Harry Potter und die Schatten der Vergangenheit - BEENDET

Hier könnt ihr eure Fanfictions und Gedichte zu Harry und seiner Welt vorstellen.

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Muggelchen
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Kapitel 221 - 3/3

Nach dem Pfiff setzten sich unzählige Tonnen Stahl in Gang. Die Töne, die der rotschwarze Zug von sich gab, wurden sogleich von Nicholas nachgemacht. Das Geräusch zum Spielzeug war erlernt. Harry gab Hagrid, der ganz vorn am Bahnsteig stand, ein Zeichen. Mit der Faust nach oben winkelte er den Arm an und ahmte eine ziehende Bewegung nach. Hagrid verstand und machte die gleiche Bewegung nach, die der Zugführer sehen musste, denn der Halbriese war auf gleicher Höhe wie das Führerhaus. Harry wurde nicht enttäuscht. Das kräftige Signalhorn erklang dreimal hintereinander. Hellaufbegeistert warf Nicholas seine Arme in die Höhe, traf Harry dabei mit der Faust im Schritt. Der Schlag war nicht stark, aber er brachte Harry dazu, sich kurz zu krümmen. Ein brummendes, fast nicht hörbares Lachen war zu vernehmen.

„Freut mich, Severus“, begann Harry lachend, „dass ich zu deinem Amüsement beitrage.“
„Wir sollten langsam …“
„Nein, ich will noch zum Bahnhofsvorsteher. Wegen einer Pfeife.“
„Kannst du die nicht in der Winkelgasse kaufen?“
„Könnte ich“, bestätigte Harry, „aber Nicholas soll die Assoziation zum Bahnhof haben.“
„Meinetwegen“, seufzte Severus.

Er folgte Harry bis zum kleinen Häuschen, wo der Bahnhofsvorsteher schon damit begann, seine Sachen zu packen. Auch für ihn begannen jetzt die Ferien.

Eine Fensterhälfte war geöffnet. Harry lugte hindurch. „Entschuldigung, Sir.“
„Was ist denn?“, kam schroff zurück. Als der Mann sich umdrehte, wurde er mit einem Male freundlich. „Ah, Mr. Potter. Was für eine Ehre. Ich hoffe nicht, Sie wollten den Zug nehmen.“
„Nein, das nicht. Ich bin wegen einer Trillerpfeife hier. Haben Sie vielleicht noch eine unbenutzte hier?“
„Verstehe ich recht? Sie möchten eine Trillerpfeife von mir haben?“
„Nicht für mich, sondern für …“ Harry hielt inne, weil der Mann zu Severus hinüberschaute und vermutete, dass der eine haben wollte. „Mein Sohn.“ Harry griff neben sich und hob Nicholas hoch, so dass der auch durchs Fenster schauen konnte.
„Ach, den Kleinen habe ich ja gar nicht gesehen.“ Von dem Anblick des Jungen schien der Mann verzückt. „Du willst also eine Pfeife haben?“ Nicholas verstand den Mann nicht, presse aber seine Lok gegen die Scheibe. „Ah, so angetan warst du von dem Express, ja?“ Der Bahnhofsvorsteher blickte nochmals Harry an. „Ich muss mal nachsehen.“ Aus einer Kiste holte der Mann zwei noch verpackte Pfeifen. „Hier, mein Junge. Eine für dich“, die Pfeife an der Schur baumelte vor Nicholas’ Gesicht herum, bis er zugriff, „und eine für deinen werten Vater.“
„Ich, ähm …“ Harry nahm die Pfeife entgegen, was Severus mit einem Schnaufen kommentierte.
Eben jenes Schnaufen erweckte die Aufmerksamkeit des Bahnhofsvorstehers. „Möchte der Herr vielleicht auch eine?“
„Nein, danke“, lehnte Severus ab. „Es reicht mir, wenn ich den Rückweg mit zwei Pfeifen antreten muss.“
„Na, dann wünsche ich Ihnen dreien schöne Ferien.“
„Auf Wiedersehen, und nochmals vielen Dank.“

Gemütlich schlug sie den Weg zu den Kutschen ein. Dort wurden Severus und Harry von Filius überrascht.

„Ich darf doch bei Ihnen mitfahren, oder?“, fragte der kleinwüchsige Lehrer.
Harry nickte. „Sicher doch, aber was ist mit Hagrid?“
„Ach, den sollte man auf dem Rückweg lieber in Ruhe lassen. Er ist viel zu sensibel.“ Filius beäugte Nicholas und grinste. „Ha, endlich bin ich mal nicht der Kleinste.“
„Fehlt aber nicht mehr viel.“
„Lassen Sie mir doch die Freude, Severus.“
„Filius? Haben Sie Ginny gesehen?“, wollte Harry wissen.
„Die ist schon vor die Tore appariert und ist jetzt sicherlich schon beinahe im Schloss.“
„Ach, Harry“, Severus öffnete bereits die Tür der Kutsche, „es wäre nett, wenn die Pfeifen noch in ihrer Verpackung bleiben.“
„Aber …“
„Es könnte die Thestrale scheumachen.“
„Oh.“

Auf diese Weise blieb Severus ein Pfeifkonzert erspart, als sie zurück nach Hogwarts fuhren. Dennoch blieb es nicht leise. Nicholas machte mehrmals laut Tschu Tschu, fuhr dabei mit seiner Lok auf dem Boden der Kutsche entlang – gefährlich dicht an Severus’ Füßen.

Im Schloss selbst war Severus irritiert, weil Filius hinter ihnen lief. So etwas mochte er gar nicht. Den Rücken wollte er immer frei haben. Andererseits war der Krieg vorbei. Filius war ein loyaler Kollege. Von ihm musste er nichts befürchten. Hagrid hatte als Erster das Lehrerzimmer erreicht und trat ein. Harry und Severus folgten, was nicht leicht war, denn Hagrid versperrte den Weg.

„Sind Sie dort festgewachsen?“, beschwerte sich Severus. Als Hagrid beiseite trat, eröffnete sich Severus ein bunt geschmücktes Lehrerzimmer. Farbenfrohe Girlanden hingen von der Decke; manche schwebten frei im Raum. Irgendjemand warf eine Luftschlange, die sich im Flug abrollte. Severus hatte jetzt schon genug. In dem Moment, als er sich umdrehte, um zu fliehen, hörte er die Tür zuschlagen. Mutig versperrte Filius ihm den Ausgang.

„Aus dem Weg“, brummte Severus.
Der Lehrer für Zauberkunst ließ sich nicht einschüchtern. „Nur über meine Leiche!“
„Das ließe sich einrichten. Noch irgendwelche letzten Wünsche?“, zischte Severus durch zusammengebissene Zähne. „Um Beerdigungskosten zu sparen könnte ich Sie in einem von Hagrids Schuhen beisetzen.“
„Severus.“ Die freundliche Stimme gehörte Remus. „Lass uns zusammen Harrys Abschied feiern.“

Erneut drehte sich Severus um. Es war nicht verwunderlich, dass die erschreckend schrille Farbgebung des Raumschmucks, für den sehr wahrscheinlich die Hauselfen verantwortlich zu zeichnen waren, einen Fluchtinstinkt in Severus geweckt hatten. Feiern dieser Art waren ihm zuwider. Sie waren kitschig und keineswegs amüsant. Zeitverschwendung würde es eher treffen, dachte er abschätzig.

„Harry, komm her.“ Wieder Remus, der mit seiner beschwichtigenden Freundlichkeit sogar Severus beruhigen konnte. „Setz dich doch.“ Harry nahm auf dem Stuhl Platz, den Remus für ihn vom Tisch gezogen hatte. Sein Junge hockte sich etwas weiter weg auf den Boden und spielte mit seiner Lok, bis er eine der Girlanden entdeckte und an ihr zog. „Und Severus?“ Severus blickte Remus ins Gesicht. Nichts Hinterhältiges war zu erkennen, nur Nettigkeit. „Vielleicht gleich neben Harry?“

Gerade wollte Hagrid es Remus gleichtun und den Stuhl höflich vom Tisch ziehen, da legte Severus stoppend eine Hand auf die Lehne. Er zog den Stuhl selbst ab und setzte sich missgelaunt neben Harry. Vorsichtig ließ Severus seinen Blick schweifen. Alle Lehrer waren anwesend, selbst Professor Binns, der seelenruhig in einem der Sessel döste. Sibyll sah aus, als wäre ihr übel. Wahrscheinlich hatte sie gerade eine Vision von ihrem eigenen Tod, der wahrscheinlich schien, wenn man Severus zu etwas nötigen wollte. Minerva war die Ruhe in Person. Gelassen blickte sie Severus in die Augen und gewann das Spiel, denn er schaute zuerst weg. Es war ungewöhnlich, Poppy ohne ihre Heilertracht zu sehen, sondern in ziviler Kluft. Sie wartete geduldig, bis sich die Lage wieder entspannte. Aurora und Septina saßen ihm gegenüber. Beide lächelten milde und hofften offenbar ebenfalls, dass die Spannung bald verfliegen würde. Remus setzte sich ebenfalls an den Tisch, direkt neben Rolanda, die mit ihrer Serviette spielte. Ein paar Kollegen begannen mit seichter Konversation, um Normalität vorzugaukeln. Für Severus war es alles andere als normal, so tückisch zu einem Abschiedsfest gezwungen zu werden. Albus hätte es ihm sagen können, dachte Severus aufgebracht. Der Direktor wusste genau, dass er ihm nichts abschlagen würde. Stattdessen hatte man ihn in eine Falle gelockt. Ein verärgertes Brummen stieg aus Severus’ Kehle empor. Er wandte den Kopf und erblickte jetzt erst Pomona. Gleich neben ihr verharrte Neville bewegungslos an die Wand gepresst. Sein Gesicht wies die gleiche Blässe auf wie damals im Unterricht, wenn er dem einen Lehrer gegenüberstand, vor dem er die meiste Angst hatte. Mit einem Schlag wurde sich Severus darüber bewusst, dass sein gereiztes Auftreten den Grund darstellte, warum jegliche Freude aus Nevilles Gesicht verschwunden war. Gewissenbisse waren für Severus nicht neu, aber er hatte lange keine mehr verspürt, bis jetzt.

„Setzen Sie sich doch bitte alle“, bat Severus mit gleichgültiger Stimme. Er zwang sich, noch ein wenig lockerer zu wirken. „Wer schenkt mir Kaffee ein?“

Remus griff zur Kaffeekanne und füllte Severus’ Tasse, fragte gleich darauf die anderen. In der Mitte des Tisches stand ein großer, dunkler Kuchen. In Zukunft müsste er sich besser tarnen, dachte Severus, und seine Vorlieben geheim halten, denn wie es aussah, hatte man eine seiner Schwächen ausgemacht, die man nun gegen ihn verwendete. Eine Nougattorte mit dicker Schokoladenglasur dünstete ihr kräftiges Aroma aus. Trotz des Frühstücks, das er heute zweimal genießen durfte, bekam er wieder Appetit.

„So“, Remus blickte fröhlich in die Runde und rieb sich die Hände, „wer möchte alles ein Stück Kuchen?“
Harry blickte über seine Schulter, denn sicherlich wollte Nicholas auch etwas haben. „Nicholas, nicht die Girlanden essen. Komm her, hier gibt’s Kuchen“, lockte er. „Mit viel Schokolade!“ Schon war Nicholas bei ihm und erklomm den Schoß seines Vaters so beschwerlich, als wäre es der Mount Everest.

Ein lockeres Gespräch kam nicht in Gang. Albus hielt sich zurück, obwohl er in solchen Situationen immer einen passenden Anfang machen konnte. Zu Severus’ Entsetzen war es Sibyll, die das Wort an ihn richtete.

„Sie haben also wirklich eine Apotheke?“, fragte die Lehrerin für Wahrsagen. Perplex blickte Severus sie an. Jeder Geist, jedes Gemälde, sogar die Schüler wussten, was er nach seinem Abschied in Hogwarts machen wollte. „Entschuldigung“, sagte sie verlegen. „Ich bekommen in meinem Turm nicht immer alles mit. Mein Kenntnisstand ist wohl nicht sehr aktuell?“
Severus behielt die Ruhe. „Sie haben Recht. Ich teile mir eine Apotheke mit Miss Granger.“ Alle schauten ihn aufmerksam an. „Und eigentlich müsste ich jetzt, in dieser Sekunde, längst dort im Labor stehen und Tränke brauen.“
„Ach“, winkte Albus ab, „Hermine wird sicherlich Verständnis dafür haben, dass deine Kollegen dich noch einmal zu Gesicht bekommen möchten, bevor du sie verlässt.“
„Wie läuft die Apotheke so?“, fragte Rolanda interessiert. „Nachdem Mrs. Cara nicht mehr konnte, blieb sie eine Weile geschlossen.“
„Sie läuft bestens“, beteuerte Severus.
Aurora nickte. „Die Lage ist ja auch fantastisch. Viel Laufkundschaft, nehme ich an?“
„Sie sagen es.“
Sinistra übte sich ebenfalls in lockerer Konversation und fragte: „Arbeitet neben Miss Granger noch jemand bei Ihnen?“
„Wir haben eine Verkäuferin eingestellt. Sie macht auch die Buchführung“, erwiderte Severus. „Sie kennen Sie. Miss Daphne Greengrass.“
„Slytherin, oder?“, hakte Minerva nach.
„Ja.“
Gerade hatte Sibyll ihren Happen Kuchen geschluckt, wollte sie wissen: „Wo werden Sie denn wohnen?“
„In der Wohnung direkt über der Apotheke.“
Sibyll stutzte. „Und wo wohnt Miss Granger.“
Für einen Moment war Severus in Versuchung, seine Kollegin dumm sterben zu lassen, bevor er sich einen Ruck gab und mit genau den gleichen Worten antwortete: „In der Wohnung direkt über der Apotheke.“
Falten schlugen sich auf Sibylls Stirn nieder, bis sie plötzlich ihre Augen weit aufriss, die durch die dicken Brillengläser derart monströs wirkten, dass selbst Severus eine Gänsehaut über den Rücken lief. „Sie wohnen beide in einer Wohnung? Warum?“
Severus war über diese Frage gleichermaßen erstaunt und erschrocken, so dass er sogar darüber hinweg vergaß, mit den Augen zu rollen. „Miss Granger und ich sind …“ Er wollte es nicht an die große Glocke hängen. „Wir, ähm …“ Der Gedanke an Hermine ließ ihn an die vergangene Nacht denken – und an die Nächte, die noch folgen würden. Das wollte er mit niemandem teilen.
„Verlobt“, hörte er Harry sagen.
Sofort war Severus wieder bei Sinnen. „Richtig, danke Harry. Das ist genau das Wort, das mir nicht über die Lippen kommen wollte“, sein Tonfall wurde bedrohlicher, „weil es sich um eine äußerst private Angelegenheit handelt.“ Es war raus, dachte er erleichtert. Keine Buhrufe, keine gerümpften Nasen – bis auf die von Hagrid, aber nur, weil sein Bart ihn kitzelte – und keine erbosten Zurechtweisungen. Erleichtert darüber wandte sich Severus nochmals seiner Kollegin für Wahrsagen zu. „Sie täten gut daran, häufiger in der großen Halle zu speisen. Setzen Sie sich neben Rolanda und Sie sind über alle Neuigkeiten im Nu informiert.“
„Na hören Sie mal, Herr Kollege“, Rolanda beugte sich am Tisch nach vorn, damit sie Severus sehen konnte. „Wollen Sie damit sagen, ich wäre eine Klatschtante?“ Darüber musste sie selbst grinsen.

Die Zeit mit seinen Kollegen war nicht so schlimm, wie er befürchtet hatte. Gesprächsthemen gab es zur Genüge. Severus war froh, dass Neville dem versammelten Kollegium von seinen Eltern berichtete. Das nahm allen Anwesenden das Interesse an seiner Person.

Am Ende überreichte man ihm ein Präsent. Offenbar hatten alle Lehrer etwas gespendet, um ein großes Geschenk zu besorgen. Auch Harry ging nicht leer aus. Nach einer persönlichen Verabschiedung, die seltsamerweise bei einigen der Damen sogar für Tränen sorgte – bei Pomona war es besonders schlimm – nahm er noch die Geschenke der Schüler an sich.

„Severus“, Albus Hand an seinem Unterarm, „es ist zwar unnötig, dich darüber zu informieren, weil es dir klar sein sollte, aber ich wollte es gesagt haben.“ Severus schaute Albus direkt in die blauen Augen. „Du bist hier jederzeit willkommen, jederzeit, wann immer dir danach ist, Hogwarts zu besuchen.“
„Danke, Albus. Momentan kann es mir aber nicht schnell genug gehen, Hogwarts zu verlassen.“
Daraufhin musste der Direktor lächeln. „Ich verstehe dich gut. Die Arbeit ruft“, über die Halbmondbrille hinweg glitzerten die Augen frech, „und nicht nur die.“

Ein leichtes Schulterklopfen, ein Zwinkern und schon hatte sich Albus zurückgezogen, wie alle anderen auch. Nur noch Remus und Harry waren bei ihm.

„Albus hat deinen Kamin schon sperren lassen“, informierte Remus. „Du kannst von Harrys Kamin aus in die Apotheke flohen.“
„Nein, ich habe mir vorgenommen, bis zum Tor zu gehen und dann zu apparieren.“
„Dann musst du aber Zwischenstopps einlegen“, erinnerte Harry, denn Hogwarts war weit entfernt von London.
„Das habe ich einkalkuliert. Ich möchte trotzdem das Stück laufen.“
„Wir können dich begleiten“, bot Remus an, doch Severus lehnte ab.

Die Geschenke hatte er magisch verkleinert und in seinem Umhang verstaut. Remus und Harry mit Nicholas auf dem Arm begleiteten Severus durch die leere Eingangshalle. Alle blieben verdutzt stehen, als sich die vier Hausgeister plötzlich zeigten. Der furchterregend aussehende Blutige Baron schwebte auf Severus zu.

Die stierenden, leeren Augen fixierten die von Severus, bevor der Hausgeist sprach: „Die Geister, die in diesem Schloss hausen, möchten Ihnen, werter Professor Snape, alles Gute für Ihren weiteren Lebensweg wünschen.“

Harry war sich nicht sicher, ob er den Blutigen Baron jemals zuvor sprechen gehört hat. Der Hausgeist der Slytherins war normalerweise ruhig, was dazu beitrug, dass er besonders gruselig wirkte.

„Vielen Dank, Baron. Passen Sie mir gut auf die Schüler auf.“
„Aber nur auf die Slytherins.“ Der Blutige Baron lächelte schief, was für einen Muggel so scheußlich anzusehen gewesen wäre, dass eine Ohnmacht sicher wäre.
Sir Nicholas ließ es sich nicht nehmen, das ganze Prozedere ein wenig aufzulockern. „Von den Gemälden soll ich ebenfalls herzliche Glückwünsche zur Apotheke und alles Gute für Sie und das Geschäft ausrichten.“
„Ich …“ Severus war sprachlos. Die Gemälde? „Vielen Dank, Sir de Mimsy-Porpington.“
„Oh“, Sir Nicholas’ Gesicht glänzte silbrig, „endlich jemand, der mich bei meinem korrekten Namen nennt.“ Sir Nicholas verbeugte sich, hielt dabei dezent seinen Kopf fest, damit er nicht vornüber klappte. Er schwebte bereits weg, da fiel ihm noch etwas ein: „Ach ja, Sir, bitte grüßen Sie Miss Granger von mir. Es wäre mir eine Ehre, wenn Sie mich einmal besuchen käme. Ich stehe jederzeit gern mit Rat und Tat zur Seite.“
„Ich werde es ihr ausrichten.“ Severus nickte, was die Geister ihm gleichtaten, bevor sie in alle Richtungen verschwanden.

Wortlos folgten Harry und Remus ihm bis zum Ausgang, wo sich Severus den beiden zuwandte. Weil Severus sprachlos schien, ergriff Remus das Wort. Er streckte Severus die Hand entgegen. Als er die ergriff, folgten keine Worte des Abschieds, sondern die des Wiedersehens.

„Bis heute Abend dann.“ Remus schüttelte seine Hand, lächelte und nickte einmal.
Harry klopfte Severus auf die Schulter. „Na, wir sehen uns bestimmt auch häufiger, jetzt wo ich arbeitslos bin.“ Ein freches Grinsen zierte Harrys Gesicht. „Ich meine, jetzt wo ich Hausmann bin.“
„Dann noch einen schönen Tag euch beiden.“
„Und überarbeitet euch nicht“, gab Harry noch als Ratschlag, den Severus mit dem vorhin ausgebliebenen Augenrollen kommentierte.

Auf seinem Weg zum Tor ertappte sich Severus mehrmals dabei, dass er sich umdrehte, um das Schloss zu betrachten. Anfangs konnte er weiter hinten noch den Verbotenen Wald sehen, unzählige Schritte weiter war Hogwarts der einzige Blickfang – apropros Fang: den hörte man weit hinten bellen. Vielleicht war der Hund gerade an dem Ort unterwegs, wo Severus den weißen Welpen gefunden hatte.

Unzählige Menschen, Schüler wie Lehrer, waren hergekommen, haben eine kurze oder lange Zeit ihres Lebens hier verbracht und waren wieder gegangen, wenn man von Professor Binns absah. Severus war nur einer von ihnen, einer von vielen. Er bezweifelte, dass es viele Menschen gab, die an Hogwarts so hingen wie er, auch wenn er sich das nicht eingestehen wollte. Harry war ebenfalls einer von ihnen, da war er sich sicher. In Hogwarts hatte Severus nicht nur Schlechtes erlebt, sondern auch schöne Jahre verbracht. Ganz besonders das letzte Schuljahr fand er überraschend angenehm. Harry als sein Kollege war von Anfang an einer der Gründe gewesen, weshalb seine Rolle als Lehrer das erste Mal unbeschwert von der Hand ging. Severus erinnerte sich an die erste Zeit, in der sie nicht gut miteinander ausgekommen waren. Auch musste er an den Tag denken, an dem Hermine bei ihm den Vertrag unterzeichnet hatte. Und an den Tag, an dem Remus ebenfalls zum Kollegium zählte. In Hogwarts hatte Severus damals einen wichtigen Teil von sich verloren. In genau demselben Schloss fanden seine Freunde Möglichkeiten, ihm diesen verloren geglaubten Teil zurückzubringen.

In Hogwarts’ dicken Wänden, da war sich Severus sicher, würde ein Stückchen von ihm und seinem Wesen zurückbleiben. Darunter war bestimmt viel Schmerz und herzzerreißende Trauer, aber auch das Gefühl der Freundschaft und des Vertrauens. Die neu gewonnene Lebensfreude durfte man nicht außer Acht lassen. Den Mauern der Schule gab er freiwillig etwas von sich, denn sie würden es gern bewahren. Für immer.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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Beitrag von Muggelchen »

222 Träume und Schäume




„Bist du fertig, Ginny?“ Harry versuchte, für das Treffen mit dem Makler seine Haare zu bändigen, doch sie hielten all seinen Versuchen, für etwas Ordnung zu sorgen, stand.
„Ja“, hörte er hinter sich. Als er sich umdrehte, sah er Ginny, die fertig angezogen auf ihn wartete, dabei seine Haare grinsend betrachtete. „Lass doch mal deine Frisur in Ruhe“, riet sie.
„Ich möchte nur einen guten Eindruck hinterlassen.“
Sie schnaufte. „Das wird vermutlich dein Name erledigen, nicht deine Haare.“
„Dann können wir?“

Ginny nickte. Sie hakte sich bei Harry unter, als sie beide den Weg vor die Tore Hogwarts antraten. In einer Hand hielt Harry den Immobilienkatalog. Kaum hatten sie die eisernen Tore passiert, schlug Harry den Katalog auf.

„Ich hoffe, das klappt so, wie Mr. Chapman es erklärt hat.“ Als Harry die Spitze seines Stabes auf das Bild richtete, umfasste Ginny seinen Arm nur noch fester. Harry sagte: „Codenummer 2.“

Die Welt um sie herum begann zu verschwimmen. Es fühlte sich nicht wie die Reise mit dem Portschlüssel an, obwohl Mr. Chapman meinte, der Zauber basiere auf den gleichen Grundladen. Ginny und Harry hielten sich fest umklammert, während die Umgebung sich schleierhaft verwandelte. Mehr Bäume tauchten auf, wodurch es dunkler wurde. Nach wenigen Sekunden hatten sie festen Boden unter den Füßen. Harrys Blick war sofort auf sein Traumhaus gerichtet. Das Wetter meinte es gut mit dem Anwesen. Sonnenstrahlen schmeichelten dem alten Manor Cottage.

„Da ist es“, sagte Harry ehrfürchtig und nickte in die Richtung des Hauses. Anstatt ebenfalls hinüberzusehen, nahm Ginny den Katalog in die Hand und schaute sich das Bild vom Haus an, was Harry irritierte. „Was soll das?“, beschwerte er sich. „Jetzt kannst du es in natura sehen.“
„Hier steht, dass sich das Haus am Wald befindet, nicht dass es direkt im Wald steht.“
Harry schaute nach oben. Die Äste wiegten sich im Wind, Vögel zwitscherten und die Sonne vollführte Schattentänze auf seinem Gesicht. „Ich find’s schön!“
„Und wenn es ein Verbotener Wald ist?“ Ginny zog eine Augenbraue in die Höhe, als sie auf eine Antwort wartete.
„Ich habe mich bei Percy erkundigt. Es gibt in Perth and Kinross keine Reservate für Zentauren. Es gab hier nie Berichte über wilde Werwölfe, Riesenspinnen, Vampire, Sabberhexen oder sonst welche Kreaturen. Und außerdem …“ Harry hielt inne, weil er etwas knacken hörte. Sofort drehte er sich um. In seinem Gesicht spiegelte sich kindliche Freude wider, als er mit dem Finger in einer Richtung zeigte und flüsterte: „Sieh doch, sieh doch! Ein Kranich.“
„Toll, Harry“, entgegnete sie unbeeindruckt. „Lass uns zum Haus gehen. Mr. Chapman wartet bestimmt schon.“

Das Haus stand in einer kleinen Lichtung. Man konnte sehen, dass die vielen Bäume dem Gebäude nicht die Sonne nehmen würde.

„Wir sind hinter dem Haus gelandet“, stellte Ginny fest. Die Überreste eines ehemals gepflegten Gartens stachen ins Auge. Die Pflanzen wucherten Wild. „Um den Garten kümmerst du dich aber.“
„Wir nehmen das Haus?“, fragte er hellauf begeistert, denn es hätte ja sein können, dass Ginny auf einmal davon genauso eingenommen war wie er, wo sie es jetzt live sehen konnte.
„Lass und doch erst einmal mit Mr. Chapman sprechen.“

Harry war ganz froh, dass Ginny ihn an die Hand nahm. Auf diese Weise konnte er nicht fallen, denn er hatte nur Augen für sein Traumhaus, nicht für den unebenen Boden.

„Ah, da sind Sie gelandet“, hörte man eine fremde Männerstimme rufen. Ein drahtiger Herr mit graumelierten Haaren kam auf sie zugelaufen. Wäre Freundlichkeit ein Prüfungsaspekt, müsste Mr. Chapman diesen Punkt bei seiner Ausbildung zum Immobilienmakler mit Bravour bestanden haben. Das aufs Gesicht gepflasterte Lächeln stach das von Gilderoy Lockhart mit Leichtigkeit aus, dachte Ginny. „Mrs. Potter.“ Mr. Chapman schüttelte Ginnys Hand. „Und Mr. Potter. Es ist mir eine Ehre.“ Nach der Begrüßung begann Chapman mit Smalltalk. „Mit dem Katalogzauber weiß man nie, wo man auf dem Grundstück landen wird. Und? Gefällt Ihnen die Gegend?“
„Spitze!“
Harrys Ausruf kommentierte Ginny mit einem strafenden Blick. „Das Grundstück soll zweitausend Quadratmeter groß sein“, erinnerte sie sich an die Auflistung im Katalog.
„Ja, das stimmt. Soll ich Ihnen erst das Haus zeigen oder möchten Sie das Grundstück ansehen?“
„Das Haus“, bestimmte Ginny und fuhr Harry damit über den Mund.
„Gut, dann folgen Sie mir bitte.“

Mr. Chapman ging voran. Als der Makler die Stufen einer kleinen Terrasse erreichte, bemerkte Harry etwas aus den Augenwinkeln.

„Mr. Chapman?“ Als der Mann sich umdrehte, schaute Harry in eine bestimmte Richtung. „Wer sind die Leute da?“
Chapmans Kopf schnellte herum. Er sah die drei Gestalten und seufzte. „Das sind Angler. Ich habe denen schon mehrmals gesagt, sie mögen bitte um das Grundstück herumgehen, wenn Sie zum See wollen.“
Völlig hingerissen wiederholte Harry: „Zum See?“
Chapman kam die Stufen hinunter. „Ja, ein beträchtlicher Teil des Grundstücks beinhaltet ein Wassergrundstück. Steht das nicht im Katalog?“
„Nein.“ Harry strahlte bis über beide Ohren, doch auch davon ließ sich Ginny nicht beindrucken.
„Wenn Sie mich einen Augenblick entschuldigen würden?“ Mit zusammengekniffenen Augen schaute Chapman zu den drei Personen. „Ich möchte denen nur eben …“
„Ich übernehm das“, warf Ginny. Sie zwinkerte Harry zu. „Sieh du dir schon das Haus an. Ich stoße gleich hinzu.“
„Ach, Mrs. Potter“, hielt Chapman sie auf. „Das sind Muggel, nur damit Sie’s wissen.“
„Danke.“

Im Haus führte Mr. Chapman Harry zunächst in die geräumige Küche.

„Der alte Herd, den man noch befeuern musste, wurde gegen einen Elektroherd ausgetauscht.“ Mr. Chapman zeigte auf besagtes Objekt. „Er wurde noch nie benutzt, funktioniert aber tadellos.“ Um das zu präsentieren, drehte Chapman an einem der Knöpfe und hielt eine Hand über die Herdplatte. „Hier fühlen Sie selbst.“ Auch Harry spürte die aufkommende Wärme, bevor Mr. Chapman den Knopf wieder auf Null drehte. „Das Haus liegt zwar abgelegen, aber es nicht von der Außenwelt abgeschnitten. Sie haben ein Telefon, Internetanschluss, Strom- und Wasserversorgung.“
„Internetanschluss? Das Haus steht in einem Katalog für Zauberer und Hexen.“
Mr. Chapman nickte. „Es gehörte einmal Muggeln, irgendwann auch einem Squib. Auf diese Weise kam unsere Welt mit dem Haus in Kontakt.“
„Warum will der Squib es verkaufen?“
„Oh nein, Mr. Potter, da verstehen Sie etwas miss. Der Herr ist schon vor langer Zeit verstorben. Er hatte keine Verwandten und so kam das Haus in Besitz des Zaubereiministeriums, das uns damit beauftragt hat, es zu veräußern.“
Jetzt wurde Harry hellhörig. „Der Mann ist aber nicht hier im Haus gestorben, oder?“
„Nein, er verlebte die letzten Jahre im Mungos und verstarb dort in Frieden. Das ist schon lange her.“
„Wie lange?“, hakte Harry nach.
„Das war vor etwa neunzig Jahren.“
Harry ließ nicht locker. „Seitdem steht das Haus leer?“
„Ach, wo denken Sie hin? Zwei Muggelfamilien lebten nach dem Herrn schon hier.“

Während Harry durch die Räume im Erdgeschoss geführt wurde, ging Ginny über den moosbewachsenen Boden. Auf ihrem Weg sah sie ein Eichhörnchen. Wenn der Hauskauf nur von der Umgebung abhängen würde, hätte sie längst unterzeichnet. Als sie den drei Personen näher kam, sah sie, dass nur der leicht untersetzte Herr erwachsen war. Wahrscheinlich ein Vater mit seinen Söhnen.

„Entschuldigung?“ Die drei hörten sie, weshalb sie stehenblieben und warteten. Alle trugen Rucksäcke über den Schultern. Der Erwachsene hielt einen viereckigen Behälter aus Plastik in der Hand.
„M’am?“
„Guten Tag, Sir“, grüßte Ginny. Den beiden Jungen, den großen schätzte sie um die fünfzehn Jahre, den jüngeren an die zehn, nickte sie zu. „Sie gehen gerade angeln?“
Der Mann lächelte, blickte dann demonstrativ auf seine Uhr. „Es ist fast Mittag. Wir kommen vom Angeln. Waren schon um sechs Uhr unten.“
„Und? Was gefangen?“
„Natürlich! Drei Hechte. Mein Jüngster hat heute seinen ersten großen gefangen. Ich schätze, der bringt an die neun Kilo auf die Waage“, lobte der Mann stolz.
Der Junge wurde rot im Gesicht und blickte zu Boden. Sein Vater hingegen schaute zu dem Haus, bevor er Ginny in die Augen blickte. „Wollen Sie das Grundstück kaufen?“
„Vielleicht?“, gab sie unentschlossen zur Antwort. Es war der ältere der beiden Söhne, der große Augen machte, was Ginny nicht entging. „Kommen Sie hier öfters vorbei?“
„Während der Angelsaison schon.“
Ihre Chance war gekommen, das Gesprächsthema nach ihren Vorstellungen zu gestalten. „Können Sie mir irgendwas über das Haus erzählen?“
Der Mann begann freundlich zu lachen. „Sie trauen dem Makler wohl nicht.“
Ginny grinste verschmitzt. „Sagen wir mal, ich könnte mir gut vorstellen, dass er nicht alles sagt, was eventuell wichtig wäre.“
„Na ja“, begann der Mann, „das letzte Pärchen kannte ich. Mr. und Mrs. Jackson. Wo wir gerade bei Namen sind …“ Er stellte den Plastikbehälter auf den Boden und streckte ihr die Hand entgegen. „Mein Name ist Bartlett, Steve Bartlett. Das sind meine Söhne“, er zeigte zum älteren, „Keith und“, dem jüngeren legte er eine Hand auf die Schulter, „Ian.“
„Freut mich, Sie kennenzulernen. Mein Name ist Ginevra Potter.“
„Oi, ein schöner, alter Name. Ihre Eltern waren nicht zufällig Freunde der König-Arthur-Sage?“
„Weiß nicht, aber wenn ich es mir recht überlege …“ Sie grinste. „Mein Vater heißt Arthur.“
Steve lachte amüsiert auf. „Sie gefallen mir, Mrs. Potter. Die Jacksons waren auch sehr nette Leute. Beide haben uns erlaubt, in ihrem Teil des Sees zu fischen. Haben dafür ab und an einen Hecht von uns bekommen.“
„Wann sind die Jacksons ausgezogen?“
„Das war …“
Weil sein Vater so lange überlegte, half der älteste Sohn auf die Sprünge. „Muss vor acht Jahren gewesen sein.“
„Ja, richtig“, stimmte der Vater zu. „Seit dem steht’s leer.“
„Ist ja auch kein Wunder“, murmelte der jüngere.
„Was war das bitte?“, fragte Ginny höflich nach.
Der Junge wollte nicht wiederholen, was er gesagt hat, aber sein Bruder begann zu erzählen und zwar mit flüsternder Stimme. „In dem Haus geht ein Geist um.“
Sein Vater schnaufte. „Mach der Frau keine Angst.“ Er wandte sich an Ginny. „Ich hab da nie was gesehen oder gehört.“
„Aber wir!“, beteuerte der Ian.
Ginnys Neugierde war geweckt. „Was habt ihr beide denn dort erlebt?“

Keith hielt sich zurück, obwohl Ginny glaubte, dass er mehr zu erzählen hatte. Sein jüngerer Bruder kam der Aufforderung nach. Er wollte seine Geschichte loswerden.

„Einmal, als wir eines Morgens am Haus vorbeigegangen sind, stand ein Junge am Fenster. Er hat mir zugewunken. Das war echt gruselig!“
„Was ist denn an einem Jungen gruselig, der einem zuwinkt?“, fragte Ginny nach.
Ian atmete ganz aufgeregt, als er darauf antwortete. „Na, er war durchsichtig!“

Für Ginny war der Haken an dem Traumhaus gefunden, es sei denn, die Kinder hatten eine zu lebhafte Fantasie. Fehlte noch das Erlebnis von Keith, doch der schien anfangs nichts sagen zu wollen. Sein kleiner Bruder übernahm auch das.

„Und als Keith mit seinen Freunden mal in dem Haus war, da haben die ihn alle gesehen: Billy!“, behauptete Ian.
Der Vater lächelte milde. „Glauben Sie nicht alles, Mrs. Potter.“
„Es ist aber wahr!“, verteidigte sich Keith.
„Ach, das glaubt ihr nur, weil Oma euch schon Gruselmärchen über das Haus erzählt hat“, winkte Steve ab, bevor er sich an Ginny wandte. „Meine Mutter hat mir schon diese Geschichten erzählt. In meinen Augen nicht unbedingt Gutenachtgeschichten.“
Ginny nickte Steve zu, wollte aber mehr wissen und richtete das Wort an Keith. „Was du damals mit deinen Freunden gesehen?“
„Zuerst gar nichts, aber jeder hat was gefühlt, was ganz Kaltes, als ob uns jemand anfassen würde. Meine Freundin war der Meinung, ein Gesicht gesehen zu haben. Das Gesicht eines Jungen – nicht mehr. Es schwebte in der Luft. Wir sind sofort rausgerannt.“
Ginnys Augenbrauen zogen sich zusammen. „Billy? Woher kommt der Name?“
„Meine Mutter hat ihn so genannt“, erklärte Steve. „Sie hat dem Hirngespinst einen Namen gegeben.“
„Mmmh“, machte Ginny nachdenklich. Sie würde den Makler auf jeden Fall fragen. „Aber warum sind die Jacksons ausgezogen?“
„Das haben sie nie genau gesagt. Ich glaube einfach, es war ihnen hier zu langweilig. Man muss weit fahren, um zum nächsten Supermarkt zu gelangen“, versuchte Steve zu erklären.
Keith war anderer Meinung. „Ich wette, sie haben es auch gespürt. Wenn man da lebt, muss man mitbekommen, was da abläuft. War sogar mal ein Team hier, das das Haus untersucht hat.“
Weil Ginny die Augenbrauen hob, spielte Steve die Situation runter. „Von wegen Team. Das waren ein paar Leute, die mit Kassettenrekordern bewaffnet mit Luft sprachen. Nicht sehr seriös, wenn Sie mich fragen.“
„Die haben aber was gefilmt!“, warf Ian aufgeregt ein. „Kann man sich im Internet ansehen.“
Steve warf seinem jüngeren Sohn einen erstaunten Blick zu. „Wie kommst du dazu, dir solchen Unsinn im Internet anzusehen? Ich habe doch eine Kindersicherung installiert.“ Ian grinste seinen Vater frech an. „Darüber reden wir Zuhause, Junge.“ Ein Blick auf die Uhr. „Wo wir gerade von Zuhause sprechen.“ Steve hob den Kopf und schaute Ginny an. „Meine Frau wartet sicher auf uns. Es gibt heute, wie man nur unschwer erraten kann, Hecht.“ Steve lächelte breit. „Sollten Sie das Haus nehmen, wäre es uns eine Freude, Ihnen dann und wann einen fangfrischen Fisch zu bringen. Wir wären dann nämlich, wenn man das so sagen kann, Ihre direkten Nachbarn. Zwanzig Kilometer in die Richtung“, er zeigte hinter sich, „steht unser Haus.“
„Ich werde mir das Haus erst einmal von innen ansehen. Auf Wiedersehen.“

Als Ginny das Haus betrat, betrachtete sie als Erstes die Küche. Der Herd sah seltsam aus. Sie fragte sich, ob man das Feuer in der Klappe entzündet, doch als sie die öffnete, bemerkte sie nur einen Hohlraum mit Blechen darin. Sie schloss die Ofentür wieder und schlenderte zurück in den Flur. Von oben hörte sie Stimmen, so dass sie die Treppen nahm.

