warten alle auf seine Beschreibung, „frech.“ Ein schiefes Lächeln zeichnete sich auf den schmalen Lippen des Tränkemeisters ab.
„Das ist meine Tochter“, lobte Mr. Granger sie neckisch, indem er ihr über den Rücken strich.
„Können wir vielleicht über was anderes reden?“ Es war ein seltsames Gefühl, nur Inhalt einer Unterhaltung zu sein, weshalb sie einen Themenwechsel anstrebte.
„Oh sicher, wir könnten zum Beispiel fragen“, Mr. Granger schaute einmal zu seiner Frau hinüber, dann wieder zu Severus, „warum Sie so vernarrt in die Apotheke sind, dass Sie gleich mit der Hälfte einsteigen möchte.“
„Vernarrt?“, fragte Severus verdutzt nach. „In die Apotheke?“
„Etwa in was anderes?“, stichelte ihr Vater keck.
Severus musste diese Zweideutigkeit sofort zerschlagen, bevor sich ein Bild im Kopf der Grangers formte, das ihm womöglich noch zum Verhängnis werden könnte.
„Mein jetziger Beruf bringt mir weder Freude noch ist er sonderlich produktiv.“
„Mmmh“, machte Mr. Granger nachdenklich. „Und was machen Sie jetzt?“
„Ich bin bis Ende Juni in Hogwarts als Lehrer beschäftigt“, erwiderte er aufrichtig.
„In welchem Fach, wenn ich fragen darf?“
Mrs. Granger vermutete laut: „Na, ich nehme doch an, es wird sich um Zaubertränke handeln?“
„Korrekt“, bestätigte Severus knapp.
„Zaubertränke? Dann können die Schüler ja von Glück reden, nicht mehr unter Ihrem Vorgänger leiden zu müssen.“
Jeder Muskel in Severus‘ Körper verspannte sich. Dass selbst die Muskeln seines Kiefers sich verzogen, begrüßte er, denn das hielt ihn davon ab, eine Salve Beleidigungen in Richtung Mr. Granger abzufeuern. Severus wusste gar nicht, wie er reagieren sollte, also reagierte er lieber gar nicht.
„Hat Ihnen Hermine von diesem Mann erzählt?“, fragte Mr. Granger unschuldig dreinblickend.
Diesen Moment nutzte Hermine, um ihren Vater abzulenken. „Dad, hab ich schon erzählt, dass Severus mir geholfen hat, bei der Körperschaft der Zaubertränkemeister …“
„Ja, Schatz“, winkte er ab, bevor er sich wieder Severus zuwandte. „Hat sie erzählt, was für ein schlimmer Finger das war?“
„Dad, bitte nicht, das ist schon so lange her.“
„Es könnte doch sein“, er blickte seine Tochter an, „dass er ihn sogar kennt.“ Wieder zu Severus blickend fragte er: „Kannten Sie ihn?“
Severus beschränkte sich darauf, Mr. Granger lediglich anzustarren und hoffte, somit vor weiteren Anspielungen geschützt zu sein, doch Hermines Vater war gegen jeden Todesblick immun.
„Was Hermine und ihre Freunde uns damals erzählten, das geht auf keine Kuhhaut! Wie hieß er? Snape?“
„Dad …“
„Ein völlig unfähiger Lehrer, der doch tatsächlich …“
Wieder stoppte Hermine ihren Vater. „Das war einmal, Dad!“
„Liebes“, beschwichtigte er seine Tochter, „lass mich bitte ausreden.“
„Mr. Granger.“ Endlich hatte Severus nicht nur die Fassung, sondern auch die Stimme wiedergefunden, wenn diese auch nur leise säuselnd zu vernehmen war. „Die verzweifelten Versuche Ihrer Tochter, dieses Thema unter den Teppich zu kehren, rühren von dem Wunsch her, Ihnen und auch mir eine große Unannehmlichkeit zu ersparen.“
Mit in Falten gelegter Stirn fragte Mr. Granger nach: „Wie meinen Sie das?“
„Drücken wir es mal so aus: Ich weiß jetzt, warum Hermine mich Ihnen nicht mit meinem Nachnamen vorgestellt hat.“
Bis auf das Surren der Bienen, die an den Blumen im Garten artig ihren Blütenstaub sammelten und das Zwitschern der Vögel in den umliegenden Bäumen war im Moment nichts anderes zu hören. In dem Gesicht von Mr. Granger konnte Severus erst eine Art unangenehme Erschrockenheit feststellen, bevor die Miene des Mannes mit einem diabolisch selbstzufriedenen Grinsen geziert wurde, was selbst Severus einen Schauer über den Rücken jagte.
„Dann sind Sie also“, begann Mr. Granger langsam, „Professor Snape?“
„Das ist richtig.“
Die leichteste Art, die Zähne zu zeigen, war ein Lächeln. Mr. Granger lächelte, doch eines seiner Augenlider zuckte nervös, als er betont freundlich verkündete: „Oh, wie oft habe ich mir gewünscht, mal ein paar Worte mit Ihnen wechseln zu dürfen.“
Nach seinem Besuch bei Luna und dem unfreiwilligen Bad im See hatten sich beide mit einem Zauberspruch getrocknet. Trotzdem sah man besonders an Harrys Haaren, dass etwas nicht stimmte. Sie waren so aufgeplustert und wirr, dass man meinen könnte, er hätte sie nach dem Duschen nicht einmal gekämmt. Der sprechende Fisch entpuppte sich als riesiger Karpfen, der schon viele Jahre in diesem Gewässer hauste, bisher aber nie einen Ton von sich gegeben hatte.
Als Harry sein Zimmer betrat, blickte Ginny von ihren Hausaufgaben auf. Wie ein Magnet heftete sich ihr Blick auf seinen Schopf.
„Was ist denn mit dir passiert?“
„Ich …“ Weil ihre Augen auf seinen Kopf gerichtet waren, hob er eine Hand und befühlte mit der Handfläche die voluminös abstehende Frisur. „Ich hab den sprechenden Fisch gesehen.“
„Was bitte?“
Harry lachte über Ginnys Miene. „Ich war doch bei Luna.“
Er erzählte ihr, wie sein Tag verlaufen war. Das Interview mit Luna, der verträumt gelegene See, das Märchen vom sprechenden Fisch.