„Und das hier“, hörte sie Mr. Chapman sagen, „ist der Raum, der immer als Hauptschlafzimmer genutzt wurde. Wie Sie sehen, verfügen Sie über eine Heizung. Im Keller befindet sich der Ofen. Zeige ich Ihnen gern im Anschluss.“

Ginny war ins leer geräumte Zimmer gekommen. Bewusst schaute sie in jede Ecke, falls der ungebetene Untermieter sich zeigen würde. Zunächst ließ sie Mr. Chapman alles erklären. Er zeigte die anderen Räume. Bei jedem Zimmer war Harry nur noch begeisterter.

„Sieh mal, Ginny. Man kann von hier den See sehen! Wäre doch ein klasse Kinderzimmer für Nicholas.“ Er strahlte über das ganze Gesicht. Es tat ihr jetzt schon leid, dem Spuk ein Ende zu bereiten, doch noch wollte sie Mr. Chapman die Chance geben, den Geist von sich aus anzusprechen. „Und hier, Ginny“, Harry öffnete eine Tür, „der Balkon geht fast rund ums Haus!“
„Wenn Sie mir zum Badezimmer folgen möchten?“
Harry gehorchte aufs Wort und trabte aufgeregt hinter Mr. Chapman her. „Ein Whirlpool! Ginny, schau mal.“
„Und wofür ist der gut?“
Mr. Chapman erklärte zur für Zauberer und Hexen unbekannte Luxuswanne: „Die Jacksons haben ihn eingebaut und hiergelassen. Wenn Sie den nicht übernehmen möchten …“
„Doch, klar!“, warf Harry ein. „Funktioniert er denn auch?“
„Selbstverständlich, Mr. Potter.“
Ginny kam sich vernachlässigt vor. „Was ist das denn nun?“
„Da wird Luft ins Wasser geblasen. Hübsche Massage“, erklärte Harry. „Genau das Richtige zum Entspannen, wenn du vom Quidditch heimkommst.“
„Ach“, Mr. Chapman wandte sich an Ginny, „Sie spielen als Profi?“
„Noch nicht, aber hoffentlich dieses Jahr.“ Skeptisch betrachtete sie die große, runde Wanne, in der vier Sitznischen zu sehen waren.
„Und wie Sie sehen“, Chapman deutete auf eine Ecke, „steht auch eine Duschkabine zur Verfügung, falls es mal schnell gehen soll.“ Mr. Chapman wandte Lächeln Nummer 16 aus dem Handbuch für Geselliges Beisammensein mit Kunden an. „Gehen wir runter“, bat er, „dann zeige ich Ihnen die Gästetoilette.“

Mr. Chapman ging voran, so dass Harry kurz mit Ginny allein reden konnte. Seine Begeisterung war nicht zu übersehen.

„Das Haus ist ein Knaller! Allein die Lage. Wir könnten uns doch ein Boot kaufen, Ginny, und damit gemeinsam auf dem See rudern.“ Er nahm ihre Hand. „Und Weihnachten können wir hier feiern. Es ist groß genug, dass deine ganze Familie hier Platz hat, plus ein paar Freunde.“

Sie schenkte ihm ein zurückhaltendes Lächeln, denn innerlich hatte sie dieses Haus bereits abgeschrieben. Mit einem Geist zusammen wohnen stellte nicht die Erfüllung ihrer Träume dar. Nüchtern betrachtet war das Haus eine Wucht, das musste selbst sie zugeben. Der Preis machte es nur noch sympathischer, dennoch kam es nicht infrage.

Mr. Chapman zeigte den geräumigen Keller mit seinem großen Ofen. Nochmals zurück im Erdgeschoss bemerkte Ginny den Kamin.

„Ist der ans Flohnetzwerk angeschlossen?“, wollte sie wissen.
„Nein, aber man kann die Verbindung jederzeit wieder beim Zaubereiministerium beantragen.“

Alle drei starrten den Kamin an, als hätten sie nie zuvor einen gesehen. An der Halterung neben dem Kamin hatten die Vorbesitzer anstatt einer Schale mit Flohpulver kurzerhand einen Blumentopf untergebracht. Die Pflanze darin war welk.

„So“, Mr. Chapman rieb sich die Hände, „noch einen kleinen Rundgang übers Grundstück?“
„Gern“, stimmte Harry zu.

An der Natur gab es absolut nichts zu beanstanden. Ginnys mütterlicher Blick suchte nach Orten, die für Nicholas risikoreich sein könnten, aber hier gab es keine Schluchten, in die er stürzen könnte. Wasser war natürlich immer eine Gefahrenzone. Ginny schalt sich selbst, daran überhaupt noch einen Gedanken zu verschwenden, denn dieses Haus würde nicht ihres werden.

Harrys Blick schweifte über die zarten Wellen. Zum Baden war der See bestimmt auch im Sommer zu kalt. Spaß machte Wasser trotzdem, bei jedem Wetter. Vielleicht fror der See im Winter sogar zu und man konnte Schlittschuhlaufen, schoss es Harry durch den Kopf. Wieder kam ihm der Gedanke an ein Boot. Schon jetzt sah sich Harry zusammen mit Nicholas auf dem See herumrudern, wahlweise mit Ron, der den Kahn wie irre zum Schaukeln bringen würde, während beide wie vorpubertäre Schuljungen dabei giggelten.

„Wie heißt der See?“, fragte Harry mit verzückter Stimme.
„Das ist Loch Kennard“, verkündete der Makler schwärmerisch, weil er von dem Anblick selbst sehr angetan war.

Man ging zurück in den Vorgarten. Mr. Chapman wirkte sehr selbstsicher, als er Harrys entspannten Gesichtsausdruck betrachtete.

„Und?“
Bevor Harry auf Mr. Chapmans stark abgekürzte Frage, ob er das Haus kaufen wollte, vorschnell antworten würde, stellte Ginny die Gegenfrage: „Wann hatten Sie vor, uns von Billy zu erzählen?“
Mr. Chapman schaute in die Richtung, in der Harry vorhin die Angler gesehen hatte. Beinahe rechnete der Makler damit, dass die drei dort stehen würden, womöglich noch mit dem Finger auf ihn zeigten und ihn wegen des geplatzten Geschäfts auslachten. „Der tut nichts zur Sache.“
„Ich finde schon, dass Sie ihn zumindest hätten erwähnen müssen“, zischte Ginny gereizt.
Harry verstand nur Gleis 9 ¾. „Wer ist Billy?“
„Das sind Märchen. Ich habe ihn nie gesehen“, beteuerte Mr. Chapman, ließ Harry bei seiner Konversation völlig außen vor.
Ginny presste verärgert die Lippen zusammen. „Andere haben ihn gesehen.“
Harrys Kopf schnellte zwischen Ginny und Mr. Chapman hin und her. „Wen gesehen?“
„Billy“, wiederholte Ginny. Weil Harry damit nichts anfangen konnte, erklärte sie: „Ein Geist soll hier hausen. Die Bartletts haben mir davon erzählt?“
„Wer?“ Harry kam sich vor wie im falschen Film.
„Unsere Nachbarn.“
Gerade wollte Harry den Mund öffnen und am liebsten drei Fragen auf einmal stellen, da kam ihm Mr. Chapman zuvor. „Mrs. Potter, ich versichere Ihnen …“
Sie schnaufte verächtlich. „Sie können mir versichern, was Sie wollen. Wenn Sie solche wichtigen Informationen bei einem Verkaufsgespräch zurückhalten, dann …“
„Es ist kein Geist beim Ministerium gemeldet. Ich habe überhaupt nichts Unrechtes getan.“
„Es wäre aber nett gewesen, das zu erwähnen“, zischte Ginny ihn an. Sie wandte sich an Harry. „Komm, wir gehen.“
Gegen ihre Hand wehrte er sich, wenn auch nur halbherzig. „Moment! Was ist hier gerade passiert?“
„Das erzähle ich dir Zuhause.“

Bei dem Wort Zuhause blickte Harry automatisch auf sein Traumhaus. Er hatte das ungute Gefühl, die Blase wäre geplatzt. Es hatte sich ausgeträumt.

„Falls Sie es sich überlegen möchten, Mr. Potter“, begann Mr. Chapman so ruhig wie möglich, „dann können Sie mich jederzeit kontaktieren.“
„Ich … Ja, mach ich …“ Ginny zog ihn an der Hand hinter sich her, bevor sie zur Seit-an-Seit-Apparieren nach dem nur etwa 45 Kilometer entfernten Hogwarts ansetzte. „Gin…“

Es war, als würde jemand ihm die Luft aus der Lunge quetschen. Das Apparieren dauerte nicht lange. Während der erste Teil ihres Namens am Loch Kennard zurückblieb, sprach Harry den letzten, als sie vor den Toren Hogwarts’ ankamen.

„…ny?“ Harry holte tief Luft. „Erklärst du mir bitte“, er klang sauer, „was da eben passiert ist?“
„Auf dem Weg zu Schloss.“ Die Tore öffneten sich von ganz allein und ließen die beiden passieren.
„Ich höre?“
„Der Grund, warum das Haus so preiswert ist“, begann sie ruhig, damit Harry hoffentlich etwas von ihrer Gelassenheit übernehmen würde, „ist ein Geist. Es spukt. Das letzte Pärchen ist offenbar deswegen ausgezogen.“
„Es …?“ Er wollte es nicht aussprechen. Das war also der Haken, dachte er. Ein Geisterhaus. „Wer hat das erzählt?“
„Der Angler, du erinnerst dich?“ Harry nickte, so dass sie fortfuhr: „Die beiden Jungen haben sich furchtbar erschrocken.“ Harry hörte einfach nur zu. Nach Reden war ihm nicht zumute. Er fühlte sich, als hätte er jemanden verloren, als würde er trauern. „Schon die Großmutter von dem Mann hat Gruselgeschichten erzählt. Wie es aussieht, haust der Geist schon eine ganze Weile dort. Das heißt, in der Gegend ist man darüber informiert. Ich weiß nicht recht, ob es das ist, was ich mir unter einem Zuhause vorstellen.“ Schlürfenden Ganges ließ sich Harry von Ginny über den Rasen führen. Sein Blick war auf den Boden gerichtet. Er war sich so sicher gewesen und dann das. „Aber das Haus ist schön“, sagte sie plötzlich.
An diesem einen Funken Hoffnung klammerte er sich fest. „Meinst du nicht, du könntest es dir nochmal überlegen.“
Abrupt hielt sie an, traute ihren Ohren kaum. „Du würdest es trotzdem kaufen?“ Es klang wie eine Schelte, weswegen er den Mund hielt und sich wieder von ihr führen ließ.

Sie durchquerten bald den Halbbogen, der ins Schloss führte. In seinem Kopf wiederholten sich immer nur zwei Worte: Geist, Haus, Geist, Haus, Geist, Haus. Irgendwann kam er aus dem Takt und hatte ein ganz anderes Wort im Kopf. Er grinste.

„Hey, wir hätten dann unseren eigenen Hausgeist, Ginny.“ Allein ihr scharfer Blick wies ihn zurecht. Erneut ließ Harry den Kopf hängen. Sie waren bereits im Eingangsbereich des Schlosses angelangt. Es war erschreckend ruhig ohne die ganzen Schüler. Gespenstig ruhig.

„Wie alt soll der Geist denn sein?“, wollte er wissen.
„Keine Ahnung. Soll ein Junge sein.“
„Wir wollten doch später sowieso noch mehr Kinder haben. Was …?“
Sie fuhr ihm über den Mund. „Kinder, die man anfassen und knuddeln kann, Harry. Lebendige Kinder!“
Er seufzte theatralisch laut. „Du möchtest es dir nicht einmal überlegen, oder?“
„Was gibt es da zu überlegen, frage ich dich?“
Nebenher bemerkte Harry, wie Sir Nicholas ihnen entgegenschwebte. „Hi, Nick“, grüßte Harry betrübt, aber dennoch mit der notwendigen Anstrengung, höflich zu klingen.
„Hallo Harry“, kam es freundlich zurück. Nochmals musste er seufzen.

An der Tür zu ihren Räumen hielten beide inne, weil Wobbel mit Nicholas an der Hand von der anderen Seite kam. Das Timing seines Elfs war wie immer perfekt.

„Ah, Madam, Sir“, grüßte Wobbel freudestrahlend. Nicholas zog eine hölzerne Ente hinter sich her, die jedes Mal, wenn das Rad eine Umdrehung gemacht hatte, den Kopf zurückzog und leise quakte. Ein Geschenk von Percy.
„Wo kommt ihr denn her?“, wollte Harry in Erfahrung bringen.
„Nicholas wollte unbedingt Mr. Krake füttern.“
„So so, Mr. Krake“, Harry ging in die Knie und wurde gleich darauf von Nicholas angegrinst. „Na, mal sehen, wann ihr so dicke miteinander seid, dass ihr euch mit Vornamen anredet.“
Wobbel musste lachen, öffnete derweil die Tür zu den Räumen. „Und, Sir? Wie war die Besichtigung?“ Das Schweigen des frisch gebackenen Ehepaares versprach nichts Gutes, dachte der Elf.
„Wir schlafen eine Nacht drüber“, erklärte Ginny kurzerhand und trat ein.
Als Harry ihr folgte, wagte er zu fragen: „Heißt das, wir überlegen es uns nochmal?“
„Nein, das heißt, dass du morgen nicht mehr so schlecht gelaunt sein wirst.“
„Ich bin doch nicht schlecht gelaunt“, hielt er gekränkt dagegen. „Ich bin enttäuscht, das ist alles.“
Für Wobbel schilderte Ginny die Sachlage. „Der Typ wollte uns übers Ohr hauen.“ Plötzlich musste Harry schmunzeln, was Ginny bemerkte. „Was ist?“
„Der wollte mich reinlegen!“, sagte er viel zu fröhlich. „Verstehst du nicht? Ich bin immerhin der Harry Potter und der wollte mir trotzdem das Haus aufschwatzen.“
„Das findest du wohl auch noch gut?“, fragte Ginny ungläubig.
Harry hob und senkte die Schultern, bevor er sich auf die Couch setzte. „Irgendwie schon. Endlich wurde ich mal behandelt wie jeder andere Mensch auch.“
Völlig perplex schüttelte Ginny den Kopf. „Das kann nicht dein Ernst sein.“

Wobbel hielt sich aus dem Gespräch heraus, doch seine Ohren verfolgten den Inhalt genau. Er hörte weiterhin zu, während er Nicholas die Jacke auszog.

„Ich verstehe trotzdem nicht, was so schlimm daran sein soll, Ginny. Ich meine, sieh dich doch mal hier im Schloss um! Was glaubst du, wie ich mich das erste Mal erschrocken habe, als Sir Nicholas diesen hier“, Harry nahm eine Handvoll seines Haares und zog seinen Kopf zur Seite, „gemacht hat.“
„Sir Nicholas ist aber auch bei der Geisterbehörde des Ministeriums registriert, Harry. Wäre Billy registriert, hätte Percy dir davon erzählt.“
„Dann frage ich ihn einfach nochmal, ob er vielleicht was übersehen hat.“
Ginny schüttelte den Kopf. „So pingelig, wie der ist, übersieht er solche Details nicht.“
„Wir könnten das Haus doch exorzieren lassen.“
Ginnys Stirn legte sich in Falten. „Was bitte?“
„Ach, war nur so eine Idee“, murmelte er verlegen. „Ich bin trotzdem der Meinung, dass wir das Haus nicht einfach …“
„Harry, bitte.“ Ginny klang erschöpft. „Lass es für heute sein. Ich möchte nicht darüber diskutieren.“
Wie von einer Feder hochgeschossen sprang Harry von der Couch. „Aber ich möchte!“
„Dann aber nicht mit mir.“
„Fein!“ Wütend stürmte er zur Tür und verschwand auf dem Flur.

Irritiert blickte Ginny auf die Stelle, an der Harry eben noch gestanden hatte, schaute dann betrübt zu Wobbel hinüber. Plötzlich öffnete sich die Tür erneut und Harry lugte herein.

„Ist dir klar“, sagte er völlig gelassen, „dass das unser erster Ehekrach ist?“ Zögerlich nickte Ginny. „Und den werden wir überstehen wie alle anderen, die womöglich folgen werden.“ Er musste grinsen. „Ich gehe spazieren. Vielleicht bis zu Hagrid.“
„Okay, Harry.“ Als Harry zum zweiten Mal die Tür geschlossen hatte, schaute Ginny zu Wobbel und zuckte mit den Schultern. „Manchmal habe ich das Gefühl, dass irgendwas bei ihm“, sie deutete ungenau auf ihren Kopf, „falsche Signale sendet.“ Die Arme ließ sie wieder fallen. „Erst freut er sich, dass man ihm Informationen vorenthalten hat und jetzt darüber, dass wir uns streiten.“
„Ach“, winkte Wobbel ab, „das ist kein Streit. Das ist eine kleine Meinungsverschiedenheit. Wie ich herausgehört habe, geht es um einen Geist?“

Mit Ginny sprach Harry an diesem Tag nicht mehr über das Haus, dafür aber mit Hagrid, der nur meinte, dass Hogwarts doch voll mit Geistern wäre.

In der Apotheke in der Winkelgasse war am Freitag eine Menge los. Popovich war eine große Hilfe beim Brauen des Wolfsbanntranks gewesen. Seine Bezahlung bestand in den Antworten, die Severus ihm auf seine vielen Fragen bezüglich des Unterrichts in Hogwarts gab. Einer von Severus’ Ratschlägen war, die Schüler immer an der kurzen Leine zu halten. Wenn man ihnen so wenige Freiheiten wie möglich gestattete, so seine Theorie, machten sie weniger Unfug. Popovich schien gerade dieser Ratschlag nicht besonders zu gefallen. Letzten Endes musste er selbst einen Weg finden, sich als Lehrer zu etablieren. Keinesfalls wollte Popovich als Kopie von Snape erscheinen. Sein alter Mitschüler hatte zudem gute Hinweise geben können, wie man die Sicherheit der Schüler beim Tränkebrauen in der Klasse gewährleisten konnte. Besonders dafür war er dankbar.

„So“, Popovich stellte den sauberen Kessel an seine Stelle. „Das waren drei aufreibende Tage. Unter Zeitdruck habe ich lange nicht mehr gebraut.“
„Sie waren eine große Hilfe“, bedankte sich Hermine.
„Oh, ich muss mich bei Ihnen bedanken, Miss Granger. Jahrelang habe ich nur zusehen müssen, wenn die Prüflinge etwas gebraut haben. Mit dem Wolfsbanntrank bin ich ins kalte Wasser gestoßen worden. Jetzt fühle ich mich bei der Arbeit wieder sicher.“ Popovich reichte ihr die Hand und verabschiedete sich. „Die Sommerferien sind lang. Falls Sie nächsten Monat meine Hilfe benötigen …“ Popovich schaute zu Severus hinüber.
„Wir werden uns gern bei Ihnen melden, Mr. Popovich“, bestätigte Severus, der sich gerade die Hände abtrocknete.

Es war kurz vor acht Uhr abends. Daphne war alle Voranmeldungen durchgegangen. Jeder Kunde war hier gewesen. Die Apotheke konnte geschlossen werden. Mit verspäteten Kunden musste man nicht mehr rechnen. Trotzdem hatte man den Eingang der Apotheke bis elf Uhr für Notfälle mit einem Zauberspruch versehen, falls irgendein Werwolf seinen Trank bei einer der anderen Anlaufstellen nicht bekommen haben sollte. Solche Dinge konnten passieren. Es war nicht auszuschließen, dass ein Tränkemeister beispielsweise ins Mungos eingeliefert wurde und seine Kunden auf dem Trockenen saßen. Für Notfälle gab es immer einen kleinen Kessel mit zwei Portionen Wolfsbanntrank. Hermine stellte die Flammen unter dem Notkessel aus und machte den Inhalt per Zauber haltbar.

„Dann verabschiede ich mich mal.“ Mit ausgestreckter Hand kam Popovich auf Severus zu, der sie ergriff und kräftig schüttelte.
„Ich werde Sie zur Tür begleiten.“

Kaum hatte Popovich die Apotheke verlassen, sah Severus jemanden auf der Straße. Es war Remus. Er kam aus der Richtung, wo sich der Tropfende Kessel befand. Severus blieb solange an der offenen Tür stehen, bis Remus die Stufen bis zu ihm hinaufkam.

„Wie du siehst“, begann Remus angespannt, „bin ich hier.“
„Das weiß ich zu schätzen, Remus. Tritt ein.“

Der Keller war hergerichtet. Für einen Werwolf viel zu luxuriös. Hermine hatte eine alte, aber saubere Couch in den großen Verschlag gestellt, damit Remus es sich – als Mensch oder Wolf – etwas gemütlich machen konnte. Severus führte ihn hinunter, zeigte ihm den Ort, an dem er zu Vollmond verweilen sollte.

„So viel Mühe hättet ihr euch gar nicht machen müssen“, sagte Remus in dem Moment, als Hermine die Stufen zum Keller hinunterkam. Sie hatte einen Korb dabei, auf den Remus kurz deutete. „Was ist das?“
„Ich dachte, falls du Hunger bekommst …“
Remus lächelte milde. „Ich bin nicht hier, um mir den Bauch vollzuschlagen.“

Er fasste sich an besagte Körperstelle, aber nicht, weil er Appetit bekam. Der Fluch machte sich bereits mit starker Übelkeit bemerkbar. Auf seiner Stirn lag eine dünne Schicht Schweiß, weshalb sein Gesicht glänzte. Als er sich an die Wand lehnte, krümmte sich sein Oberkörper leicht nach vorn, als würde es zu viel Kraft kosten, aufrecht zu bleiben.

„Tonks wollte noch vorbeikommen“, informierte Remus die beiden Gastgeber. „Ich weiß nur nicht, wann. Sie ist noch mit Kingsley in Peninver unterwegs.“
„Peninver?“, fragte Hermine nach.
„Man vermutet dort noch ein paar Menschen, die von dem Ende des Krieges womöglich nichts wissen. Ein Zufluchtsort, von dem Zabini, Parkinson und Goyle gesprochen haben. Ob er existiert, weiß man nicht.“ Remus holte tief Luft, als würde ihn das Sprechen anstrengen. „Könntet ihr für Tonks die Tür aufhalten?“
„Klar, machen wir“, beteuerte Hermine.
„Na dann …“ Remus riss sich zusammen und richtete sich auf, streckte den Rücken. „Ich werde mich in mein Appartement begeben. Vielen Dank für den Zimmerservice.“

Das kleine Bastkörbchen versuchte mit aller Mühe, eine ähnlich entspannte Atmosphäre zu schaffen wie bei einem Picknick – und versagte dabei. Remus stellte es neben die Couch, blickte sich danach in dem Raum um. Die Kellerfenster waren vergittert. Durch sie würde der Vollmond in den Verschlag scheinen. Ein Schauer lief Remus über den Rücken. Seine größte Angst wurde noch immer durch diesen Himmelskörper dargestellt.

„Remus?“ Severus wartete, bis Remus ihn ansah. „Wann dürfen wir heute Nacht vorbeischauen?“
„Nach Mitternacht.“ Remus hatte geflüstert. Er hatte die Befürchtung, seine Hoffnung hätte sich um diese Uhrzeit längst zerschlagen. Der kleine Funke wollte bis zuletzt aber nicht erlöschen.
„Dann lassen wir dich jetzt allein.“ Severus zog die hölzerne Tür hinter sich zu, verschloss sie aber nicht.
Darüber erstaunt fragte Remus: „Möchtet ihr nicht abschließen?“
„Wozu?“ Severus drehte sich um. „Es besteht doch keine Gefahr.“
„Und wenn das Elixier irgendetwas in meinem Körper angestellt hat und der Trank nicht wirkt?“

Dieses fiktive Szenario entbehrte jeder Logik, aber es war auch nicht die Logik, die aus Remus sprach, sondern die Angst, für etwas Schlimmes verantwortlich zu sein, wenn er morgens aufwachen würde.
Severus sprach die Bedenken seines Freundes nicht an, sondern zog seinen Stab und schützte mit einem starken Zauber die Türen und Fenster des Raumes.

„Zufrieden?“
Remus nickte. „Danke.“

Weder Hermine noch Severus konnten ans Schlafengehen denken. Sie machten es sich nicht im Wohnzimmer, sondern in der Küche gemütlich, weil die näher am Keller lag. Nur manchmal hörte man ein Husten von unten. Beide hofften, sie würden auch die Verwandlung hören, wenn sie vonstatten gehen würde.

Hermine war bedrückt, was Severus daran ausmachen konnte, dass sie ruhig war. Sonst nutzte sie jede Gelegenheit für eine Unterhaltung, doch diesmal blieb sie stumm, sagte nur Danke, als Severus ihr eine Tasse Tee reichte. Er selbst zog Kaffee vor. Probleme mit dem Schlafen hatte er wegen nächtlichen Koffeinkonsums noch nie.

„Ich hoffe“, sagte Hermine leise. Mehr nicht, denn alles andere konnte sich Severus denken. Immer wieder lauschten sie den Geräuschen, die aus dem Keller drangen. Hermine konnte sich noch gut an das erste Mal erinnern, als sie Remus’ Verwandlung beiwohnte. Erst das Licht des Vollmonds hatte sie hervorgerufen. „Ist es das Licht?“, fragte sie plötzlich.
„Wenn du mich an deinen Gedankengängen teilhaben lässt, damit ich dir folgen kann, werde ich deine Frage sicherlich beantworten können.“
„Ich frage mich, ob die Verwandlung zum Werwolf durch das Licht verursacht wird, das der Mond zurückwirft. Was wäre, wenn man einen Werwolf in einem Raum einsperrt, der über keinerlei Fenster verfügt?“
Jetzt verstand er ihre Überlegung. „Das müsste man ausprobieren. In der Theorie kann man diese Situation nicht klären.“

Das Warten war für Hermine fast unerträglich. Sie fand keine Ruhe, um sich über andere Dinge Gedanken machen zu können. Die Zeit zog sich elend in die Länge. Nach gefühlten fünf Stunden war nur eine vergangen. Hermine seufzte. Nicht einmal Severus begann ein Gespräch, denn er selbst überdachte die gesamte Situation.

Warten.

Der Mond schien bald durch die Küchenfenster. Der Hund, der bisher brav unter dem Tisch gelegen hatte, kam hervorgekrochen. Harry spitzte die Ohren und blickte mit steifem Körper in Richtung Kellertür. Nur seine Ohren bewegten sich minimal hin und her. Hermine und Severus beobachteten das Tier und fragten sich, was Harry mit seinem guten Gehör wohl wahrnehmen würde. Es waren Geräusche, die für den Hund nicht alltäglich waren. Vorsichtig ging Harry einen Schritt vor, blieb wieder stehen. Es war noch nicht Mitternacht. So gern Hermine auch nachsehen wollte – sie zwang sich, am Tisch auszuharren. Remus sagte, erst nach Mitternacht könnten sie nach dem Rechten sehen.

Dir Uhr zeigte halb zwölf. Auf ihrem Stuhl rutschte Hermine unruhig herum, als säße sie auf glühenden Kohlen. Severus kannte das Gefühl. Ihm erging es nicht anders. Wäre Remus geheilt, würde das Elixier des Lebens noch einmal zum Einsatz kommen müssen. Es wäre Arthurs Pflicht, zum Wohl der Zauberergesellschaft allen Werwölfen die gleiche Behandlung zugute kommen zu lassen. Die Frage war nur, wie? Man könnte behaupten, einen Trank gefunden zu haben, der den Fluch aufhebt. Diese Erklärung würde den Werwölfen vollkommen ausreichen, nicht aber den anderen Tränkemeistern. Die würden nachhaken, würden Fragen stellen oder womöglich besagten Heiltrank untersuchen. Am Ende würde alles wieder auf Harry zurückfallen und er wäre in Gefahr, weil er den Stein der Weisen besaß.

Ein tiefes Brummen kam aus Richtung Keller. Vor Schreck ging Harry einen Schritt zurück, winselte dabei und schaute hilfesuchend zu seinem Herrchen auf. Die Geräusche waren dem Hund nicht geheuer. Severus ahnte, was das bedeutete. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass sie bald nach unten gehen dürften. Ein herzzerreißendes Jaulen hallte bis in die Küche hinauf. Hermine legte eine Hand über die Augen. Ihre Hoffnung war zerstört. Ihr ganzer Körper bebte, aber sie weinte nicht.

„Es ist gleich soweit, Hermine. Du musst nicht mit nach unten kommen.“
Die Hand fiel kraftlos auf den Tisch. „Ich möchte aber“, sagte sie mit ernüchterter Stimmlage.

Zehn Minuten nach Mitternacht ging Severus voran. Die schmalen Stufen nahm er langsam, geradezu vorsichtig. Die vorletzte knarrte, doch er übersprang sie nicht. Remus sollte hören, dass er Besuch bekam.

Durch die Ritzen des Verschlages konnte man ein großes, mit Fell überzogenes Wesen sehen, das auf der Couch lag und schwer atmete. Die Verwandlung war anstrengend, obwohl sie nicht viel Zeit beanspruchte. Vielleicht gerade deshalb. Wenn sich in weniger als drei Minuten der Körper auf diese Weise veränderte, musste das mit unerträglichen Schmerzen verbunden sein, musste viel Energie kosten. Der Werwolf war erschöpft. Seine Ohren drehten sich nach hinten, als er die Schritte hörte, aber er bewegte sich ansonsten nicht, atmete nur hastig. Was konnte man in so einem Moment sagen?

„Tonks war noch nicht hier.“ Hermine schaffte es nicht, ihre Enttäuschung zu verbergen. „Wenn sie kommt, bringen wir sie her, okay?“ Die Antwort des Werwolfs war ein ermattetes Seufzen, wie Severus es von seinem Hund kannte, wenn der sich müde auf einen Sessel legte. Hermine musste kräftig schlucken. So sehr hatte sie sich gewünscht, dass diesem lieben Freund die große Last genommen werden würde. Es blieb ein Wunsch. Unerfüllt.

Severus ergriff zaghaft Hermines Oberarm und führte sie nach oben. Sie gab sich arge Mühe, nicht in Tränen auszubrechen. Dennoch war ihre bedrückte Stimmung aus ihren trägen Bewegungen herauszulesen, aus dem gesenkten Haupt und der Stille der sonst so aufgeweckten, jungen Frau. Sie litt, weil ein Freund litt. Nicht weil die Verwandlung Schmerzen bereitet hatte, sondern weil seine Hoffnung auf ein normales Leben so schnell wie eine Seifenblase zerplatzt war. Der Fluch war kein körperliches Gebrechen, war nicht vom Elixier des Lebens geheilt worden.

Einvernehmlich blieben Severus und Hermine in der Küche. Mit ihren Gedanken waren sie bei Remus. Hermine hatte die Beine auf die Küchenbank gelegt und sich an Severus gelehnt. Auf diese Art fand sie etwas Schlaf, den er ihr gönnte. Dank seines Stabes konnte er sich alles herbeirufen, was er benötigte, ohne sie zu wecken. Der Hund schien ebenfalls zu schlafen, doch Harrys Ohren verrieten, dass er hellwach war.

Gegen fünf Uhr morgens, die Vögel zwitscherten bereits seit einer Stunde, kam Tonks. Sie war blass, sichtlich müde und abgekämpft. Für Remus hielt sie sich auf den Beinen, um zu feiern oder zu trösten – auf jeden Fall, um bei ihm zu sein.

„Morgen, Severus“, flüsterte Tonks leise.
Hermine wachte dennoch auf. „Morgen, Tonks.“
Für einen Moment betrachtete Tonks die beiden, bis sie die Antwort letztendlich aus den Gesichtern lesen konnte. Es wäre auch zu schön gewesen. „Ist er unten?“
„Ja, wir begleiten dich.“ Hermine stand auf, schüttelte sich den Schlaf aus den Gliedern. „Hier.“

Diesmal ging Hermine voran. Tonks und Severus folgten. Man hörte jemanden schnaufend atmen. Nachdem Hermine die Tür zum Verschlag geöffnet hatte, fiel ihr Blick auf Remus, jetzt wieder Mensch. Nur mit einer Decke über dem Schoß saß er zusammengekauert auf der Couch. Seine Kleidung lag ordentlich zusammengelegt über der Rückenlehne. Die eigenen Arme waren um seinen nackten Oberkörper geschlungen. Remus zitterte. Die kraftzehrende Rückverwandlung war daran schuld. Mühevoll hob er den Kopf. Als Tonks sich ihm näherte und vor ihm in die Knie ging, senkte er den Kopf so tief, dass nicht einmal sie sein Gesicht sehen konnte. Er schämte sich jedes Mal.

„Guten Morgen, mein Schatz.“ Die vertraute Begrüßung ließ ihn die Nase hochziehen. Sie strich ihm über die braunen Haare, in denen sich graue Strähnen abzeichneten. Ein heftiges Ausatmen seinerseits ließ sie die Augen schließen. Tonks konnte es nur schwer ertragen, wenn er solche Pein ertragen musste.
„‘s tut mir so leid“, kam gequält über seine Lippen, bevor er nochmals die Nase hochzog.

Er würde weiterhin einmal im Monat zum Tier werden, bis zum Ende seines Lebens. Seine Sorge galt nur ihr. Und auch der Familie, die sie mit ihm gründen wollte. Tonks setzte sich neben ihn und umarmte ihn, wiegte ihn sanft hin und her. Ein Seufzer entwich ihm, bevor er heftig und unregelmäßig einatmete.

Vor der Tür hatte Hermine alles beobachtet, auch wenn sie nichts von dem Geflüster verstanden hatte. Es benötigte keine Worte, die beiden zu verstehen, denn die Gesten sprachen für sich. Remus verdammte sich aufgrund seines Fluchs selbst und mache sich Gedanken über eine gemeinsame Zukunft. Tonks hingegen zeigte ihm, dass es nichts gab, dass sie beide auseinanderbringen könnte. Sein Fluch gehörte zu ihm. Das hatte sie schon vor langer, langer Zeit akzeptiert.

An ihrer Schulter spürte Hermine einen leichten Stoß. Severus hatte sie berührt. In gleicher Hand hielt er ein Taschentuch, das er ihr reichte. Erschreckt tastete sie ihr Gesicht ab und bemerkte die Tränen. Dabei hatte sie sich fest vorgenommen, nicht zu weinen.

„Danke“, flüsterte sie, nahm das Taschentuch und tupfte sich über die Augenlider.
„Gehen wir hoch“, schlug er leise vor, damit Tonks und Remus nicht länger gestört werden würden.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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Rest von Kapitel 222

In der Küche nahm Hermine das erste Mal nach langer Zeit eine Tasse Kaffee. Sie fühlte sich einigermaßen ausgeruht. Am heutigen Samstag würde der Arbeitstag wie immer um neun Uhr beginnen. Am ersten Wochenende der Ferien erhoffte man sich einen ruhigen Arbeitstag.

Nach einer halben Stunde hörte man die Stufen der Kellertreppe knarren. Remus kümmerte sich nicht um seinen Stolz und ließ sich von Tonks stützen, als sie die Küche betraten.

Severus nutzte den Moment und sagte: „Ihr bleibt zum Frühstück.“ Er hatte sich nicht einmal die Mühe gegeben, den Satz als Frage zu betonen.
„Nein“, winkte Remus ab, „ich werde lieber …“
„Willst du uns etwa erzählen, du hättest keinen Hunger?“, fuhr ihm Severus über den Mund. Remus Magen knurrte die Antwort zurück, woraufhin Severus einseitig grinste. „Dann geh du nachhause und lass den Magen hier, denn der kann offenbar ein Frühstück vertragen.“

Als es klopfte – es war gerade mal kurz vor sieben – blickte Hermine verwundert aus dem Küchenfenster. Severus war über den Gast gar nicht überrascht. Schnurstracks ging er in den Flur und durchquerte den Verkaufsraum, um die Tür zu öffnen.

Remus schaute ihm hinterher. Als er nicht mehr zu sehen war, fragte er an Hermine gerichtet: „Wer ist das?“
„Ich habe keine Ahnung. Scheinbar liefert der Mann was.“ Aus dem Fenster konnte sie nicht viel erkennen.

Ächzend ging Remus einen Schritt nach vorn und kam ins Wanken, woraufhin Tonks ihn zur Küchenbank führte, damit er Platz nehmen konnte. Severus war schnell wieder zurück. In seinen Händen hielt er zwei große, weiße Papiertüten, die er auf die Arbeitsfläche legte. Neugierig lugte Hermine in eine der Tüten hinein.

„Du hast Frühstück organisiert?“, fragte sie erstaunt.
„Ja, ich ging davon aus, dass Tonks und Remus noch bleiben.“ Er öffnete einen Schrank, um das Kaffeepulver herauszuholen. „Wie es aussieht, können wir die Hälfte davon wegwerfen.“ Mit seinen Worten erreichte Severus genau das, was er erreichen wollte. Er schürte bei Remus ein schlechtes Gewissen wegen der Ausgaben, viel mehr aber noch wegen der Absage, nicht zum Essen bleiben zu wollen.
„Wenn ihr extra …“ Remus deutete auf die Tüten mit dem Zeichen des in der Winkelgasse ansässigen Bäckers. Er fand es rührend, dass man sich so sehr um sein Wohlergehen kümmerte. „Das wäre wirklich nicht nötig gewesen. Ich muss aber zugeben, dass ich Hunger habe.“ Sein Magen bestätigte die Aussage mit einem weiteren Knurren. Mit einer Hand beruhigte Remus seinen nach einem kräftigen Frühstück schreienden Bauch.

Remus’ Bewegungen waren lahm, so langsam wie in Zeitlupe. Mit zittriger Hand gönnte er sich erst eine Tasse Tee, während Hermine mit einer oberflächlichen Unterhaltung begann, damit es nicht so still war. Sie unterhielt sich mit Tonks, während Severus und auch Remus die Gesellschaft genossen, ohne sich aktiv am Gespräch zu beteiligen. Als Remus sein Brötchen aufschneiden wollte, fiel ihm das Messer aus der zittrigen Hand. Sofort hatte Tonks es aufgehoben und ihm gereicht. Die beiden tauschten einen Blick miteinander aus, den weder Hermine noch Severus deuten konnten.

„Ach, was soll’s, Remus. Warum verstellen?“ Tonks griff nach dem Brötchen und teilte es. Sie bedachte beide Hälften mit Butter und Käse und legte das fertige Essen auf den Teller vor ihm. Verlegen betrachtete Remus sein Frühstück, griff letztendlich zu. Für Hermine und Severus erklärte Tonks: „Seine Hände tun nach der Rückverwandlung weh.“
„Nicht nur die Hände“, warf er kleinlaut ein.
„Alles tut ihm weh“, korrigierte sie. „Deswegen nehme ich ihm so gut es geht jede Arbeit ab.“
Hermine schüttelte sanft den Kopf. „Ihr braucht euch wirklich nicht zu rechtfertigen. Ginny schneidet Harry auch manchmal das Brötchen auf, oder er ihr. Ich finde, das ist eine liebevolle Geste.“
Bevor Tonks etwas erwidern konnte, fragte Severus mit ernster Stimme: „Und warum komme ich dann nicht in diesen Genuss?“
Hermines Augenbrauen wanderten nach oben. „Du hast doch zwei Hände.“
„Die in der Zwischenzeit im Tagespropheten blättern könnten.“
„Ich glaub’s ja“, beschwerte sich Hermine grinsend.

Die ganze Zeit über hatte Remus kaum etwas von sich gegeben, aber jetzt musste er laut lachen.

Das erste Mal erlebte Severus, warum Remus nach der Rückverwandlung indisponiert war. Jede Bewegung war eine Qual. Remus erklärte die Schmerzen mit dem Gefühl eines Ganzkörpermuskelkaters, begleitet von mittelschwerer Übelkeit und Kopfschmerzen. Deshalb musste Severus ihn damals als Lehrer vertreten und nicht, weil Remus sich ein schönes Leben machte und einfach nur ausspannen wollte. Der Werwolfsfluch musste wie eine temporäre Behinderung klassifiziert werden, wie das Ministerium es vor Jahren bereits getan hatte. Jeder Arbeitgeber war verpflichtet, einem angestellten Werwolf kurz vor und nach Vollmond freizugeben.