„Und er hat wirklich gesprochen?“
Harry schüttelte den Kopf. „Nein, aber das Tierchen ist ein Traum für jeden Angler. Von ihm könnten die ganzen Weasleys essen.“
Ginny bemerkte etwas an seiner Wange, was sie im ersten Augenblick für einen Knutschfleck hielt. Mit einem Zeigefinger berührte sie die kreisrunde Stelle. Sie brauchte nicht zu fragen, denn er erklärte von sich aus.
„Ach ja, wir haben herausgefunden, dass es in dem See bei Lunas Haus doch Grindelohs gibt.“ Der vermeintliche Knutschfleck entpuppte sich als Abdruck eines Saugnapfes. „Als wir ins Wasser gefallen sind, haben wir sie wahrscheinlich aus ihrem hundertjährigen Schlaf geweckt, denn sie hat vorher dort nie welche gesehen.“
„Ihr wolltet doch nur ein Interview führen“, rief sie ihm ins Gedächtnis zurück.
„Seit wann läuft mit Luna alles nach Schema F ab, Ginny? Das solltest du aber wissen.“
Er grinste breit. Der Tag hatte im sehr gefallen.
Sirius hingegen gefiel der Tag noch immer, beziehungsweise der Abend. Er war mit seiner Arbeit bei Sid mehr als zufrieden. Alles nahm Form an. Was bis dato nur Vorschläge oder Ideen gewesen waren, hatte er heute bereits als Entwurf in Textform lesen können. Sids sonderbar gründliche Art, alles verständlich und lückenlos niederzuschreiben, war Gold wert. Irgendwie mochte Sirius den Mann, bei dem er sich spät abends noch immer aufhielt.
„Mr. Black, Sie übernehmen die Aufgabe, Mr. Shacklebolt zu fragen, ob das Amt für die Neuzuteilung von Hauselfen in Zukunft in beratender Weise für die Elfen zur Verfügung stehen könnte, sonst wäre unser Punkt zum Schutz der Elfen nichtig. Eine Anlaufstelle für misshandelte Hauselfen ist zwingend notwendig. Hinzu kommt, dass die Abteilung eine Art Vorrecht am Besitz haben sollte.“
„Vorrecht am Besitz?“, fragte Sirius stirnrunzelnd.
„Nicht unbedingt am Besitz, aber ein Vorrecht in der Befehlsgewalt. Das wird auf die Eigentümer von Hauselfen hoffentlich einschüchternd wirken, wenn sie wissen, dass ein Teil der Mitarbeiter des Ministeriums das Recht haben, Elfen zu befragen und vor allem auch wahrheitsgemäße Antworten zu erhalten. Die Elfen haben sich schon immer an die Gesetze des Ministeriums gehalten, auch nachdem sie einer Familie zugeteilt wurden. Die Abteilung für die Neuzuteilung soll mit dem neuen Gesetz in dieser Hinsicht eine Sondergenehmigung bekommen. Ich habe das schon einmal schriftlich ausformuliert.“
Das Pergament reichte Sid seinem Gast, der es zweimal las, um den Inhalt besser im Gedächtnis zu behalten. Die besondere Bindung zwischen den Hauselfen und der Abteilung für die Neuzuordnung sollte dafür sorgen, dass Elfen nicht nur einen festen Ansprechpartner hätten, dem sie ihre Sorgen mitteilen konnten. Es war auch eine anonyme Anlaufstelle, denn den Eigentümern sollte es nicht erlaubt sein, den Hauselfen einen Besuch im Ministerium zu verwehren und schon gar nicht durften die Hauselfen mit ihren Herren über den Inhalt ihrer Gespräche reden.
„Wie wäre es“, Sirius gab Sid das Pergament zurück, „wenn wir gesetzlich festlegen, dass die Elfen einmal im Jahr im Ministerium vorstellig werden sollen?“ Sid kniff die Augen zusammen und wartete auf eine Erklärung, die Sirius ihm gern gab. „Damit die Eigentümer nicht den Elfen die Schuld geben können oder ihnen gegenüber misstrauisch werden, wenn sie sich entschließen sollten, sich mit ihrem Kummer ans Ministerium zu wenden. Es muss nicht für immer so bleiben, aber die ersten zwei, drei Jahre vielleicht. Dann würden wir auch schnell erfahren, welche Familien gegen die neuen Gesetze verstoßen und die Hauselfen trotzdem noch körperlich bestrafen.“
„Das ist gar keine so schlechte Idee, Mr. Black. Auf diese Weise ziehen nicht die Elfen den Zorn ihrer Herren auf sich, sondern das Ministerium. Ja“, er nickte, „machen wir es so.“
„Des Weiteren sollten wir auf jeden Fall die Freilassung der Elfen unterstützten. Wir könnten mit den Aussagen, die wir von den befragten Elfen haben, Standardarbeitsverträge vorformulieren. Es wird nicht viele, aber wenigstens ein paar Zauberer und Hexen geben, die so aufgeschlossen sind wie wir und ihre Elfen freilassen würden, um sie danach als Arbeitskraft einzustellen. Der Minister geht bereits mit gutem Beispiel voran. Bereits elf Prozent der Elfen, die im Ministerium beschäftigt sind, haben einen Arbeitsvertrag. Die anderen sträuben sich noch.“
Unerwartet rief Sid plötzlich den Elf, der ihnen vom Ministerium zugewiesen wurde, der geräuschlos im Wohnzimmer auftauchte.
„Was kann Smokey tun, Sir?“
Zu dem Elf war Sid genauso freundlich wie zu jedem Menschen. „Es wäre nett, wenn Sie mir bestimmte Unterlagen aus dem Ministerium besorgen könnten und zwar die von den Befragungen der Hauselfen.“
„Smokey ist gleich wieder da“, sagte er und verschwand. Sirius konnte nicht anders als zu grinsen.