Wie erhofft verlief der Samstag ruhig. Nachdem Remus und Tonks nach Hogwarts gefloht waren, um das Wochenende gemeinsam zu genießen, hatten sich Hermine und Severus ins Labor begeben, während Daphne sich um die Kunden, den Verkauf und die Bestellungen kümmerte. Weil es nicht viel zu brauen gab, war Severus derjenige, der diese Arbeit übernahm. Hermine hingegen nutzte die Zeit, um Dinge zu ordnen und sauberzumachen. Wenn sie sich bückte, um etwas unter einem Tisch hervorzuholen, um etwas wegzuräumen oder schwer erreichbare Ecken per Hand auszufegen, weil ein verzauberter Besen eine Gefahrenquelle im Labor darstellte, dann ertappte sich Severus dabei, wie er auf ihr Gesäß starrte.

Viele Weisheiten hatte Tobias Snape nicht an seinen Sohn weitergegeben, doch an ein paar der Dinge, die nicht im Zustand der Trunkenheit über seine Lippen gekommen waren, konnte sich Severus erinnern. So sagte sein Vater eines Tages am Frühstückstisch, als man über einen Nachbarsjungen sprach, dass die Lust der Kinder in den Füßen steckte, die der Jugendlichen in den Lenden und die der Reifen im Kopf. Nachdem am heutigen Tag zum unzähligen Mal Hermines Hinterteil den absoluten Blickfang im Labor darstellte, fragte sich Severus ernsthaft, ob nach Erreichen der höchsten Stufe der Tobias-Snape-Skala die Lust auch wieder eine Etage nach unten gleiten könnte. Er musste bejahen. Das Begehren war da und wurde mit jedem Schwung der weiblichen Hüften angesprochen. Eine Tortur. Severus war jedoch mehr als nur stolz auf sich, dass die Lust nicht zur Lüsternheit wurde. Diese Kontrolle unterschied den Menschen – die meisten jedenfalls – von den Tieren. Unbewusst versuchte Hermine, seine Kontrolle zu durchbrechen. Mittlerweile schrubbte sie per Hand eine Stelle am Boden, an der sie vorhin versehentlich eine Ampulle hatte fallen lassen. Die kreisende Hüftbewegungen verlangten ihm viel ab. Doch selbst als Severus all seine Konzentration auf das Brauen lenkte, brachte es keine Besserung. Severus stellte einen Verhütungstrank her, um die Regale wieder aufzufüllen. Vermutlich reichte die Intelligenz einer Schmeißfliege aus, um sich denken zu können, was die Damen und Herren nach Einnahme des Trankes zu tun gedachten. Severus seufzte. Insgeheim wünschte er sich, die Lust würde gleich ganz hinunter in die Füße rutschen, dann könnte er wenigstens der Versuchung davonrennen – und hätte auch noch Freude dabei.

Bald waren die Gefäße mit den Verhütungstränken abgefüllt. Kurz zuvor war Hermine mit dem Putzen fertig geworden. Die Haare klebten an ihrer Stirn und am Nacken. Auf ihren Wangen lag ein rosiger Schimmer. Sie war außer Atem. Manch einer, der sie jetzt so sehen würde, könnte für ihr Erscheinungsbild eine andere Ursache verantwortlich machen als die tatsächliche. Es fehlte nur noch der Schlafzimmerblick – nicht der aufgesetzte, sondern der natürliche. Für den ihren wollte er sich bei Gelegenheit verantwortlich zeichnen. Vielleicht, so hoffte er, gab es heute eine Gelegenheit.

„Ich gehe nach oben“, sagte sie, woraufhin er erleichtert ausatmete. „Ich muss duschen“, nebelhafte Bilder formten sich in seinem Kopf, „und den Schweiß von meinem Körper waschen.“

Einen klitzekleinen Moment lang war er versucht, sich für ihre geistige Vorgabe zu bedanken. Für die Szenen, die ihre Worte in seinen Gedanken formten, hätte er sich in Jugendjahren noch geschämt. Stattdessen schnaufte er eine Bestätigung, sie gehört zu haben. Hermine ging und ließ ihn mit seinen Aufräumarbeiten allein, somit auch mit der Lust, die nicht dazu zu überreden war, die Position zu wechseln. Sie blieb mittig und nahm darüber hinaus an emotionaler Bedeutung zu. Als er sich dabei erwischte, wie er in einer Fantasie über ein äußerst bildhaftes Duschszenario schwelgte, wurde er sich durch eine Regung seines Körpers schlagartig über eine Sache bewusst: er war keineswegs alt. In diesem Moment war Severus ausgesprochen froh, nicht mehr in Hogwarts zu leben. Sicherlich hätte Albus sein mit beschwingten Gefühlen bis zum Bersten angeschwollenes Herz nicht nur erkannt, sondern auch angesprochen und dazu passend eine heitere Geschichte über die fünf Jahreszeiten zum Besten gegeben – den zweiten Frühling inklusive. Darauf konnte Severus gut und gern verzichten. So wie für Harry die größte Angst die Furcht vor der Angst selbst darstellte, war Severus’ größte Unsicherheit das Wissen um die eigene Unsicherheit. Es war albern, wenn man sich vor Augen führte, was für gewichtige Entscheidungen er bereits im Leben getroffen hatte, was er alles erleben musste. Unsicherheit war in diesen Momenten nie ein Thema gewesen, aber jetzt ... Es gab Dinge im Leben, die verlernte man nicht, wie das Fahrradfahren, das Besenfliegen oder das Schwimmen. In Herzensangelegenheiten sah das offenbar anders aus, jedenfalls für Severus. Nach so vielen Jahren der notwendigen Abstinenz hatte er verlernt, die Signale seines Körpers richtig zu deuten. Nur eine Regung konnte er korrekt interpretieren. Von wegen zweiter Frühling, dachte er abschätzig. Es fühlte sich wie Hochsommer an.

Severus entschloss sich dazu, nach oben zu gehen und seine Chancen auszukundschaften. Eine Wolke heißen Dampfes schlug ihm entgegen, als er die Badezimmertür vorsichtig öffnete. Hermine war nicht mehr hier, wofür er dankbar war, denn die Instinkte, die ihn leiteten, hatten ihn vergessen lassen, sein Kommen mit einem Klopfen anzukündigen. Ein Rascheln kam aus ihrem Schlafzimmer, welches sie nicht mehr nutzte, seitdem sein Bett in der Apotheke untergebracht war. Gerade wollte er klopfen, da ging die Tür auf.

„Oh, Severus!“ Sie strahlte ihn an, so dass ihm noch wärmer wurde. „Wolltest du etwas?“

Hermine ging um ihn herum und steuerte das Wohnzimmer an. Langsam folgte er ihr. Im Wohnzimmer fand sie, was sie suchte. Leicht gebückt stand sie über ihrer großen Handtasche und kramte darin herum. Ihr nach hinten geschobenes Gesäß war ihm zugewandt. Beinahe hätte er gefragt, ob sie das mit Absicht tun würde, da blickte sie wieder auf und drehte sich um. Was auch immer sie sagen wollte, es blieb ihr im Hals stecken, als sie seinen Blick bemerkte. Den Moment nutzte Severus, um sich ihr nicht nur in Bezug auf die Distanz zu nähern. Kaum war er bei ihr, umfasste er zaghaft ihren Oberarm mit seiner rechten Hand, während die linke sich an ihren Nacken legte. Es benötigte nur einen ganz leichten Druck und Hermine gab nach. Ohne Widerworte ließ sie sich nach vorn navigieren, bis sich ihre Lippen trafen. Zu seinem Bedauern hielt sie den Kuss kurz. Von seinem Hochgefühl schien sie nicht einmal etwas zu ahnen. Mit beiden Händen strich sie ihm über die schmale Brust, lächelte ihn dabei verträumt an.

„Das Angebot steht noch“, sagte sie plötzlich.
‚Angebot?‘, wiederholte er in Gedanken. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. So ein Angebot hatte sie ihm nie unterbreitet.
Severus’ Schweigen hielt ihr vor Augen, dass er sich nicht zu erinnern schien, also gab sie ihm genügend Informationen, um die Situation zu erklären. „Ich habe doch erzählt, dass ich am Wochenende die Longbottoms im Mungos besuche. Harry kommt auch mit.“

Das war mit dem Angebot gemeint. Severus verzog den Mund. Das Gefühl, dass ihn jetzt übermannte, hatte Ähnlichkeit mit einem Gefühl, das er aus seiner Kindheit kannte. Ein heißer Sommertag. Es waren Ferien, was nicht allzu wichtig war, denn schulpflichtig war er noch lange nicht. Severus sah diese Erinnerung deutlich vor sich. Mit seinen kleinen Händen hatte er eine Sandburg gebaut, hatte Türme errichtet und mit einer Glasscheibe Fenster in den Sand geritzt, damit es am Ende so aussehen würde wie das Schloss, in dem er später einmal zur Schule gehen würde. Es war perfekt gewesen. Das größte, beeindruckendste Kunstwerk, das jemals aus der Hand eines fünfjährigen Jungen geschaffen worden war. Dann kam das abrupte Ende, die Ernüchterung in Form einer Welle, die sein Traumschloss in Sekunden überflutete und nichts weiter zurückließ als einen Hügel aus Matsch. Das damalige Gefühl der Enttäuschung, wenn auch aus einem völlig anderen Grund, war dem jetzigen Gefühl sehr ähnlich.

„Woran denkst du?“, hörte er ihre Stimme fragen. Hermines Hand strich über seine Wange.
„An eine Sandburg.“
Hermines Augenbrauen beschlossen, dem Haaransatz persönlich einen guten Tag zu wünschen. „Das ist …“ Trotzdem sie irritiert war, musste sie lächeln. „Das Thema“, ihr Zeigefinger klopfte auf sein Brustbein, „möchte ich später gern noch einmal aufgreifen. Hört sich nach Spaß an.“
„Mmmh“, brummte er leicht missgelaunt.
„Und? Möchtest du mitkommen?“
„Nein, ich werde mich anderweitig beschäftigen.“
Hermine nickte verständnisvoll. „Du könntest endlich deine Geschenke auspacken. Die von den Schülern und Kollegen.“
„Das könnte ich“, bestätigte er. Eine kalte Dusche stellte den alternativen Zeitvertreib dar.
„Dann werde ich mal …“

Sie nickte zum Kamin hinüber und erst jetzt ließ er ihren Nacken los, ließ sie gehen. Sie warf sich ihre Tasche über die Schulter und ging ein paar Schritte, doch sie blieb kurz stehen und bückte sich, um ein Hosenbein glattzustreichen.

Da war er wieder, der Hintern, der ihn den ganzen Tag über geneckt hatte. Eine Strafe für die Verlockung und die Stimulans wäre seiner Meinung nach angemessen.

Plötzlich spürte Hermine einen Schlag auf ihrem Gesäß. Mit der flachen Hand hatte Severus ihr nicht gerade zaghaft, aber auch nicht zu rabiat einen Klaps verpasst. Erschrocken fasste sie sich an den besagten Körperteil und blickte ihn über die Schulter hinweg mit großen Augen an.

„Wir sind verlobt“, erklärte er trocken. „Ich darf das.“ Ein Mundwinkel wanderte hämisch in die Höhe, bevor er sich zur Couch begab. Erst jetzt schien Hermine zu ahnen, wie ihm zumute war. Sie bekam ein schlechtes Gewissen.
„Ich beeile mich, Severus.“
„Nein, lass dir ruhig Zeit“, sagte er ohne Anzeichen von Spott. Er wanderte zum Beistelltisch am Fenster, auf dem er am Mittwochabend alle Geschenke abgestellt und seitdem nicht mehr angerührt hatte.

Mit seinen Worten gab sich Hermine zufrieden. Sie verabschiedete sich nochmals, bevor sie in den Kamin trat zum Mungos reiste. Als sie weg war, erlaubte er sich einen gequälten Seufzer.

In der Zwischenzeit stand Harry vor dem Kamin in seinen Räumen, die er noch solange mit seiner Familie bewohnen durfte, bis er ein Haus gefunden hatte. Ginny war noch nicht fertig. Sie wollte ihn ins Mungos begleiten.

„Ginny …“, rief er mit nörgelndem Unterton. Vom Boden kam ein Nörgeln zurück, als Nicholas seinen Vater imitierte.
„Ich komme gleich!“ Ihr genervter Tonfall riet ihm, sie nicht noch einmal zu rufen.

Shibby saß neben Nicholas. Wo Wobbel steckte, wusste Harry nicht. Er blickte sich im Zimmer um. Fawkes schlief. Sein Gefieder war sehr schnell nachgewachsen und von der Farbe her kräftiger als jemals zuvor. Hedwig war genau wie Wobbel spurlos verschwunden. Wahrscheinlich jagte sie Mäuse oder ließ sich von Hagrid füttern. Gerade als er an Hedwig dachte, pickte etwas gegen das Fenster.

„Ich mach schon“, sagte Harry zu Shibby, die gerade aufstehen wollte. Am Fenster wartete nicht Hedwig, aber durchaus eine Posteule. An ihrem Bein war ein Brief befestigt, den er entgegennahm. Der Vogel flog ohne eine Belohnung wieder davon. Eine Ecke des Umschlags hatte Harry bereits geöffnet, als er bemerkte, dass der Brief nicht an ihn gerichtet war. „Ginny? Hier ist eben ein Brief für dich gekommen“, rief er laut, damit sie ihn durch die Badezimmertür hören würde. Er überflog den Umschlag. Der Absender ließ ihn skeptisch werden. „Von Gregory Goyle“, sagte er laut, stutzte über seine eigenen Worte. „Muss ich mir jetzt Gedanken machen?“ Die Tür wurde geöffnet. Ginny sah umwerfend aus. „Für wen hast du dich denn so hübsch gemacht?“
„Ich möchte bei Nevilles Eltern einen guten Eindruck hinterlassen.“
Er betrachtete sie von oben bis unten. Statt der üblichen Hose trug sie einen knielangen Rock, anstelle eines Shirts hatte sie eine hübsche Bluse angezogen und ihre Haare hingen nicht glatt herunter, sondern waren mit leichten Wellen versehen. „Du willst wohl eher einen weiblichen Eindruck hinterlassen.“
Mit einem schnaufenden Laut kommentierte sie seine Aussage, bis sie den Brief in seinen Händen entdeckte. „Für mich?“
„Ja“, er hielt ihn ihr entgegen, „ich frage mich nur, warum.“ Ohne ihm eine Erklärung zu geben nahm sie den Brief, öffnete ihn und las den Inhalt. Danach steckte sie den Brief in die Innentasche ihres Umhangs, ohne auch nur ein Wort zu verlieren. „Was, ähm, was schreibt Goyle denn so?“
„Ist privat.“
„Ginny, ehrlich mal …“
Sie lachte plötzlich. „Nächste Woche treffe ich mich mit ihm.“
„Mmmh“, machte er vorgetäuscht misstrauisch.
„Wir gehen zum Therapeuten.“ Ihr Lächeln zuckte nervös. Das Thema war ihr peinlich.
Harry hingegen war erleichtert, dass sie ihr Problem endlich eingesehen hatte und sie etwas gegen ihre Schreckhaftigkeit, gegen ihre Albträume unternehmen wollte. „Finde ich gut, Ginny.“ Er strich ihr über das zurechtgemachte Haar. „Wirklich.“
Die Befangenheit fiel schnell von ihr ab. „Nehmen wir Nicholas nun mit oder nicht?“
„Ja“, schlug er vor. „Das verspricht auf jeden Fall Abwechslung.“

Nicholas fuhr am Boden mit der Lok umher, trillerte im gleichen Atemzug mit der Pfeife, die der Bahnhofsvorsteher ihm geschenkt hatte.

„Das war übrigens eine ganz tolle Idee“, sagte Ginny spottend. Die hohen Töne der Trillerpfeife gingen durch Mark und Bein. Zum Glück hatte Nicholas noch nicht raus, wie man richtig laut pfeifen konnte.
„Das ist aber noch nicht das Beste“, verkündete Harry. Er griff in seine Tasche und zog die zweite heraus.
„Das ist nicht dein ernst“, sagte sie, als sie die Trillerpfeife in seinen Händen baumeln sah.
„Oh, doch.“ Schon hatte er sie ausgepackt und in den Mund gesteckt. Er pfiff. Nicholas blickte auf und pfiff zurück. Weil der Junge so grinsen musste, fiel ihm die eigene Pfeife aus dem Mund und pendelte nun an der Schnur, die um seinen Hals lag. Harry pfiff nochmal, woraufhin Nicholas klatschte, während Ginny die Augen verdrehte.
„Das Ding nimmst du aber nicht mit ins Mungos.“
„Schade …“ Harry schob die Unterlippe nach vorn und schmollte.
„Komm schon.“ Ginny nahm Nicholas auf den Arm. Die Lok ließ er nicht los, doch statt der Trillerpfeife gab Ginny ihm ein anderes Spielzeug, das er mit ins Krankenhaus nehmen konnte. Die fliegende Stoffeule von Ron.

Ganz kurz zögerte Harry. Er war sich darüber im Klaren, dass er heute über seine Eltern sprechen musste. Noch konnte er nicht einschätzen, wie sehr ihn der heutige Tag mitnehmen würde – oder wie gut oder schlecht die Longbottoms die Nachricht verkraften würden, dass ihre guten Freude Lily und James seit vielen Jahren schon nicht mehr unter den Lebenden weilten.

„Machst du dir Sorgen?“, hörte er sie fragen.
„Ein bisschen“, log er. Er machte sich große Sorgen.

Sorglos hingegen war Severus. Im Wohnzimmer hatte er das Geschenk geöffnet, das ihm sein Haus überreicht hatte. Sie hatten ihm zwei gemacht. Das erste davon starrte er gerade noch verwundert an. Es war ein bewegtes Bild der Slytherins, aufgenommen im Gemeinschaftsraum. Die jüngeren Schüler in der Mitte hielten den Quidditchpokal in den Händen. Draco als einer der größer gewachsenen Schüler stand weiter hinten. Das Bild musste gleich nach dem Sieg aufgenommen worden sein, dachte Severus. Ob sie tatsächlich glaubten, er würde es sich irgendwo hinhängen?

Das zweite Geschenk war ebenfalls mit einem Rahmen versehen. Der Abstand des Glases zur Rückwand war größer, denn in dem Rahmen befand sich kein Bild, sondern ein goldener Gegenstand – ein Klumpen. Darüber konnte man ein Zertifikat lesen. Laut der Information auf dem Schriftstück sollte dieses Stückchen eines der wenigen sein, das jemals von einem Alchimisten von Blei in Gold verwandelt worden wäre. Severus’ Interesse war geweckt. Der Preis musste unermesslich sein. Einen Augenblick lang fühlte er sich dazu animiert, das Geschenk zurückzugeben. Zum Glück hielt der logische Teil seines Gehirns ihm vor Augen, dass die Kinder allesamt aus gutsituierten Häusern stammten und dieses Objekt wahrscheinlich mit Leichtigkeit vom zusammengelegten Taschengeld besorgt wurde. Severus drehte den Rahmen um. Auf der anderen Seite befanden sich metallene Haken, die er verbiegen konnte, um die Rückwand herauszunehmen – was er auch sofort tat. Mit der herausgetrennten Rückwand hatte er die Gelegenheit, den Klumpen zu berühren. Es fühlte sich wie Gold an, aber beizeiten würde er das Stückchen auseinandernehmen und auf bestimmte Dinge überprüfen: auf die Verdampfungs- und Schmelzwärme, auf den Siede- und Schmelzpunkt, auf die Mohshärte und die Dichte des Objekts. Wenn das Stückchen Gold einmal Blei gewesen war, würde er es herausbekommen.

Schon in seiner Jugend hatte er sich für Alchemie interessiert. Mehr oder weniger war dieser alte, beinahe ausgestorbene Berufszweig mit Zaubertränken verbunden. Seine Mutter hatte seine Leidenschaft geteilt, hatte sie womöglich sogar an ihn vererbt. Schon früh erklärte sie die wundersamen Möglichkeiten, die sich in Tinkturen und Tränken verbargen. In Phiolen abgefülltes Glück und Tränke, die einem ein anderes Aussehen gaben, sprachen wohl die natürliche Neugierde jedes Kindes an. Seine Erinnerungen an damals …

Severus’ Gedankengänge stockten plötzlich, als er an die Erinnerungen dachte, die er hier im Wohnzimmer aufbewahrte. Die Erinnerungen, die er damals aus seinem bewussten Geist getrennt hatte. Eines Tages müsste er sie wieder in sich aufnehmen, wenn er nicht wollte, dass sie in falsche Hände gerieten. Erst dann wäre er wirklich wieder er selbst. Je eher, desto besser. Der Zeitpunkt schien perfekt. Severus war allein. Mit Hermine müsste er die nächsten drei Stunden nicht rechnen, auch nicht mit anderen Menschen, die ihn stören könnten.

Den Klumpen Gold eines unbekannten Alchimisten legte er zurück auf den Tisch, bevor er die vierhundert Milliliter Erinnerungen aus dem Wohnzimmerschrank nahm und zurück zur Couch ging. Das silberne Leuchten sorgte bei ihm für Gänsehaut. Einen Augenblick lang betrachtete er die Phiole, stellte sie dann aber auf den Tisch und wandte sich wahllos einem der anderen Geschenke zu, um das Übel hinauszuzögern. Er durfte selbst bestimmen, wann er die deprimierenden Erinnerungen wieder in sich aufnehmen wollte.

Unbewusst hatte er das Paket seiner Kollegen geöffnet. Es beinhaltete verschiedene Objekte, unter anderem Bücher, wertvolle Steine und seltene, getrocknete Pflanzen – eine kannte er gar nicht. Es fand sich auch eine Flasche Whisky in dem Paket. Letzteres Geschenk war eindeutig von Minerva, denn sie hatte einen Blick Qualität. Darüber hinaus kannte sie seinen Geschmack. Die Flasche war alt, zählte zu den sehr edlen Tropfen. Als er das Etikett betrachtete, huschte sein Blick unwillkürlich auf die Phiole mit den Erinnerungen, die auf dem Tisch stand und darauf wartete, dass man sich endlich ihrer annahm.

„Alles zu seiner Zeit“, murmelte er. Von dem Geräusch seiner Stimme war Harry aufmerksam geworden. Der Hund kam ins Wohnzimmer und hüpfte auf den Sessel, den er sein Eigen glaubte. „Ich gönne mir erst einmal einen Schluck“, sagte Severus in den Raum hinein.

Das erste Glas Whisky trank er, während er das Geschenk der Gryffindors öffnete. Es waren keine Geschenke darin enthalten, die ihn über alle Maßen beeindruckten, aber dennoch erfreute es ihn, dass man sich viele Gedanken darüber gemacht zu haben schien, was ihm gefallen könnte. Die Geschenke fanden bei ihm Anklang, was ihm vor Augen hielt, wie gut sie ihn einschätzen konnten, ohne ihn wirklich zu kennen. Keiner der Schüler – Draco war die absolute Ausnahme – kannte ihn persönlich etwas besser. Die Gryffindors hatten ihm ein Buch geschenkt, in welchem ein Autor über verschiedene verfluchte Gegenstände schrieb. Im Inhaltsverzeichnis fand sich die Überschrift „Zankapfel“. Wie Severus es ahnte, wurde über genau den goldenen Apfel gesprochen, der sich in seinem Besitz befand. Entweder war es Zufall oder die Gryffindors hatten einen Tipp von Draco erhalten.

Severus schenkte sich bereits ein zweites Glas ein. Während er einen Schluck nahm, blendete ihn das silbrige Licht seiner Erinnerungen, so dass er die Augen schließen musste. Ein wohlig warmes Gefühl breitete sich langsam in ihm aus. Er wurde gelassener. Die Geschenke der anderen Häuser ähnelten denen von Gryffindor. Verschiedene Bücher, in denen auch Dinge angesprochen wurden, die ihn besonders interessierten oder gar direkt betrafen. Hufflepuff vermachte ihm ein Buch von Kôji Takeda. Als Severus die Inhaltsangabe durchging, fand er ein Kapitel mit dem Titel „Hermine Granger und Severus Snape“. Neugierig schaute er auf das Datum der Veröffentlichung. Das Buch war brandneu. Er blätterte zum entsprechenden Kapitel und las mit dem dritten Glas Whisky über die Komplexität von Magie und ihre Auswirkung auf nicht-magische Pflanzen, die mit Hilfe eines neu entwickelten Farbtrankes sichtbar gemacht werden konnten. Hermine wäre davon begeistert zu erfahren, dass der japanische Professor über sie und ihre Erfindung geschrieben hatte. Mit dem vierten Glas Whisky griff er zu einem sehr dicken Buch, das in dem Paket von Ravenclaw zu finden war. Der Titel lautete schlichtweg „Der Krieg“ und war von einem Autor, den er nur vom Hörensagen kannte. Abhandlungen über Historisches lagen Severus nicht. Dennoch blätterte er auch in diesem Buch. Die Kapiteltitel klangen vielversprechend. Offenbar wurde nicht nur nüchtern über geschichtliche Begebenheiten berichtet. Der Autor gab dem Ganzen einen persönlichen Touch, indem er nicht nur Fakten nannte, sondern auch über die Personen schrieb, die zum Sieg über Voldemort beitrugen. Severus wollte gar nicht wissen, wie oft der Name Harry Potter in diesem Werk vorkommen würde, aber es überraschte ihn, dass auch ein Kapitel seinen Namen trug. Lesen wollte er es nicht, denn die Buchstaben begannen, vor seinen Augen zu verschwimmen. Ein Zeichen dafür, dass der Alkohol auf eine Art und Weise wirkte, die Severus sagte, dass der Moment gekommen war, mit dem Trinken aufzuhören. Noch nie hatte er über den Durst getrunken, weder als Schüler noch als Erwachsener. Sein alkoholabhängiger Vater war der ausschlaggebende Grund dafür.

Die Phiole lächelte ihn an. Severus legte das Buch zurück auf den mittlerweile überfüllten Tisch und griff zur seinen Erinnerungen. Durch seine nur leicht getrübte Sicht wurde der silberne Schimmer weichgezeichnet, wirkte wie eine Korona. Severus entkorkte die Phiole und tauchte seinen Stab hinein. Die Spitze fing einen von den vielen glänzenden Fäden, den Severus sich an die Schläfe hielt. Die Erinnerung tauchte in sein Gedächtnis und frischte die dort vorhandene wieder auf. Es war die Erinnerung an Regulus gewesen, der ihn eines Abends besucht hatte, um mit ihm einen Schluck Whisky zu trinken. Severus sah das als Zeichen dafür, sich ein fünftes Glas einzuschenken – diesmal jedoch mehr als nur zwei Finger breit. Regulus war, wie dessen älterer Bruder, ein ungestümer Mensch gewesen, doch im Gegensatz zu Sirius konnte Severus ihn gut leiden. Severus ließ die Erinnerung einen Moment nachwirken, hinderte sich auch nicht daran, an andere Situationen mit dem jungen Mann zu denken.

Diese Erinnerung war noch eine der harmlosen gewesen, wusste Severus. Als würde er ein Los ziehen, hielt er abermals den Stab in die Phiole und – nach kurzem Zögern – führte sie an seine Schläfe. Es handelte sich um die Erinnerungen, in der er Albus aufgesucht hatte, um ihn vor den Angriffen auf die Potters zu warnen. Severus Herz begann schneller zu schlagen, als er unweigerlich an Lily denken musste. Die schlimmste der Erinnerungen wartete noch auf ihn. Er war versucht, die Phiole wieder zu verkorken. Das Wort Feigling hallte in seinem Kopf wider. Er war kein Feigling. Zudem wusste er, was auf ihn zukommen würde. Er kannte den Inhalt der Phiole. Aber zu wissen, dass seine eigenen, verblassten Erinnerungen an die vergangenen Situationen in dem Moment aufgefrischt werden würden, wenn er sie wieder in sich aufnehmen würde, machte ihm Angst. Angst davor, sie fühlen zu müssen. Vielleicht half es, sich Mut anzutrinken. Wie er bei übermäßigem Alkoholgenuss reagieren würde, konnte Severus nicht einschätzen. Die Gefahr war groß, genau wie sein Vater in Rage zu geraten und Möbel zu Bruch gehen zu lassen. Dafür hatte er seinen Vater immer verabscheut. Der Alkohol beseitigte alle Hemmungen. Es konnte aber auch gut sein, dass Severus’ Wesen sich in eine völlig andere Richtung veränderte, vielleicht sogar gar nicht. Als Hermine einmal beschwipst war, während sie vor Severus die Rede für die Körperschaft der Tränkemeister übte, war sie lustig geworden. Allerdings war sie im Gegensatz zu ihm sowieso eine Frohnatur. Severus wollte es ausprobieren, wollte testen, wie Alkohol auf ihn wirken würde. Sollte er, wie man so schön sagte, einen Moralischen bekommen, so würde er schleunigst ins Bett gehen.

Nach und nach trank Severus einen Schluck Whisky, nahm dazu durch die Schläfe einer der alten Erinnerungen auf. Jedes Mal aufs Neue befürchtete er, die Erinnerung an Lilys Leiche würde ihn sofort in tiefste Depressionen stürzen, doch als es endlich soweit war, fühlte er nur Trauer und Reue. Vielleicht, so glaubte er, war es die Tatsache zu wissen, dass Hermine genau diese Szenerie auch gesehen hatte. In Gedanken war sie bei ihm. Er dachte viel an Hermine, nach dem sechsten Glas Whisky auch häufig an ihr Gesäß. Die Erinnerung an den Lilys Sohn, der herzzerreißend weinte, ließ ihn keinesfalls kalt, aber er hielt sich vor Augen, dass es Harry heute gut ging. Er war verheiratet, hatte ein Kind und war ein guter Freund. Was geschehen war, konnte niemand rückgängig machen. Andere Menschen hatten auch mit üblen Erinnerungen zu kämpfen. Severus wollte zu denen gehören, die ihre Vergangenheit ertrugen.

Seine Seele wurde erst von einem Schwindel ergriffen, als er die Einnahme des Ewigen Sees wieder zu einem deutlichen Bestandteil seines Geistes machte. Dieser damalige Fehler wiegte so schwer, dass er sich peinlich berührt ein weiteres Glas einschenkte und die aufkommende Verlegenheit, besonders aber das Wissen um die damalige Feigheit mit dem guten Tropfen zu ersäufen versuchte. Mit seiner vollständigen Seele sinnierte er wieder und wieder über die Motivation seines jungen Ichs. Severus kam zu dem Schluss, dass er heute, über zwanzig Jahre nach Lilys Tod, über sie hinweg war. Damals hatte er geglaubt, er würde für immer und ewig diesen Verlust, diesen Schmerz in seiner Brust tragen müssen. Diese Gefühle waren noch vorhanden, aber nicht mehr mit so einer zerstörerischen Kraft wie damals. Severus konnte es ertragen. Noch immer empfand er Liebe für Harrys Mutter. Eine unschuldige Liebe, eine innige Freundschaft. Mit ihrem Tod konnte er heute umgehen und vor allem leben, was er früher nie für möglich halten wollte. Der Ewige See hatte eine schnelle Ausflucht aus dem Schmerz dargestellt. Severus nippte an seinem Whisky, während er sein damaliges Handeln analysierte. Er hatte vorschnell gehandelt, war dickköpfig gewesen. Nur Albus war es zu verdanken, dass etwas zurückgeblieben war, mit dem nicht alle Hoffnung auf ein normales Leben verloren war. Hermine war es gewesen, die eine Lösung fand – und sie war es, mit der er jetzt ein normales Leben führen wollte.

Ein paar Erinnerungen befanden sich noch in der Phiole, doch die waren vorerst vergessen, weil er noch mit der von dem Ewigen See beschäftigt war. Fast bewegungslos saß Severus im Wohnzimmer, hielt in der einen Hand sein Whiskyglas, in der anderen die Phiole mit den Erinnerungen.

Genau so fand Hermine ihn vor, als sie zurückkehrte.

Sie betrachtete ihn, wie er mit geschlossenen Augen auf der Couch saß. Der Geruch von Whisky lag in der Luft. In der Flasche auf dem Tisch fehlte ein Drittel. Ohne die Augen zu öffnen hob Severus die Hand und setzte an, als er plötzlich eine Stimme hörte.

„Severus!“

Er riss die Augen auf, sah Hermine und gleich darauf den Grund für ihre Warnung. Er hätte beinahe aus der Phiole mit den Erinnerungen getrunken. Was für ein Missgeschick. Was wäre wohl passiert? Hätte sein Magen es aufgenommen und über Umwege an seinen Geist weitergeleitet oder hätte er es beim nächsten Gang auf die Toilette wieder ausgeschieden? Severus begann zu lachen.

„Hast du getrunken?“, fragte sie, obwohl das Beweisstück nicht nur in Form einer Flasche auf dem Tisch stand, sondern auch als Glas in seiner Hand zu finden war.
„Nicht hiervon“, beteuerte er, als er die Phiole in die Höhe hob.

Hermine stellte ihre Tasche auf den Boden und zog ihren Umhang aus, bevor sie sich neben ihn auf die Couch setzte. Mit wachen Augen nahm sie die Details wahr und hielt sich vor Augen, wie er seine Zeit verbracht haben musste. Die offenen Geschenke lagen auf dem Tisch – die Flasche war offenbar eines davon. Sie konnte sich nur nicht erklären, warum er sich unbedingt heute mit seinen Erinnerungen beschäftigte.

„Warum jetzt?“
„Der Augenblick war günstig. Du warst nicht da.“
Diese Worte drehte Hermine einen Moment lang in Gedanken hin und her, bis sie glaubte, die wahre Bedeutung dahinter herausgehört zu haben. „Wenn du mal allein sein möchtest, musst du es nur sagen. Ich kann auch in mein Zimmer gehen.“ Sie erinnerte momentan an einen Hund, dem man gesagt hatte, er müsste auch bei Regen draußen schlafen.
Er schüttelte den Kopf, schloss sofort darauf die Augen, weil die Bewegung ihn schwindelig machte. „Wenn du schon Zuhause bist, möchte ich die Zeit auch mit dir verbringen.“ Mit glasigem Blick schaute er auf sein Whiskyglas. Ganz leise gestand er: „Ich möchte nicht mehr allein sein.“
„Bist du nicht“, versprach Hermine, legte dabei eine Hand auf seinen Unterarm.
Bevor Trübsinn ihn einnehmen konnte, wollte er sich nach ihrem Tag erkundigen. Nebenher registrierte er, dass er die Zunge in seinem Mund nicht mehr einwandfrei seinen Befehlen gehorchte. Leicht lallend fragte er: „Wie war’s bei den Longlottons?“ Hermine lachte, verbesserte ihn jedoch nicht. Von ihrer heiteren Stimmung amüsiert schaute er ihr in die Augen und stellte dabei eine beunruhigende Tatsache fest. „Du hast geweint.“
Sie lächelte, obwohl er die Wahrheit erkannt hatte. „Ja, ich habe geweint. Ich war nicht die Einzige. Harry …“ Er hatte Alice und Frank über das Schicksal seiner Eltern aufgeklärt. Hermine seufzte.
„Ah“, machte Severus, dem der gleiche Gedanke gekommen war. „Wie ham‘ sie’s verkraftet?“
„Sie waren beide tottraurig. Frank wollte nicht, dass man sie weiterhin im Dunkeln lässt. Er hat von seiner Mutter gefordert, alle Karten auf den Tisch zu legen. Sie wollten wissen, wer alles gestorben ist.“

Severus’ Kopf senkte sich unmerklich nach vorn, was er im ersten Moment gar nicht zu merken schien und als er es bemerkte, hob er ihn ruckartig. Es konnte Hermine gar nicht entgehen, dass Severus angetrunken war. Einen Vorwurf machte sie ihm nicht. Solang er ruhig blieb, hatte sie damit kein Problem. Neugierig war sie trotzdem.

Unverblümt sprach sie seinen Zustand an. „Warum hast du getrunken?“
„Weil …“ Er hielt inne, spitzte die Lippen und dachte nach. „Es hat sich so ergeben.“
„Aha“, machte sie überrascht. „Und es hat sich auch ergeben, dass du deine Erinnerungen wieder in deinen Kopf stopfst.“
„Ganz genau“, stimmte er mit hin und her schlenkerndem Kopf zu. Eine seine Hände hielt den Kopf wieder still. „Außerdem habe ich herausgefunden, dass ich im alkoholisierten Zustand keineswegs wie mein Vater bin. Wie du siehst“, er zeigte ungenau ins Zimmer, „ist nichts zu Bruch gegangen.“
„Du hättest nicht trinken müssen, um dir zu beweisen, dass du nicht wie dein Vater bist. Harry ist auch nicht wie sein Vater“, gab sie ihm zu denken. „Und Draco auch nicht.“
„Ha!“, stieß Severus plötzlich aus. „‘türlich ist er wie Lucius, nur ein bisschen“, er machte eine abwägende Bewegung mit der Hand, „freundlicher.“ Severus versuchte, eine Augenbraue zu heben, doch die war schwer wie Blei. „Mittlerweile zumindest“, warf er noch hinterher. „Früher war er das genaue Ebenbild von Lucius.“
Hermine nickte. Ihr Blick fiel auf die Phiole in Severus’ Händen. „Wie viele Erinnerungen sind noch drin?“
„Ich glaube, eine fehlt noch. Die, als Narzissa mich fragt, ob ich Dracos Pate werden möchte.“

Ohne Umschweife tunkte er den Zauberstab hinein und nahm die letzte Erinnerung über die Schläfe auf. Hermine beobachtete ihn dabei. Er hatte die Augen geschlossen und atmete tief durch, als er sich an alles wieder sehr lebendig erinnern konnte.

„Regulus hätte sich Hilfe holen sollen“, sagte Severus plötzlich. Hermine wusste noch, dass Narzissa in besagter Erinnerung vom Tod ihres Cousins gesprochen hatte. „So ganz allein nach einem Horkrux zu suchen …“ Severus schüttelte den Kopf. „Was für ein Narr“, sagte er leise, aber keineswegs bösartig, sondern mit ein wenig Bedauern in der Stimme. Die leere Phiole stellte er auf den vollen Tisch. „Jetzt bin ich wieder ich selbst.“ Unerwartet schlug er Hermine mit der flachen Hand auf den Oberschenkel. „Und morgen, wenn ich wieder nüchtern bin, kümmere ich mich um die Rechnung.“
Sie konnte ihm nicht mehr folgen. „Ich habe gestern alles bezahlt. Was für eine Rechnung meinst du denn?“
„Die, die ich mit deinem Allerwertesten noch offen habe. Hat mir heute ganz schön zugesetzt, der freche …“ Er säuselte etwas Unverständliches. „Hat mich die ganze Zeit geneckt.“
Hermine begann zu grinsen. „Hast du es also doch gemerkt.“
Perplex lehnte sich Severus zurück und versank in den weichen Kissen der Rückenlehne. „Das war Absicht?“
Verschämt blickte sie auf ihre Hände und spielte ihm die Unschuld vom Lande vor. „Ich wusste ja nicht, ob ich es noch kann.“
„Hermine?“ Noch immer schaute sie nach unten, wo seine Hand auf ihrem Schenkel ruhte, was ihm nicht bewusst zu sein schien. „Sieh mich an.“ Als sie aufblickte, zeigte er mit einer Hand die Mitte seiner Brust. „Hier drin schlägt ein Herz“, sagte er mit lehrerhafter Stimme. „Geh sorgsam damit um, sonst bleibt es eines Tages noch stehen, wenn du zu solchen Methoden greifst.“
„Also hat es gewirkt?“, wagte sie auch noch grinsend nachzufragen.
Er nickte bestätigend. „Leider hat der Alkohol auch gewirkt.“ Den Rest im Glas schluckte er hinunter. „Ich habe genug. Wie spät ist es eigentlich?“
„Kurz nach zwei Uhr.“
Die Uhr an der Wand sollte ihm die Zeit bestätigen – er wusste nur nicht, ob er auf die rechte oder linke schauen sollte. „Nachts? Warum bist du erst so spät hier?“
„Ich war in der Bibliothek.“
Severus blinzelte einige Male, aber das eher, weil andere Gegenstände im Raum sich ebenfalls verdoppelten. „Wir haben keine Bibliothek.“
„Ich war erst in der Stadtbibliothek und als die schloss, bin ich mit Harry nach Hogwarts gegangen. Er hat mich um etwas gebeten.“
Tief ein und aus atmend hob Severus beide Hände. „Ich möchte dich auch um etwas bitten. Verlegen wir das Gespräch auf morgen. Ich bin nicht mehr aufnahmefähig.“
„Möchtest du ins Bett?“ Auf ihre Frage hin nickte er. „Soll ich dir einen Neutralisierungstrank gegen den Alkohol geben?“ Das Kopfschütteln fiel ihm schwerer. Seine Stirn schlug Falten. „Oder reicht ein Eimer am Bett.“
„Mir ist nicht übel. Ich fühle mich bis auf die verschwommene Sicht ganz gut, danke.“ Als er aufstehen wollte, half sie ihm. Beim ersten Mal schwankte er und fiel zurück auf die Couch. „Mir wird schlecht.“
„Also doch ein Eimer“, sagte sie amüsiert zu sich selbst. „Los, wir versuchen nochmal aufzustehen.“

Als Severus auf dem Bett saß, war er zu nichts zu gebrauchen. Über eine losgetretene Diskussion, ob sie ihm beim Ausziehen helfen sollte oder nicht, schlief er schlichtweg ein, so dass sie kurzerhand sämtliche Knöpfe öffnete, die sie an seiner Kleidung fand und sich Schicht für Schicht zum Körper darunter vorarbeitete. Die Unterhose war das Einzige, was Severus noch am Leib trug, als Hermine mit der kraftzehrenden Arbeit fertig war. Es war alles andere als erotisch, einen betrunkenen Mann zu entkleiden, aber einen gewissen Unterhaltungswert musste sie der Situation zuschreiben.