„Ich habe noch nie erlebt, wie ein Hauself gesiezt wurde.“
Sid zucke mit den Schultern. „Warum sollte ich ihn duzen? Ich kenne ihn ja kaum. Es wäre unhöflich, ihn ohne Erlaubnis vertraut anzusprechen. Er ist ja nicht einmal mein Elf.“
„Es würde ihm aber nichts ausmachen.“
Sid nickte gedankenverloren. „Weil ihm eingebläut wurde, Dinge einfach hinzunehmen.“
„Oh“, machte Sirius, kam jedoch nicht dazu, auf die Aussage einzugehen, denn der Hauself kam mit dicken Akten unterm Arm zurück.
„Hier, Sir. Kann Smokey noch etwas tun, Sir?“
„Wenn Sie möchten, können Sie sich von den Ingwerpralinen“, Sid zeigte auf ein Schälchen Pralinen auf dem Tisch, „etwas nehmen und dann Feierabend machen.“
Der Elf beäugte skeptisch die Schokolade, blickte dann unsicher erst zu Sid, dann zu Sirius hinüber. Vorsichtig näherte er sich dem Tisch, nahm aber nichts, sondern verzog das Gesicht. Nur langsam steckte er die Hand aus, doch sie schien auf dem Weg in der Luft einzufrieren.
„Was ist mir dir los?“, fragte Sirius den Elf. „Magst du kein Ingwer?“
„Nein“, sagte Smokey, der sich gleich darauf den Mund erschrocken mit beiden Händen zuhielt. Aufgeregt atmend versicherte der Elf einen Moment später: „Smokey hat das nicht böse gemeint. Er wird etwas nehmen und auch essen.“
„Warum willst du etwas essen, was du nicht magst?“, wollte Sirius wissen.
Smokey war sichtlich verwirrt. Die runden Augen waren weit aufgerissen und er schien mit dem Schlimmsten zu rechnen. Sid ahnte, was in dem Elf vorging.
„Wenn Sie nichts davon möchten, müssen Sie auch nichts nehmen“, drückte Sid sich verständlicher aus.
„Ah“, hörte man Smokeys zitternden Lippen entweichen, als er begriffen hatte. „Dann hat Smokey jetzt Feierabend?“
„Ja, wir sehen uns Morgen. Gute Nacht.“
„Gute Nacht, Gentlemen.“
Smokey verbeugte sich und verschwand. Von dem kleinen Vorfall war Sirius noch etwas irritiert.
„Was war das denn eben?“
„Das, Mr. Black, war eine Demonstration der kaum vorhandenen Entscheidungsfähigkeit eines Elfs. Ich habe ihm eine Wahl gelassen, die er nicht zu treffen imstande war.“
„Es ging nur um Schokolade!“
„Ja, das ist traurig, nicht wahr?“ Die von dem Elf gebrachten Akten legte Sid auf den Tisch, bevor er Sirius anblickte. „Haben Sie Mr. Potter von der möglichen positiven Wirkung erzählt, die er auf die Bevölkerung haben könnte?“
„Ja, er sagte, er würde ein Interview mit politischem Inhalt geben. Ich kann nicht voraussagen, wann der Artikel erscheinen wird, aber wie ich ihn kenne, erledigt er das schnell.“
„Das ist schön. Man hat in den letzten Jahren wenig von ihm gehört.“
Sid schien das zu bedauern. Er war kein Mensch, das wusste Sirius, der sich an berühmte Persönlichkeiten ranschmiss, um von deren öffentlichen Ansehen zu profitieren. Er hatte nicht einmal versucht, über Sirius an Harry heranzukommen. Warum er es aber schade fand, von Harry nichts mehr zu lesen, war ihm ein Rätsel.
„Kann man nicht verstehen, warum er sich zurückgezogen hat?“
Sid nickte. „Durchaus, aber trotzdem ist er – ob er will oder nicht – eine Ikone. Eine Leitfigur, die man bewundert und über deren Handeln man auf dem Laufenden gehalten werden möchte.“ Sid lege seinen Kopf schräg. „Haben Sie nie jemanden, den Sie gar nicht kannten, aus der Ferne bewundert?“
„Oh ja, ich mag die Musik von Elvis Presley. Damals genauso wie noch heute.“
„Sie werden lachen. Der Name ist mir nicht unbekannt.“
Später am Abend, fast zu Mitternacht, verließ Sirius die Winkelgasse. Sein abgelegenes Häuschen in Thamesmead West war schnell erreicht. Es brannte noch Licht. Anne schlief noch nicht, worüber er froh war. Er dürstete nach einer Unterhaltung mit ihr. Seit er mit Sid so eng zusammenarbeitete, kam er manchmal so spät nachhause, dass er sie kaum noch sah.
„Anne?“, rief er in den Flur hinein, nachdem er eingetreten war. Sie antwortete nicht, musste sich aber im Wohnzimmer aufhalten, weil er dort das Licht gesehen hatte. Seinen leichten Umhang hängte er im Flur an einen Haken, bevor er ins Wohnzimmer ging, wo er sie antraf. Der Fernseher flimmerte. Anne schaute sich eine Science Fiction Sendung über einen Herrn im roten Cape an.
„Schatz“, grüßte er gut gelaunt, bevor er sich zu ihr beugte und sie auf die Wange küsste. „Wie war dein Tag?“ Es war seltsam, dass sie so reserviert war.
„Mein Tag war nicht so schön, seitdem ich hier etwas aufgeräumt habe.“
„Was ist passiert? Erklär mir das.“ Er setzte sich neben sie und nahm ihre Hand, was sie nur zu dulden schien. Ihr Blick war auf die Flimmerkiste gerichtet.
„Beim Aufräumen habe ich ein Bild gefunden, das du in deinem Nachttisch aufbewahrst. Warum, frage ich mich?“
„Was für ein …?“ Der Groschen fiel so laut, dass man in bis auf die Straße gehört haben musste. „Ach, das Bild von Hermine“, winkte er ab. „Ginny wollte es wegwerfen.“
„Und da nimmst du es und legst es in die Nähe deine Bettes, um“, sie zuckte provozierend mit den Schulter, „was zu tun? Immer vor dem Schlafengehen an sie zu denken?“
„Ich bitte dich, das ist doch Unfug!“, mahnte er sie sehr erbost.