In der Wohnung über der Apotheke wurden bald die Lichter gelöscht und Ruhe kehrte ein.

In einem anderen Gebäude war trotz der späten Stunde noch nicht an Schlaf zu denken. Im Keller des Gunhilda-von-Gorsemoor-Sanatoriums brannten Fackeln, als eine Person sich nicht zum ersten Mal an den alten Aktenschränken zu schaffen machte. Schritt für Schritt suchte Marie Amabilis nach Hinweisen. Manche alten Krankenhauspapiere waren nicht mal mehr als solche zu erkennen. Einige wiesen Brandflecke auf, bei anderen hingegen zeugte der Abdruck einer übergelaufenen Kaffeetasse von der Unvorsichtigkeit damaliger Heiler.

Es war ein mächtiger Trieb, diese fiebrige Neugier. Marie hatte schon mehrmals Nächte im Archiv verbracht. Nicht mehr nur für Lucius, sondern um ihre eigene Wissbegierde zu stillen suchte sie wieder und wieder nach einer Spur, einem Hinweis – nach irgendetwas, das den Verbleib der alten Mrs. Malfoy klären könnte. Einen Vornamen hatte Marie nicht, aber der war auch unwichtig. Die vergessenen Akten waren nach dem Datum der Einweisung sortiert. Von Lucius hatte sie das Jahr der Einlieferung ins Sanatorium bekommen. Mittlerweile war sie bei August angelangt.

Es gab Akten, die sie bei ihrer Suche aufhielten. Manche von ihnen stammten aus dem vorigen Jahrhundert. Marie las die weit zurückliegenden Fälle aus reinem Interesse, weil sie Informationen über Erkrankungen und damalige Behandlungsmethoden lieferten. Einige waren erschreckend unmenschlich, geradezu abstoßend. Marie tauchte in die alten Berichte über Depressionen, Hysterien und Zwangsstörungen von längst verstorbenen Patientinnen ein. Bei einem 20jährigen Dienstmädchen fand man bei der Leichenöffnung 48 Nadeln im ganzen Körper, die die Frau geschluckt hatte. Der Ekel war groß, über solche Handlungen zu lesen, doch das heilerische Interesse an Störungen des menschlichen Bewusstseins wog schwerer. In Gedanken malte sich Marie manchmal aus, wie sie mit diesen Patientinnen umgegangen wäre. Sie hätte jedenfalls niemals „Masturbation“ als Todesursache auf den Leichenschauschein geschrieben.

Die damaligen Verhältnisse im Gunhilda-von-Gorsemoor-Sanatorium waren nicht anders als in anderen Stätten dieser Art. In Bezug auf psychische Störungen von Hexen und Zauberern war man früher genauso hilflos wie die Muggel.

Bei der nächsten Akte konnte Marie den Namen nicht ausmachen, also begann sie damit, die erkennbaren Fakten zu studieren. In diesem Fall wurde eine Frau von ihrem Mann eingewiesen. Das könnte auf Mrs. Malfoy zutreffen, dachte Marie, doch die anderen Fälle zeigten, dass eine Einweisung durch Familienmitglieder damals leider keine Seltenheit darstellte. Oftmals hatte man sich auf diese Weise eines Squibs entledigt, indem man ihn in die Obhut der Heiler gab. Die Patientin in diesem Fall hätte sich bei der Hospitalisierung vehement gewehrt, stand auf dem leicht vergilbten Pergament geschrieben. Sie wäre cholerisch gewesen und wurde daher sofort mit einem Trank ruhig gestellt. Marie sah in der Handlung der Frau noch keine Notwendigkeit für eine Ruhigstellung. Konzentriert las sie weiter. Wegen der sofort eintretenden Nahrungsverweigerung wurde die Patientin über einen kurzen Zeitraum zwangsernährt. Zur damaligen Zeit hieß das, dass der Leib des Patienten mit magischen Fesseln fixiert wurde, vorzugsweise an einem leicht nach hinten gekippten Stuhl. Man schnallte den Kopf fest und öffnete mit einer Klemme oder wahlweise einem Zauberspruch den Mund, damit man dem Patienten eine breiartige, vitaminreiche Substanz im wahrsten Sinne des Wortes eintrichtern konnte. Diese Methode wurde in Heilstätten nur kurz beibehalten, weil nicht wenige Patienten bei dieser Behandlung die Chance sahen, absichtlich einen Erstickungstod herbeizuführen. Marie war froh, dass man in der heutigen Zeit auf solche Methoden verzichtete. Die Heiler, allesamt ratlos, griffen manchmal zu fragwürdigen Experimenten. Es stand bei unbekannten Erkrankungen nicht mehr das Wohl des Patienten an erster Stelle, sondern das wissenschaftliche Interesse der Großkopferten.

Die zwei folgenden Seiten waren unleserlich, also blätterte Marie zur dritten. Ein Heiler diagnostizierte bei der Frau „Depersonalisation“, was nichts anderes bedeutete als eine Veränderung des Persönlichkeitsgefühls. Die Patientin hätte sich selbst nicht mehr erkannt, kam sich völlig fremd vor und tat die Situation, in der sie sich befand, als Täuschung ihrer Sinne ab. Marie las die Hilflosigkeit dieser Frau heraus. Man hatte sie aus ihrer bekannten Umgebung gerissen und in ein Sanatorium gesteckt. Die Nahrungsverweigerung könnte aus der Machtlosigkeit resultiert haben, stellte womöglich nur einen Protest der Patientin dar, weil sie Herr über sich selbst bleiben wollte. Alle bisher genannten Fakten waren in Maries Augen noch keine Bestätigung für eine gesundheitliche Störung jedweder Art. Es wurde von einem sozialen Rückzug der Patientin berichtet. Sie sprach kaum noch und wenn, dann gab sie nur sehr knappe Antwort. Diese Alogie wurde als Ich-Störung diagnostiziert, einem Vorläufer der Schizophrenie.

Für Marie war nicht klar, ob die Patientin mit den Heilern nur nicht sprechen wollte, weil man sie ihrer Freiheit beraubt hatte und sie sich ungerecht behandelt fühlte. Im ersten Moment schien das eine normale Abwehrreaktion darzustellen. Zudem konnte die Patientin keine Freude mehr empfinden, was man gleich als Anhedonie bezeichnete, anstatt vielleicht Heimweh in Betracht zu ziehen. Nach nur zwei Wochen konnte man schwerlich so gewichtige Diagnosen stellen, dachte sich Marie und kratzte sich dabei am Kinn. Marie hätte sich die Zeit genommen, mit der Frau einfach nur zu reden, sich den Kummer anzuhören. Sie hätte für die Patientin ein offenes Ohr gehabt. Mitleid breitete sich in Marie aus, als sie über Antriebslosigkeit und Gemütsverstimmungen las. Ein Heiler schien eine besondere Freude daran gehabt zu haben, seine Berichte durch sein engstirniges, pedantisches Denken so zu formulieren, dass eine tatsächliche Erkrankung nicht angezweifelt werden würde, doch Marie zweifelte.

Der Name der Patientin war bisher nicht im Text aufgetaucht. Mehrmals hatte Marie versucht, den Namen auf dem Deckblatt der Akte zu entziffern. Da war ein b im Vornamen, gefolgt von einem e oder i und einem völlig unkenntlichen Zweitnamen. Im Nachnamen kam ein f vor. Hoffnung machte sich Marie nicht, aber wenn sie tatsächlich die gesuchte Akte in den Händen halten sollte, dann würde sie sich nur umso mehr darüber freuen.

Um vier Uhr morgens hatte Marie das Ende der Akte erreicht. Das Schicksal der unbekannten Frau ging ihr nahe. Für fünfzehn Jahre war sie Patientin des Gunhilda-von-Gorsemoor-Sanatoriums gewesen. Absolut nichts in der Akte stellte für Marie einen Beweis dar, dass die Frau ernsthaft krank gewesen sein sollte. Sie schien lediglich resigniert zu haben, hatte sich ihrem unabänderlichen Schicksal ergeben.

Marie wollte für heute aufhören und die Akte schließen, da bemerkte sie ein kleineres Blatt, das am hinteren Pappdeckel befestigt war. Die Kopie eines Überweisungsscheines an das Abraham Panagiotis Genesungsheim. Marie kannte diese Einrichtung. Spezialisiert war man dort auf Opfer von Dementoren, doch andere Patienten kamen in diesem Haus ebenfalls unter.

Auf der Überweisung stand der Name der Patientin klar und deutlich:
Abélia Estelle Malfoy, geb. Rosier.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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223 Der magische Anker




Die Nächte im Archiv des Gunhilda-von-Gorsemoor-Sanatoriums waren gezählt. Marie hatte gefunden, was sie seit ihrer Ausbildung hier suchte. Die Akte von Mrs. Malfoy, der Mutter von Lucius. Seite für Seite hatte sie die manchmal schlecht lesbaren Diagnosen und Berichte kopiert. Der letzte Hinweis führte zum Abraham Panagiotis Genesungsheim.

Nicht ein bisschen müde war Marie, als sie den Entschluss fasste, das Heim persönlich aufzusuchen. Heute war Sonntag. Viele Familien würden an diesem freien Tag ihre Lieben besuchen. Marie würde nicht auffallen, wenn sie nach Mrs. Malfoy Ausschau halten würde. Ein Brief mit der Anfrage, ob Abélia Estelle Malfoy noch zu den Patienten zählen würde, wäre zu offiziell. Man hätte Maries Adresse, würde Mrs. Malfoy wahrscheinlich auch darüber unterrichten, dass sich jemand nach ihrem Verbleib erkundigt hatte. Es tat nicht weh, persönlich nach dem Rechten zu sehen. Sollte Mrs. Malfoy nicht mehr unter den Lebenden weilen, wäre das die einzige Information, die sie an Lucius weitergeben wollte. Über die schrecklichen Behandlungsmethoden sollte er nichts erfahren. Sie wollte verhindern, dass Lucius ein schlechtes Gewissen bekommen würde.

Marie nahm den Kamin. Direkt angeschlossen am Pförtnerhaus des Genesungsheims lag ein kleines Gebäude, in welchem den Besuchern sechs Kamine zur Verfügung standen. Um dieses Gebäude zu verlassen, musste man am Pförtner vorbei.

„Guten Tag“, grüßte der alte Mann mit Schiebermütze, der nur kurz von seinem Tagespropheten aufblickte. Höflich grüßte Marie zurück, betrachtete dann die vielen kleinen Schubladen, die eine ganze Wand einnahmen. Einige waren verschlossen. Andere standen offen, und ein Metallblättchen mit einer Nummer hing an ihnen herab. Der Pförtner schien Maries Unbeholfenheit bemerkt zu haben. „Sie legen Ihren Stab einfach in eine der Schubladen, schließen sie und nehmen die Nummer ab. Verlieren Sie sie nicht, sonst bekommen Sie Ihren Stab nicht so einfach zurück.“
„Drinnen ist kein Zauberstab erlaubt?“, fragte Marie überrascht.
„Doch, nur nicht den Besuchern. Die Heiler und das Pflegepersonal dürfen Stäbe mit sich führen, nicht aber Patienten und Gäste“, erklärte der Pförtner höflich. „Es gab ein paar“, er zögerte einen Moment, „Unfälle. Wir hatten mit Besucher zu tun, die wollten sich in Sterbehilfe üben.“
„Oh“, macht sie. Ohne zu Murren legte sie ihren Stab in eine der leeren Schubladen und schloss sie. Erst jetzt konnte sie das metallene Plättchen mit der Zahl an sich nehmen.
„Ich habe Sie hier noch nie gesehen“, stellte der Pförtner nüchtern fest. „Suchen Sie jemand bestimmten?“

Eine Menge Antworten schossen Marie durch den Kopf, aber keine davon wollte sie geben, weil sie eine Lüge als Grundlage hätten. Hilflos klammerte sie sich an die Akte, die sie kopiert hatte, dachte einen Moment nach und fand eine Antwort, die sie reinen Gewissens geben konnte.

„Ich wollte mit Mr. Panagiotis sprechen, wenn es möglich ist.“
„Mit dem Boss persönlich?“, hakte er nach. Als sie nickte, spitzte er kurz die Lippen. „Haben Sie auch einen Termin bei ihm?“
Sie kam ins Stottern. „Nein, hab ich nicht. Brauche ich einen?“
„‘türlich, M’am.“ Ihr Mund formte sich zu einem O, doch bevor sie etwas sagen konnte, hob der Pförtner eine Hand. „Einen Moment bitte, Mrs. …?“
„Miss Amabilis.“
„Mmmh“, summte er, als er ihren Namen auf einem fliederfarbenen Stück Papier notierte. „Aus welchem Grund möchten Sie den Leiter sprechen?“
„Es geht allgemein um Patienten, um Einrichtungen wie diese – damals wie heute.“
„Recherche also?“
Marie nickte. „Kann man so sagen.“
„Gut“, murmelte der Pförtner und schrieb etwas auf das Stück Papier vor sich. Als er fertig war, faltete er es und schickte den Papierflieger auf seine Reise. „Nur einen Moment Geduld. Mr. Panagiotis antwortet in der Regel sofort.“

Auf Mr. Panagiotis war Verlass. Er antwortete zwar nicht per magischen Papierflieger, holte Marie dafür aber persönlich vom Pförtnerhäuschen ab.

„Miss Amabilis?“ Der Herr um die sechzig Jahre streckte ihr die Hand entgegen. Das Lächeln, das bis zu den Augen ausstrahlte und dort in lieblichen Fältchen zur Ruhe kam, machte ihr den Mann sofort sympathisch. Sie schüttelte seine Hand und nickte. „Und für welches Blatt schreiben Sie?“
„Bitte?“
„Sind Sie denn keine Journalistin?“ Die Frage beantwortete er sich selbst. „Entschuldigen Sie, wenn ich den Sachverhalt falsch interpretiert habe. Neben den Verwandten kommen nur wenige Menschen hierher. Für was recherchieren Sie, wenn ich fragen darf?“
Mr. Panagiotis bedeutete ihr, ihm zu folgen. „Ich bin ausgebildete Schwester“, begann Marie, „und habe viele Jahre im Mungos gearbeitet. Zurzeit mache ich im Gorsemoor meine Ausbildung zur Heilerin und meinen Legilimentik-Schein.“
„Ah, Sie scheinen sehr begabt zu sein. Leute wie Sie können wir hier gut gebrauchen oder überlegen Sie, im Gorsemoor zu bleiben?“
Der Leiter der Heilanstalt führte sie zum Eingang, während sie erwiderte: „Erst einmal möchte ich die Ausbildung hinter mich bringen.“
„Verständlich, verständlich. Adina …“ Mr. Panagiotis verbesserte, „ich meine Mrs. Gorsemoor. Sie nimmt nicht häufig Auszubildende auf. Sie scheinen sie beeindruck zu haben.“
„Mag sein“, spielte Marie die Situation hinunter, „es könnte aber auch daran liegen, dass ich das Gorsemoor nicht einen Knut koste.“
„Sie haben einen Gönner?“ Marie nickte, woraufhin Panagiotis nur noch mehr strahlte. „Hach, das ist wie in alten Zeiten. Ich hatte damals auch einen älteren Herrn in meinem Umfeld, der meine Ausbildung finanzierte. Ohne ihn würde ich wohl noch immer in einem dunklen Büro dahindämmern. Hier“, er hielt ihr die Tür auf, „treten Sie ein.“

Hier und da waren Besucher zu sehen, wie Marie es sich gedacht hatte. Alte Menschen wurden von ihren Enkeln und Urenkeln begrüßt. Die Stimmung war allgemein sehr fröhlich. Selbst die Heiler und das Pflegepersonal hatten immer ein Lächeln auf den Lippen. Das schien von Mr. Panagiotis abzufärben.

„Wie kann ich Ihnen also weiterhelfen, Miss Amabilis?“
„Ich bin im Archiv des Gorsemoor über einige Akten gestoßen, die bis ins letzte Jahrhundert reichten. Besonders das Schicksal einer Patientin hat es mir angetan. Die dort beschriebenen Behandlungsmethoden …“
Panagiotis verzog das Gesicht. „Eine Schande für die gesamte Heilerschaft, sage ich Ihnen. Was damals für Schundluder getrieben wurde geht auf keine Kuhhaut.“ Ein kurzes Leuchten in seinen Augen kündigte einen Geistesblitz an. „Lassen Sie mich raten. Für Ihre Abschlussarbeit beim Ministerium haben Sie das Thema damaliger Behandlungsmethoden gewählt.“

Eine Redewendung besagte, Lügen hätten kurze Beine. Die von Marie waren lang und das sollten sie auch bleiben. Das von ihr bevorzugte Thema für die Abschlussprüfung wäre eine Abhandlung über die Wirkung von Vergissmich-Zaubern auf die zentral gelegenen Pyramiden-Neuronen und die magische Einwirkung auf die Myelinscheide gewesen. Diese Materie hatte sie gerade eben verworfen.

„Ja“, bestätigte sie schweren Herzens, „meine Abhandlung befasst sich mit ethisch nicht vertretbaren Therapiemaßnahmen in der Geschichte der Zaubererwelt und den heilerischen Einrichtungen, in denen sie durchgeführt wurden.“ Das könnte, wenn sie es richtig anstellte, die Professoren auch beeindrucken.
„Tatsächlich?“, sagte er mit einem Ausdruck des Erstaunens. „Im ersten Moment machten Sie auf mich eher den Eindruck, als würden sie sich eher für Großhirnrinden unter dem Einfluss von Flüchen interessieren. Maries Lächeln war nur angedeutet und verblasste schnell wieder. „Ich zeige Ihnen gern die Verliese. Wir haben noch Überbleibsel der alten Behandlungsmethoden, inklusive eiserner Fesseln, die in den Wänden eingearbeitet sind.“ Er hielt kurz inne und legte einen Zeigefinger auf die Lippen, als er überlegte. „Ich glaube, in Hogwarts gibt es auch noch Fesseln in den Kerkern. Jedenfalls zu der Zeit, in der ich dort zur Schule ging.“
„Mich würde erst ein wenig Theorie interessieren“, sagte Marie. Einen Raum, der an einen Folterkeller erinnerte, wollte sie jetzt nicht besuchen. „Wie schon erwähnt bin ich auf Akten gestoßen …“
„Ja, ja, ich erinnere mich.“ Mr. Panagiotis zeigte auf die Unterlagen, die Marie sich vor die Brust hielt. „Darf ich?“

Bevor sie ihm die kopierte Akte geben konnte, wurden die beiden unterbrochen. Mit einem Arm hatte eine Schwester einen jungen, apathisch wirkenden Mann untergehakt und steuerte auf den Direktor und Marie zu. Mr. Panagiotis strahlte die beiden an.

„Hallo, Seward“, grüßte Mr. Panagiotis den jungen Mann, der trostlos in die Leere blickte. „Geht es zum Quidditch?“ Die Schwester, die den Patienten, den Marie an die zwanzig schätzte, begleitete, nickte zustimmend. „Dann wünsche ich viel Spaß, mein Junge.“ Erst jetzt bemerkte Marie, dass die Augen des Patienten pechschwarz waren. „Cloris besorgt dir bestimmt wieder gebrannte Mandeln. Die magst du doch.“ Es überraschte Marie, als Mr. Panagiotis mit einer Hand das Gesicht des jungen Mannes umfasste und ihm einen Kuss auf die Wange gab.
„Bis dann“, verabschiedete sich Schwester Cloris.

Marie schaute dem jungen Mann hinterher. Sie hatte eine böse Vorahnung. Er lief schleppend, wurde von der Schwester schon beinahe hinterhergezogen wie ein Hund an der Leine. Dieser junge Mann schien keinen eigenen Willen zu haben.

„Er fiel einem Dementor zum Opfer. Da war er neun Jahre alt“, erklärte der Direktor mit mitleidigem Unterton.
„Das ist scheußlich.“ Eine Sache wollte Marie noch ansprechen. „Ich möchte bestimmt keine Kritik an Ihrem Umgang mit Patienten üben, aber finden Sie nicht, dass Sie etwas zu“, sie suchte nach Worten, „intim mit ihm umgegangen sind?“
„Mmmh“, machte er. „Bei jedem anderen Patienten würde ich Ihnen zustimmen, Miss Amabilis. Aber das dort“, mit einer Handbewegung deutete er zu Cloris und dem Patienten, „ist mein Enkel. Nach dem Überfall habe ich ihn bei mir aufgenommen.“ Panagiotis’ Worte machten Marie sprachlos, also übernahm er kurzerhand die Gesprächsführung. „Mein Sohn ist damit überfordert, deswegen kümmere ich mich um ihn.“ Nach kurzem Zögern fügte er hinzu, als hätte er es vergessen: „Und natürlich auch um alle anderen, die sein Schicksal teilen. Ich suche nach Möglichkeiten, ihn von dem Leiden zu heilen, das er selbst nicht einmal spüren kann. Er fühlt gar nichts. Keine Freude, keinen Zorn. Er verfügt nicht einmal über ein Hunger- oder Schmerzgefühl.“ Mr. Panagiotis begann zu gehen und drehte sich zu Marie, damit sie ihm folgen würde. „Ich bin nur froh, dass das Ministerium davon absieht, diese schrecklichen Dementoren wieder als Vollstrecker einzusetzen. Das ist unmenschlich. Kein Verbrecher hat das verdient, egal wie grauenvoll seine Taten waren. Es ist gut, dass Mr. Weasley nun das Sagen hat. Er ist ein hervorragender Minister.“
„Ja“, flüsterte sie, bis sie sich räusperte und endlich ihre Stimme wiederfand. „Ich bin auf die neuen Gesetze gespannt. Es soll den Werwölfen gegenüber einige Großzügigkeiten geben.“
„Wir haben einen hier“, warf Mr. Panagiotis unerwartet ein. „Einen Werwolf“, verdeutlichte er. „Der Arme ist seit dem Biss in den Nacken rechtsseitig und ab der Hüfte abwärts gelähmt. Er wurde von seiner Familie verstoßen.“

Mr. Panagiotis führte Marie in einen Gemeinschaftsraum, der allerdings nicht gut besucht war, weil die meisten Patienten bei dem schönen Wetter draußen an der frischen Luft ein wenig Abwechslung suchten. Einige ältere Herrschaften trafen sie hier an, deren Knochen für einen Spaziergang zu müde waren. Nur wenige waren allein und lasen ein Buch, wie der Herr in der Ecke oder strickten an einer Jacke, wie die Frau am Fenster.

„Wir legen viel Wert darauf, dass die Familienmitglieder und Freunde die Patienten nicht sich allein überlassen. Soziale Kontakte sind sehr wichtig für die Genesung. Dabei ist völlig egal, welche Leiden die Patienten ertragen müssen.“

Mr. Panagiotis wollte diesen Unterschied festhalten. Während damals viele Menschen in Heime abgeschoben wurden, weil sie ihrer Familie peinlich oder lästig waren, kümmerten sich die Familienangehörigen heutzutage su gut es ging um ihre kranken Onkel, Väter und Schwestern. Man hörte ein helles Kinderlachen. Marie und Mr. Panagiotis schauten zum Verursacher. Ein kleines Mädchen, das von ihrer gebrechlichen Uroma etwas Schokolade geschenkt bekam.

Vorsichtig tastete Marie sich an das Thema Mrs. Malfoy heran. „Werden alle Patienten Ihrer Einrichtung regelmäßig besucht?“
Der Direktor schüttelte den Kopf. „Leider gibt es einige, die verstoßen wurden. Es ist, als hätten sie gar keine Familie mehr. Der Herr da hinten“, er zeigte zu dem alten Mann, der gerade eine Seite des Buches umblätterte, „ist ein Squib, stammte aber aus einer durch und durch reinblütigen Familie. Sein Schicksal hat ihn sozusagen zur Waise gemacht. Er kennt niemanden aus seiner Familie, nicht seine Mutter, nicht seine Geschwister. Ein Trauerspiel.“
„Und die Dame, deren Akte ich kopiert habe?“
„Ah ja“, er nahm von Marie die Akte entgegen und blätterte in ihr. Hier und da verzog er unmerklich das Gesicht, bis sein Mitgefühl unmissverständlich zum Ausdruck kam. „Der Dame geht es ähnlich.“
Maries Herz schlug mit einem Male schneller. „Das heißt, sie lebt noch?“
„Aber sicher. Der Frau fehlt ja nichts weiter. Bis auf ein paar Zipperlein, die man im Alter so bekommt, ist sie kerngesund.“
„Warum ist sie denn hier?“
Mr. Panagiotis schien erst nicht antworten zu wollen, gab sich aber einen Ruck. „Wie schon erwähnt wurden manche Patienten von ihren Familien verstoßen. Mrs. Malfoy hatte keine Chance, nach ihrem langen Krankenhausaufenthalt im Gorsemoor irgendwo eine Anstellung zu bekommen, zumal … Ich denke, Sie sollten mir ihr selbst reden. Mit weiteren Auskünften würde ich gegen die Schweigepflicht verstoßen. Ich bitte Sie nur, gehen Sie behutsam vor. Die alten Tage hat Mrs. Malfoy längst vergessen. Es wäre unverantwortlich, so lange nachzubohren, bis sich womöglich noch ihre Gemütsstimmung verschlechtert.“
„Ich werde mich vorsichtig herantasten, Mr. Panagiotis. Keine Sorge. Wo ist Mrs. Malfoy gerade?“
„Sie wird draußen sein. Auch wenn sie selbst keinen Besuch bekommt, so will sie nie die Freude verpassen, wenn andere Patienten auf ihre Verwandten treffen. Ich begleite sie nach draußen.“

Während Marie an diesem Sonntagmorgen schon früh auf den Beinen war, hatte sich Hermine erst recht spät dazu überwunden, das warme Bett und damit auch Severus zu verlassen, um Frühstück vorzubereiten. Sie ließ ihn nach dem feuchtfröhlichen Abend lieber noch schlafen.

Ohne jegliches Zeitgefühl wachte Severus durch die Sonne auf, die ihm ins Gesicht schien. Mürrisch drehte er sich zur anderen Seite. Sein Kopf schmerzte. Außerdem drückte seine Blase. Beides hinderte ihn daran, noch ein wenig Schlaf zu finden. Nur widerwillig stand er auf und wurde sich erst jetzt des Resultats bewusst, das ein übermäßiger Alkoholgenuss mit sich brachte. Er hatte ein flaues Gefühl im Magen, sein Schädel brummte und das allgemeine Wohlbefinden befand sich weit unter dem grünen Bereich. Allein der Gedanke an Essen verursachte Übelkeit. Einen Moment lang saß er an der Bettkante und konzentrierte sich auf seine Atmung. Er musste sich selbst dazu überreden, endlich aufzustehen, was er nach dem dritten Versuch auch tat. Schleppend bewegte er sich zur Tür, die Hermine geschlossen haben musste, damit der Hund ihn in Ruhe ließ. Das Bad war zum Glück nicht besetzt. Nachdem die Blase Erleichterung erfahren hatte, putzte sich Severus die Zähne, und um das sandpapierartige Gefühl loszuwerden, die Zunge gleich mit. Zurück im Schlafzimmer zog er sich mühsam an. Unterhose, Socken, Hose, Hemd. Danach hatte er von Knöpfen die Nase voll und beließ es bei dem weißen Hemd.

Vorsichtig tastete er sich die Treppe hinunter und spähte in die Küche. Bis auf den frisch durchgelaufenen Kaffee und das hergerichtete Frühstück befand sich hier nichts. Keine Hermine. Aus dem Labor hörte er plötzlich das Klimpern von Glas. Die Tür war angelehnt.

Hermine war gerade dabei, einen frisch gebrauten Trank gegen die Vergiftungserscheinungen durch Alkohol in ein Glas umzuschöpfen, da hörte sie die Tür hinter sich quietschen.

„Guten Morgen, Severus. Wie geht es dir?“
„Mmmh“, brummte er zurück.
„Es wird dir gleich besser gehen.“ Sie hielt kurz das Glas hoch, in das sie noch eine Kelle Zaubertrank füllte. Mit einem Zauberspruch kühlte sie den Trank und hielt ihn ihm entgegen. „Gegen den Kater. Danach frühstücken wir.“
„Ich bekomme nichts runter.“
„Nach dem Trank schon. Er ist unter anderem appetitanregend.“

Hermine behielt Recht. Nach Einnahme des Tranks aß Severus mehr als sonst. Wenn sie ehrlich zu sich war, könnte er ein paar Pfunde mehr vertragen. Seine sonst wallende Kleidung versteckte üblicherweise den dürren Körper, den man nun durch das weiße Hemd deutlich erkennen konnte. Das Frühstück tat ihm gut. Mehrmals blickte er zu Hermine hinüber, schien dabei etwas zu überdenken. Vielleicht, so dachte sie, plante er etwas für heute.

Als sie nach dem Essen an dem Spülbecken stand, legte er unerwartete seine Arme um ihre Taille. Sein Kinn ruhte auf ihrer Schulter. Der Abwasch könnte auch später erledigt werden, entschied Hermine, als sie sich in seinen Armen umdrehte. Sie lächelte ihn breit an. Langsam näherten sich ihre Lippen einander und dann, als beide innerlich übereingekommen waren, mit welcher Aktivität sie den heutigen Tag verbringen wollten, klopfte es an der Ladentür.

„Was dagegen, wenn ich den Störenfried umbringe?“, fragte er mit überfreundlichem Tonfall.
„Ach, das habe ich ja ganz vergessen.“ Sie legte ihre Finger auf die Lippen. „Harry wollte vorbeikommen.“ Man konnte heraushören, dass es ihr leid tat.
Ein gemartertes Seufzen stellte Severus’ Kommentar dar, bevor er anfügte: „Dann solltest du ihm öffnen.“

Vor der verschlossenen Ladentür stand Harry mit Nicholas an der Hand, der seine kleine Nase an die Scheibe presste. Als der Junge Hermine sah, begann er heftig zu winken, was Hermine erwiderte.

„Hallo Harry, hallo Nicholas, mein Süßer.“ Der Junge bekam einen Kuss auf die Wange. Harry hingegen wurde umarmt. „Kommt doch in die Küche.“
Dort trafen sie auf Severus, der gemächlich an seiner vierten Tasse Kaffee schlürfte. „Guten Morgen, Severus“, grüßte Harry.
„Es wird sich noch zeigen, ob der Morgen gut ist“, kam es unwirsch zurück.
Harry blickte unsicher zu Hermine, dann wieder zu Severus. „Stören wir?“
Bevor Severus antworten konnte, verneinte Hermine. „Setz dich, Harry. Ich hole nur meine Tasche.“
Den Moment nutzte Severus, um Harry auszufragen. „Um was geht es denn?“
„Keine Ahnung. Hermine hat Ginny heute früh gefloht, dass ich kommen soll, wenn ich Zeit habe.“

In Windeseile war Hermine zurück. Sie legte einige Unterlagen auf den Tisch. Nicholas fand derweil Interesse an der Klinke der Tür, die zum Keller führte, doch er kam nicht ran, egal wie groß er sich machte.

„So, Harry. Zu deiner gestrigen Frage …“
„Moment!“ Er hielt beide Hände in die Höhe. „Um was geht es?“
„Um das Haus, schon vergessen?“
„Du willst mir erzählen, du hast gestern Abend schon nachgeforscht und hast eine Antwort erhalten? Das ist selbst für dich schnell.“
Gelassen hob und senkte Hermine die Schultern. „Das war doch nichts Schweres, Harry. Ich war in der Bibliothek und …“
„Die haben am Samstag doch ab 18 Uhr geschlossen“, warf Harry misstrauisch ein.
„Ich bin mit den Mitarbeitern dort per Du. Wenn ich anklopfe, haben sie geöffnet.“ Unbeirrt blätterte sie in ihren Unterlagen. „Einen Billy gab es nie.“
„Ha“, triumphierte Harry, „ich hab gewusst, dass das alles Humbug ist.“
„Ist es nicht, es gab nämlich einen William Godwin, und wie du sicherlich weißt, ist Bill, beziehungsweise Billy eine Kurzform von William.“
„Oh.“ Sofort war Harry wieder kleinlaut.
Severus konnte dem Gespräch nicht folgen. „Darf ich kurz fragen, wer William Godwin ist?“
Eine Antwort gab Harry. „Es geht um das Haus, du weißt schon. Das mit dem Haken. Angeblich soll dort ein Geist umgehen, deswegen ist es so billig.“
Den Rest der Erklärung übernahm Hermine. „Als wir gestern bei den Longbottoms waren, hat Harry mir davon erzählt und im gleichen Atemzug gefragt, ob ich mal ‚in meinen Büchern‘ nachschauen kann, ob ich was herausbekomme.“
„Ah, jetzt bin ich im Bilde. Weiter geht’s!“ Severus winkte Hermine zu, damit sie Harry ihre Ergebnisse mitteilen konnte.
„Ich habe mich bei Percy wegen der Regelung informiert. Geister müssen nur registriert sein, wenn sie mehr als insgesamt dreißig Minuten im Jahr zu sehen sind. Entweder ist Billy ein sehr zurückgezogen hausender Geist oder er existiert dort illegal. Ich tippe auf Ersteres.“ Sie schob Harry ein Stück Papier zu. „Dass es in dem Haus nicht mit rechten Dingen zugeht, beweist meines Erachtens diese Liste.“
Harry überflog die Auflistung. „Was ist das? Hier stehen nur Namen und zwar eine ganze Menge.“
„Das ist die Liste aller Vorbesitzer. Wie du sehen kannst“, sie zeigte auf die Daten unter den Familiennamen, „ist niemand länger als ein Jahr dort geblieben, bis auf eine Familie. Diese Familie war die einzige Zaubererfamilie. Sie blieben sechs Jahre, bis die Familienplanung so sehr zuschlug, dass sie wegen Platzmangels umziehen mussten. Die anderen waren allesamt Muggel.“
„Woher weißt du, dass sie wegen Familienzuwachs ausgezogen sind und nicht, weil der Geist ihnen auf die Nerven ging?“, wollte Harry wissen.
„Weil ich sie gefragt habe. Die Familie steht im Flohbuch. Mrs. Spiner hat kürzlich ihr achtes Kind zur Welt gebracht. Damals sind sie noch vor Geburt des fünften ausgezogen. Der Geisterjunge existiert, sagte sie, aber er hätte sie und ihre Kinder nie gestört.“
„Mmmh“, summte Harry nachdenklich. „Und was weiß man über Billy? Ist er in dem Haus gestorben?“
„Dafür musste ich Percy und Kingsley um Hilfe bitten. Diese Unterlagen“, sie reichte ihm Kopien, die heute früh mit einer Eule gekommen waren, als Severus noch selig döste, „waren im Archiv zu finden. William Godwin – Billy – erkrankte an Drachenpocken …“
„Und ist daran gestorben“, vervollständigte Harry.
„Nein, er konnte geheilt werden. Nachdem er entlassen wurde, erlaubte ihm seine Mutter ausnahmsweise, im See zu baden. Er bekam im Anschluss eine schwere Lungenentzündung. Die ganze Familie war an seinem Bett, als er Wochen später starb. Die Mutter konnte es sich nicht verzeihen. Sie wollte ihm nach dem langen Krankenhausaufenthalt nur eine Freude machen.“ Sie reichte Harry ein dünnes Buch. „Hier, das Buch hat einer von Billys Brüdern geschrieben. Ein schönes Märchen, das mich an Peter Pan erinnert. Nicht inhaltlich, aber mit dem Hintergrund, dass der Autor seinen Bruder in Form dieser Geschichte unsterblich machen wollte. Lies die Widmung.“
Harry schlug das Buch mit dem Titel Der magische Anker und las laut vor: „Für William, dessen schützenden Hände das Dach über unserem Kopf sind.“ Harry überlegte kurz. „Das heißt, dass schon der Bruder von dem Geist wusste.“
„Das Buch, das du in den Händen hältst, hat James Godwin ganze 58 Jahre nach Billys Tod herausgebracht. Er hat mit dem Geist seines Bruders Jahrzehnte lang zusammengewohnt. Außerdem besagt die Widmung, dass Billy nicht nur das Haus schützt, sondern das Zuhause. Er ist familienbezogen. Wer dort einzieht, wird von dem Geist des Hauses beschützt.“
Harry schaute Hermine in die Augen. „Würdest du dort leben wollen?“ Er selbst würde bejahen.
„Warum nicht? Ich habe weder was gegen Kinder noch gegen Geister.“
„Und du, Severus?“
Severus wandte seinen Blick von Nicholas ab, der mittlerweile den Stuhl neben Severus erklimmen wollte und dabei seine Anstrengung mit ächzenden Lauten verkündete. „Ich weiß genügend Zaubersprüche, um ungebetene Gäste von bestimmten Zimmern fernzuhalten.“
„War das ein Ja?“
Severus hob eine Augenbraue. „Warum ist dir meine Meinung überhaupt wichtig?“
Harry druckste erst herum. „Na ja, vielleicht kann ich dann Ginny umstimmen.“
„Ein Ratschlag, Harry“, Hermine tippte mit einem Zeigefinger auf das Buch, „lies es zusammen mit Ginny. Sie wird ihre Meinung bestimmt ändern.“
„Ich und lesen“, mäkelte Harry, womit er sich von Hermine einen Rüffel einfing.
„Du wirst doch wohl noch 120 Seiten schaffen.“
„Ist ja gut.“ Das Buch und die Unterlagen steckte Harry ein, was Severus beobachtete.
„Hermine?“ Sie schaute zu Severus. „Du solltest überlegen, dafür Geld zu nehmen.“
„Für Recherchen?“
„Ja, das wäre sicherlich ein guter Nebenverdienst.“
Harry hatte natürlich mitgehört und klopfte mit beiden Händen seinen Umhang ab. „Ich hab nichts bei mir. Schreibst du auch an?“
Ein warmes Lächeln zeichnete sich auf ihren Lippen ab. „Aber sicher, Harry.“
Harry lachte. „Ich frage mich sowieso, wie du so schnell an Informationen kommen konntest.“
„Ach, das war doch keine Herausforderung. Es ging nicht um verbotene Trankzutaten oder um umständliche Arithmantikberechnungen. Ich musste nur wissen, wo ich nachschauen muss, das war alles.“
„Das war alles“, wiederholte Harry ungläubig. „Ich hab’s auch versucht, ehrlich! Ich bin in die Bibliothek gegangen“, er hob beide Hände und ließ sie kraftlos fallen, „und bin gleich wieder rückwärts raus. Die vielen Bücher haben mich einfach eingeschüchtert.“
„Bücher, Harry, sind deine Freunde“, scherzte Hermine.
„Deine Freunde“, verbesserte er. „Ich hätte nicht gewusst, wo ich nachschauen soll.“

Severus hielt sich aus dem Gespräch heraus, weil Nicholas nun endlich neben ihm saß und es wagte, Blickkontakt mit ihm herzustellen – und vor allem aufrechtzuerhalten. Egal wie böse Severus dreinschaute, der Junge blickte nicht weg, grinste ihn stattdessen furchtlos an. Man konnte schon ein paar Milchzähne sehen – und jede Menge Speichel.