„Dann erklär es mir, ich bin ganz Ohr!“
„Was soll ich da groß erklären? Ich wollte nicht, dass das Bild weggeworfen wird! Das ist nicht verboten oder?“ Ihre kühle Stimmung war auf ihn übergesprungen.
„Und hat es vielleicht auch damit zu tun“, ihre Stimme war brüchig, „dass du jetzt immer so spät in der Winkelgasse arbeitest und sie dort zufällig ihr Geschäft hat?“
„Die Zwillinge haben auch ihr Geschäft in der Winkelgasse. Willst du mir da etwa einen ähnlich haltlosen Vorwurf machen?“
Sie schnaufte. „Das ist doch was ganz anderes. Das sind deine Freunde.“
„Hermine ist auch nur eine Freundin.“
Jetzt wäre nicht der richtige Moment, Anne davon zu erzählen, dass Hermine ihn gebürstet hatte, dachte er. Sirius hatte sich wieder beruhigt und wollte dieses Missverständnis ein für alle Mal klären, nahm dafür auch Annes andere Hand in seine, damit sie sich zu ihm drehen musste.
„Ich ertrage es nicht, wenn solche Dinge weggeworfen werden sollen. Von meinen Freunden habe ich kaum noch Fotos. Die sind alle von meinen Eltern in den Müll geworfen oder im Kamin verbrannt worden, nachdem ich von Zuhause weggegangen bin. Sie haben all das, was mir gehörte, vernichtet!“ Er seufzte. „Lass mir doch diese kleine Wunderlichkeit.“
Einen Moment lang überlegte Anne, schien aber verständnisvoll zu sein. „Von mir aus, solange du nur nicht die Kontrolle verlierst und eines Tages gar nichts mehr wegwerfen kannst.“
„Wird nicht passieren, versprochen.“
Vom Flur hörten beide das Geräusch von einem aneinander reibenden Stoff, der offenbar zu Boden fiel. Sirius rechnete damit, dass sein Umhang runtergefallen sein musste und folgte Anne in den Flur.
„Hast du noch Hunger?“, wollte sie wissen, als sie den Umhang aufhob und ein auffälliges Gewicht bemerkte. Durch den Stoff tastete sie die Innentasche ab.
Wenn er bei Sid war, musste er nie Hunger leiden und erwiderte daher: „Einen kleinen Happen höchstens. Nichts Aufwändiges.“
Sie hatte die Box in seiner Tasche befühlt. „Was ist das?“
Nun fiel ihm wieder ein, weshalb er Hermine heute überhaupt aufgesucht hatte.
„Das ist ein Zeichen meiner Vergesslichkeit!“ Langsam kam er auf Anne zu und umarmte sie von hinten. „Ginny hat es mir gegeben, damit ich es bei Hermine vorbeibringe, wenn ich heute Mr. Duvall aufsuche. Siehst du? Ich hab es vergessen.“ Mit streichenden Bewegungen glitten seine Hände an ihren Armen hinauf bis zur Schulter. „Lass uns in die Küche gehen. Ich würde gern über etwas mit dir reden; wollte ich schon lange.“
„Über was?“ Trotz ihres skeptischen Gesichtsausdrucks ließ sie sich dennoch von ihm aus dem Flur in die Küche führen.
„Über Kinder und was du darüber denkst.“
„Kinder?“
In der Küche angekommen setzte er sie auf einen Stuhl, bevor er mit schelmischen Lächeln erklärte: „Ja, Kinder. Du weiß doch … Diese hüfthohen Kreaturen“, mit der Hand zeigte er eine ungefähre Größe, „die so viel Unsinn im Kopf haben.“
„Ah, du meinst dich selbst als Miniaturausgabe!“
Sirius lachte auf, nickte aber zustimmend. „So ähnlich, ja. Eine Miniaturausgabe von dir und mir, vereint.“
Sie lächelte, doch es verblasste zusehends, weshalb Sirius sich neben sie setzte und sie hoffnungsvoll anblickte.
„Ich weiß nicht, Sirius. Ich …“
„Es muss ja nicht sofort sein. Ich wollte nur wissen, wie du darüber denkst.“
„Im Prinzip denke ich positiv darüber.“
„Na bestens.“ Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Möchtest du auch etwas essen?“ Im Vorratsschrank spürte er ein Glas mit Spargel auf, das er ihr zeigte. „In Schinken eingerollt?“
„Wieso denkst du jetzt über Kinder nach?“, fragte sie vorsichtig, ohne auf sein kulinarisches Angebot einzugehen.
Das Glas Spargel umfasste er mit beiden Händen, während er nach den richtigen Worten suchte. Schon seit seinem Gespräch mit Remus und dem möglichen Nachwuchs war er keinesfalls abgeneigt, selbst Kinder zu haben.
„Ich bin jetzt bereit, so eine Verantwortung zu übernehmen.“ Unweigerlich musste er an seinen letzten Besuch bei seinem Patensohn denken und an Nicholas, der ihn dazu bewegt hatte nachzudenken, wie das Leben mit einem eigenen Kind ablaufen könnte.
„Und mein Job?“
„Kannst du natürlich behalten! Hast du etwa Angst, ich würde dich am Ende doch noch in eine altmodische Rolle drängen?“ Weil Harry mit ihm einmal über das Thema gesprochen hatte, wusste Sirius, dass er anfangs tatsächlich so gedacht und auch so gehandelt hatte. „Das wird nicht passieren. Du bist glücklich bei dem Hutmacher. Wer bin ich schon, um dieses Glück zu zerschlagen?“
Anne lächelte endlich wieder. „Es ist gut zu wissen, wie du jetzt darüber denkst. Wenn ich mich daran erinnere, wie du gezetert hast, als ich mir eine Arbeit suchen wollte …“
„Ach, das ist doch Schnee von gestern. Ich bin lernfähig, weißt du?“ Sein Schmunzeln war nicht zu übersehen. „Also möchtest du jetzt oder nicht?“
Ihre Augen wurden ganz groß. „Jetzt sofort?“
„Ich rede vom Spargel.“
„Oh.“
Dieses Edelgemüse sollte es am Samstagmittag auch bei den Grangers geben, denn die Spargelsaison reichte von April bis Juni.