„Hast du gesehen“, begann Harry, „dass das Gebäude gegenüber von Gringotts leersteht?“
„Ja“, sagte Hermine lang gezogen, weil sie skeptisch wurde. „Warum interessieren dich Geschäftsräume?“
„Tun sie doch gar nicht“, hielt Harry halbherzig dagegen.
„Ach, dann fällt dir das einfach so auf?“ Weil er lediglich nickte, erzählte sie, was sie darüber wusste. „Das Gebäude gehört der Bank. Sie vermieten es, aber offenbar nicht an jeden. Ich weiß zum Beispiel, dass Zonkos sich um die Räumlichkeiten bemüht hat, um in direkter Konkurrenz mit Weasleys Zauberhafte Zauberscherze zu stehen. Gringotts hat abgelehnt, wie bei jedem anderen auch. Ich frage mich, was die Kobolde vom Mieter erwarten.“
„Meinst du, ich würde die Räume bekommen?“
Mit ihrem Blick nagelte Hermine Harry am Stuhl fest. „Kein Interesse, wie?“

Severus hörte aufmerksam zu, auch wenn Nicholas ständig versuchte, nach seinen Händen zu greifen. Er erinnerte sich an ein Gespräch mit Harry, das gar nicht so lange zurücklag. Das behandelte Thema war die Tatsache, dass Harry wegen Nicholas Zuhause bleiben wollte, weil Ginny bei Eintracht Pfützensee einsteigen wollte. Im gleichen Atemzug erzählte Harry davon, dass es in der magischen Welt keine Kindergärten geben würde. Damals hatte Severus das Gefühl gehabt, Harry hätte irgendwas in genau diesem Moment begriffen, für sich selbst eine Entscheidung getroffen. Jetzt glaubte Severus zu wissen, was Harry damals für einen Gedanken verfolgt hatte.

„Du willst dich selbstständig machen?“, fragte Severus geradeheraus, ließ seinen Blick aber nicht von Nicholas ab, der auf dem Küchentisch versuchte, mit seiner kleinen Hand die Finger von Severus zu fangen, die auf mysteriöse Weise immer schneller waren als er selbst.
„Was?“ Hermine war völlig überrascht, wandte sich an Harry. „Stimmt das?“
„Mann, das ist nur eine Überlegung.“ Verlegen kratzte sich Harry am Hinterkopf. „Ich darf doch wohl noch über etwas nachdenken.“
„Mit was genau möchtest du dich selbstständig machen?“, wollte sie wissen, bis es bei ihr Klick machte. „Eine Art Kindergarten?“ Sie wartete eine Reaktion seinerseits ab, die er mit einem kurzen Nicken gab, gefolgt von einem unsicheren Schulterzucken. „Also deswegen hast du mich ausgefragt, was es außer Heimen noch für Einrichtungen für Kinder gibt.“
„Ich muss mich doch informieren. Erzählt das aber bitte nicht weiter, falls das alles nichts werden sollte.“
Diesmal mischte sich Severus in das Gespräch mit ein. Er schaute Harry direkt in die Augen, als er seine Meinung preisgab. „Warum sollte es nichts werden? Deine Idee ist in der magischen Welt einzigartig. Sicherlich sprichst du die eine oder andere Familie damit an. Fraglich ist nur, ob du Informationen über Muggelgeborene bekommst, bevor sie offiziell ihren Brief von Hogwarts erhalten.“
Leise gestand Harry: „Darüber habe ich schon mit Arthur geredet. Er meint, ich würde Einsicht in die magische Kartei der muggelgeborenen Zauberer und Hexen bekommen.“
Hermine traute ihren Ohren kaum. „Von wegen, du denkst nur darüber nach. So wie es aussieht, planst du schon fleißig.“
„Ich informiere mich doch nur! Das ist ein großer Unterschied“, verteidigte sich Harry.
Plötzlich hörte man Nicholas laut lachen. Er hatte, weil Severus abgelenkt war, endlich dessen Hand gefangen und giggelte deshalb unaufhörlich. Severus schüttelte nur den Kopf. „Darüber freust du dich wohl noch“, sagte er zu dem Jungen, der auf seine fröhliche Art bejahte.
„Wenn er stören sollte …“ Harry bot an, Nicholas auf den Schoß zu nehmen, doch Severus winkte ab.
„Momentan ist er in einem Alter, in welchem er nicht absichtlich auf die Nerven geht. Das kommt erst später“, Severus warf Harry einen bedeutungsvollen Blick zu, „so mit elf Jahren“.

Mit einem vorgetäuschten Schmollen kommentierte Harry die Worte. Unerwartet hörte man ein Geräusch am Küchenfenster. Hermine schaute hinüber.

„Eine Eule? An einem Sonntag?“, fragte sie in den Raum hinein. Mit seinem Stab öffnete Severus das Fenster und eine braunweiße Sperbereule flog bis zum Tisch. Von dem Anblick war Nicholas hellauf begeistert. Er wollte nach dem Vogel greifen, quiekte dabei munter.
„Nicht, Nicholas“, mahnte Harry, bevor er sich an Severus wandte. „Er liebt Tiere.“
Nicholas schlug Töne an, die die Ohren klingeln ließen. Vorsichtig nahm Severus den Brief entgegen. Die Eule erwartete keine Bezahlung und flog wieder davon. „Vom Ministerium“, murmelte Severus. Neugierig öffnete er den Umschlag. „Von Kingsley.“ Es waren einige Seiten Pergament, die Kingsley ihm geschickt hatte. Damit Hermine im Bilde war, erklärte Severus: „Auszüge aus dem neuen Gesetzesbuch. Es handelt sich um die Regelung, zum Wohle der Allgemeinheit mit Blut experimentieren zu dürfen.“ Niemand außer Mr. Worple und der Vampir Sanguini wussten von dem Bluttrank, an dem Severus arbeitete.
Hermine machte sich ein wenig Sorgen. „Warum schickt Kingsley dir das?“
„Er ist Auror, und dazu auch noch ein guter. Er wird es herausbekommen haben. Vielleicht noch damals von Caedes.“
Wie von selbst legte Hermine eine Hand auf die Stelle am Hals, wo sie gebissen wurde. „Erinnere mich bloß nicht an den.“
Severus überflog die Texte. „Ich werde beizeiten meine Papiere fertigstellen, damit ich gleich an dem Tag, an dem die Gesetze in Kraft treten, das Patent für den Bluttrank anmelden kann.“
Harry musste lächeln. „Ist doch schön, dass er an euch denkt.“

Nach einer Weile verabschiedete sich Harry. Zusammen mit Nicholas besuchte er noch Fred und George, die ihrem Neffen Dummheiten beibringen wollten. Zum Glück war Nicholas noch zu klein, um bestimmte Begriffe nachsagen zu können. Ginny würde ihn umbringen, sollte Kotzpastille das erste Wort des Jungen darstellen.

Zuhause wartete ein anderer Weasley auf Harry, doch es handelte sich nicht um Ginny. Die war jetzt erstens eine Potter und zweitens hatte sie sich für heute mit ihrer Mutter verabredet.

„Hi Ron! Was hat dich denn hierher verschlagen?“
Ron schenkte ihm ein nicht ernst gemeintes Lächeln, knetete dabei eine Zeitung mit der Hand. „Weißt du eigentlich, dass du es nur Angelinas Verführungskünsten zu verdanken hast, dass ich dich nicht mehr töten möchte? Heute morgen war das noch mein erster Gedanke.“
Von der Morddrohung nicht im Geringsten aus dem Konzept gebracht zog Harry dem Jungen die Jacke aus und fragte nebenher: „Wieso, was ist denn passiert?“
„Das ist passiert.“

Ron entfaltete die dicke Sonntagsausgabe des Tagespropheten. Auf Anhieb konnte Harry auf dem Bild Viktor Krum erkennen. Die erste Schlagzeile lautete „Spieler aller Welt: Aufgepasst!“. Die Worte verblassten und machten Platz für die Schlagzeile, die Ron heute Morgen wahrscheinlich beinahe einen Herzinfarkt beschert hatte.

Laut las Harry vor: „Viktor Krum – kaum genesen und schon auf dem Besen.“ Ein beklemmendes Gefühl wollte sich in seiner Magengegend ausbreiten, doch er wollte erst in Erfahrung bringen, was der Tagesprophet zu berichten hatte, bevor er seine Sachen packte, um sich auf einer einsamen Insel zu verstecken. Harry nahm die Zeitung entgegen und las: „Wir alle kennen Viktor Krum. Schon mit 18 Jahren war er einer der begehrtesten Quidditch-Stars. Der damalige Sucher der Bulgarischen Nationalmannschaft fing 1994 während der Weltmeisterschaft den Schnatz und machte sich damit vollends einen Namen als vielversprechendes Nachwuchstalent. Als Krum während des Krieges seine alte Schule Durmstrang gegen Todesser verteidigte, stürzte er vom Dach. Die tragische Diagnose: Ein komplizierter Beckenbruch ohne Hoffnung auf vollständige Genesung. Der Traum vom Quidditch schien ausgeträumt. Ganz konnte Krum die Finger jedoch nicht von den geliebten Rennbesen lassen. Sehr bald kooperierte er mit Devlin Whitehorn, dem Firmengründer von Nimbus Rennbesen. Fortan kümmerte sich Krum um neusten Entwicklungen und deren Vermarktung. Mit seiner Ehefrau hat er zwischenzeitlich sechs Kinder in die Welt gesetzt. Erst letzte Woche fühlte sich Krum nach eigener Aussage wieder fit genug, um die Strapazen einer Reise nach Schottland in Kauf zu nehmen, um bei Harry Potters Hochzeit mit Ginevra Weasley, der Tochter des Zaubereiministers, anwesend zu sein (wir berichteten). Aufgrund seiner guten, körperlichen Verfassung ließ er sich nach der Rückkehr erneut von Kopf bis Fuß untersuchen. Die Heiler stellten fest, dass das Becken über die Jahre komplett ausgeheilt ist. Krums erste Handlung war daraufhin, sich bei der Bulgarischen Nationalmannschaft vorzustellen. Man hat ihn mit Handkuss aufgenommen. Viktor Krum ist zurück (weiter auf Seite 3).“

Den Artikel der ersten Seite ließ Harry einen Moment sacken. Jeder würde herauslesen, dass es Viktor schon vor der Hochzeit gut ging. Er war aus dem Schneider.

„Vielen Dank, Harry“, spottete Ron. „Du hast einen Berserker auf die Quidditch-Welt losgelassen.“
„Ein bisschen Konkurrenz schadet euch doch nicht“, spielte Harry die Situation herunter.
„Du hast gut reden, du musst ja nicht gegen eine Mannschaft antreten, die ihn als Sucher hat. Weißt du, gegen wen wir im September spielen?“
Unschuldig dreinblickend fragte Harry: „Bulgarien?“
„Richtig! Oh Mann, wir werden haushoch verlieren“, Ron seufzte, „und das ist deine Schuld.“
Daraufhin musste Harry lachen, weil Ron es nur halb so ernst meinte wie es klang. „Ich finde es gut, dass er wieder spielt.“
„Ich würd’s gut finden“, warf Ron ein, „wenn du wieder spielst.“
„Nein, man würde mich nur nehmen, weil ich eine bekannte Persönlichkeit bin und nicht, weil ich gut spiele.“
„Quatsch“, wiedersprach Ron. „Man würde dich als Unterhaltungskünstler einstellen. Du kannst den Schnatz immerhin mit dem Mund fangen. Wenn das nicht für Belustigung sorgt …“
„Ich hätte das blöde Ding damals fast verschluckt, Ron!“
„Du hast eben alles gegeben, warst mit vollem Einsatz dabei. Du wärst bestimmt ein toller Spie…“
„Ron, ich möchte nicht. Ich habe was anderes im Kopf.“ Ron nickte. Er würde Harry deswegen nicht länger auf den Geist gehen. „Bist du nur gekommen, um mir wegen Viktors Rückkehr zum Sport den Hals umzudrehen?“
„Nah“, machte Ron lang gezogen. „Angelina wollte zu ihren Eltern und, na ja, ich komme mit denen noch nicht so gut klar. Sie hatte nichts dagegen, dass ich mir die Zeit anders vertreibe, also bin ich hergekommen. Und?“ In freudiger Erwartung auf ein kleines Abenteuer schlug sich Ron auf die Oberschenkel und grinste breit. „Was wollen wir unternehmen? Uns im Verbotenen Wald rumtreiben?“
„Du vergisst, dass ich auf Nicholas aufpassen muss. Ich werde ihm nicht von Anfang an Unsinn beibringen“, mahnte Harry.
„Ich würde ihn nicht schonen. Dann kommt er auch viel besser mit seinen vielen Onkeln zurecht.“ Weil Harry den Kopf schüttelte, seufzte Ron. „Dann nehmen wir ihn mit.“
„Geht nicht, er muss gleich seinen Mittagsschlaf halten.“
„Mmmh“, brummte Ron missgelaunt. „Kann der nicht mal ausfallen?“ Wortlos verneinte Harry. „Kann dann nicht einer von deinen Hauselfen auf ihn aufpassen?“
„Das geht nicht. Heute ist Sonntag. Die beiden haben frei.“
Rons Augen wollten aus den Höhlen treten. „Ich höre wohl nicht recht! Den ganzen Tag haben sie frei?“ Harry nickte. Im Gegensatz dazu schüttelte Ron den Kopf. „Er kann doch mal eine Ausnahme machen. Ich habe nicht oft die Zeit, dich zu besuchen, Harry. Das müssen wir ausnutzen. Frag ihn doch mal!“ Ohne Vorwarnung begann Ron, nach Harrys Elf zu rufen. „Wobbel? Wooobellll!“
„Lass es sein.“
„Nein, er kann dir den Gefallen tun – oder mir. Wobbel!“ Der Elf kam nicht und Ron wurde lauter und hackte den Namen in zwei Teile. „Wo-bbel!“
Von seinem Onkel dazu animiert hörte man Nicholas leise sagen: „Obbel.“
„Was sagst du?“, fragte Harry erstaunt nach, ging dabei in die Knie.
„Wobbel“, sagte Nicholas und feixte sich einen, weil er seinen Vater in Erstaunen versetzt hatte.

Ein Geräusch war zu hören, das die Ankunft eines Hauselfs per Apparation ankündigte. Mit glänzenden Augen blickte Wobbel auf Nicholas, der nochmal seinen Namen sagte. Verzückt legte der Elf die Hände ineinander und versuchte dabei, die Krokodilstränen zu unterdrücken, die ihm entweichen wollten. Wobbels Blick fiel auf den seines Herrn. Unerwartet ließ der Elf die Ohren hängen, schaute beschämt zu Boden.

„Ich werde dann mal den Kamin reinigen“, sagte Wobbel und trottete geknickt davon.
„Halt! Bleib hier.“ Sofort machte der Elf kehrt und ging zu Harry hinüber. Er wagte es nicht, ihm in die Augen zu sehen und wappnete sich innerlich für die Schelte, die kommen musste. „Er hat deinen Namen gesagt.“ Harrys Elf nickte, schaute aber noch immer nicht auf. „Freust du dich denn gar nicht?“
„Natürlich freue ich mich, Sir. Es ist mir sogar eine große Ehre. Außerdem ist es von Vorteil, dass der Junge meinen Namen kennt. Nur so kann er nach mir rufen. In möglichen Gefahrensituationen, in die der jungen Mr. Potter hoffentlich niemals geraten wird, wird es sehr nützlich sein.“
Harry lächelte milde. „Ich finde es klasse, dass er sein erstes Wort gesprochen hat. Nur schade, dass Ginny nicht hier war.“
„Dafür hab ich’s gehört“, verkündete Ron stolz.
„Ich bin nur froh“, begann Harry, als er sich direkt an Wobbel wandte, „dass er deinen Namen als erstes Wort gesagt hat und nicht Kotzpastille.“
„Os-ti-le“, sagte Nicholas nach, woraufhin sich Harry erschrocken eine Hand vor den Mund hielt.
„Vergiss das wieder“, riet er Nicholas und fuchtelte dabei wild mit seinen Händen umher, „sonst wächst du nachher noch ohne Papi auf, wenn Mama davon erfährt.“
„Ha“, lachte Ron, „du warst vorhin bei Fred und George, oder?“
„Woher weißt du das?“, fragte Harry mit einem Grinsen auf den Lippen.
„Weil ich ihr Vokabular kenne.“ Ron erhob sich von der Couch und kniete direkt vor dem Elf nieder. „Hör mal, Wobbel. Ich weiß, dass wir einen schlechten Start hatten, weil ich mich über deinen Namen lustig gemacht habe. Aber ich habe mich auch entschuldigt.“ Ron wartete eine Bestätigung ab, die Wobbel ihm mit einem Nicken gab. „Ich wollte dich um etwas bitten. Würdest du, auch wenn du heute frei hast, auf Nicholas aufpassen? Ich wollte mit Harry ein bisschen was unternehmen.“
Wobbel wusste, dass die beiden Freunde sich selten sahen, was an den unterschiedlichen Berufen liegen mochte. „Von mir aus, Sir.“
„Echt?“ Wobbel nickte, woraufhin Ron ihm auf die Schulter schlug. „Danke, Mann. Das ist echt nett von dir.“ An Harry gewandt fragte Ron: „Was wollen wir unternehmen? Uns von Hagrid neue Monster zeigen lassen?“
Der Enthusiasmus seines Freundes brachte Harry zum Lachen. „Von mir aus können wir Hagrid besuchen.“

Die beiden kamen gerade mal bis zur Tür, als eine Eule an die Scheibe klopfte und Einlass begehrte. Harry wurde skeptisch. Er fragte sich, ob Kingsley womöglich auch ihm einige Auszüge aus den Gesetzen schicken wollte, doch zu welchem Thema? Harry nahm den Brief der Eule entgegen. Auch sie wollte, wie die Eule bei Severus, keine Bezahlung haben.

„Von wem ist der?“, wollte Ron wissen.
Den Umschlag öffnete Harry, damit er die Karte lesen konnte. „Malfoy.“
„Was will Draco?“
„Nein, Lucius Malfoy.“ Harry rümpfte die Nase. „Und er lädt Ginny und mich zu seinem“, er stockte kurz, „fünfzigsten Geburtstag ein.“
„Das ist bestimmt eine Falle, Harry“, warnte sein Freund.
„Unfug, warum sollte er mich in eine Falle locken? Ich bin mir sicher, er hat auch Severus eingeladen.“
„Das würde ich ja noch verstehen, aber warum dich?“
Harry atmete tief durch. Mit Lucius Malfoy umzugehen lag ihm noch immer nicht. „Weil ich der Patenonkel seines Enkelsohnes bin. Einen anderen Grund kann ich mir nicht vorstellen.“
„Ich mir schon.“ Höchste Vorsicht schwang in Rons Worten mit. „Pass an dem Abend bloß auf, was du zu dir nimmst. Nicht dass du wie ich im sechsten Schuljahr mir nichts, dir nichts keuchend auf dem Boden liegst, mit Schaum vor dem Mund und …“
„Ron, bitte!“ Sein Freund erleichterte es ihm nicht gerade, eine Entscheidung zu fällen, die Einladung anzunehmen oder abzusagen. „Ich werde mit Ginny drüber reden. Vielleicht auch mit Severus. Er wird sicher Hermine mitnehmen und mit den beiden an meiner Seite – zwei Tränkemeistern, inklusive einer Heilerin – fühle ich mich sicher.“
„Du solltest dir trotzdem einen Bezoar einstecken.“ Weil Harry ihn strafend ansah, sagte Ron noch schnell im Anschluss: „Sicher ist sicher.“

Ron und Harry hatten sich von Hagrid tatsächlich ein paar neue Monster zeigen lassen. Eines davon konnte man nicht einmal einer Spezies zuordnen. Für Harry war dieser Tag einer von denen, von denen er lange zehren würde. Es war wie früher. Unterwegs mit Ron, Gespräche mit Hagrid und auch ein bisschen Unfug treiben, denn Ron war auf die Idee gekommen, sich einige der alten Geheimgänge nochmal anzuschauen.

Am Abend brachte er Ginny dazu, mit ihm am Kinderbett zu bleiben, während er Nicholas – und somit auch ihr – das erste Kapitel aus dem Buch „Der magische Anker“ vorlas.

Die Charaktereinführung des 9jährigen Brigham fand Ginny spannend. Er war arm und lebte unter einer Brücke an einem unbenannten Fluss. Harry wusste, dass der Autor des Buches sein eigenes, kindliches Ego in Brigham untergebracht hatte, auch wenn der nicht aus armem Hause stammte. Bald würde man auf den Charakter treffen, der in Wahrheit den Bruder des Autors verkörperte. Als ein schmales Boot die abendliche Stille in einer englischen Hafenstadt störte, ahnte Harry, dass jetzt Billys Auftritt kam – nur dass der Junge nicht Billy hieß. Harry las weiter, obwohl Nicholas längst schlief, aber Ginny hing ihm an den Lippen.

„Hallo da“, rief ihm der Junge aus dem Boot zu.
‚Bei meiner Seele‘, dachte Brigham, ‚was macht ein Junge ganz allein auf einem Boot?‘

Das hölzerne Gefährt trieb viel langsamer als das Wasser des Flusses, als würde es einer völlig anderen Gewalt gehorchen als der des Stromes. An der Seite hing ein Anker, der gar nicht zu dem kleinen Schiffchen passen wollte. Mit glitzernden Dingen verziert schien er nicht dazuzugehören. Ob dessen Größe kippte das Boot nicht zur Seite. Bei näherer Betrachtung schien der Kahn aus dem Gezweig unbekannter Waldbäume gemacht zu sein.

Der freche Bub winkte ihm zu. „Spring auf, Kleiner.“
„Ich bin viel größer als du“, sagte Brigham und nahm den Jungen mit den Augen maß, „und älter, wenn ich mich nicht täusche.“
„Offenbar auch ängstlicher“, forderte der andere ihn heraus.
„Sei nicht so dreist.“ Seine Füße führten Brigham bis zum Rand der Steine, die ihn vom Fluss und nun vom Boot trennten. Gemächlich ging er nebenher. „Wohin soll dich das Boot tragen? Und warum bist du ganz allein?“
„Ich bin nie ganz allein. Spring auf, wenn du Lust auf ein Abenteuer hast.“

Unter dem mit klarem Wasser beperlten Gesicht machte Brigham einen frohgemuten Jungen aus, in dem er einen Kameraden sehen wollte. Weit weg von Zuhause, so wie er selbst, konnte der jüngste Steuermann der Welt seinen eigenen Weg gehen. Eine freie Fahrt im Hafen, getragen von den Wellen des anliegenden Meeres, die aus unbekannter Ferne zu ihm schwappten, war verlockend.

„Wirf deinen Anker, dann komm ich mit“, sagte Brigham, doch der Junge schüttelte den Kopf.
„Den Anker kann ich nicht werfen. Sobald er den Boden berührt, finde ich mich an einem anderen Ort wieder.“
„Das ist doch gar nicht möglich.“
Der Junge hatte schon die Hälfte der Überführung hinter sich. „Wenn ich es erkläre, ist es für dich zu spät, um aufzuspringen. Überleg nicht so lange, sonst bleibst du hier. Mach schon! Was hast du zu verlieren?“
Brigham sah über seine Schulter. Eine zerfressene Decke, die ihn nachts kaum noch vor der Kälte zu schützen vermochte, lag über den wenigen Dingen, die zu seinem Hab und Gut zählten. Es war nicht viel. Genau genommen war es nichts und da leuchtete es ihm ein. „Ich hab nichts zu verlieren.“
„Worauf wartest du dann?“
„Wie heißt du?“, wollte Brigham erst wissen, bevor er einen Fuß auf das fremdartige Boot setzen wollte.
„Ich bin Wilfred.“ Der junge Captain hielt Brigham eine Hand entgegen. „Wenn du möchtest, zeige ich dir einen See aus Bäumen, ein Schloss aus Regentropfen und auch die gigantischen Berge tief unten im Meer. Du wirst nichts mehr vermissen, wenn deine Augen diese Wunder bestaunen.“

Brigham ließ alles zurück, was er besaß und sprang auf das Boot. Mit einem Finger bedeutete Wilfred ihm, dass er sich setzen sollte, dabei lächelte sein neuer Freund ihn an.

„Halt dich fest, wir gehen auf die Reise.“ Wilfred löste die Halterung, die den Anker hielt.
„Wir werden hier anhalten, wenn der Anker auf dem Grund Halt findet.“
„Du sollst dich festhalten!“

In dem Moment, als der Anker auf die Kiesel traf, verschwamm die Umgebung. Brigham blinzelte einige Male und jedesmal, wenn er für den Bruchteil einer Sekunde die Augen öffnete, sah er einen anderen Ort. Schneebedeckte Ufer, dunkle Schluchten und Täler mit vieltausend strahlenden Blumen. Als das Boot an einem Ort zur Ruhe kam, fand sich Brigham Aug in Aug mit einem riesigen Mammut wieder – eines jener Urgiganten, die er ausgestorben glaubte.


Das erste Kapitel war zu Ende. Harry schloss das Buch, da begann Ginny mit ihm zu meckern.

„Du kannst doch jetzt nicht aufhören!“
„Nicholas schläft schon. Ich möchte nicht, dass er durch meine Stimme wieder wach wird.“
Ginny winkte ab. „Wenn er dich hört, wird er weiterschlafen.“
„Oh, vielen Dank. Heißt das, meine Stimme ist einschläfernd?“
Demonstrativ gähnte Ginny, wofür sie einen Klaps auf den Po bekam. „Lies weiter. Das war doch erst der Anfang. Ich will wissen, was es mit den Bergen unter dem Meer auf sich hat. Außerdem mag ich es, wenn du vorliest.“
„Ich bin müde“, log Harry, um sich noch mehr bitten zu lassen.
„Komm schon … Ich bin mir sicher, der Anker ist eine Art Portschlüssel.“ Es wirkte. Ginny umgarnte ihn und zog ihn aufs Bett. „Das Buch ist doch nicht so dick. Wie viele Seiten hat es?“
„Hundertzwanzig.“
„Die schaffen wir. Nun mach schon.“

Die ersten Abenteuer der beiden Jungen bargen einige witzige Momente. Manchmal musste sich Ginny eine Hand vor den Mund halten, um Nicholas nicht zu wecken. Ein anderes Mal konnte Harry vor lauter lachen nicht mehr weiterlesen. Die Jungen erinnerten ihn an jemanden. Ginny sprach seinen Gedanken aus.

„Weißt du was? Ron und du – ihr könntet das sein! Genauso frech, genauso waghalsig und abenteuerlustig.“
„Nicht so laut“, sagte Harry leise. Er hatte sich endlich erholt und schlug das neue Kapitel auf. Sie waren bereits in der Mitte der Geschichte angelangt, die für ein Kinderbuch typisch aufgebaut war. Nach der Einführung der Charaktere folgte der stetige Spannungsbogen. Jeden Moment müsste der Höhepunkt kommen, dachte Harry. Ginny hatte sich an ihn gekuschelt, doch ihr Blick haftete nicht auf den Seiten, sondern schweifte verträumt im Zimmer umher. Leise räusperte er sich, bevor er weiterlas.

Nicht die Abendwinde trugen sie über das Wasser, nicht die Strömung des Sees. Es war, wie Brigham langsam zu verstehen glaubte, etwas Besonderes an diesem Boot. Doch mit noch viel größerer Eigentümlichkeit war der Anker gesegnet. Anstatt eine Fahrt anzuhalten, trug er einen hinfort an Orte, die es nicht geben konnte. Es war wie Zauberei. Wilfred war ihm ein guter Freund geworden und wichtiger noch, ein kundiger Führer in den fremden Welten, in denen Säbelzahntiger anschmiegsam wie Katzen waren und Libellen einem Streiche spielten. Nie war Brigham glücklicher gewesen. Sein Freund hatte Recht behalten. Er vermisste nichts mehr. Die Brücke, unter der er gelebt hatte, war nur noch eine blasse Erinnerung gegen die lebendigen Abenteuer.

„Das Boot trägt nie mehr als zwei“, sagte Wilfred zu der jungen Gewitterhexe, die sie gerade aus den Händen eines aufgebrachten Mobs befreit hatten. Anstatt sich für die Hilfe zu bedanken, begann sie vor Wut zu toben. Wilfred packte Brigham am Arm und zog ihn ins Boot, gerade noch rechtzeitig, bevor ein Blitz genau dort einschlug, wo Brigham gestanden hatte. Der Zorn der Hexe bedeckte den Himmel mit unheilvoll schwarzen Wolken. Ein unirdisches Grollen war zu vernehmen, als Wilfred das Boot losmachte und es mit einem Fuß vom Ufer abstieß. Hier waren sie sicher. Gefahr drohte nur an Land, niemals auf dem Wasser.

Sie ließen sich treiben und schlugen sich dabei die Bäuche mit köstlichen Früchten voll, als Brigham unerwartet fragte: „Warum trägt es nie mehr als zwei Menschen? Hier“, er zeigte in die geräumige Mitte, „könnte doch noch jemand sitzen.“
„Nie mehr als zwei“, flüsterte Wilfred und machte dabei einen traurigen Eindruck. „Ich habe es versucht.“
„Was ist passiert?“

Wilfred antwortete nicht, sondern blickte verzückt ins Wasser, als würde dort in den Wellen ein Frieden hausen, nach dem er sich sehnte.

„Warum hast du mich mitgenommen?“, wollte Brigham wissen.
Wilfred horchte auf und stellte eine Gegenfrage. „Warst du glücklich ohne mich und ohne die Reisen, die ich dir schenke?“
Lange musste Brigham nicht überlegen. „Ich glaube nicht, dass ich den nächsten Winter unter der Brücke überlebt hätte.“
„Dann habe ich dir sogar das Leben gerettet?“, scherzte Wilfred, der seinen Blick vom Wasser endlich lösen konnte. „Wollen wir weiter?“
„Nein, lass uns erst schlafen.“

Mitten in der Nacht wachte Brigham auf. Der Sternenhimmel zeigte seine volle Pracht. Einen Moment lang bewunderte er den kleinen Bären, der sich nicht still verhielt, wie er es von früher kannte, sondern auf der schwarzen Leinwand hin und her tollte, dabei den kleinen Wagen umstieß. Mit einem Lächeln auf den Lippen setzte er sich auf und beugte sich über den Rand des Bootes, um einen Schluck zu trinken, da blickte er für einen kurzen Moment in ein helles Gesicht, das gleich darauf in den Tiefen des Wassers verschwand. Von diesem Anblick ganz erschreckt weckte er Wilfred, dem die Geschichte keine Angst einjagte. Dennoch ließ er sich dazu überreden, den magischen Anker zu werfen, um eine neue Reise anzutreten.


„Was war das?“, fragte Ginny. „Das Gesicht? Da werden doch wohl keine Inferi im Wasser sein.“
„Das ist ein Kinderbuch!“
„Was war es dann?“
„Meine Güte, bist du neugierig. Na ja“, Harry überblickte den Rest, „wir haben noch ein Drittel vor uns. Wollen wir morgen weiterma…“
„Ach, ich bin noch nicht müde“, machte Ginny ihm weis. „Lies weiter. Ich will wissen, warum in dem Boot nur zwei Platz haben.“
„Weil ein Mädchen den beiden wohl die Leviten gelesen hätte, als sie den sprechenden Vogel des Zwergenkönigs befreit haben.“
„Das sagst du nur, weil du Hermine vor deinem inneren Auge siehst“, neckte sie ihn, doch sie hatte Recht. Hermine hatte ihm das Buch gegeben. Zwar gefiel es Ginny, aber bisher war nichts passiert, dass sie davon überzeugen könnte, ein Haus mit einem Geist zu kaufen.
„Lies!“
„Mensch, du bist schlimmer als Nicholas. Der schläft wenigstens irgendwann ein.“

Die weiteren Abenteuer der Jungen wurden immer mysteriöser. Das Gesicht im Wasser war noch einmal aufgetaucht. Die Freundschaft der beiden wurde auf eine harte Probe gestellt, als Brigham ein junges Mädchen mitnehmen wollte.

Mit erhobenen Händen verweigerte Wilfred den beiden den Zutritt auf das Boot. „Sie kann nicht mit. Nie mehr als zwei!“
Brigham nahm das verängstigte Mädchen an die Hand. „Man wird sie dafür lynchen, dass sie uns Zutritt zum Orakel gewährt hat. Wir können sie nicht zurücklassen!“
„Du verstehst nicht …“ Wilfred hatte keine Zeit für Erklärungen. Am Hügel nahe beim Fluss tauchten Reiter auf. Die vielen Speere zeigten nicht mehr alle gen Himmel, sondern auf Brigham, Goldeva und Wilfred.
„Ich werde hier bleiben“, verkündete Brigham selbstsicher.
„Nein! Die Insel ist klein. Ihr werdet euch nicht verstecken können.“ Die Reiter kamen näher, was Wilfred nicht entging. Es blieb keine Zeit. „Steig ein!“
„Es tut mir leid, ich kann nicht. Ich bleibe hier und werde sie beschützen. Ich bin es ihr schuldig. Wir sind es ihr …“
„Das wird dein Tod sein“, flüsterte Wilfred. Sein Blick fiel auf das Wasser, von dem das Boot getragen wurde. Er musste sich entscheiden. „Nie mehr als zwei“, sagte Wilfred ein letztes Mal, bevor er ausstieg. Ohne ihn anzusehen deutete er auf das Boot, in welches Brigham und Goldeva steigen sollten. Sie zögerten nicht.
„Jetzt du“, sagte Brigham und reichte ihm die Hand. Wilfred schüttelte den Kopf, doch als er den Lärm hinter sich hörte, das Klirren der Schwerter, die aus der Scheide gezogen wurden und die kämpferischen Rufe des Heeres, da wurde ihm angst und bange.

Hier an Land oder auf dem Boot. Am Ende war es egal. Wilfred beugte sich dem Schicksal. Er drehte sich zu Brigham und Goldeva, die Hand in Hand auf ihn warteten, ihm hineinhelfen wollten.

Wilfred ergriff Brighams Hand und lächelte traurig. „Du warst wie ein Bruder für mich.“ Das Boot beschützte die Reisenden auf wundersame Weise, doch nur zwei von ihnen. „Vergiss mich nicht.“

Die Tragweite der Worte verstand Brigham nicht. Er zog seinen Freund zu sich, damit die Ersten der fliegenden Speere ihn nicht verletzen würden. Kaum hatte Wilfreds Fuß das Astwerk längst verstorbener Bäume berührt, wurde die Hand, die Brigham hielt, eiskalt.

Aus einer Ahnung heraus, dass es die letzten Worte sein würden, die Wilfred hören würde, versicherte Brigham: „Ich vergess dich nicht.“

Einen Windhauch später war Wilfred so wenig greifbar wie das Wasser um sie herum. Sein Freund verging vor seinen Augen. Wilfreds schemenhafte Gestalt sickerte durch den hölzernen Boden und leistete dem Mädchen Gesellschaft, das vor langer, langer Zeit das gleiche Schicksal erlitten hatte, die dritte im Bunde zu sein. Zusammen mit ihr trug Wilfred das Boot auf dem Fluss des Schweigens fort.

An diesem traurigen Tag sprach Brigham kein Wort mehr. Stattdessen lauschte er dem Wasser, das mit zarten Wellen an die Seiten des Bootes schlug und wie das Flüstern zweier Stimmen anzuhören war. Von dem Verlust seines Freundes erholte er sich nur schwer. Goldeva tröstete ihn, während sie auf dem Wasser trieben.

Manchmal, wenn Brigham mitten in der Nacht aufwachte und dem kleinen Bär dabei zusah, wie er in den großen Wagen klettern wollte, da hörte er das Lachen zweier Kinder. Und wenn er über den Rand des Bootes schaute, erhaschte er einen flüchtigen Blick auf das durch die Wellen verschwommene Gesicht seines Freundes, der zusammen mit dem unbekannten Mädchen über Goldeva und ihn wachte. Die beiden stellten die Kraft dar, die das Boot auch gegen eine Strömung steuern konnte. Obwohl Brigham wusste, dass er nie ganz allein war, waren die Wunder dieser fantastischen Welt ohne Wilfred nur noch halb so schön.


Die Geschichte war zu Ende, doch Harry brachte es nicht übers Herz, das Buch schon zu schließen. Immer wieder las er die letzten Sätze. Er kannte weder Billy noch dessen Bruder, der das Kinderbuch im reifen Alter geschrieben hatte, aber für beide empfand er mit einem Male so viel wie für einen Freund. Vielleicht war das so, weil Harry den Hintergrund kannte. Weil er wusste, dass Wilfred zum Geist geworden war und auf seinen Freund aufpasste – dass Billy gestorben war und nach seinem Tod auf seinen Bruder geachtet hatte, selbst als der schon längst erwachsen war.

„Für ein Kinderbuch finde ich das Ende viel zu traurig“, hörte er Ginny sagen. Er selbst war noch immer in Gedanken versunken. „Harry?“
„Mmmh?“ Erst als er die Nase hochzog, wurde ihm klar, wie gerührt er war und das Ginny das nicht entgehen konnte.
Sie nahm Harry das Buch aus der Hand und legte es hinter sich, damit sie sich an ihn schmiegen konnte. „So traurig?“
Harry schluckte den Kloß hinunter, den er in seinem Hals verspürte, aber er wollte einfach nicht weggehen. „Ja, ich fand’s traurig“, gestand er mit leiser Stimme. „Und ich muss nochmal auf die Toilette“, lenkte er sich ab. Als er aufstand, fiel sein Blick auf die Uhr. „Es ist schon halb vier!“
„Vorlesen dauert immer länger als selbst lesen, Harry.“
„Meine Güte, bin ich froh, dass ich arbeitslos bin und morgen nicht früh raus muss.“
„Nicholas wird uns schon wecken“, winkte Ginny ab, die sich nichts vormachte, mit einem so kleinen Kind lange schlafen zu können.

Als Harry auf der Toilette war, drehte sich Ginny um und fühlte das Buch im Rücken. Sie griff danach, um es wegzulegen. Der Zustand des Bandes erweckte ihre Aufmerksamkeit. Es schien sehr alt. Um nachzusehen, ob das Jahr der Veröffentlichung darin verzeichnet war, schlug sie den Deckel auf, blätterte eine Seite weiter. Die Widmung stach ihr ins Auge.

„Für William“, las sie leise, „dessen schützenden Hände das Dach über unserem Kopf sind.“
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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224 Wo Licht ist, ist auch Schatten




Eines Abends ging Hermine mit Severus einige geschäftliche Dinge durch. Es war sterbenslangweilig, Braupläne aufzustellen. Immer wieder mussten sie bis spät in die Nacht schuften, um alle Bestellungen rechtzeitig fertig zu haben. Severus’ hatte ein Händchen dafür, einen Arbeitsplan effektiv zu gestalten. Er wusste genau, wann welchem Gebräu weniger Aufmerksamkeit geschenkt werden musste. Seine Pläne waren kompliziert. Die zu brauenden Tränke waren nicht einfach nacheinander aufgelistet. Abschwelltrank, Trank der Lebenden Toten, Gripsschärfungstrank. Nein, jeder Handgriff war haarklein kalkuliert. Hermine warf einen Blick auf ihre morgige Arbeit. Der Abschwelltrank musste nach dreißig Minuten für 25 Minuten auf kleiner Flamme köcheln. In dieser Zeit sollte sie sich bereits um den Gripsschärfungstrank kümmern. Wenn der für fünfzehn Minuten ziehen sollte, hätte sie eine Viertelstunde Zeit, den Abschwelltrank abzufüllen und das Wasser für den Trank der Lebenden Toten aufzusetzen. Das Wasser für den Schlaftrunk sollte bereits kochen, wenn der Gripsschärfungstrank abfüllfertig war.