Überpünktlich hatte sich Severus bei Hermine in der Apotheke eingefunden. Sie war noch nicht fertig, so dass er sich die Langeweile mit einer Zeitschrift vertrieb, die im Wohnzimmer lag. Seinen Hund hatte er mitgebracht. Das letzte Mal hatte es sich als günstig erwiesen, beide Tiere zusammen zu lassen. Fellini richtete auf diese Weise weniger Chaos an, wenn er einen Kameraden an seiner Seite hatte und Harry würde keine Gelegenheit finden, Severus‘ Schuhe zu zerkauen.
„Ich bin gleich fertig“, hörte er Hermines Stimme vom Flur, bevor die Tür zu ihrem Schlafzimmer ins Schloss fiel.
Nach nur wenigen Minuten stand sie im Türrahmen zum Wohnzimmer. Sie trug Muggelkleidung, die er nicht als besonders schick bezeichnen konnte. Eine dunkelblaue Jeans und eine helle Bluse. Die Kleidung wirkte dezent, geradezu leger, was ihn nicht überraschen sollte. Es handelte sich immerhin um einen Besuch bei ihren Eltern und nicht um einen Empfang von Diplomaten.
„Von mir aus können wir.“ Hermine zog sich eine leichte Jacke über, bevor sie noch ihre große Tasche nahm. Nachdem er aufgestanden war und sie ihn gemustert hatte, zog sie eine Augenbraue in die Höhe. „Keine Blumen?“
„Die sind sicher in meiner Innentasche verstaut – verkleinert – wie auch die Flasche Elfenwein, die ich meinen persönlichen Vorräten entnommen habe.“
„Gut, dann würde ich sagen, wir apparieren in den hinteren Teil des Gartens.“
„Du musst mich schon mitnehmen, Hermine. Ich kenne das Ziel nicht.“
Das Seit-an-Seit-Apparieren war Hermine vertraut. Auf diese Weise hatte sie während des Krieges einigen Menschen, meist Kindern, das Leben gerettet. Es war notwendig, die andere Person zu berühren. Wie selbstverständlich nahm sie Severus‘ Hand.
„Bereit?“, fragte sie.
Ein Nicken war Bestätigung genug. Mit viel Übung hatte Hermine es dank ihrer Geschicklichkeit seit einigen Jahren bewerkstelligt, mit einem unmerklichen Geräusch zu erscheinen, anstatt mit einem lauten Knall.
Severus fand sich bei strahlendem Sonnenschein in einem blühenden Garten wieder. Ein süßer Duft lag in der Luft, der von den vielen Blumen herrührte, aber auch der Geruch von Tieren war hier sehr ausgeprägt.
„Ich glaub’s ja nicht!“, rief Hermine begeistert aus. Einige überdachte kleine Ställe an der Hauswand hatten ihre Aufmerksamkeit erregt. Er wurde von ihr gezogen, als sie zu den Verschlägen hinüberging. „Kaninchen! Meine Eltern haben wieder Kaninchen.“
„Hermine?“, hörte man eine Stimme aus dem offenen Fenster rufen, so dass Hermine mit Severus an der Hand die Überdachung wieder verließ.
Severus betrachtete die Frau mit den braunen Haaren, die aus dem Fenster schaute. Nicht nur ihr stetiges Lächeln erinnerte ihn an Hermine, denn die Gesichtszüge deuteten unweigerlich auf den Fakt hin, dass es sich um ihre Mutter handeln musste. Die Ähnlichkeit war nicht von der Hand zu weisen. Erst jetzt bemerkte er, was für einen Eindruck sie beide machen mussten, weil Hermine weiterhin seine Hand hielt. Er nahm sich vor, das Seit-an-Seit-Apparieren und die dazugehörige Unverzichtbarkeit der Berührung später in einem Nebensatz fallen zu lassen, um damit die jetzige Situation erklären zu können. Severus löste seinen Griff und streckte seine Finger, aber ihre Hand wurde er trotzdem nicht los.
„Kommt doch rum zur Tür“, bat Mrs. Granger mit einem Wink ihrer Hand, bevor sie vom Fenster verschwand.
Hermine drehte sich breit grinsend zu Severus um. „Das war meine …“
„Dass es sich nicht um deinen Vater gehandelt hat, habe ich mir bereits gedacht.“ Seine Worte brachten Hermine zum Schmunzeln, bevor sie ihn leicht am Ellenbogen berührte und ihm ums Haus führte.
„Ach“, eine stoppende Geste ihrer Hand begleitete das Wort, „die Geschenke. Es ist besser, sie hier draußen zu vergrößern. Ich habe im Haus meiner Eltern schon mal was kaputtgemacht, als ich gezaubert habe. Die ganze Technik ist da sehr empfindlich.“
Ihrer Aufforderung kam Severus im Nu nach, so dass er Blumen und Flasche in der Hand hielt. Als sie gemeinsam um das Haus herumgegangen waren, fiel Severus der kitschige Gartenzwerg auf, aber er verkniff sich all die bösartigen Kommentare, die ihm auf der Zunge lagen. Die Vordertür wurde aufgerissen und Mrs. Granger stand freudig erregt und mit glänzenden Augen vor den beiden. Sie begrüßte zunächst ihre Tochter; drückte sie fest an sich. Innerlich stählte sich Severus für die bevorstehende Bekanntmachung und er hoffte, dass Hermine so geistesgegenwärtig sein würde, ihn vorzustellen.
„Das ist …“, Hermine deutet auf ihn, aber ein Moment der Stille trat ein, so dass er in Erwägung zog, seinen Namen zu nennen. Hermine kam ihm jedoch zuvor. „Das ist Severus.“
Er nahm sich vor, sie später dafür zur Rechenschaft zu ziehen, ihn beim Vornamen genannt zu haben. Es war an der Zeit, die Hand auszustrecken, um Mrs. Granger zu begrüßen. Ihre andere ruhte auf ihren Brustkorb, als sie ganz bewegt sagte: „Nennen Sie mich doch bitte Jane, Severus.“ Ihre warme Stimme erinnerte ihn ebenfalls an Hermine. Er hielt der Gastgeberin die Blumen entgegen.