„Severus?“
„Mmmh?“ Er ging seinen eigenen Plan durch und wandte seinen Blick nicht von dem Stück Pergament ab.
„Es wäre nett, wenn du wenigstens eine Toilettenpause einplanen könntest.“
Hier schaute er endlich auf und zwar mit ernster Miene. „Mit dem Plan hast du nicht einmal Zeit, während der Arbeit etwas zu trinken. Wieso musst du dann auf die Toilette?“
Ehrlichkeit währt am längsten, dachte Hermine, als sie ohne mit der Wimper zu zucken antwortete: „Weil ich meine Tage habe.“

Sie sah lediglich, wie sein Adamsapfel kurz unter dem Kragen hervorlugte, als er kräftig schlucken musste. Ohne ein Wort zu sagen nahm er ihr den Plan aus den Händen und überflog ihn, um eine Lücke zu finden. Es fand sich keine.

„Sag einfach Bescheid“, riet er ihr. „Dann werde ich für dich einspringen.“ Nochmals überblickte er seinen Plan und bemerkte, dass es keine Möglichkeit für ihn gab, seinen Arbeitsplatz zu verlassen, um bei ihr weiterzubrauen. Damit würde er riskieren, einen der eigenen Tränke zu verpatzen. „Oder du machst erst den Gripsschärfungstrank fertig und beginnst danach mit dem Trank der …“
„Wir sind überlastet, Severus“, unterbrach sie ihn. Die hörbare Resignation konnte er mit ihr teilen.
Ein Geistesblitz seinerseits. „Ich könnte Miss Greengrass fragen, ob sie täglich ein paar Stunden länger machen möchte, natürlich bezahlt. Sie könnte uns mit vorbereitenden Arbeiten zur Hand gehen“, er überlegte kurz, „Zutaten schneiden, Wasser aufsetzen und dergleichen.“
„Wann soll sie das denn machen? Sie könnte höchstens morgens um sieben bei uns auf der Matte stehen, zwei Stunden vorbereiten und dann kommen bereits die ersten Kunden. Außerdem macht sie noch die Buchführung.“
„Wir werden uns etwas überlegen“, versprach er.

Mitten in der Woche blieb keine Zeit für persönliche Belange. Das Brauen ging oftmals bis spät in die Nacht hinein. Nicht selten fielen sie morgens um drei ins Bett, um ein paar Stunden zu schlafen, damit sie ab sieben Uhr den neuen Tag beginnen konnten. Höchstens am Wochenende fand sich etwas Zeit, doch selbst da brauten sie Tränke, um in der folgenden Woche nicht in Arbeit zu ertrinken. Zu den vernachlässigten persönlichen Belangen zählten für Hermine nicht nur Freunde, sondern auch ein Essen auswärts, ein Besuch beim Friseur oder … Sex. Zu ihrem Bedauern hatte sich in den letzten Wochen keiner dieser Wünsche erfüllt und sie befürchtete, dieser Zustand würde noch eine ganze Weile andauern.

„Wir könnten am Wochenende …“, begann Severus, doch Hermine hielt eine Hand in die Höhe.
„Ich muss am Samstag die Bestellungen aufgeben.“
„Kann das nicht jemand anderes machen?“
„Wer denn bitteschön?“, machte sie ihm mit scharfem Ton deutlich. Das war keine Aufgabe, die nur ein paar Stunden dauerte. Der ganze Tag wurde dafür benötigt.
Severus atmete tief durch. „Für Freitagabend haben sich Mr. Worple und Mr. Sanguini angemeldet. Es wird diesmal etwas länger dauern“
Sie nickte, verzog dabei jedoch den Mund. „Meine Eltern haben gefragt, ob wir sie Sonntag besuchen, weil wir letztes Mal abgesagt haben.“

Schon war das Wochenende wieder verplant, dachte Hermine zähneknirschend. Sie schaute traurig drein.

„Ich, ähm, könnte versuchen“, begann Severus zögerlich, „das Treffen mit Worple und Sanguini auf Samstag zu legen, wenn du die Bestellungen machst. Dann hätten wir den Freitag für uns.“
„Für uns? Wohl eher zum Brauen.“ Hermine presste die Lippen zusammen und verschränkte die Arme vor der Brust, als wollte sie sich selbst trösten. „Ich bin müde“, seufzte sie. „Ich geh hoch.“

Severus sah ihr nach. Allein in der Küche ging er nochmals die Braupläne durch. Mehr dürfte es nicht werden, dachte er, denn dann würden sie die Arbeit nicht mehr schaffen. Hätte Mr. Popovich zum vergangenen Vollmond nicht ausgeholfen, wäre die gesamte Arbeit liegengeblieben, die neben dem Wolfsbanntrank angefallen war. Sie benötigten dringend Hilfe. Severus würde sich sogar bereit erklären, jemanden einzustellen. Von Hermines Liste strich er den Trank der Lebenden Toten und setzte ihn auf seine Liste ganz nach unten. Somit würde er morgen eine Stunde länger im Labor arbeiten als Hermine.

Als er ins Schlafzimmer kam, lag Hermine bereits im Bett. Sie musste sofort eingeschlafen sein, nachdem ihre Wange das Kissen berührt hatte. Severus zog sich um und legte sich neben sie. Der Preis, den sie beide für eine gut laufende Apotheke zu zahlen hatten war der, keine Zeit mehr zu haben. Gedankenverloren rutschte Severus näher an Hermine, die mit dem Rücken zu ihm lag. Sein Arm fand den Weg um ihre Taille, die Hand ruhte auf ihrem Bauch. Anstatt einzuschlafen wurde er von seinen Gedanken wachgehalten. So viele Dinge waren noch zu erledigen. Sein Bluttrank, um den er sich dank der vielen Arbeit in der Apotheke kaum noch kümmern konnte. Die Unterlagen, die er für die Patentanmeldung benötigte, musste er auch noch zusammenstellen. Darüber hinaus wollte er sich mit Draco wegen der Vergabe von Lizenzen für den geschmacklich veränderten Wolfsbanntrank unterhalten. Es war Hermines Idee gewesen, anderen Apotheken die Verwendung des Aromastoffs zu genehmigen. Die Lizenzen mussten billig bleiben, sollten nur wenige Knut kosten, weil die Gewinnspanne für den Wolfsbanntrank vom Ministerium festgelegt war. Mehr als elf Galleonen konnte man damit nicht verdienen. Es würde sich jedoch herumsprechen, dass die Granger Apotheke für den guten Geschmack verantwortlich wäre. Kostenlose Werbung. Das bedeutete noch mehr Kunden. Severus vergrub seine Nase in Hermines Nacken und stöhnte leise. Mehr Kunden, mehr Arbeit. Es war ein Teufelskreis. Das konnte so nicht weitergehen. Mit den Lizenzen für den Wolfsbanntrank, so hoffte Severus, würden sich die Kunden wieder auf andere Apotheken verteilen.

Konversationen am Frühstückstisch konnten genauso abwechslungsreich wie die Mahlzeiten sein, die man für einen guten Start in den Tag zu sich nahm. Manche Gespräche begannen friedlich und blieben es auch. Manche konnten aber in einer Katastrophe enden.

Die Fähigkeit, Gefühle eines anderen Menschen nachempfinden zu können, konnte selbst zum Einsatz kommen, wenn man etwas über das Leben einer Person erfuhr, die man noch nie gesehen hatte. Das Schicksal fremder Personen, zu denen man keinerlei Beziehung pflegte, konnte durchaus berühren.

Das größte Einfühlungsvermögen, dachte Ginny während des Frühstücks, hatten Zwillingsbrüder inne. Fred und George schienen so eng miteinander verbunden, so dass sie ohne verbale Verständigung wussten, was in dem anderen vorging. Eine ähnlich inniges Verständnis bestand häufig zwischen einer Mutter und ihren Kindern, aber auch zwischen sehr guten Freunden, für die man die Hand ins Feuer legen würde, ja, sogar für sie sterben würde, weil das Leben des anderen genauso viel bedeutete wie das eigene. Ein intensives Band dieser Art hatte sich schon vor langer Zeit um Harry und Ginny gelegt und sich so festgezurrt, dass man nicht mehr wusste, wo der eine aufhörte und der andere begann. Sie waren eins, Herz und Seele.

Es war nicht die Geschichte der beiden Freunde Brigham und Wilfred, die Ginny gestern daran gehindert hatte einzuschlafen, sondern Harrys Versuch, sie dezent dazu zu bringen, ihre Meinung über den Hauskauf zu ändern. Die Widmung in dem Kinderbuch war eindeutig. Wilfred … Ginny verbesserte in Gedanken. Nicht Wilfred, sondern William war der Geist, der Junge, der sich selbst opferte, um seinen besten Freund zu beschützen. Anfangs war Ginny nicht klar gewesen, wie viel Harry dieses Haus bedeutete, doch jetzt, als sie Zeit zum Nachdenken hatte, konnte sie es dank ihrer engen Verbundenheit mit ihm selbst fühlen. Dieses Haus stellte für ihn die perfekte Verkörperung eines Zuhauses dar. Es begann als reines Traumgebilde. In all den Jahren seines Lebens, von klein auf, hatte dieses Gebäude sich vor seinem geistigen Auge geformt. Stein für Stein hatte Harry es in seiner Fantasie gebaut und ausgeschmückt, während er in der Besenkammer auf schöne Träume hoffte. Das Haus seiner Vorstellung existierte in der Realität. Er hatte es gesehen, und er wollte es haben. Ginny wäre die Letzte, die einen solchen Traum zerstören wollte. Und wenn sie ehrlich zu sich war: Sollte alles vor die Hunde gehen, dann konnte man immer noch ein neues Haus suchen.

Am Frühstückstisch fragte Harry mit unschuldigem Gesichtsausdruck, wie ihr das Märchen gefallen hätte. Hintergrundinformationen behielt er für sich. Vielleicht erstaunte ihn ihre Antwort deshalb.

„Ich will das Haus nochmal sehen“, sagte sie, bevor sie in ihr Brötchen biss.
„Echt? Warum?“
„Weil ich es mir kaum angesehen habe. Ich habe es bei der Führung längst abgeschrieben. Mich interessierte nur noch, wann der Makler wohl mit der Sprache herausrückt.“

In diesem Moment strahlte Harry eine so einzigartige Zufriedenheit aus, dass Ginny ganz warm ums Herz wurde. Allein ihre Bereitschaft, sich dieses Haus ein weiteres Mal anzusehen, machte ihn glücklich.

„Nehmen wir diesmal Nicholas mit?“ Harry wollte wissen, wie das Haus samt Umgebung auf das kindliche Gemüt wirkte.
„Mach erst mal einen Termin mit Mr. Chapman aus. Nicholas muss seinen Mittagsschlaf halten, sonst nörgelt er.“

Die ganze Zeit über lächelte Harry, was auf alle Lebewesen in seiner Umgebung abfärbte. Nicholas war bestens gelaunt, als er die Federn vom Boden sammelte, die Hedwig beim Putzen verloren hatte. Die gute Laune machte auch vor dem kleinen Fawkes nicht Halt, der zwar nicht laut, dafür beständig eine wohlklingende Melodie anschlug. Selbst Hedwigs Stimmung war auf dem Höhepunkt. Liebevoll knabberte sie erst an Harrys Finger, dann an seinem Ohr. Als Nicholas all die weißen Federn beisammen hatte, legte er sie behutsam auf den Tisch, bevor er sich zu Shibby auf den Boden setzte und zu den Bauklötzen griff. Harry beobachtete ihn, während der Tee in seiner Tasse langsam kalt wurde. Er war in Gedanken versunken.

„Harry?“
„Mmmh?“ Er schaute zu Ginny hinüber und nahm endlich einen Schluck.
Es war ihr nicht entgangen, dass er verträumt zu Nicholas geschaut hatte und sprach es unverblümt an. „Du warst eben so weit weg.“
Harry nickte. „Ich habe mir nur gedacht, dass Nicholas viel öfter mit anderen Kindern zusammen sein sollte. Ich hab mal gelesen, das würde für die soziale Entwicklung sehr wichtig sein.“
„Gelesen?“, hakte sie nach.
Er schmunzelte. „Als ich als Kind mal alleine im Haus war, hab ich darüber was im Fernsehen gesehen. Eine Dokumentation über die Entwicklung und Erziehung von Kindern. Damals ist mir das erste Mal eingeleuchtet, dass mein Onkel und meine Tante bei mir irgendwas falsch machen.“ Harry war nicht schlecht gelaunt, sondern grinste, als er das sagte. „Es würde Nicholas gut tun, regelmäßig mit anderen Kindern zu spielen, anstatt nur von Erwachsenen und Elfen umgeben zu sein.“
„Wir könnten doch Susan öfters besuchen.“
Harry schnaufte amüsiert. „Klar, das wird Opa Malfoy richtig freuen.“ Nachdenklich schüttelte er den Kopf. „Charles würde auch was davon haben, mit anderen Kindern zusammen zu sein.“
„Meine Mum hat Bill und Charlie ab und zu bei Nachbarn gelassen, wenn sie mal einkaufen musste oder einfach ihre Ruhe haben wollte. Die hatten zwei Jungs in ihrem Alter. Sie hat das Gleiche für ihre Nachbarin getan.“
„Ja, das hat sie mir erzählt. Aber irgendwie …“ Harry hob die Schultern und ließ sie langsam sinken, als er ausatmete. „Es muss doch eine andere Möglichkeit geben. Etwas Geregeltes.“

Eindringlich sah Ginny ihn an, sagte jedoch nichts. In ihrem Kopf überschlugen sich seine Aussagen. Sie zählte eins und eins zusammen, wollte den Rest aber von ihm hören.

„Was Geregeltes?“, fragte sie nach. „Wie soll sowas denn deiner Meinung nach aussehen?“
Er spitzte die Lippen, als würde er sich gerade eben zum ersten Mal Gedanken darüber machen, was natürlich nicht der Fall war. „Man könnte sich eine Örtlichkeit mieten, wo Eltern ihre Kinder für ein paar Stunden hinbringen. Gegen einen geringen Preis, versteht sich. Irgendwie muss sich das ja finanzieren. Die Kosten für die Räumlichkeiten und einen weiteren Betreuer müssen irgendwie reinkommen. Die Eltern könnten Geld fürs Essen dalassen. Entweder kocht man selbst oder man lässt es fertig liefern. Das würde allerdings wieder mehr kosten, wenn man das Essen woanders kauft.“
Für Ginny hörte es sich bereits sehr durchdacht an. „Ein weiterer Betreuer?“, griff sie eine seiner Aussagen auf. „Wer wäre denn der Erste?“ Harry konnte nichts gegen das Lächeln unternehmen. Die Mundwinkel hoben sich von ganz allein. „Aha!“, machte Ginny, als hätte sie ihn bei irgendwas ertappt.
„Ist nur eine vage Idee“, winkte er ab.
„Weißt du was, Harry?“
„Was?“
„Lass Draco mal deine vage Idee durchrechnen. Ich bin mir sicher, er kann dem puren Gedanken ein festes Fundament geben.“
Vor lauter Staunen machte Harry ganz große Augen. „Dann hättest du nichts dagegen?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Warum sollte ich denn etwas dagegen haben, wenn du dafür sorgst, dass dir die Decke nicht auf den Kopf fällt? Du hast nichts dagegen, dass ich professionell Quidditch spielen möchte. Es ist nur fair, wenn du machen kannst, was du für richtig hältst.“
„Das finde ich klasse, Ginny!“

Der heutige Tag konnte für Harry nicht schöner beginnen. Erst Ginnys Einverständnis, das Haus ein zweites Mal zu besichtigen und dann ihre positive Meinung zu seiner Idee, einen Ort zu schaffen, an dem kleine Zauberer und Hexen aufeinandertreffen würden.

„Ich flohe erst Mr. Chapman an und dann mach ich mit Nicholas das Bild fertig.“ Harry griff zu Tisch und zeigte Ginny besagte Bild, das Nicholas mit seinen Wachsmalfarben geschaffen hatte.
„Was ist das?“, fragte sie irritiert.
„Schau doch mal richtig hin!“
„Das ist ein kleiner Kreis auf einem großen Kreis, der auf zwei Strichen steht.“
Er schnalzte vorwurfsvoll mit der Zunge. „Sei nicht so fantasielos. Das ist Hedwig.“ Als die Schneeeule ihren Namen hörte, schuhute sie freundlich.
„Oh ja, jetzt wo du es sagst.“
„Ginny, wirklich …“ Er schüttelte den Kopf, grinste jedoch dabei. „Da werde ich mit Nicholas zusammen die Federn draufkleben. Das wird das kuscheligste Bild, das wir jemals gemalt haben.“
„Das er jemals gemalt hat“, verbesserte Ginny.
„Hey, ich hab geholfen, die Füße unten dranzumachen!“

Ginny musste laut lachen und ließ Harry seinen Spaß.

Wie aber bereits erwähnt konnten manche Gespräche während des Frühstücks in einer Katastrophe enden.

Hermine bemerkte zu spät, dass sie ein Thema begonnen hatte, das zu einem Desaster führte.

„Du hast was?“, fragte Severus mit fehlendem Verständnis nach.
„Weil wir so viel Arbeit haben, habe ich einen Bewerber zu einem Gespräch …“
„Ohne mich darüber zu informieren?“, blaffte er sie an. Wütend legte er die Gabel auf den Tisch und trat in Hungerstreik.
„Du hast selbst gesagt, dass wir überlastet sind und Hilfe gebrauchen können. Popovich wird nicht immer für uns da sein.“
„Sag den Termin ab!“
Sein Tonfall ließ keine Widerrede zu, doch gerade das wollte sich Hermine nicht gefallen lassen. „Nein, er kommt heute Abend nach Feierabend. Ich möchte mit ihm sprechen.“ Um Severus neugierig zu machen, erwähnte sie: „Seine Referenz ist außerordentlich …“
„Und das soll mir imponieren?“, fiel er ihr ins Wort. Severus stand auf und wollte offenbar die Küche verlassen, doch an der Tür drehte er sich nochmals um. „Jeder Giftmischer kann Empfehlungen ausstellen. Mir ist völlig egal, was andere Tränkemeister über jemanden schreiben. Schließlich kann man sich alles erkaufen.“
Sie versuchte, ihn mit sanfter Stimme zu beruhigen. „Severus …“
„Nichts da!“ Er ließ sich nicht einlullen. „Der Mann kommt mir nicht ins Haus!“
„Ich habe da auch noch ein Wörtchen mitzureden. Mir gehört die Hälfte des Geschäfts.“ Es war ein Fehler gewesen, ihn darauf aufmerksam zu machen. Sie konnte sehen, wie die Muskeln in seinem Unterkiefer sich verspannten. „Willst du die Unterlagen, die er geschickt hat, nicht einmal ansehen?“
„Nein!“
„Fein.“
„Fein!“, giftete er zurück. „Ich will mit dem Bewerber nichts zu tun haben. Regel du das! Aber wenn du es tatsächlich wagen solltest, jemanden ohne mein Einverständnis einzustellen …“
„Das würde ich nie tun. Ich will nur mit ihm reden. Ich weiß gar nicht, warum du dich so aufregst.“
„Warum ich mich …?“

Fassungslos schüttelte er den Kopf. Sie hatte ihm nicht einmal von der Bewerbung erzählt und stellte ihn nun vor vollendete Tatsachen. Ein fremder Mensch, den sie für heute eingeladen hatte. Wahrscheinlich würde sie sogar hier in der Küche das Gespräch führen, in der privaten Umgebung, und den Bewerber womöglich noch bewirten. Severus hatte nicht einmal die Zeit gehabt, sich innerlich auf diese Situation vorzubereiten. Er hasste es, nicht informiert zu sein. Selbst in der Zeit seiner Flucht war er über die Aktivitäten der Todesser und der Auroren wenigstens durch die Zeitungen unterrichtet. Die Bewerbungsunterlagen waren von Hermine jedoch ganz offensichtlich unterschlagen worden. Jetzt war es egal, dachte er. Wer auch immer heute Abend vorbeikommen würde müsste damit rechnen, von ihm nicht freundlich behandelt zu werden.

„…phob“, hörte er sie murmeln.
Mit einem Male war er am Tisch und baute sich bedrohlich vor ihr auf. „Was war das?“ Sie wollte ihre Gedankengänge nicht kundtun, weshalb er seine Frage wiederholte, diesmal jedoch mit Nachdruck. Er bleckte die Zähne. „Was“, er ließ eine lange Pause, „war das eben?“
Hermine seufzte und gab sich einen Ruck. „Ich sagte, es ist schade, dass du so soziophob bist.“
Sein Blick verfinsterte sich. „Soziophob?“

Sie würde es gern rückgängig machen – das gesamte Gespräch anders beginnen. Hätte sie nur einen Zeitumkehrer.

„Soziophob“, grummelte er verärgert. „Als soziophob wird jemand bezeichnet, der Furcht davor hat, auf Menschen zu treffen. Willst du damit sagen, ich hätte Furcht? Ich?“
„Severus, ich möchte mich entschul…“
Er unterbrach sie mit herrischer Stimme. „Ein soziophobisch veranlagter Mensch erleidet Angstzustände, Panik, Herzrasen, Schweißausbrüche. Als Heilerin solltest du das eigentlich wissen“, höhnte er, „oder war die Anmerkung ausschließlich als Beleidigung gedacht?“ Hermine presste die Lippen zusammen. Momentan wäre jedes Wort ein falsches. Daher hielt sie den Mund und hörte ihn an. „Zittern, Beklemmungen, Atemnot“, zählte Severus beinahe fröhlich auf. „Ich garantiere dir, dass dein Bewerber unter diesen Symptomen leiden wird, sollte er mir versehentlich über den Weg laufen.“

Mit diesen Worten stürmte er aus der Küche, ließ den fast unangerührten Teller zurück. Es half nichts, ihm hinterherzurufen. Severus wollte nicht mit ihr sprechen.

Die morgendliche Mahlzeit war besonders in den letzten Tagen von stets freundlichen Worten und zaghaften Berührungen begleitet. Heute war der erste Tag seit langem, an dem sie sich nicht freute, gleich mit ihm im Labor zusammenzuarbeiten. Hermine hatte genügend Kostproben davon erhalten, wie unerträglich er werden konnte, wenn er sich schlecht behandelt fühlte. Es war gut möglich, dass er der Meinung war, hintergangen worden zu sein.

Als sie sich um den Abwasch kümmerte, spielte sie das Gespräch in Gedanken nochmals nach, bis zu dem Punkt, an dem alles schiefgelaufen war. In ihrer Fantasie konnte sie diesen Fehler beheben und Severus sogar dazu bringen, dem Bewerbungsgespräch freudig entgegenzufiebern. Wunschträume. Einer von vielen.

Sie rechnete damit, Severus im Labor anzutreffen, doch das war menschenleer. Ein Blick in den Verkaufsraum bestätigte, dass Daphne anwesend war und gerade die Apotheke öffnete.

„Hast du Severus gesehen?“, wollte Hermine wissen.
„Ist gerade mit dem Hund raus.“
„Ah, danke.“ Hermine rang sich ein Lächeln ab, um vorzutäuschen, dass alles in Ordnung war. Daphne wusste ja nicht, dass Severus bereits vor dem Frühstück mit Harry draußen war.

Im Labor begann Hermine allein mit dem ersten Trank. Irgendjemand hatte tatsächlich einen Plappertrank bestellt. Vermutlich sollte der auf einer Party zum Amüsement beitragen. Zum Lachen war Hermine war nicht. Zwar war sie erleichtert, als Severus eine Dreiviertelstunde später ins Labor kam und mit den Tränken auf seiner Liste begann, aber das änderte sich wieder, als Hermine feststellte, dass er nicht mit ihr sprach. Auf Fragen bekam sie keine Antwort. Er schenkte ihr nicht einen einzigen Blick, sondern braute stur seinen Trank.

Für Hermine war die Situation unerträglich, aber keinesfalls unbekannt. Damals, als sie noch bei ihm in der Lehre war, kam es nach einem Streit häufig zu solchen Situationen. Um den Arbeitstag wenigstens ein bisschen angenehm zu gestalten, begann Hermine einfach zu reden, genau wie damals. Sie hatte nie ihren Mund gehalten.

„Ich würde gern wieder nach Japan.“ Keine Reaktion seinerseits, also plapperte sie einfach drauf los. „Als ich das Buch gelesen habe, dass die Schüler dir geschenkt haben, musste ich dran denken. Du weißt schon, das von Takeda. Das riesige Gewächshaus, all die Farben.“ Sie seufzte. „Das war wunderschön.“ Emotionslos schnitt Severus seine Zutaten. „Nach alldem, was geschehen ist, bin ich wirklich urlaubsreif. Ich würde gern mit dir verreisen.“ Ohne eine helfende Hand im Labor konnten sie die Apotheke nicht einmal für ein Wochenende verlassen. Beiden war das klar und so sah Severus keinen Grund, sie auf diesen Umstand aufmerksam zu machen. „Ich habe in dem Geschichtsbuch das Kapitel über dich gelesen.“ Sie lächelte, auch wenn ihr wegen fehlernder Resonanz nicht danach war. „Ich finde, der Autor hat dich und deine Rolle im Krieg wunderbar getroffen. Als Quellen gab er übrigens Interviews mit Arthur und Kingsley an.“ Die geschnittenen Zutaten warf Severus in seinen Kessel, strafte Hermine mit Nichtbeachtung. Mittlerweile zweifelte sie an sich und hoffte, ihn nicht so sehr verärgert zu haben, dass er in der Beziehung mit ihr womöglich einen Fehler sehen würde. „Wir könnten auch nach Tibet reisen und uns den Chinesischen Raupenpilz mal genauer ansehen. Es heißt, er hätte magische Kräfte. In der Muggelmedizin wird er schon seit dem 15. Jahrhundert als Tonikum genutzt. Außerdem wäre es doch schön, mal zusammen in den Bergen zu wandern.“

Jetzt hatte sie eine Reaktion bekommen. Severus blickte sie einen Moment lang an, bevor er die Flamme unter seinem Kessel klein stellte und zu ihr hinüberging. Er roch an dem Plappertrank, den sie braute.

„Hermine, du musst wirklich nicht von allem probieren, das du für die Kunden herstellst.“ In ihren Augen machte er Dankbarkeit für die wenigen Worte aus, die er mit ihr wechselte. Er schämte sich für sein Verhalten.
„Wenn er nachher kommt, dann möchte ich, dass du einen Blick auf ihn wirst.“
„Hermine …“
„Nein, lass mich ausreden.“ Er nickte, so dass sie Severus ihre Idee schilderte. „Wenn er dir auf den ersten Blick schon nicht gefällt, werde ich trotzdem das Gespräch führen, aber mehr auch nicht. Solltest du Interesse haben, können wir danach miteinander reden. Sieh ihn dir nur mal an.“
Diesmal war es Severus, der die Lippen zusammenpresste. An dem Kompromiss konnte er nichts bemängeln. Hermine überließ ihm das letzte Wort.
„Von mir aus.“
„Schön!“ Ihr breites Lächeln zeigte ihm, dass der Streit vergessen war. „Ich hätte es dir sagen müssen. Es tut mir wirklich leid. Ich dachte nicht, dass du dich so sehr ärgern würdest.“
Völlig aus dem Zusammenhang gerissen erklärte er ihr den wirklichen Grund für sein mürrisches Verhalten. „Ich habe Briefe beim Eulenpostamt abgeholt. Während des Krieges …“ An seiner Körpersprache erkannte sie, dass er sich bei dem Thema unwohl fühlte.
„Was für Briefe?“
„Nachsendungen. Als ich vogelfrei war, war ich für keine Eule zu erreichen. Die Briefe wurden in verschiedenen Postämtern gesammelt und …“
Somit war geklärt, warum Severus heute so spät gekommen war, dachte Hermine. „Ist was Schlimmes dabei?“
„Ich habe nicht alle geöffnet.“
„Bist du denn gar nicht neugierig?“

Severus atmete tief durch. Neugierig war er durchaus, aber etwas hielt ihn davon ab, sich mit bestimmten Postsendungen zu befassen. Er schüttelte den Kopf, bevor er zurück an seinen Platz ging.

„Wir hinken ein wenig mit der Arbeit hinterher.“ Die Ruhe in seiner Stimme war vorgetäuscht. Hermine konnte ein leichtes Beben in ihr ausmachen. Die erhaltenen Briefe sprach sie vorerst nicht mehr an, obwohl sie vor Neugierde fast platzte. Sie war froh, dass er wieder mit ihr sprach, dass wieder alles normal war.

Während Hermine und Severus dem Begriff Vollbeschäftigung eine völlig neue Definition gaben, genossen Harry und Ginny das Leben ohne Arbeit.

An den eisernen Toren von Hogwarts hatte Ginny arge Mühe, Nicholas zu hüten. Immer wieder wollte er ausbüxen und die ihm fremde Umgebung auskundschaften.

Wie schon das erste Mal führte die zweite Reise zum Traumhaus über den Katalog, für den Harry von Mr. Chapman eine neue Codenummer bekommen hatte. Ginny hielt Nicholas auf dem Arm und berührte Harry, als der seinen Stab auf das Bild legte und den Zauber sprach.

Die Reise hatte Nicholas gut überstanden. Er war sichtlich davon angetan, plötzlich an einem anderen Ort zu sein. Noch mehr war er von dem davonflatternden Kranich begeistert, dem er seine Arme entgegenstreckte.

„Wo ist Mr. Chapman“, fragte Ginny.
„Wir können uns das Haus alleine ansehen. Er meinte, weil wir es bereits kennen, ist eine weitere Führung nicht vonnöten.“
Ginny schnaufte. „Vielleicht war es ihm nach seiner letzten Nummer auch nur peinlich, nochmal Rede und Antwort zu stehen.“
Harry grinste. „Sieh es dir an“, forderte er. „Gefällt dir, oder?“
„Von außen schon mal sehr gut.“ Endlich blickte sich Ginny ein wenig um. Bäume, Büsche, Blumen. „Schöne Gegend, aber die habe ich beim ersten Mal auch schon bewundert.“
„Dann lass uns ins Haus gehen.“

Es war abgeschlossen, aber Harry hatte von Mr. Chapman den Spruch erhalten, um die Tür öffnen zu können. Drinnen ließ Ginny den Jungen wieder runter.

„Zum Glück ist es noch hell draußen.“ Nach wie vor schien die Sonne ins Haus und hüllte die Räume in warmes Licht. „Hier unten ist gleich die Küche“, Harry stürmte in den Raum und präsentierte ihn Ginny. „Hier werde ich später stehen“, er stellte sich an den Herd, „um Frühstück zu machen.“ Harry strahlte über das ganze Gesicht, während er so tat, als würde er eine Pfanne über der Muggelherdplatte schwenken. „Und da“, er deutete mit einem Finger in eine Ecke, „sitzen Nicholas und du an einem großen Tisch.“ Den er noch besorgen würde, denn die Räume waren unmöbliert. „Und?“
„Harry, das Rührei brennt an“, scherzte Ginny.
„Oh!“ Harry gab vor, einen Schalter zu betätigen und die Pfanne auf einer der kühlen Platten zu stellen. „Gehen wir ins Wohnzimmer.“ Als er an Ginny vorbeiging, sagte er: „Wir haben übrigens einen Anschluss für ‘nen Fernseher!“
„Der explodieren wird, wenn du in seiner Nähe zauberst“, warnte Ginny, die sich noch gut an Schilderungen von Hermine erinnern konnte, die mit ein paar kleinen Unfällen im Haus ihrer Eltern zu tun hatten.
„Ach“, winkte er ab, „da fällt mir schon was ein. Komm schon!“ Freudig erregte wedelte er mit seinen Händen, damit sie ihm folgen würde. Nicholas war als Erster bei ihm. Harry nahm ihn an die Hand. Im Wohnzimmer angelangt zeigte er auf den Kamin. „Der wird demnächst ans Flohnetzwerk angeschlossen. Dann können alle Freunde uns besuchen.“ Nicholas versuchte, nach dem alten Blumentopf zu greifen, der in der Haltung zu finden war, in der normalerweise die Schale mit dem Flohpulver aufbewahrt wurde. „Wir haben sogar genug Platz für eine Couch, die um zwei Ecken geht.“

Ginny schaute sich diesmal das Haus genauer an. Es gefiel ihr. Sie hielt auch nach dem Geist Ausschau, jedoch nicht mehr so konzentriert wie beim ersten Besuch. Das Haus wirkte sehr gemütlich und heimelig.

„Wollen wir in den Keller gehen?“, fragte Harry.
Ginny schüttelte den Kopf und blickte zur Tür. „Ich muss mir den Ofen nicht ansehen. Gehen wir nach oben.“

Die Führung des Hauses übernahm Harry. Er hatte sich offenbar einige wichtige Aspekte gemerkt, die Mr. Chapman bei der ersten Führung von sich gegeben hatte – und die Harry jetzt zum Besten gab.

„Das hier“, er tippte auf die angelehnte Tür, „wird Nicholas’ Zimmer werden.“ Er kniete sich vor den Jungen hin. „Willst du dein Zimmer sehen?“
„Haaa“, rief der Kleine und warf die Arme in die Luft.
„Schätze, das war ein Ja.“ Sachte stieß Harry die Tür auf und ließ Nicholas den Vortritt. Der rannte blind drauf los und fiel hin prompt hin. „Nicht so eilig.“ Sofort war Harry bei ihm und half ihm auf. Um ihn abzulenken, zeigte er ihm die Aussicht. „Von hier aus kannst du den See sehen. Wer weiß … Vielleicht wohnt da auch ein Krake, mit dem du dich anfreunden kannst.“
„Kake“, imitierte Nicholas das Wort.
Harry schaute über seine Schulter hinüber zu Ginny und grinste. „Hoffen wir, dass er das kleine c nicht so schnell lernt.“
Sie lächelte zurück, betrachtete gleich darauf den großen Raum. „Schade, dass du die Zimmer schon verteilt hast, Harry. Das hier wäre auch ein tolles Elternschlafzimmer.“

Nicholas presste seine kleine Nase an die Scheibe, konnte auch nicht davon lassen, sie abzulecken. Die glatte, kalte Oberfläche fand er interessant. Harry wandte sich an Ginny. Er sah so fröhlich aus, dass sie ihre Entscheidung bezüglich des Hauskaufs gefällt hatte. Als Harry nochmals zu Nicholas hinüberblickte, dessen kleine Hände die Scheibe befühlten, rutschte ihm für einen Moment das Herz in die Hose. Ein Geist saß neben Nicholas. Die durchsichtige Gestalt beobachtete den kleinen Jungen. Beim zweiten Hinsehen tat Harry die Situation als ungefährlich ab. Der Geisterjunge saß im Schneidersitz vor dem Fenster und lächelte freundlich.

„Psst“, machte Harry leise zu Ginny. Als er ihre Aufmerksamkeit erlangte, nickte er zu Nicholas und dem Geist hinüber.
Ginny wusste nicht, warum Harry so angespannt schien. „Was, Harry?“, fragte sie, zog dabei die Schultern leicht in die Höhe.
„Siehst du ihn denn nicht?“
„Klar, Nicholas zeigt mir gerade, wie oft ich später hier die Fenster putzen muss.“
Um sich zu vergewissern, dass der Geist nicht mehr da war, schaute Harry zum Fenster, doch der Junge – Billy – war noch immer zu sehen. Er schaute seiner Frau in die Augen. „Du siehst nichts Außergewöhnliches?“
„Harry?“ Ginny wurde skeptisch. „Siehst du wieder mehr als andere?“ Er schluckte und nickte im Anschluss. Ihre Stimme war leise, als sie fragte: „Siehst du den Geist?“
„Ja.“
„Beschreib ihn“, forderte Ginny.

Harry musterte Billy. Die Haarfarbe eines Geistes war schwer zu bestimmen, aber er schätzte sie sehr hell – womöglich blond. Das Haar war auf jeden Fall heller war als das vom Blutigen Baron.

„Er sitzt auf dem Boden. Ich weiß nicht, wie groß er ist. Er schaut Nicholas bei seiner Erkundungstour zu und scheint darüber amüsiert. Und er trägt einen hellen Matrosenanzug mit so einem eckigem Kragen am Rücken.“
„Exerzierkragen“, warf Ginny ein.
Harry nickte, zeigte dann auf seinen eigenen Oberarm. „Am Ärmel ist ein kleiner Anker eingestickt. Auf dem Kopf hat er eine dunkle Mütze. Das Haar darunter ist leicht gewellt.“ In dem Moment fand Nicholas an der Fensterfront die Klinke der Tür, die zum Balkon führte. Es war nicht verschlossen. „Er steht auf“, beobachtete Harry den Geist. „Normale Größe für einen Neunjährigen, würde ich sagen.“ Nicholas schob die Tür auf und tastete sich ins Freie. „Er geht ihm nach.“
„Ja, und das sollten wir auch, damit er keinen Unsinn anstellt“, unterbrach Ginny. „Warum kannst du ihn sehen und ich nicht?“
„Frag mich nicht, ich habe keine Ahnung.“

Auf dem Balkon standen mehrere Blumenkübel. Die Pflanzen in ihnen wuchsen wild, waren aber keinesfalls verwelkt. Durch die typischen Witterungen in Schottland wurden sie regelmäßig auf natürliche Weise gewässert. Nicholas zupfte an einem der Zweige. Billy kniete sich neben ihn und schaute der kindlichen Neugierde zu. Während Ginny die Aussicht genoss, betrachtete Harry das Zusammenspiel zwischen Geist und Kind. Von Nicholas ungesehen flatterte ein gelber Schmetterling heran und nahm hinter ihm auf der hölzernen Balustrade Platz. Billy zeigte mit einem Finger auf das Insekt und Nicholas – zu Harrys Verwunderung – folgte dem Fingerzeig und drehte sich um.

„Ich glaub’s ja nicht“, murmelte Harry.
„Was?“ Ginny schaute zu Harry, dann zu Nicholas.
„Er kann ihn sehen, Ginny. Ich bin mir ganz sicher. Nicholas kann ihn sehen!“
„Das ist doch gar nicht mögl…“
„Wenn ich es dir doch sage!“

Nicholas versuchte, nach dem Schmetterling zu greifen, doch der schlug mit seinen zitronengelben Flügeln und flog in Richtung Harry. Der Geist und Nicholas schauten dem Schmetterling voller Bewunderung nach. Als der dicht an seiner Wange vorbeiflog, hatte Harry das erste Mal Blickkontakt mit Billy. Der Geist erschrak, riss die Augen auf. Ertappt stand Billy auf und ging langsam rückwärts, direkt durch das Glas der Fenster. Harry rannte ins Zimmer hinein, doch keine Spur mehr von Billy.

„Du musst dich nicht verstecken, Junge.“ Er meinte es ernst. Wenn sie schon ein Haus mit einem Geist kaufen würden, könnte man sich auch vorher kennenlernen. „Billy?“
„Harry, was ist denn nur los?“ Ginny kam mit Nicholas auf dem Arm zurück ins Zimmer.
„Er ist wieder weg.“
„Du hast ihn wirklich gesehen?“ Auf ihre Frage hin nickte Harry. „Ich würde zu gern wissen, warum.“
„Nicholas hat auf ihn reagiert, Ginny. Ich glaube wirklich, er kann ihn sehen.“ Vor seinem inneren Auge ließ Harry das Ereignis Revue passieren. „Es sah beinahe aus, als würde sich ein großer Bruder um einen kleinen kümmern.“
„Du musst mir den Geist nicht mehr schmackhaft machen, Schatz. Wir nehmen das Haus, wenn du es noch immer haben möchtest.“

Sein Glück konnte Harry noch gar nicht fassen. Er fragte nicht nach, sondern nahm Ginny in den Arm und küsste sie – mehr mit den Zähnen als mit den Lippen, denn er musste die ganze Zeit über lächeln.

Den Geist sahen sie während der weiteren Besichtigungstour nicht noch einmal. Nach dem Haus war nochmal das Grundstück an der Reihe, auch der See, bevor sie nachhause apparierten.

„Ich werde Hermine einen Brief schreiben.“ Bei der Aussicht auf einen angenehmen Flug in die Winkelgasse breitete Hedwig ihre Flügel aus und zeigte ihre Bereitschaft. „Vielleicht hat sie eine Erklärung dafür, warum ich den Geist sehen konnte.“
„Frag sie, wann wir uns mal wieder sehen können.“
„Ich glaube, die beiden haben im Moment alle Hände voll zu tun. Die Apotheke läuft einfach zu gut.“
„Dann müssen sie jemanden einstellen“, riet Ginny. „Sonst machen sie sich noch kaputt.“

Sofort setzte sich Harry mit Schreibfeder und Tintenfass an den Tisch, um Hermine einen Brief zu schreiben. Plötzlich tauchte Nicholas vor ihm auf. Der Junge setzte sich Harry direkt gegenüber und beobachtete, was sein Vater trieb. Harry tauchte seine Feder ins Tintenfass und schrieb. Auf der Stelle griff Nicholas zu einer von Hedwigs Federn, die noch auf dem Tisch lagen. Harry schob ihm ein Blatt Pergament zu. Die unbehandelte Feder der Eule sog sich auf der Stelle mit Tinte voll. Auch Nicholas’ Finger wurden ganz schwarz, aber den Jungen störte es nicht. Er ahmte Harry nach und kritzelte Formen auf sein Pergament. Während Harry den Brief schrieb, schaute er immer wieder zu Nicholas hinüber, der es ihm gleichmachen wollte.

Am Ende gab es einen formvollendeten Brief von Harry an Hermine und ein paar Kritzeleien, unzählige Fingerabdrücke und Tintenklekse von Nicholas an seine Patentante. Voller Stolz zeigte der Junge sein Werk. Harry schmunzelte.

„Wollen wir Tante Hermine deinen ersten Brief mit meinem zusammen schicken?“
„Daaa“, erwiderte Nicholas, ließ das Pergament bei seinem Vater auf dem Tisch und betrachtete sich die schwarzen Hände.
„Ginny?“ Als sie von ihrem Buch aufblickte, zeigte Harry auf Nicholas. „Ich glaube, er sollte sich mal die Hände waschen, bevor hier überall Handabdrücke …“
„Ach herrje, was habt ihr denn nur angestellt?“

Ginny ging mit Nicholas ins Badezimmer, während Harry ein P.S. unter seinen Abschiedsgruß setzte und seinen Brief samt der Zeichnungen von Nicholas in einen Kuvert steckte.

„Hedwig?“ Sie war sofort bei ihm und streckte ihm ihr Bein entgegen. „Kannst es gar nicht erwarten, wieder mal rauszukommen, richtig?“ Hedwig war nicht mehr die Jüngste. Harry hatte sie geschont, wo es nur ging, aber dadurch war der Vogel nur depressiv geworden. Ein oder zwei weite Entfernungen die Woche waren für die Schneeeule noch zu meistern. Der Brief war schnell an dem Bein befestigt. „Du weißt ja bereits, wo es hingehen soll. Zu Hermine in die Winkelgasse.“

Hedwig schuhute fröhlich und machte sich auf den Weg. Ihre Flügel trugen sie schnell, und die Winde meinten es gut mit ihr.

Verblüffend am menschlichen Wesen war die Fähigkeit, die Gefühle des anderen nachempfinden zu können. Aus kleinsten Abweichungen der Mimik konnte Hermine erkennen, dass Severus sich zwar aufs Brauen konzentrierte, ihm aber immer wieder etwas anderes durch den Kopf ging. Wahrscheinlich die Briefe – oder einer von ihnen. Nach dem Bewerbungsgespräch würde sie ihn darauf ansprechen, wenn es sich ergab.

Am Abend positionierte sich Severus an der Labortür, um zufällig hinauszutreten, wenn der Gast eintreffen würde. Er hörte Hermine reden, als sie den Bewerber hereinführte. Es gab keine Möglichkeit, im Vorfeld die Stimme des Gastes zu hören, um vielleicht schon eine erste Einschätzung zu erhalten. Es behagte ihm überhaupt nicht, sich mit fremden Menschen abgeben zu müssen, wo er seine Zeit viel besser verbringen könnte, zum Beispiel im Bett – mit Hermine. Severus lauschte ihrer Stimme, bevor er sich ein Herz nahm und in den Flur trat.

„Oh, guten Abend, Professor Snape“, grüßte ihn der junge Mann sehr enthusiastisch. Severus kannte ihn bestens.
„Mr. Foster.“ Beinahe hätte er die letzte Silbe eine Oktave höher gesprochen, doch das Offensichtliche wollte er nicht als Frage betonen. „Sie“, ein unsicherer Blick zu Hermine, die ihm zunickte, „wollen also die Ausbildung zum Tränkemeister hier absolvieren?“
„Ja, Professor Snape, das würde ich wirklich gern.“ Ein nervöses Lächeln huschte über Gordians Lippen.
„Dann“, Severus öffnete die Tür zur Küche, „treten Sie doch bitte ein. Wir haben einiges zu bereden.“ Gordian trat durch die Tür, die Severus ihm offenhielt. An der Tür berührte Severus Hermines Arm und flüsterte: „Warum hast du mir das nicht gesagt?“
„Du wolltest es nicht hören“, flüsterte sie zurück, grinste dabei. „Aber du verstehst jetzt hoffentlich, warum ich bei der außergewöhnlichen Referenz nicht einfach ablehnen konnte.“
Einer seiner Mundwinkel zuckte amüsiert. Besagte Referenz für Mr. Foster stammte von ihm. „Nach dir, Hermine.“

In der Küche wartete Gordian geduldig – und er war auch etwas steif. Der junge Mann wollte keinen Fehler machen, keinen schlechten Eindruck hinterlassen.

„Nehmen Sie bitte Platz“, bat Severus. Der junge Mann gehorchte aufs Wort und nahm den erst besten Stuhl, der in der Nähe war. So dürfte es, wenn es nach Severus ginge, weitergehen. Endlich jemand, der das tat, was man ihm sagte. „Darf ich fragen, warum Sie sich gerade hier beworben haben?“
„Ich war schon in der Schule von Ihrem Können schwer beeindruckt“, gestand Gordian.

Hermine konnte sich gemächlich zurücklehnen, denn Severus übernahm das gesamte Gespräch. Schon nach Gordians Antwort war sie sich sicher, dass Severus nicht nein sagen würde. Wer hörte es nicht gern, dass man einen jungen Menschen beeindruckt hatte?

Mit der Zeit verlor Gordian seine Befangenheit. Dem jungen Mann lag viel an dieser Stelle, das war während des Gesprächs deutlich geworden. Gordian gab sich aber auch reichlich Mühe, nicht wie ein unsicherer Junge zu wirken. Er war immerhin Hogwarts’ jüngster Schulabgänger, hatte noch keine Erfahrungen mit Gesprächen dieser Art.

„Haben Sie sich auch woanders beworben?“, fragte Severus.
„Nein, Sir. Die anderen Tränkemeister stellen keinen Wolfsbanntrank mehr her und gerade den möchte ich lernen.“
„Warum?“
Gordian fühlte sich wie in der Schule. „Weil er schwierig herzustellen ist. Ich möchte damit vertraut sein.“
Die Bewerbungsunterlagen ging Severus kurz durch, bevor er aufblickte. „Wegen Ihres Alters werde ich beim Ministerium nachfragen, ob es irgendwelche Einschränkungen gibt.“
„Ich habe mich bereits erkundigt, Sir. Das Alter ist für die Stelle als Lehrling bei einem Tränkemeister nicht wichtig. Hauptsache, ich habe einen bestandenen Schulabschluss. Hier“, er reichte Severus eine Mappe, „sind Informationen vom Ministerium, die das bestätigen.“
„Dann müssen wir uns nur noch über die Vertragsform einigen.“

Von Gordian aus herrschte Stille. Er blinzelte einige Male, auch öffnete er den Mund, schloss ihn aber wieder, bevor er eine dumme Frage stellen konnte.

„Wäre Ihnen Vertragsform C angenehm?“, fragte Severus.
„Ich …“ Gordian schaute Hilfe suchend zu Hermine hinüber, dann wieder zu Severus. Vorsichtig fragte er nach: „Ich hab den Job?“
„Habe ich das nicht eben deutlich zum Ausdruck gebracht?“ Severus hob eine Augenbraue und genoss einen Moment lang das Gefühl, Gordian damit tatsächlich einzuschüchtern. „Von Ihren Fähigkeiten bin ich bereits unterrichtet. Fehlt noch die Vertragsform.“
„Ich wäre auch mit H zufrieden.“ Bei dieser Form würde Gordian noch draufzahlen müssen, wussten Severus und Hermine.
„Darüber reden wir noch“, machte Severus dem jungen Mann Hoffnung. „Eines bedarf noch der Klärung, Mr. Foster. Galt Ihre Bewerbung meiner Geschäftspartnerin oder mir? Sie benötigen für das Ministerium einen bestimmten Tränkemeister, der Ihre Ausbildung überwacht.“
„Ich hätte gern Sie als meinen Meister, Sir.“
„Gut, Sie hören von uns.“

Nachdem Gordian gegangen war, sprach Severus mehr als Hermine über den Bewerber und welche Bereicherung der junge Mann für die Apotheke sein würde.

„Sicher“, begann Severus, als er ein Abendessen zubereitete, „er muss erst angelernt werden, aber leichte Tränke kann er für die Apotheke bereits brauen. Mr. Foster schien Gefallen daran zu finden, dass er mit seiner Ausbildung bei uns gleichzeitig einen Einblick in die Arbeit eines wirtschaftlich orientierten Unternehmens erhält.“
„Also war es doch nicht so schlecht, dass ich ihn eingeladen habe.“
Bevor Hermine den glücklicherweise gut verlaufenden Abend als Anlass nehmen würde, nochmals in dieser Richtung aktiv zu werden, schritt er ein. „Du wirst mich das nächste Mal im Vorfeld informieren.“
„Zu Befehl!“, gab sie zurück, salutierte dabei.
„Du nimmst mich nicht ernst“, stellte er daraufhin trocken mit.
„Natürlich nehme ich dich ernst. Manchmal muss man dir aber einen Tritt in den Hintern geben.“
„Mir? Wenn ein Hintern einen Tritt verdient hat, dann ist das ja wohl deiner.“
„Meiner?“ Sie drehte sich um und strich mit einer Hand über die Gesäßhälfte. „Warum denn das?“
Sie tat es schon wieder, dachte er. Sie reizte ihn mit voller Absicht. „Genau deswegen“, erwiderte er.

Als es am Küchenfenster klopfte, lehnte sich Hermine extra so über die Arbeitsfläche, dass ihr Gesäß sich einladend ihm zuwandte. Durchs gerade eben geöffnete Fenster kam Hedwig herein.

„Oh, eine Nachricht von Harry.“ Hermine nahm den Brief ab und bemerkte dabei, dass das Bein der Schneeeule zitterte. Auch das schnell klopfende Herz konnte man unter den dichten Federn pochen sehen. Hedwig atmete schnell, hechelte geradezu, wenn Vögel überhaupt hecheln konnten. „Du armes Mädchen. Die lange Strecke von Hogwarts bis London. Das müssen“, Hermine rechnete kurz im Kopf, „über 470 Meilen gewesen sein. Hier, trink erst einmal ein Schlückchen.“
„Was schreibt er?“
Hermine öffnete den Brief und las vor: „Liebe Hermine, ich würde dich gern besuchen. Bei einer zweiten Hausbesichtigung habe ich Billy gesehen. Ginny schwört, sie konnte den Geist nicht sehen.“
„Ah, seine Wahrnehmung spielt wieder verrückt“, kommentierte Severus den Brief. „Wann will er kommen?“
Hermine überflog den Brief. „Heute um 23 Uhr.“
Severus blickte auf die Uhr. „Es ist 22:55 Uhr. Dann können wir in fünf Minuten mit ihm rechnen? Warum hat er dir nicht gefloht?“
„Weil man uns beide während der Arbeitszeit nicht über den Kamin erreichen kann, denn der befindet sich oben im Wohnzimmer, nicht im Labor.“
„Er hätte den Vogel nicht schicken müssen, um uns Bescheid zu geben, dass er in fünf Minuten vorbeikommt. Das ist völliger Blödsinn.“ Ein fieses Grinsen breitete sich plötzlich auf Severus’ Gesicht aus. „Ach, ich vergaß beinahe: Gryffindor. Das erklärt natürlich sein Handeln.“
„Sei mal nicht so frech“, schalte sie ihn mit einem Lächeln, bevor sie Hedwig auch noch etwas Futter gab. „Hedwig hat sich bestimmt über den Flug gefreut, oder?“ Der Vogel blickte von seinem Schälchen auf und nickte, jedenfalls sah es für Hermine so aus. „Siehst du?“

Oben hörte man ein lautes Knallen, dann ein Rumpeln, das den Gast ankündigte. Beide schauten nach oben, obwohl man Harry schwerlich durch die Decke ausmachen konnte.

„Hermine?“, rief es von oben.
Sie ging zur Tür und lugte hinaus. „In der Küche, Harry.“

Es hörte sich an, als würde ein Pferd die Treppen hinuntergaloppieren. Beschwingt steuerte Harry die Küche an, an deren Tür er Hermines Kopf ausmachen konnte.

„Hi Hermine“, grüßte er breit grinsend, „ich hoffe, Hedwig hat die Nachricht überbracht?“
„Ja, komm rein und setzt dich.“ Weder Hermine noch Severus sprachen an, dass Hedwig erst von fünf Minuten gekommen war. „Aber auf deinem Nachhauseweg nimmst du sie über den Kamin mit, oder? Du kannst das arme Mädchen nicht in der Dunkelheit nachhause schicken.“
„Klar nehm ich Hedwig mit.“ Harry ließ sich auf der Küchenbank nieder, direkt gegenüber von Severus.
Hermine setzte sich so, dass sie Severus zu ihrer Linken hatte, Harry rechts. Sie nahm das Thema des Briefes auf und fragte: „Du hast geschrieben, dass du den Geist sehen konntest, aber Ginny nicht?“
„Ist komisch, oder? Ich habe ihn wirklich deutlich gesehen, genauso wie die Geister in Hogwarts.“
„Und Ginny hat absolut nichts bemerkt?“, fragte Hermine verwundert nach. „Nicht einmal einen Umriss? Oder ein Leuchten?“
„Sie schwört, sie hat gar nichts gesehen. Das Beste aber ist“, Harry hob einen Zeigefinger, „dass Nicholas ihn auch gesehen hat.“
Hier meldete sich Severus zu Wort. „Was lässt dich das denken?“
„Weil Billy“, für Severus erklärte er, „der Geist heißt so. Billy hat auf einen Schmetterling hinter Nicholas gezeigt und er hat sich auch tatsächlich umgedreht!“
„Das kann Zufall gewesen sein“, tat Severus dieses Ereignis ab.
„Das erklärt aber nicht, warum ich ihn sehen konnte.“
Hermine nickte, dachte dabei an damalige Auslöser für Harrys Wahrnehmungsproblem. „Warst du zu dem Zeitpunkt verärgert?“
„Kein Stück“, kam wie aus der Pistole geschossen. Harry lehnte sich zurück, streckte die Beine und erwischte versehentlich Severus’ Fuß. „Oh, Entschuldigung.“ Ein zufriedenes Lächeln war bei Harry auszumachen, als er erklärte: „Ich habe mich eher gefreut. Darüber gefreut, dass Ginny das Haus nochmal sehen wollte, dass wir es vielleicht doch kaufen.“
„Und?“, hakte Hermine nach. „Was hat sie gesagt?“
Sein Strahlen war eigentlich Antwort genug, doch er drückte sich auch verbal aus. „Wir nehmen es.“
„Das ist schön. Hat ihr die Geschichte gefallen?“
Severus kam nicht mehr ganz mit. „Was für eine Geschichte?“
„Na, ich habe doch dieses Buch gefunden, als ich über den Geist recherchiert habe.“
Severus erinnerte sich dunkel. „Von dem Bruder geschrieben.“
„Richtig.“ Sie wandte sich an Harry. „Hat ihr also gefallen?“
„Ja, aber ich glaube, das war nicht der Grund, warum sie es sich überlegt hat. Ich denke vielmehr, sie wollte mir diesen Wunsch erfüllen.“
„Ist doch schön! Ich gratuliere.“
„Noch ist es ja nicht gekauft. Aber ihr seid jetzt schon zur Einweihungsparty eingeladen.“ Weil Severus die Nase rümpfte, stocherte Harry nach. „Du kommst doch auch, Severus?“ Das Brummen hörte sich nach vielleicht an.
„Zurück zu dem Geist.“ Severus lenkte das Gesprächsthema wieder in andere Bahnen. „Schildere die Begegnung.“

Ohne auch nur eine Kleinigkeit auszulassen erzählte Harry von der Besichtigung des Hauses, von dem Geist und selbst von dessen Kleidung. Der Blickkontakt mit Billy und dass der Geist auf Harry mit Rückzug reagierte, war gleichermaßen seltsam und interessant.

„Es scheint, als wollte er nicht stören“, vermutete Hermine laut. „Soweit ich weiß, haben mindestens zwei Familien das Haus gesegnet und explizit dem Geist befohlen, sich zurückzuziehen.“
„Offenbar ein gehorsamer Junge“, scherzte Severus. „Aber die Tatsache, dass du ihn sehen konntest …“ Mit einem Finger fuhr sich Severus über das Kinn. „Wie hell war es zu dem Zeitpunkt?“
„Hell! Ich meine, taghell. Die Sonne hat das ganze Zimmer geflutet. Der Geist ist sogar rausgekommen auf den Balkon und ich konnte ich deutlich sehen.“
„Sonne …“, murmele Hermine gedankenverloren.
Severus wollte noch einige Informationen Harry erhalten. „Wie durchsichtig war der Geist?“
„Sagte ich doch, genau wie Sir Nicholas. Ich habe keinen Unterschied festgestellt.“
„Der Geist ist durch das Glas der Fensterscheibe zurück in den Raum geschwebt?“ Auf Severus’ Frage hin nickte Harry. „Mmmh“, machte der Tränkemeister. „Und du warst zu dem Zeitpunkt in guter Stimmung?“
„In richtig guter Stimmung“, beteuerte Harry grinsend.
„Licht …“, hörte man eine nachdenkliche Hermine zu sich selbst sagen.
Wie üblich musste man Hermine dazu auffordern, ihre Gedankengänge preiszugeben, was diesmal Harry übernahm. „Eine Idee, Hermine?“
Als sie ihren Namen hörte, zuckte sie zusammen, so vertieft war sie in ihrer Überlegung. „Noch nicht, aber irgendwie formt sich da gerade was.“ Mit einem kreisenden Zeigefinger deutete sie auf ihren Kopf. „Ich habe noch nicht alles zusammen, aber ich bin mir sicher, dass es irgendwann Klick machen wird.“
„Und bis es soweit ist“, warf Severus ein, „kann Harry uns vielleicht verraten, ob zwischenzeitlich Ähnliches passiert ist. Hast du irgendwann mal wieder jemanden nicht sehen können?“
„Nicht, dass ich mir darüber im Klaren wäre.“
Severus stöhnte. „Du bist ein außergewöhnlich hartnäckiger Fall, Harry.“
Mit hängenden Schultern stimmte Harry zu. „Ja, ich weiß. Ich bin der Irre, der Leute ausblenden kann oder Unsichtbares sieht.“
„Es passiert in geschlossenen Räumen“, dachte Hermine laut nach, „und im Freien. Du hast auch einmal einen getarnten Demiguise gesehen, nicht wahr?“
„Ja, bei Luna.“
„Und du hast einmal die Magiefarben der Schüler gesehen, einfach so.“
Harry nickte. „Das war bisher das schönste Erlebnis.“
Wieder bekam Hermine diesen abwesenden Blick. „Licht“, sagte sie nochmals.
„Hermine, jetzt ist genug“, schimpfte Severus. „Wirf uns deine Gedankenhäppchen vor. Vielleicht können wir daraus“, Severus schaute skeptisch zu Harry hinüber und verbesserte, „vielleicht kann ich daraus etwas machen.“
Sie zögerte im ersten Moment, begann dann aber: „Sonne, Licht, Magiefarben, Korpuskel.“

Sofort überlegte Severus, ob er mit diesen Stichpunkten irgendetwas anfangen konnte. Als Hermine zu Harry schaute, fühlte der sich aufgefordert, etwas zum Thema zu sagen. Er schaute hilflos drein.

„Hund, Katze, Maus?“ Ein Schulterzucken untermauerte seine Hilflosigkeit. „Ich habe wirklich keine Ahnung, Hermine. Ich weiß, ich bin keine große Hilfe.“
„Musst du auch nicht sein, Harry. Überlass das Wissenschaftliche mal uns und du kümmerst dich um die ganzen Tiere, die du aufgezählt hast“, nahm Hermine ihn auf den Arm.
„Ich glaube, ich weiß, was dir im Kopf umgeht“, sagte Severus zu Hermine. Gleich darauf sah er Harry in die Augen, aber nicht wie ein Freund, sondern wie ein Heiler. „Harry, würde es dir ausmachen, mir eine Gewebeprobe deiner Netzhaut zu überlassen?“
Harry schien schockiert, was man an seinen weit aufgerissenen Augen ausmachen konnte, womit er nur noch mehr Sicht auf das begehrte Objekt freigab. „Was bitte?“
„Nein“, winkte Hermine ab, „ich glaube nicht, dass das auf organischer Ebene nachweisbar ist.“
„Mit einer Negativprobe hätten wir aber Gewissheit“, gab Severus zu bedenken.
Wenig begeistert weigerte sich Harry. „Ich will keine Gewebeprobe von meinem Auge abgeben!“
„Nicht doch vom Auge“, korrigierte Severus, „nur von der Netzhaut.“
„Ist nicht! Vergiss das schnell wieder.“
„Harry?“
Er schaute zu Hermine hinüber und verschränkte die Arme vor der Brust – Abwehrhaltung. „Ich gebe keine Proben, weder vom Äußeren noch vom Innern meines Körpers!“
Sie musste grinsen. „Ich wollte dich eigentlich nur fragen, ob du nochmal meinen Farbtrank nehmen würdest.“
„Klar, wenn es der gleiche Trank ist, den ich schon einmal genommen habe.“
Diese Aussagen bestätigte Hermine mit einem Kopfnicken. „Und außerdem würde ich gern, dass du demnächst mal mit zu meinen Eltern kommst.“
„Warum das?“ Harry wurde stutzig. Hermines Eltern waren Zahnärzte. „Ich gebe auch keinen Zahn her.“
„Ich habe da etwas völlig anderes im Kopf. Ich will nur testen, ob du etwas sehen kann, das man normalerweise nicht sieht.“ Bevor er fragen konnte, was sie meinte, fügte sie hinzu: „Außerdem möchte ich wissen, ob du den Zustand absichtlich herbeiführen kannst. Hast du schon mal meditiert, um Dinge sehen zu können, die unsichtbar sind?“
Harry schnaufte. „Ich habe nichts, was unsichtbar ist. Wie soll ich überprüfen, ob ich das nach einer Meditation sehen kann? Ich könnte mich höchstens bei Luna einquartieren und mit ihrem Affen üben, aber ich glaube, Neville und Ginny hätten was dagegen.“
Severus fiel etwas ein, das er sofort zur Sprache brachte. „Du hast den Tarnumhang. Wirf ihn deiner Frau über und übe ein wenig.“

Gesagt, getan.

Am nächsten Tag wollte Harry sein Experiment durchführen. Es mangelte nur an einem wichtigen Bestandteil: Ginny. Sie war mit Freundinnen unterwegs. Shoppen. Höflich, wie sie immer war, hatte sie sogar gefragt, ob er mitkommen wollte, doch er verspürte keine Lust, sechs Damen beim Schuheinkauf zu beobachten und sagte daher dankend ab.

Nicholas saß auf der Couch und betrachtete sich ein Bilderbuch, das er von vorn bis hinten, dann wieder von hinten nach vorn und nochmals von vorn begann. Die bewegten Bilder faszinierten den Jungen. Da kam Harry eine Idee. Er würde erst meditieren – was auch immer Hermine damit meinte – und dann würde er Nicholas den Tarnumhang überwerfen.

In seiner Kindheit hatte Harry einige Folgen der Serie Kung Fu gesehen. Er war sich sicher, dass Kwai Chang Caine einige Male meditierte, bevor die bösen Buben eins auf die Nuss bekamen. Das waren die Szenen, in denen er sich im Schneidersitz auf den Boden setzte, die Fingerkuppen aneinanderlegte und die Augen schloss. Hinsetzen, entspannen und in sich gehen. Schwer dürfte das nicht sein, dachte Harry. Er setzte sich auf den Boden und scheiterte prompt am Schneidersitz. Die Beine wollten ihm nicht gehorchen. Als er sie in die richtige Position gebogen hatte, bekam er einen Krampf in der Wade und stellte sich sofort wieder hin.

‚Verflixt!‘, dachte er. Er durfte nie jemandem erzählen, dass er beim Sitzen versagt hatte.

Harry machte es sich gemütlicher und zwar auf der Couch gegenüber von Nicholas, der noch immer mit seinem Buch beschäftigt war. Seine Hände legte Harry locker auf den Schenkeln ab. Als er sich wohlfühlte, schloss er die Augen. Sofort fiel ihm auf, dass es wahnsinnig schwer war, sich auf nichts zu konzentrieren. Es ging einfach nicht. Immer war irgendetwas in seinen Gedanken, dass ihn von der Meditation ablenkte. Harry versuchte, sich auf eine Farbe zu konzentrieren. Er schwankte dabei zwischen weiß und schwarz. Bei schwarz pendelte sich die Farbe vor seinem inneren Auge ein.

Nach etwa fünf Minuten verglich er unbewusst Gegenstände, die von schwarzer Farbe waren. Eine Erinnerung an den Fernseher der Dursleys rückte in den Vordergrund. In ihm lief Kung Fu. In seiner Naivität – nicht die kindliche, sondern die zu glauben, Vernon würde Verständnis für ihn aufbringen – fragte Harry, ob er eine Kung Fu-Schule besuchen dürfte. Vernon lachte. ‚Kung Fu? Dieser asiatische Mist? Ich zahle doch kein Geld, damit man dir beibringt, wie ein Hampelmann herumzuzappeln. Dudley, komm mal her.‘ Harrys Cousin kam auf der Stelle. ‚Zeig mal deinem Cousin, wie man treten kann. So wie Bruce Lee das immer macht.‘ Dudleys schwere Beine konnten sich nicht im 90 Grad-Winkel vom Körper abheben, und so graziös wie bei den Fernsehstars sah es nicht ein bisschen aus. Trotzdem schaffte Dudley es, gegen einen kleinen Tisch zu treten, der bei der Last auch noch zu Bruch ging. Natürlich war das Harrys Schuld, denn man musste ihm ja zeigen, dass man kein Geld ausgeben musste, um treten zu lernen.

Mit einem Male öffneten sich Harry Augen. „Woher kam denn das eben?“, fragte er sich selbst. Die Erinnerung stammte aus seinem siebten Lebensjahr, und er glaubte sie längst verschollen. Mit dem laienhaften Versuch einer Meditation hatte er sie ans Tageslicht gebracht. Harry streckte sich kurz, legte danach die Hände wieder auf die Schenkel. „Puh, dann auf ein Neues.“

Schwarz. Er stellte sich schwarz vor, bis ihm bewusst wurde, dass er rot sah und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Das Sonnenlicht, das ins Wohnzimmer schien, machte für ihn die Farbe seiner Augenlider sichtbar. Er bemerkte sogar, wenn eine Wolke vorbeizog, denn dann wurde es etwas dunkler. Vorbei war der Glaube, sich eine Farbe vorstellen zu können, solang man eine andere vor Augen hatte. Harry entschied, sich gar nichts mehr vorzustellen und auf das innere seiner Lider zu starren. Anstatt seinen Geist zu leeren, wie er es bei Okklumentikübungen immer getan hatte, begann er eine Diskussion mit sich selbst. Beziehungsweise gab er sich Instruktionen, um schneller zum Ziel zu gelangen.

‚Ich will, dass es einsetzt‘, sagte er in Gedanken zu sich selbst. ‚Ich will, dass ich Nicholas nicht mehr sehen kann.‘ Plötzlich sträubte sich sein Innerstes gegen diese Aussage. Es wäre ein Albtraum, den Jungen nicht mehr sehen zu können. Mit seinen eigenen Worten hatte er sich aus dem Zustand einer mittleren Trance zurückgeholt. Er blickte auf und sah Nicholas, der sich mittlerweile auf die Couch gelegt hatte. Wahrscheinlich war er müde. Die kleinen Augen waren nur noch halb offen.

„Bist du müde?“, fragte er den Jungen und stand auf. Den Tarnumhang hatte er über der Lehne abgelegt. Harry griff danach und bedeckte Nicholas, dessen Augen letztendlich zufielen. Harry gab sich einen Ruck und zog die Decke über den Kopf. Der Knabe war nicht mehr zu sehen. „Okay, keine Panik. Die Tür ist verschlossen, ich bin allein. Nicholas ist hier und hat nur meinen Umhang um, während er schläft. Es kann nichts passieren.“
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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Beitrag von Muggelchen »

Teil 2/3 von Kapitel 224

Leise, damit er Nicholas nicht wecken würde, ging Harry wieder zur anderen Couch, nahm die bewährte Position ein und schloss die Augen. Für einen Moment war Harry von der Frage abgelenkt, ob es richtig war, seinen Sohn in dieses Experiment zu involvieren. Einen weiteren Moment später versuchte er, an nichts zu denken – die schwierigste Aufgabe überhaupt. Wenn Erinnerungen aufblitzen wollten, vergrub er sie schnell wieder; nur die schönen, die wollten oft bleiben: Wie er Ron das erste Mal im Hogwarts-Express traf. Der erste Kuss von Ginny. Quidditch-Höhepunkte. Sirius, der am Leben war. Plötzlich erinnerte sich Harry an einen Moment aus der Schule, als Snape ihn wegen fehlenden Respekts wutentbrannt vormachte, wie er das Wort an seinen Lehrer zu richten hatte. Harry grinste, als er in Gedanken seine zugegebenermaßen freche Antwort hörte: ‚Sie brauchen mich nicht Sir zu nennen, Professor.‘

‚Okay, Harry‘, sagte er in Gedanken zu sich selbst. ‚Sammle dich, beruhige dich. Denke an nichts. Und vor allem: Höre auf, mit dir selbst zu reden. Das macht keinen guten Eindruck.‘

Hin und wieder wollte ein Geräusch seine Konzentration stören. Harry, der mittlerweile doch auf eine der Übungen zurückgegriffen hatte, die er während seines Okklumentik-Studiums erlernte, blockte alle äußeren Einflüsse ab und richtete seine Aufmerksamkeit auf sich selbst. Jede aufkommende Erinnerung schob er zurück in seinen Geist. Die letzte Erinnerung, die er wieder in die Tiefen seines Unterbewusstseins drängte, zog ihn unerwartet mit. Überrascht stellte er fest, dass er sich an einem Ort wiederfand, der auf sonderbare Weise unheimlich war, weil er ihn das erste Mal betreten hatte. Dennoch schien ihm diese Örtlichkeit vertraut. Es war dunkel, trotzdem heimelig und vor allem ruhig. Das hier, dachte Harry, stellte offenbar die letzte erreichte Stufe seiner Meditation dar. Er schaute sich um. Wie in Aquarien gesperrt konnte er einen Blick auf verschiedene Erlebnisse seines Lebens werfen, aber sie nahmen seinen Geist nicht mehr ein. Er konnte sie mit Abstand betrachten.

Als Harry versuchte, einen Fuß vor den anderen zu setzen, bewegten sich die Aquarien neben ihm und huschten an ihm vorbei wie die Landschaft am Fenster eines Zugabteils. Seine Beine bewegten sich jedoch kein bisschen. Er kam zu dem Schluss, dass er sich in diesem Ort durch Gedankenkraft fortbewegen konnte. Es war viel zu interessant hier, als dass er einen Gedanken daran verschwendete, die Meditation abzubrechen, um das eigentliche Experiment durchzuführen.

Die hellen Aquarien mit Erinnerungen, die ihm noch sehr präsent waren, wichen bald einigen finster aussehenden Türen. Gerade als er eine Tür öffnen wollte, bemerkte er weiter hinten die Umrisse eines großen Tieres. Harrys Herz begann zu pochen. Das Tier schien das zu hören, denn es drehte sich zu ihm um. ‚Verdammt!‘, sagte er in Gedanken. Diesmal war sich Harry sicher, dass das Tier ihn gehört hatte, denn es kam langsam auf ihn zu. ‚Verdammt, verdammt, ver…‘

„Verdammt!“, sagte er laut, als er wieder bei sich war. Sein Herz raste noch immer, während er sich fragte, was das gewesen sein könnte. „Das wird wohl heute nichts mehr.“ Harry ging hinüber zu Nicholas und wollte die Decke vom Kopf ziehen, da griff er ins Leere. „Was …?“ Seine Hand berührte die Sitzfläche. Hier war kein Kind mehr. „Ach du sch…“ Es klopfte. Aus purem Reflex sagte er: „Herein.“
Remus und Sirius traten ein. „Hallo Harry“, grüßte sein Patenonkel. „Ich dachte, wo ich schon gerade Remus besuche, könnte ich auch …“ Sirius hielt inne, weil Harry seltsame Bewegungen mit seinen Armen machte, als würde er die Luft abtasten.
„Macht bitte die Tür zu.“ Der Aufforderung kam Remus nach. Sirius hingegen näherte sich seinem Patensohn und wurde deshalb harsch dazu aufgefordert: „Beweg dich nicht!“ Wie angewurzelt blieb Sirius noch im Gehen stehen, die Beine einen halben Schritt auseinander.
„Sagst du uns auch, was los ist?“
„Ich habe Nicholas verloren!“
„Wie …?“ Sirius lachte kurz auf. „Wie kann man ein Kind einfach so verlieren?“
Mittlerweile kroch Harry am Boden entlang, als würde er Topfschlagen spielen, nur dass man ihm nicht die Augen verbinden musste. „Er hat meinen Tarnumhang.“

Remus, der noch immer bewegungslos an der Tür stand, schaute sich im Wohnzimmer um. In diesem Moment hörte man ein leises Giggeln.

„Psst! Habt ihr das gehört?“ Remus spitzte die Ohren, aber das Kinderlachen war verschwunden.
Sirius’ Lachen hingegen konnte man gut hören, bevor er sagte: „Der Kleine amüsiert sich prächtig über die dummen Erwachsenen.“ Ein Seufzer entwich ihm. „Würde ich jedenfalls tun, wenn ich er wäre.“
Harry blickte sich um, was Blödsinn war, denn er konnte Nicholas ja nicht sehen. „Woher kam das Kichern?“
Remus zuckte mit den Schultern. „Ich bin mir nicht sicher.“ Ein Geistesblitz. Aus seiner Tasche zog Remus einen Streifen Schokolade und wickelte ein Ende des Papiers auf. Mit der Süßigkeit winkte er hin und her. „Hier, Nicholas. Ein Stückchen Schokolade! Mmmm“, machte er, damit seine Worte auch von Kinderohren verstanden wurden.
„Damit wirst du ihn nicht hinterm Ofen hervorlocken, Remus.“ Harry schüttelte den Kopf, stand wieder auf. „Weil Ginny nicht da war, haben wir uns zum Mittag zwei Desserts gegönnt.“
„Schade.“ Gerade wollte Remus die Schokolade wegpacken, da sah er Sirius’ schmachtenden Blick. Er hielt seinem Freund das Stück entgegen. „Willst du?“
„Aber sicher, danke!“
Harry war noch immer verzweifelt. „Was mach ich jetzt nur?“
„Es gibt Zaubersprüche“, merkte Sirius an, „mit denen kann man solche Probleme lösen.“
Remus war anderer Meinung. „Ach, wozu gleich mit dem Stab wedeln? Lass ihm doch den Spaß. Ich würde vorschlagen, wir setzen uns erst einmal ganz vorsichtig. Irgendwann wird es ihm langweilig und er wird allein wieder zum Vorschein kommen.“

Harry, Sirius und Remus tasteten sich vorsichtig zu den Sitzmöglichkeiten vor, um nicht versehentlich auf Nicholas zu treten. Gegenüber von seinen Gästen blickte sich Harry immer wieder am Boden um. Vielleicht würde er einen unbedeckten Fuß sehen, eine Hand oder Haare.

„Harry“, begann Remus amüsiert, „es wird schon nichts passieren.“
„Es könnte ja sein, dass ein Stück von ihm unbedeckt ist.“
Sirius schnaufte belustigt. „Wenn ich mich recht entsinne, wart ihr damals zu dritt unter dem Umhang.“ Weil Harry nickte, sagte Sirius: „Es passen wahrscheinlich sechs Kinder von Nicholas’ Größe auf einmal unter den Tarnumhang.“
Harry seufzte. „Ich hoffe, das macht er jetzt nicht öfters, wo er weiß, dass man ihn damit nicht sehen kann.“
„Ach“, winkte Remus ab. „Er hat keine Ahnung, dass er unsichtbar ist, Harry. Das ist für ihn eine normale Decke. Du kennst doch die Spielchen von Kindern. Das ist genauso wie“, Remus bedeckte beide Augen mit den Händen, „‘Jetzt siehst du mich nicht mehr‘.“
„Ach du meine Güte!“, rief Sirius vorgetäuscht überrascht. „Remus, wo bist du nur hin?“ Langsam ließ Remus die Hände sinken und blickte mit verborgenem Lächeln in die schelmisch funkelnden Augen seines Freundes. „Ah“, machte Sirius erleichtert, „da bist du ja wieder.“

Von gegenüber hörte man Harry lachen – und dieses Lachen bekam ein kindliches Echo. Sofort schaute sich Harry um. Keine Spur von Nicholas. Mit einem Seufzer lehnte er sich zurück und versank im Polster.