„Eine kleine Aufmerksamkeit“, sagte er trocken und vermied bewusst die Anrede mit Vornamen.
Freudestrahlend nahm sie den Strauß entgegen und roch an einer der Blumen. „Das wäre doch nicht nötig gewesen.“ Severus stimmte der Aussage von Mrs. Granger innerlich zu, denn der Garten hinterm Haus war voll mit Blumen. „Kommt doch bitte rein.“
Überrascht war Severus vom angenehm eingerichteten Wohnzimmer, in dem er sich sofort heimisch fühlte. Das lag vermutlich daran, spekulierte er, dass Hermine unbewusst den Stil der Eltern übernommen hatte. Bei ihr fühlte er sich ebenso wohl. Mit geschultem Blick überflog er die Inneneinrichtung. Nur wenig Kitsch und Tinnef ließ ihn innerlich erschauern, wie das offensichtlich von einem Kind mit Tusche gemalte Bild eines Engels, das zwei Kinder bei ihrem Spiel am Fluss behütete.
Hermine bemerkte seinen Blick und verkündete stolz: „Das hab ich gemalt!“
Als Information fügte ihre Mutter fröhlich hinzu: „Sie war erst sieben.“ Beide blickten ihn an, weil sie eine Meinung erwarteten, was für Unruhe sorgen könnte, sollte er die Wahrheit sagen.
„Für dieses Alter ein überraschend sicherer Pinselstrich.“ Diese höfliche Aussage sollte genügen, ohne mitteilen zu müssen, dass er es scheußlich fand. Offenbar waren beide Damen damit zufrieden.
„Wo ist Dad?“ Nach Hermines Frage war eine männliche Stimme und Schritte von der Treppe in den ersten Stock zu hören.
„Hier kommt er schon“, präsentierte sich Mr. Granger, den Severus um einiges älter schätzte als Mrs. Granger. Der folgende Händedruck war fest und sicher. „Mr. …?“
„Nur Severus“, warf Hermine erneut als Vorstellung ein und er nahm sich vor, sie nicht erst heute Abend in der Apotheke, sondern bereits im Laufe des Tages auf ihren Fauxpas aufmerksam zu machen. Es gehörte sich nicht, Erwachsene nur mit Vornamen vorzustellen.
„Severus! Hermine hat uns schon viel von Ihnen erzählt? Ein ungewöhnlicher Name, aber ein faszinierender. Mein Name ist Joshua“, stellte sich Mr. Granger vor.
„Auch Ihnen habe ich eine Kleinigkeit mitgebracht.“
Severus war froh, die Flasche Elfenwein an Mr. Granger abgetreten zu haben, denn somit war Punkt 1 – die Bekanntmachung – auf der „To-do-Liste“ abgehakt. Der folgende Plausch und das anschließende Essen hatte er in einem Punkt zusammengefasst. Er hatte sich vorgenommen, höflich zu bleiben und auf alle Fragen zu antworten. Nach dem Essen würde der letzte Abschnitt des Tages folgen: noch mehr Plauderei. Hier nahm sich Severus vor, das Gespräch auf die geschäftliche Ebene zu ziehen, denn er wollte klären, wie er Mr. Granger die Hälfte des Kaufpreises für die Apotheke zukommen lassen konnte.
„Ein Elfenwein?“, fragte der Beschenkte heiter. „Ich werde das Etikett lösen müssen, sonst kommen nur dumme Fragen, wenn jemand die Flasche sehen sollte. Vielen Dank, Severus. Für Getränke aus der magischen Welt bin ich immer zu haben.“
Hermine flüsterte Severus zu: „Er probiert gern Neues aus.“
Das Haus war nicht überdimensional groß, aber man merkte, dass es sich bei den Grangers nicht um Not Leidende handelte. Sie schienen sehr gut zu verdienen. Das Zimmer, in das man sie nun führte, wurde fast vollends von einem Esstisch ausgefüllt und offenbar auch nur zu diesem Zweck genutzt.
„Nehmen Sie doch Platz, Severus. Darf es eine Erfrischung sein?“ Mrs. Granger strahlte ihn vorbehaltlos an, nannte ihm derweil einige Getränke, von denen er irgendeines nahm, nur um nicht mehr im Mittelpunkt zu stehen.
„Schatz?“ Hermine blickte zu ihrem Vater. „Wie läuft es mit der Apotheke? Mit der Kundschaft zufrieden?“
„Oh ja, mehr als zufrieden. Ich habe eine Menge Arbeit und würde es nicht allein schaffen.“ Die Grangers wussten natürlich, dass er der Neue an Bord war, weswegen Hermines Antwort ihren Vater dazu veranlasste, zu Severus hinüberzusehen und das Wort an ihn zu richten.
„Sie sind also auch Zaubertränkemeister?“
Severus bemühte sich, keine spitze Bemerkung von sich zu geben. Es sollte längst klar sein, dass er einer war.
„Korrekt.“ Die Antwort war selbst ihm ein wenig zu karg, beantwortete dennoch die Frage von Mr. Granger wahrheitsgemäß.
„Und Hermine hat bei Ihnen ihren Meister gemacht?“, fragte Mr. Granger nach.
„Das ist richtig.“ Zumindest waren es schon drei Wörter – langsam taute er auf.
Von Mr. Granger wurde er einen Moment lang skeptisch betrachtet, wandte sich jedoch wieder Hermine zu, um sich mit ihr über die neusten familiären Neuigkeiten auszutauschen. Mrs. Granger brachte derweil das Mittagessen herein. In dem Wissen, dass man seine Hilfe ablehnen würde, bot er sie ihr an. Sie winkte wie erwartet ab und war nach wenigen Minuten mit ihrer Arbeit fertig, begann dann, den Gästen das Essen aufzutun. Punkt 2 seiner Liste trat ein: das Essen. Severus konzentrierte sich wenig auf das Gericht, kam dennoch nicht umher, den guten Geschmack zur Kenntnis zu nehmen, was er höflichkeitshalber verbal äußerte. Sein Kompliment zauberte eine sanfte Röte auf Mrs. Grangers Gesicht, bevor sie sich für die Nettigkeit bedankte.
„Severus?“ Während Hermine mit ihrem Vater sprach, ging Mrs. Granger auf Tuchfühlung mit dem dunkel gekleideten Gast zu ihrer Rechten. „Hermine sagte, Sie seien schon sehr lange ein Meister auf Ihrem Gebiet.“
„Meine Ausbildung begann ich recht zeitig nach Beendigung der Schule“, erklärte er. Weil sie so interessiert dreinschaute, fügte er noch hinzu: „Ich habe keine zwei Jahre benötigt, um die Prüfung zu bestehen.“
„Bei wem haben Sie Ihre Ausbildung gemacht?“
„Mein ehemaliger Lehrer in Zaubertränken war so frei, mich unter seine Fittiche zu nehmen.“
Mrs. Grangers formschön gezupften Augenbrauen wanderte in die Höhe. Gerade wollte Severus etwas erklärend hinzufügen, da wurde er sich über die Stille bewusst, die im Raum herrschte. Ein Blick nach vorn und zur Seite verriet ihm den Grund. Mr. Granger sowie Hermine beobachteten ihn und folgten seinem Gespräch mit Mrs. Granger sehr aufmerksam. Mit einem Male verfinsterte sich Mr. Grangers Gesichtsausdruck.
„Das war doch nicht etwa dieser …?“
Hermine unterbrach ihn auffällig hastig. „Slughorn! Das war Professor Slughorn damals. Wir hatten ihn in der sechsten Klasse.“
„Ah“, machte ihr Vater, der von dieser Information wieder besänftigt war.
Severus hegte einen Verdacht, konnte den aber nicht analysieren, weil er sofort von der Dame des Hauses in ein Gespräch verwickelt wurde.
„Sind Ihre Eltern beide Zauberer?“
Severus verneinte mit einem Kopfschütteln. „Nur meine Mutter. Mein Vater war ein …“
Er stoppte sich, um nicht mit Worten um sich zu werfen, die eventuell als Beleidigung aufgefasst werden könnten, doch Mrs. Granger nahm es ihm ab, den Satz zu vervollständigen.
„Ein Muggel.“ Sie blickte zu Hermine. „Unsere Tochter und die Familie Weasley haben uns über einige Situationen der magischen Welt aufgeklärt. Auch über Squibs und Reinblüter.“
Nach dem Essen half Hermine ihrer Mutter, den Tisch abzuräumen, während Mr. Granger den Gast in den Garten führte, um dort ein wenig zu plaudern.
Vom offenen Fenster der Küche aus konnte Hermine die beiden sehen, als sie das Geschirr mit der Hand abwusch, weil der Geschirrspüler defekt war. Sie bemerkte, wie auch ihre Mutter beim Abtrocknen immer wieder nach draußen schaute, um den Gast zu beäugen.
„Was hältst du von ihm?“, fragte Hermine mutig. Ihre Mutter hielt einen Moment beim Abtrocknen inne, machte dann aber weiter, damit es nicht auffallen würde, wie sehr sie über eine Antwort nachdachte. „Und?“, drängte Hermine. Sie hatte das seltsame Gefühl, dass ihre Mutter den Altersunterschied ansprechen könnte, doch zusammen zu arbeiten sollte nicht vom Alter abhängen. Außerdem würde ihre Mutter bestimmt nicht darauf zu sprechen kommen, da sie selbst fast fünfzehn Jahre jünger war als ihr Gatte.
„In so einem Alter …“, begann ihre Mutter, bevor sie von Hermine unterbrochen wurde.
„Ich wusste es“, murmelte sie.
„Hermine, Schatz. Lass mich bitte ausreden.“ Hermine nickte, so dass ihre Mutter fortfahren konnte. „Ich wollte sagen, dass man auch in so einem Alter keinesfalls zu alt ist, um sich seine Zähne richten zu lassen.“
Mit vor Schreck ganz großen Augen sagte Hermine mahnend und ebenso nörgelnd: „Mum!“
„Du hast mich gefragt“, hielt sie ihrer Tochter schmunzelnd vor Augen. „Was erwartest du? Ich bin Zahnärztin! Was meinst du wohl, wo mein Augenmerk liegt.“
„Und mal abgesehen ‘davon‘ …“ Hermine konnte sich das Augenrollen nicht verkneifen. „Was denkst du sonst von ihm?“
„Na ja, er ist ein wenig, ähm, wortkarg?“
„War das eine Frage?“, spöttelte Hermine auf nette Weise.
„Ich glaube nur langsam, dass ich bei dir aufpassen muss, was ich überhaupt sage.“ Das letzte saubere Glas stellte ihre Mutter gerade ins Schränkchen zurück, bevor sie Severus und ihren Mann dabei beobachtete, wie sie es sich am Gartentisch gemütlich machten. „Er wirkt mysteriös und verschlossen. Es wundert mich, Hermine, dass du so gut mit ihm auskommst, um sogar die Apotheke mit ihm führen zu wollen.“ Draußen hatte Mr. Granger ganz offensichtlich die Gesprächsführung übernommen.
„Er ist gar nicht so schlimm, wenn man ihn erst einmal kennen gelernt hat.“
„Mag er Eis?“ Ihre Mutter nahm bereits vier Glasschälchen aus der Vitrine.
„Keine Ahnung. Ich glaube nicht.“
„Versuchen wir’s einfach. Holst du es bitte aus der Tiefkühltruhe?“
Die Konversation mit Hermines Vater zerrte an Severus‘ Nerven. Was Antworten betraf, so war Joshua Granger keinesfalls genügsam. Hermines Vater zeigte seine Unzufriedenheit über unzureichend gegebenen Antworten, indem er ständig nachfragte, um endlich eine gehaltvollere Information zu erhalten. Zwar wollte Severus höflich bleiben, aber seiner Meinung nach ging es keinen etwas an, womit er sich damals die Zeit vertreiben musste.
Mr. Granger klang bei seinem Gespräch mit Severus bereits sehr ungeduldig, als Hermine mit ihrer Mutter an den Tisch kam. Er ließ das Thema – welches es auch immer war – fallen und widmete sich den Damen, was Severus erleichtert zur Kenntnis nahm. Es war jedoch Mrs. Granger, die nun versuchte, Persönliches aus ihm herauszukitzeln.
„War Hermine eigentlich eine angenehme Schülerin, als sie ihren Meister bei Ihnen gemacht hat?“
Eine kluge Frau, dachte Severus. Das Gespräch fand zwar mit ihm statt, aber nicht über ihn. Zumindest vorerst.
„Ihre Tochter verfügt über einen scharfen Verstand, der es ihr offenbar erleichtert, viel im Gedächtnis zu behalten“, erwiderte er höflich.
„Ja, das kann ich mir vorstellen, aber war sie manchmal …“
„Mum“, warnte Hermine.
Severus hielt nicht mehr zurück. „Sie war manchmal ein wenig vorlaut, um nicht genau zu sagen“, gespannt warten alle auf seine Beschreibung, „frech.“ Ein schiefes Lächeln zeichnete sich auf den schmalen Lippen des Tränkemeisters ab.
„Das ist meine Tochter“, lobte Mr. Granger sie neckisch, indem er ihr über den Rücken strich.
„Können wir vielleicht über was anderes reden?“ Es war ein seltsames Gefühl, nur Inhalt einer Unterhaltung zu sein, weshalb sie einen Themenwechsel anstrebte.
„Oh sicher, wir könnten zum Beispiel fragen“, Mr. Granger schaute einmal zu seiner Frau hinüber, dann wieder zu Severus, „warum Sie so vernarrt in die Apotheke sind, dass Sie gleich mit der Hälfte einsteigen möchte.“
„Vernarrt?“, fragte Severus verdutzt nach. „In die Apotheke?“
„Etwa in was anderes?“, stichelte ihr Vater keck.
Severus musste diese Zweideutigkeit sofort zerschlagen, bevor sich ein Bild im Kopf der Grangers formte, das ihm womöglich noch zum Verhängnis werden könnte.
„Mein jetziger Beruf bringt mir weder Freude noch ist er sonderlich produktiv.“
„Mmmh“, machte Mr. Granger nachdenklich. „Und was machen Sie jetzt?“
„Ich bin bis Ende Juni in Hogwarts als Lehrer beschäftigt“, erwiderte er aufrichtig.
„In welchem Fach, wenn ich fragen darf?“
Mrs. Granger vermutete laut: „Na, ich nehme doch an, es wird sich um Zaubertränke handeln?“
„Korrekt“, bestätigte Severus knapp.
„Zaubertränke? Dann können die Schüler ja von Glück reden, nicht mehr unter Ihrem Vorgänger leiden zu müssen.“
Jeder Muskel in Severus‘ Körper verspannte sich. Dass selbst die Muskeln seines Kiefers sich verzogen, begrüßte er, denn das hielt ihn davon ab, eine Salve Beleidigungen in Richtung Mr. Granger abzufeuern. Severus wusste gar nicht, wie er reagieren sollte, also reagierte er lieber gar nicht.
„Hat Ihnen Hermine von diesem Mann erzählt?“, fragte Mr. Granger unschuldig dreinblickend.
Diesen Moment nutzte Hermine, um ihren Vater abzulenken. „Dad, hab ich schon erzählt, dass Severus mir geholfen hat, bei der Körperschaft der Zaubertränkemeister …“
„Ja, Schatz“, winkte er ab, bevor er sich wieder Severus zuwandte. „Hat sie erzählt, was für ein schlimmer Finger das war?“
„Dad, bitte nicht, das ist schon so lange her.“
„Es könnte doch sein“, er blickte seine Tochter an, „dass er ihn sogar kennt.“ Wieder zu Severus blickend fragte er: „Kannten Sie ihn?“
Severus beschränkte sich darauf, Mr. Granger lediglich anzustarren und hoffte, somit vor weiteren Anspielungen geschützt zu sein, doch Hermines Vater war gegen jeden Todesblick immun.
„Was Hermine und ihre Freunde uns damals erzählten, das geht auf keine Kuhhaut! Wie hieß er? Snape?“
„Dad …“
„Ein völlig unfähiger Lehrer, der doch tatsächlich …“
Wieder stoppte Hermine ihren Vater. „Das war einmal, Dad!“
„Liebes“, beschwichtigte er seine Tochter, „lass mich bitte ausreden.“
„Mr. Granger.“ Endlich hatte Severus nicht nur die Fassung, sondern auch die Stimme wiedergefunden, wenn diese auch nur leise säuselnd zu vernehmen war. „Die verzweifelten Versuche Ihrer Tochter, dieses Thema unter den Teppich zu kehren, rühren von dem Wunsch her, Ihnen und auch mir eine große Unannehmlichkeit zu ersparen.“
Mit in Falten gelegter Stirn fragte Mr. Granger nach: „Wie meinen Sie das?“
„Drücken wir es mal so aus: Ich weiß jetzt, warum Hermine mich Ihnen nicht mit meinem Nachnamen vorgestellt hat.“
Bis auf das Surren der Bienen, die an den Blumen im Garten artig ihren Blütenstaub sammelten und das Zwitschern der Vögel in den umliegenden Bäumen war im Moment nichts anderes zu hören. In dem Gesicht von Mr. Granger konnte Severus erst eine Art unangenehme Erschrockenheit feststellen, bevor die Miene des Mannes mit einem diabolisch selbstzufriedenen Grinsen geziert wurde, was selbst Severus einen Schauer über den Rücken jagte.
„Dann sind Sie also“, begann Mr. Granger langsam, „Professor Snape?“
„Das ist richtig.“
Die leichteste Art, die Zähne zu zeigen, war ein Lächeln. Mr. Granger lächelte, doch eines seiner Augenlider zuckte nervös, als er betont freundlich verkündete: „Oh, wie oft habe ich mir gewünscht, mal ein paar Worte mit Ihnen wechseln zu dürfen.“
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
~ Muggelchen.net ~
~ Muggelchen.net ~