„Was kann ich für euch beide tun?“, fragte Harry. „Was zu trinken?“
„Nein“, winkte Sirius ab. „Wir wollten nur …“
„Du wolltest!“, verbesserte Remus.
Sirius stöhnte und begann von Neuem. „Ich wollte nur fragen, ob du Malfoys Einladung annimmst.“
„Warum nicht? Ich habe Ginny gefragt und sie hat zugesagt. Sie freut sich schon besonders auf Susan und Charles.“
Sirius schien die Welt nicht mehr zu verstehen. „Ehrlich? Ihr wollt hingehen?“ Voller Unverständnis schüttelte er den Kopf. „Das ist Lucius Malfoy!“
„Der Mann deiner Cousine“, setzte Harry noch oben drauf.
„Danke, dass du mich daran erinnerst.“ Sirius seufzte theatralisch. „Er ist trotzdem ein Arschloch.“
„Sirius!“, schalte ihn Remus. „Bitte nicht solche Ausdrücke. Hier ist ein kleines Kind anwesend.“
„Aber keines, das ich sehen kann“, rechtfertigte sich Sirius.
Harry meldete sich zu Wort. „Remus hat Recht. Nicholas spricht schon ein paar Wörter nach. Schimpfwörter sollten wenn möglich noch nicht zu seinem Wortschatz gehören.“
Leicht nach vorn gelehnt fragte Sirius nach: „Tatsächlich? Er kann schon sprechen?“
„Nur nachahmen“, stellte Harry richtig. „Ich glaube nicht, dass er weiß, was die Worte alle bedeuten. Er weiß aber, was sich hinter ‚heia machen‘ verbirgt – und das mag er gar nicht.“ Aus irgendeiner Ecke hörte man ein Nörgeln. „Siehst du! Er mag es nicht.“
„Ach Harry“, Sirius schien uneins mit sich selbst, „ich weiß nicht, ob ich mir das antun möchte. Zu Lucius Malfoy gehen? Sein Geburtstag ist mir schnurz. Der Mann ist mir völlig egal. Ich will nicht, dass sich das rumspricht und die Leute glauben, ich wäre sein bester Kumpel oder so.“
„Hey“, meckerte Remus, „ich dachte, ich bin dein bester Kumpel.“
Seinen Patenonkel hätte Harry gern dabei, also schlug er vor: „Geh doch einfach mit Anne hin. Ted und Andromeda werden bestimmt auch da sein. Die bösen Leute sind auf jeden Fall in der Minderheit.“
„Die bösen Leute“, wiederholte Sirius mit verzogenem Mund. Er schnaufte herablassend. „Von mir aus komme ich, aber ich kann für nichts garantieren.“
„Du kannst versuchen, den ganzen Abend über nett zu bleiben“, riet Harry, der sich noch immer nach Nicholas umschaute.
Die Sorge wurde von Remus bemerkt, aber noch viel mehr interessierte ihn etwas anderes. „Wie ist es eigentlich dazu gekommen, dass der Kleine den Umhang hat?“
„Ich … ähm“, stockte Harry. „Es fing damit an, dass ich meditieren wollte.“ Die Augenbrauen seiner beiden Gäste schossen wie abgesprochen in die Höhe. „Na ja, Hermine hat gesagt, ich soll das mal versuchen. Wegen der ‚Leute-nicht-sehen-können-Sache‘.“
„Mmmh“, machte Remus nachdenklich. „Das erklärt das aber nicht ganz.“
„Ich dachte, wenn ich Nicholas unsichtbar mache, hätte ich ein Ziel, das ich erreichen kann. Hat nicht hingehauen.“ Einen Moment lang war er in Gedanken, bevor er sich mitteilte. „Ich habe was Komisches erlebt.“
„Was?“, fragte Sirius sofort nach.
„Als ich die Augen geschlossen habe und mich konzentrierte, da habe ich ein Tier gesehen.“
„In Gedanken?“
Harry nickte. „Das war echt gruselig.“
Auch Remus hatte Interesse an diesem Gespräch. „Was für ein Tier war das?“
„Ich weiß es nicht, aber es hat mich gehört. Als es auf mich zu kam, habe ich Angst bekommen und habe die Augen aufgemacht.“
Sirius’ Neugierde war geweckt. „Eine Ahnung, wie groß es war?“
Harry schüttelte den Kopf. „Es war überall dunkel. Ich weiß nicht, wie weit weg es war. Ich kann es nicht einschätzen.“ Für ihn völlig untypisch war Sirius still und überlegte, was Harry skeptisch machte. „Warum willst du das so genau wissen?“
„Weil ich glaube“, sagte Sirius vollkommen ernst, „dass du womöglich deinem Animagus gegenübergestanden hast.“
„Wirklich?“
Diesmal zuckte er mit den Schultern. „Bei mir war es ganz ähnlich. Nur dass der Hund mich umgerannt hat, als ich ihn gefunden habe. Hat sich offenbar sehr gefreut.“
„Ich habe eine Idee!“, brach es aus Harry heraus. „Sirius, würdest du dich bitte in Tatze verwandeln?“

Sirius gehorchte aufs Wort. Schon saß ein großer, schwarzer Hund neben Remus. Wie Harry es geahnt hatte, war Nicholas von dem Tier hin und weg.

„Woah“, hörte man den Jungen rufen. Ein paar unsichere Schritte später war der Tarnumhang von ihm abgefallen. Mit ausgestreckten Armen tapste Nicholas aus Tatze zu.
„Dachte ich’s mir.“ Harry schlug auf einen seiner Schenkel. „Dass ich nicht früher drauf gekommen bin. Mit Tieren kann man ihn anlocken.“ Remus und Harry sahen dabei zu, wie Nicholas nach einem Ohr von Tatze griff und leicht daran zog. Als es Tatze zu viel wurde, schüttelte er nur den Kopf. „Hermine hat gesagt, ihre Eltern hätten Kaninchen. Das wird was werden, wenn er die das erste Mal sieht.“
„Ah“, Remus wandte sich an Harry, „ihr besucht die Grangers?“
„Ja, glaub ich jedenfalls. Hermine hat mich eingeladen, weil sie irgendwas testen will. Und als ich das Ginny erzählt habe, hat sie sich selbst und Nicholas auch gleich eingeladen. Hermine weiß davon noch gar nichts. Ich hoffe, das ist in Ordnung.“
„Das ist es bestimmt.“

Als sich unerwartet die Tür öffnete und Ginny eintrat, waren alle Augen auf sie gerichtet. Einen Augenblick lang blieb sie verdutzt im Türrahmen stehen und betrachtete das Bild, das sich ihr bot.

„Hallo Schatz“, grüßte sie erst Harry. „Hallo Remus.“ Ihr Blick fiel auf den Hund. „Hi Tatze, und runter von der Couch!“ Mit einem Winseln hopste Tatze auf den Boden, womit er Nicholas zum quieken brachte.
Harry betrachtete seine Frau. „Wo sind die Tüten?“
„Was?“ Mehr als einen Umschlag hielt Ginny nicht in der Hand.
„Schuhe! Du willst mir doch nicht sagen, du hast kein einziges Paar gekauft.“
„Ich war gar nicht einkaufen, Harry. Das war gelogen.“ Mit einem Grinsen klärte sie ihn auf. „Ich war mit Ron bei dem Ärzteteam von Eintracht Pfützensee. Heute war nämlich mein Gesundheitscheck. Eigentlich dachte ich, dass man mir gleich heute sagt, ich wäre im Team. Damit wollte ich dich überraschen, aber ich muss auf die Ergebnisse noch ganze sechs Wochen warten. Sechs Wochen!“
Sie seufzte und ließ sich neben Harry aufs Sofa fallen. „Und weißt du, warum?“
„Warum?“
„Weil das Ärzteteam nach Bulgarien fliegt, um sich Krums Hüfte anzusehen. Kannst du dir das vorstellen?“ Sie musste grinsen. „Viktors Hüfte ist interessanter als Harry Potters Frau.“
„Dafür sind deine Hüften für mich interessanter“, besänftigte er sie mit einem Lächeln auf den Lippen.

Liebevoll schlug sie ihm zweimal aufs Knie. Ihre Hand ließ sie dort ruhen und blickte zu Nicholas. Der Junge tippte vorsichtig auf die feuchte Hundenase, strahlte dann seine Mutter an und fasste sich an die eigene Nase.

„Ja, das ist die Nase“, lehrte sie ihn.

Als Nicholas nochmals die Hundeschnauze berühren wollte, leckte Tatze seine Finger. Nicholas zog die Hand zurück und lachte. Als der Hund sich plötzlich zurück in Sirius verwandelte, was Nicholas so überrascht, dass er rücklings auf sein Gesäß fiel. Sirius half dem Jungen auf.

„Was führt euch eigentlich her?“, wollte Ginny wissen, blickte dabei abwechselnd zu Sirius und Remus.
„Ach, Sirius war nur neugierig, ob ihr beide auch zu Malfoys Geburtstag geht.“
„Klar“, sagte sie zu Remus, „warum auch nicht? Er wird sich hüten, irgendwelche Gemeinheit zu verteilten. Ansonsten wird man ihm nämlich Zunder geben, besonders aus den eigenen Reihen.“
„Habt ihr eine Idee für ein Geschenk?“
Ginny schaute kurz zu Harry, bevor sie Remus antwortete: „Das wird schwierig. Ich habe Susan gefragt und offenbar kennt sie ihren Schwiegervater noch immer nicht so gut, dass sie mir wenigstens einen Denkanstoß geben konnte.“
Harry fiel etwas ein. „Er steht auf Schwarzmagisches.“
„Was wir nicht besorgen werden“, hielt Ginny dagegen, „weil eine Aurorin anwesend sein wird, die das sicherlich sofort konfisziert.“
„Tonks wird bestimmt nicht …“ Aufgrund Ginnys Blick ließ er von der Idee ab. „War ja nur ein Vorschlag.“
Sie strich über sein Knie. „Wenn keine Kinder im Haus wären, würde ich ihm auch was Schwarzmagisches schenken, aber ich will es nicht verantworten, solange Charles da wohnt.“

Harry verstand, was Ginny meinte. Bei den Vorbereitungen der Hochzeit von Draco und Susan hatte Wobbel die schwarze Magie gespürt, die das Haus vergiftet haben soll. Mit allem, was er bisher erlebt hatte, unter anderem auch der leichte Magietransfer, der mit Hilfe von Hermines Trank sichtbar war, konnte er Ginnys Befürchtungen nachvollziehen. Dunkle Magie konnte die Menschen um sich herum langsam vergiften.

„Man könnte ihm“, Sirius hielt einen Finger in die Höhe, „Aktien von einem Muggelkinderheim schenken.“
„Was ist denn das für ein Quatsch?“, fragte Remus. „Seit wann gehen Muggelkinderheime an die Börse?“
„Aber du verstehst die Idee, die dahinter steckt?“
Remus nickte. „Und ich finde sie nicht gut. Dann könntest du ihm gleich einen Tritt in den Hintern schenken.“
„Vielleicht mache ich das sogar! Ist auf jeden Fall günstiger.“
In das Gespräch mischte sich Harry ein. „Ich finde nicht, dass man Malfoy mit einem fragwürdigen Geschenk provozieren sollte.“
„Wie schade.“ Sirius spielte den Enttäuschten. „Dann fällt der Modellbausatz von Askaban auch flach?“
Remus seufzte. „Sirius, bitte …“
„Wie wäre es dann mit einem Gutschein vom Honigtopf?“
Das Lachen kam von Ginny. „Ich glaube nicht, dass er sich darüber freuen würde.“
„Nicht?“, täuschte Sirius Unverständnis vor. „Albus würde Purzelbäume schlagen.“
„Aber nur, wenn sein Rücken das mitmacht“, warf Remus ein. „Mal ernsthaft: Ich habe mit Tonks und meinen Schwiegereltern in spe gesprochen und trotz etwas Hilfe von Narzissa haben wir absolut keine Idee, was man diesem Mann schenken kann.“
„Mmmh“, summte Harry gedankenverloren. „Ich werde mich vor der Feier noch mit Draco treffen, um was, ähm, zu besprechen. Ich werde ihn mal ausfragen.“
„Mach das, Harry“, stimmte Remus zu. „Es kann ruhig etwas Teures sein. Ich bin mir sicher, du erweist jedem der Geladenen einen Gefallen damit, wenn sie sich an dem Geschenk beteiligen dürfen.“
„Also was Großes, wo jeder was zugibt?“ Der Gedanke gefiel Harry. „Okay, das wird machbar sein.“

Um ein Geschenk für jemanden zu finden, mit dem man nicht gerade gut Freund war – den man früher sogar als Feind bezeichnet hatte –, war keine leichte Angelegenheit. Harry hätte noch genügend Zeit, um sich umzuhören, vor allem aber, um Draco zu fragen.

Als sich Remus und Sirius verabschiedeten, passte Sirius einen Moment ab, in dem er ein paar Worte mit Ginny wechseln konnte. Während Remus und Harry miteinander sprachen, hielt Sirius Ginny das Schreibset von Hermine unter die Nase.

„Könntest du es ihr bringen? Ich“, peinlich berührt schlackerte er mit dem Kopf, „hab’s vergessen.“
„Du hast es die ganze Zeit bei dir gehabt?“
„Ich sagte doch, ich hab es vergessen. Tu mir doch bitte den Gefallen und gibt es ihr zurück. Wäre nett, wenn du nicht erwähnen würdest, dass ich es spazieren getragen habe.“
Ginny lachte, nahm das Schreibset. „Jetzt soll ich das auch noch auf meine Kappe nehmen.“
„Dir wäre sie nicht böse. Wenn Severus allerdings davon Wind bekommen würde, werde ich mir ewig anhören müssen, dass Gryffindors nichts als einen luftleeren Raum im Kopf haben. Du weißt ja, wie er ist.“
„Ist ja nur ein Schreibset. Ich gebe es ihr, wenn wir uns bei den Grangers sehen.“
Sirius war erleichtert. „Vielen Dank!“
„Sirius, kommst du?“, rief Remus.

Einen Sonntag im Sommer konnte man auf verschiedenste Weise verbringen. Manche besuchten einen abgelegenen See, um in ihm zu baden. Zu ihnen gehörten Lucius und Narzissa. Bis zur Mittagszeit brachten sie ihrem Enkel das erste Mal das Vergnügen des Planschens näher. Dieser Tag löste eine Unbeschwertheit aus, die Lucius verloren glaubte. Hinter dem Begriff Freiheit verbarg sich viel mehr als nur aus dem Gefängnis entlassen worden zu sein. Mit dem heutigen Badetag war er der wirklichen Freiheit wieder greifbar näher gekommen, denn er empfand Freude am Leben – besonders als er Narzissa nassspritzte.

Der sonnige Tag wurde auch von anderen genutzt. Der Wald hinter dem Anwesen von Mr. Lovegood wirkte so märchenhaft, dass er als Erklärung für Lunas ganz besondere Liebeswürdigkeit herhalten könnte. Zusammen mit Neville wanderte sie gemächlich durch die Gegend. Sie waren nicht allein. Colin und Dennis begleiteten sie, um ein paar schöne Natur-Motive für einen Kalender zu suchen, den sie im nächsten Jahr herausbringen wollten. Luna hoffte, dass einer der beiden vielleicht sogar den Sprechenden Fisch im See fotografieren würde. Dann gäbe es endlich einen Beweis.

Von kleinen Fischen zu großen Monstern.

Am Loch Ness tummelten sich ein paar Touristen. Die Kamera immer bereit für einen verschwommenen Schnappschuss eines Stück Holzes oder anderen Treibguts, das man der Presse teuer verkaufen konnte. Unter den Besuchern befand sich Pansy, die sich ohne Krücken fortbewegen konnte. Dass ihre Beine an dem Abend nach Harrys Hochzeit so schmerzhaft gekribbelt hatten und sie am nächsten Morgen plötzlich laufen konnte als wäre nichts gewesen, erklärte ihr der sichtlich fassungslose Heiler kurzerhand mit einer spontanen Regeneration der noch verletzten Nerven und Muskeln, um sich nicht die Blöße geben zu müssen, dass er keine wissenschaftlich fundierte Erklärung für die Genesung hatte. An sich selbst bemerkte Blaise lediglich, dass die winzige Narbe am Kinn verschwunden war. Es war jedoch egal, dass sein Gesicht nun kein Überbleibsel aus Kriegstagen mehr trug. Das einzige Andenken an den Krieg trug er gerade auf dem Arm. Berenice strich über die ersten Stoppeln des heranwachsenden Bartes, den er ihr zuliebe wachsen ließ.

Auch die ganz harten Jungs ließen sich von den herrschenden Temperaturen nicht abschrecken. In einer Halle versammelten sich unzählige Besucher um einen Boxring. Darunter war Kingsley, der sich trotz angemessener Kleidung zwischen all den Muggel verloren fühlte. In der Menge machte er Geoffreys aus, der von Joel begleitet wurde. Als er Geoffreys die Hand reichte, fiel ihm eine Sache sofort auf.

„Sie tragen gar keine Uhr“, sagte Kingsley mit hörbarer Bewunderung.
Verlegen rieb sich Geoffreys die Stelle am Handgelenk. „Ich dachte, heute zählt für mich nur eine Zeit und das ist die Dauer des Kampfes.“
Joel schlug seinem Vater auf die Schulter. „Das ist die richtige Einstellung, Dad.“ Nachdem sie sich gesetzt hatten, stieß Joel seinen Vater mit dem Ellenbogen an. „Los, sag’s ihm.“
„Ja, ja“, Geoffreys mochte es nicht, gedrängt zu werden. Er wandte sich an Kingsley. „Ich wollte es eigentlich nach dem Kampf erzählen.“ Er lehnte sich nach vorn und sagte dicht an Kingsleys Ohr. „Der Premierminister persönlich hat mit mir gesprochen. Das MI5 will mich zurück. Für eine neue Einheit, die eng mit Ihrer Welt zusammenarbeitet. Kann man sich das vorstellen?“
„Ich kann“, bestätigte Kingsley mit einem angedeuteten Lächeln.
„Sie haben da nicht zufällig Ihre Finger im Spiel?“

Die Antwort hörte Geoffreys nicht mehr, denn die Zuschauer applaudierten, als die muskelbepackten Boxer den Ring betraten. Er würde es sicher später erfahren. Jetzt wollte er sich erst einmal dem Sport widmen.

Marie hatte für diesen Sonntag die Verabredung mit Sid auf den Nachtmittag verschoben, weil sie vormittags nochmals das Panagiotis-Heim aufsuchte. Der zweite Sonntag. Das zweite Gespräch mit Mrs. Malfoy.

Draußen auf der Bank, zwischen all den Kindern der anderen Besucher, fand Marie die alte Dame, aber nicht allein. Eine ältere Frau leistete ihr Gesellschaft. Als Marie sich der Bank näherte, hörte sie die andere Dame zu Mrs. Malfoy sprechen.

„Da ist wieder die hübsche Dame von letztem Sonntag. Sie hat ihre schwarzen Haare diesmal hochgesteckt“, erklärte die Heimbewohnerin.
Mrs. Malfoy hörte aufmerksam zu. Ihr Blick war unbeweglich auf die Kinder gerichtet, deren fröhliches Gelächter sie vernehmen konnte. „Miss Amabilis, richtig?“
„Ja, Mrs. Malfoy.“
„Kommen Sie, setzen Sie sich neben mich.“ Die andere Patientin ließ die beiden allein, so dass Mrs. Malfoy frei sprechen konnte. „Mr. Panagiotis erzählte mir, Sie schreiben Ihre Abschlussarbeit über damalige Behandlungsmethoden in Heilstätten?“
Marie log nicht. Ihre Überlegung, Vergissmich-Zauber und deren Auswirkung auf das Gehirn zu behandeln, hatte sie längst verworfen. „Ja, das stimmt. Im Archiv des Gorsemoors bin ich auf …“ Sie hielt inne, weil Mrs. Malfoy die Nase rümpfte.
„Das Gorsemoor war ein Albtraum“, flüsterte die betagte Dame.
„Ich möchte wirklich nicht, dass Sie an schlimme Tage erinnert werden.“
Mrs. Malfoy schüttelte den Kopf, bevor sie sich mit leblosen Augen Marie zuwandte. „Der schlimmste Tag war der, als mein Mann sein wahres Gesicht zeigte. Diesen Tag kann ich sowieso nicht vergessen. Nach all den Jahren … Es ist, als wäre es gestern gewesen. An jedes seiner Worte kann ich mich erinnern. Sie haben mehr geschmerzt, als …“ Mrs. Malfoy legte eine Hand aufs Herz, als wolle sie damit den Schmerz vertreiben.

Marie wusste nicht viel von dem Schicksal der alten Dame. Nur einmal hatte Lucius gegenüber Professor Puddle erwähnt, dass seine Mutter ihre Magie verloren haben soll. Zumindest hatte Puddle das in Lucius’ Krankenakte vermerkt. Dass die alte Dame während ihres Aufenthalts im Gorsemoor-Sanatorium auch erblindete, erfuhr Marie bei ihrem ersten Besuch vor einer Woche. Ein Schicksal, das ihr Sohn beinahe mit ihr geteilt hätte.

„Ihr Ehemann hat Sie eingewiesen?“, fragte Marie zaghaft nach.
Ohne auf die Frage einzugehen wollte Mrs. Malfoy wissen: „Haben Sie vor, Ihre Abschlussarbeit als Buch herauszugeben?“
„Wenn es interessant genug wird, dann will Mrs. Gorsemoor für eine Veröffentlichung sorgen.“
„Es wird interessant werden. Sie müssen sich nur dazu bereiterklären, dem Sachtext eine persönliche Note zu verleihen. Nicht nur die damaligen Verhältnisse in den Heileinrichtungen sollten behandelt werden, sondern all die vermaledeiten Umstände, die das überhaupt ermöglicht haben. Gesellschaftskritische Inhalte sind heute kein Tabuthema mehr, Miss Amabilis. Behandeln Sie ein persönliches Schicksal, einen bestimmten Fall.“
„Sie meinen Ihren Fall?“ Weil Mrs. Malfoy nickte, erklärte sich Marie bereit. „Es spricht nichts dagegen, biografische Elemente einzuarbeiten.“
„Dann hoffe ich, Sie haben starke Nerven, mein Kind.“ Mrs. Malfoy tastete nach ihrer Gehhilfe, einem weißen Stock, der zu der edel gekleideten Frau passte. Marie half ihr auf. „Wir sollten uns in mein Zimmer zurückziehen. Ich habe das Bedürfnis, mir alles von der Seele zu reden.“

Marie bot Mrs. Malfoy ihren Arm an, um sie ins Gebäude zu führen. Die Schilderungen, die sie an diesem Tage mit handschriftlichen Notizen festhielt, bewegten sie zutiefst. Es begann mit der niederschmetternden Erkenntnis, nicht mehr zaubern zu können. Ein Gendefekt, der damals noch hätte behandelt werden können. Anstatt zu helfen, sah Abraxas Malfoy den Ruf der Familie in Gefahr. Er entledigte sich seines Problems auf die einfachste Weise und schob seine Frau ab. Von Familie und Freunden getrennt, unfähig den Stab zu führen, verfiel Mrs. Malfoy verständlicherweise in Depressionen. Die Behandlungsmethoden aus der Sicht eines Heilers waren für Marie schon schwer nachzuvollziehen, doch mit dem Einblick in die Gedanken der Patientin rührte die Ungerechtigkeit zu Tränen.

Mrs. Malfoy sprach an diesem Tag das erste Mal über ihren Sohn und darüber, wie schlecht sie sich fühlte, den Jungen beim Vater lassen zu müssen.

Auch ein anderes Mitglied der Familie Malfoy redete sich gerade etwas von der Seele. Lucius war dabei weder leise noch gut gelaunt.

„Lucius“, Narzissa versuchte, ihn zu beruhigen. „Wenn dir die Gästeliste nicht zusagt, warum hast du die Einladungen überhaupt rausgeschickt?“
„Als hätte ich eine Wahl gehabt!“, warf er ihr vor. „Wer hat denn die Gästeliste verfasst?“ Narzissa blickte zu Boden, was ihm Antwort genug war. „In einem Anflug von Harmoniebedürftigkeit habe ich auch noch zugestimmt.“
Seine Frau seufzte. „Dann wäre es besser, die Einladungen zurückzuziehen, Lucius. Du könntest eine plötzliche Unpässlichkeit als Grund angeben.“
„Pfft“, entwich es ihm. „Was für einen Eindruck würde ich denn damit hinterlassen? Nein, ich werde es ertragen, ganz wie du es von mir erwartest.“ Wütend nahm er auf einem Sessel im grünen Salon Platz, stützte einen Ellenbogen auf die Lehne und begann – für ihn völlig untypisch – an einem Fingernagel zu knabbern.
„Wie ich es erwarte?“, wiederholte Narzissa ungläubig.
„Du hast darauf bestanden, dass ich die Familie einlade. Dabei ist dir vollkommen egal gewesen, ob ich mit denen etwas zu tun haben möchte oder nicht.“ Unruhig rutschte er auf dem Sessel herum, bevor er wieder aufstand. „Andromeda mag ja noch erträglich sein, aber ihr Gatte …“ Er schnaufte. „Ein Muggelgeborener, der mich hasst.“
„Das ist nicht wahr“, hielt Narzissa dagegen.
„Fällt dir denn nichts auf, Teuerste?“ Weil sie den Kopf schüttelte, erklärte er: „Unter unseren lieben Verwandten sind Menschen, die wir damals nicht mal mit der Kneifzange angefasst hätten. Dieser Werwolf! Nicht zu vergessen deine Nichte, die Aurorin.“ Für Tonks war er seiner Meinung nach noch immer ein Todesser, auch wenn er das dunkle Mal nicht mehr trug. „Aber viel schlimmer, und das werde ich dir nicht verzeihen, dass du mich dazu bewegt hast, ist dein Cousin und dessen Frau!“ Kopfschüttelnd ging er auf und ab, sein Gesicht rot vor lauter Aufregung. „Ein Muggel! Ein Muggel in meinem Haus!“ Narzissa ersparte es sich ihn darauf hinzuweisen, dass das Haus nicht mehr ihm gehörte. Lucius kam jedoch selbst drauf und ergab sich der Selbstverspottung: „Ach nein, es ist ja nicht mehr mein Haus. Es gehört unserem Sohn, der nebenbei erwähnt ein Halbblut geheiratet hat. Ihre Mutter, ebenfalls ein Muggel. Weißt du, wie ich mich dabei fühle, wenn ich nur nach eurer Pfeife tanzen muss?“
„Lucius, bitte …“
„Bitte was? Ich soll mich nicht aufregen? Aber ich rege mich auf!“ Zum Ende hin war er lauter geworden. „Potter! Granger!“ Eine Blumenvase wurde vom Tisch gefegt. „Die würden mich lieber in Askaban verrotten sehen.“ Er ging zum Fenster und verschränkte die Arme vor der Brust, damit nicht versehentlich noch andere Gegenstände zu Bruch gehen würden. „Ich kann nur hoffen, dass alle genug Grips haben zu wissen, dass sie hier unerwünscht sind und deshalb der Feier fern bleiben, ansonsten ...“
„Was?“
„Ansonsten sollte ich mir vielleicht einen Strick zum Geburtstag wünschen.“
„Jetzt übertreibst du aber wirklich, Lucius.“

Vor der Tür zum grünen Salon lauschte Draco den Worten seines Vaters. Dass sich Susan anschlich, bemerkte er erst, als sie eine Hand auf seinen Arm legte.

„Streiten Sie wieder?“, fragte Susan leise.
Draco presste die Lippen zusammen und nickte. „Vielleicht hätte er sein Geburtstag in diesem Jahr besser ausfallen lassen.“
„Er muss es ja irgendwann mal lernen.“ Aus ihren Worten hörte er ein wenig Traurigkeit heraus. Erst als Draco Susan an die Hand nehmen wollte, bemerkte er, dass der Platz schon besetzt war. Sie hatte Charles an die Hand genommen. Mit der anderen rieb sein Sohn sich die Augen. „Gerade aufgestanden?“
„Nein, bereit für das Mittagsschläfchen, würde ich sagen“, korrigierte Susan.
Charles streckte seine Hand nach Draco aus. Er wollte hochgenommen werden, was Draco ihm nicht abschlagen wollte. „Dann werden wir dich mal ins Bettchen bringen.“ Susan folgte den beiden die Treppe hinauf. „Harry hat sich übrigens für nächste Woche angemeldet.“
„Wann kommt er? Du weißt, ich muss bis 18 Uhr arbeiten.“
„Er kommt schon zum Mittag.“

Susann seufzte. Sie war die Einzige im Hause Malfoy, die das Haus verlassen musste, um Geld zu verdienen. Dennoch machte ihr der Beruf Spaß, aber er war bei weitem nicht mehr so aufreibend wie zu Kriegszeiten. Auf einer Seite ein gutes Zeichen. Die Abteilung für magische Strafverfolgung hatte eine Verschnaufpause verdient.

Mit dem Familienleben waren unzählige Menschen beschäftigt, manche von ihnen damit sogar überfordert.

Severus litt zwar nicht unter Soziophobie, aber dennoch machte sich eine für ihn spürbare Veränderung bemerkbar, die er vor Hermine zu verbergen versuchte. Die Heilung seiner Seele brachte offenbar nicht nur Vorteile mit sich. Was ihn früher völlig kalt gelassen hätte, brach mit einem Male unkontrolliert über ihm zusammen. Der bevorstehende Besuch bei ihren Eltern löste auf emotionaler Ebene Stress aus. Seine eigene, überhöhte Erwartungshaltung an sich selbst machte ihm darüber hinaus zu schaffen. Der Grund für die seelische Belastung war die Tatsache, dass er für die Grangers nun nicht mehr nur den Geschäftspartner der Tochter darstellte, sondern den Verlobten. Die letzte Gelegenheit, bei der er den Grangers gegenübergetreten war, war die Hochzeit von Harry gewesen. Von ihrer Tochter hatten sie dort zwischen Tür und Angel von der Bindung erfahren. Nun stellten sich bei Severus unerwartet gewisse Befürchtungen ein, die er sich nicht näher erklären konnte, aber sie hatten auf jeden Fall mit der Erwartungshaltung ihrer Eltern zu tun. Das war das Problem, dachte er entnervt: Er wusste nicht, was sie von ihm erwarteten. Womit er jedoch rechnete waren Fragen seitens Mr. Granger – Joshua –, die möglicherweise unangenehm tief in die Privatsphäre eindringen könnten. Für Severus war das private Leben schon immer etwas wohl Behütetes, geradezu etwas Heiliges gewesen, daher benötigte es in seinem Fall nicht einmal pikante Fragen, die dazu führen würden, sich angegriffen zu fühlen.

„Severus?“ An der Tür zur Küche riss Hermine ihn aus seinen Gedanken.
„Das ist mein Name.“
„Harry ist hier“, sagte sie mit gedämpfter Begeisterung, die nicht ihre eigene widerspiegelte, sondern seine vorhersehen wollte. „Mit Ginny und Nicholas.“
„Ah“, stocksteif erhob er sich von seinem Stuhl und trat in den Flur. Er betrachtete die kleine Familie, die die Treppe hinunterkam. „Ein Familienausflug. Wie wunderbar!“, sagte er humorlos. „Dann machen wir das Ganze doch komplett.“ Er zog seinen Stab und sprach einen Accio. Die Leine des Hundes kam angeflogen – und hinter ihr her rannte der Hund aufgeregt die Treppe hinunter. Severus leinte ihn an. „Jetzt können wir gehen.“
Über Severus’ Handlung erstaunt fragte Hermine ihren Kater: „Willst du auch mitkommen?“

Fellini schien verstanden zu haben. In Windeseile machte er kehrt und rannte durch die Luke in der Tür ins Freie.

„Kater müsste man sein“, hörte Hermines Severus murmeln. Seine Aussage missfiel ihr.
„Warum? Weil du dann nicht mit zu meinen Eltern müsstest?“, fragte sie ein wenig giftig, so dass zumindest Harry die leichte Spannung zwischen den beiden bemerkte.
„Nein, weil ich dann ich wenigstens gefragt worden wäre.“
Hermine machte keine Szene. Als erwachsener Mann könnte er selbst entscheiden, ob er mitkommen wollte oder nicht. Sie richtete das Wort an Ginny und Harry. „Gehen wir.“ Severus ließ sie die Wahl, ob er folgen wollte.

Nachdem sie über den Tropfenden Kessel eine Seitenstraße der Muggelwelt betreten hatten, schlug Hermine vor, das kurze Stück bis zum Haus ihren Eltern zu laufen.

„Ich bin für eine Wanderung durch Muggellondon nicht angemessen gekleidet“, warf Severus ein. Er war der Einzige in voller Zauberermontur, inklusive des leichten Sommerumhangs – in schwarz, versteht sich.
„Das haben wir gleich.“ Harry zog seinen Stab. Noch bevor Severus Gelegenheit bekam, seinen Einspruch kundzutun, trug er eine schwarze Hose und ein schwarzes T-Shirt, was er sofort bemängelte. Außerdem schmerzte der Zauberstab, der jetzt unter dem Shirt aus dem Hosenbund lugte und ihm in die Rippen stach.
„Lange Ärmel bitte.“
„Wir haben 27° Celsius!“, erinnerte Harry ihn an die Temperaturen des heutigen Tages.
„Dann werde ich wohl zurückgehen müssen, um mich umzukleiden.“ Harry seufzte. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass sie ungestört waren, zauberte er die Ärmel von Severus’ Shirt lang. „Und bitte etwas mehr Kragen.“
Dem Wunsch kam Harry nach, konnte sich aber nicht verkneifen zu sagen: „Du wirst eingehen wie eine Primel.“
„Seit wann kennst du dich mit Blumen aus? Der Blütenstaub welcher Primelart beinhaltet einen Wirkstoff, der für eine bessere Blutgerinnung sorgt?“
„Ähm …“ Kalt erwischt, dachte Harry.
Hermine übernahm den Part und half ihm, wie früher so oft, aus der Patsche. „Die gelbe Aurikel. Können wir jetzt bitte?“

Auf dem Weg durch einen kleinen Park lief Harry etwas langsamer, damit Severus’ aufschließen konnte. Als sie auf gleicher Höhe gingen, wartete Harry einen Augenblick, falls Severus danach war, den Anfang zu machen. Es kam nichts.

„Ist es denn in Ordnung“, begann Harry leise, „dass wir heute mitkommen?“
„Ja“, kam es sofort zurück, „dann stehen meine Chancen besser, von Mr. Granger nicht unter Dauerbeschuss genommen zu werden. Dafür im Voraus schon einmal meinen herzlichen Dank.“
Harry runzelte die Stirn. „Ich dachte, ihr versteht euch ganz gut.“
„Wir verstanden uns einigermaßen, als ich derjenige war, der die Hälfte der Apotheke übernommen hat.“
Harry konnte sich nicht vorstellen, was in Severus’ Kopf vorging. „Und das soll sich jetzt geändert haben?“, fragte er unsicher.
„Ich habe keine Ahnung“, blaffte Severus zurück.

Weil Severus so gereizt war, ließ Harry ihn in Ruhe, keineswegs aber allein. Er lief neben ihm her. Irgendwann wechselte die Leine den Besitzer, so dass Harry genau wie damals den Hund führte. Auf diese Weise hatten sie sich näher kennengelernt. Severus würde es zwar nie zugeben, aber Harrys Anwesenheit hatte eine beruhigende Wirkung auf ihn.

Das Haus der Grangers war bald erreicht. Sie passierten bereits den kitschigen Zwerg im Vorgarten, den Severus’ Hund erst einmal beschnüffeln musste. Die Vordertür öffnete sich, noch bevor sie die Stufen erreicht hatten. Mrs. Granger strahlte und war darüber erfreut, Harry und Ginny auch mal wieder zu Gesicht zu bekommen. Bei der Begrüßung „Hallo Kinder“ zog Severus lediglich eine Augenbraue in die Höhe.

„Guten Tag, Severus.“ Jane schüttelte ihm die Hand und blickte ihm, wie es sich gehört, dabei in die Augen. Mit dem warmen Blick, den sie ihm schenkte, fühlte er sich willkommen. Das Problem war aber auch nie Hermines Mutter gewesen. „Kommt doch alle rein, oder geht besser gleich ums Haus in den Garten.“
Hermine war verzückt. „Wir essen im Garten?“
„Das Wetter müssen wir doch ausnutzen. Außerdem hat dein Vater das Auslaufgitter für die Kaninchen aufgebaut.“

Severus war sich nicht sicher, wie lange Harry samt Familie bei den Grangers bleiben würde. Fest stand, dass der heutige Tag keinen reinen Familienbesuch darstellte. Severus befürwortete die Anwesenheit von Harry. So müsste er nicht befürchten, unentwegt den Fragen der Schwiegereltern in spe ausgeliefert zu sein. Andererseits könnte es unangenehm werden, sollte Joshua Themen ansprechen, die Severus’ Privatbereich aufs Äußerste verletzten. Noch viel unerfreulicher wäre es, sollte sich Severus dazu veranlasst sehen, Joshua vor allen anderen in seine Grenzen zu weisen.

Gerade wo Severus an Hermines Vater dachte, kam der auch schon ums Haus herum und begrüßte als Erstes seine Tochter auf die bekannte, herzliche Weise. Zu Severus Erstaunen bekam Harry nicht nur einen Händedruck. Joshua Granger zeigte mit einer Hand auf Harrys Schulter, wie angetan er von dem Besuch war. Besagte Hand legte sich einmal kurz in väterlich liebevoller Geste auf Harrys Nacken, dann zwischen die Schulterblätter, um den jungen Mann in Richtung Garten zu weisen. Nachdem Harry an Hermines Vater vorbeigegangen war, fiel Joshuas Blick auf Severus. Das breite Lächeln reduzierte sich auf eine normal höfliche Mimik.

„Severus.“ Joshua nickte ihm zu. Für Severus war schwer einzuschätzen, warum man ihn mit einem Kopfnicken abspeiste, während Harry all den Ausdruck des Willkommens erfahren durfte. Hermines Vater hob die Hand und wies den Weg, während Severus noch darüber nachgrübelte, wie willkommen er bei Joshua war. Die Ahnung beschlich ihn, dass Joshua nach einiger Zeit des Nachdenkens zu dem Schluss gekommen sein muss, dass Severus zwar ein tüchtiger und somit gern gesehener Geschäftspartner der Tochter war, nicht aber den bevorzugten Typus des Schwiegersohns verkörperte. Harry kam diesem Typus offensichtlich viel näher. Aufgeschlossen, immer freundlich und im Großen und Ganzen das, was Harry immer sein wollte: normal. Severus hingegen griesgrämig, mundfaul und reserviert.

Von den Kaninchen war Nicholas hin und weg. Harry, der Hund, ebenfalls. Beide liefen begeistert am Gitter des Geheges umher und versuchten, eines der Kaninchen durch den Zaun hindurch zu berühren. Auch wenn ihm das fröhliche Geschrei des Kindes nach einer halben Stunde bereits auf die Nerven ging, sagte Severus nichts, denn er war froh, unsichtbar zu sein. Konversation in einer gemütlichen Runde lag Harry und er war es, der die Grangers unterhielt, sie über Neuigkeiten unterrichtete und dann und wann einen Witz zum Besten gab. Severus wurde in Ruhe gelassen und konnte sich seinem Kaffee widmen.

„Harry?“ Es war Hermine, die nach der Einnahme von Kaffee und Kuchen seine Aufmerksamkeit erlangen wollte.. „Ich wollte doch einen Test mit dir machen.“
Hermines Vater runzelte die Stirn. „Was denn für einen Test, Schätzchen?“
„Ach, ich will nur was überprüfen. Dafür brauche ich mal euren Fernseher.“
„Du weißt ja, wo er steht.“

Mit Harry und Hermine verabschiedete sich leider auch die gemütliche Stimmung am Kaffeetisch. Stille kehrte ein. Severus’ einzige Hoffnung war Ginny, doch ihr lagen Gespräche offenbar weniger, obwohl sie immer nett antwortete, wenn Jane oder Joshua das Wort an sie richteten. Es dauerte nicht lang, da landete Joshuas Blick auf Severus.

„Und, Severus?“ Joshua schlug sich auf die Oberschenkel und rieb seine Handflächen auf dem Stoff der Hose. Ein schlechtes Zeichen, befürchtete Severus. Jeden Moment würde man ihm mit einer Nachttischlampe ins Gesicht leuchten und ihn mit Fragen bombardieren.
Zu allem Übel verabschiedete sich der Good-Cop, denn Jane erhob sich. „Ich werde mal den Tisch abräumen.“
„Ich helfe Ihnen.“ Für Ginny kam die Gelegenheit, sich ebenfalls zurückziehen zu können, gerade richtig.

Die beiden Frauen hatten im Nu den Tisch geräumt und verschwanden in der Küche. Severus hatte seinen Blick auf den Hund gerichtet. Er musste grinsen, als Harry Nicholas umrannte, weil er am Zaun entlang einem davonhoppelnden Kaninchen nachjagte. Das Bild der kindlichen Unbeschwertheit weckte in Severus keine Erinnerungen an die eigene Kindheit. Die harsche Stimme von Joshua hingegen schon. Der war lauter geworden, weil Severus schon zweimal nicht auf die Nennung seines Namens reagiert hatte.

Severus wandte sich mit distanzierter Gelassenheit an seinen Gastgeber. „Entschuldigen Sie, ich war wohl einen Moment in Gedanken. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?“
„Ich fragte, ob mit der Apotheke alles gut läuft.“
„Alles bestens, danke der Nachfrage.“

Joshua wartete, doch mehr Informationen bekam er nicht. Severus war nicht in der Stimmung.

Im Haus erging es Harry ähnlich. Er war nicht in der Stimmung, die Augen zu schließen und einen Moment lang in sich zu gehen. Hermine hatte ihn auf die Couch im Arbeitszimmer ihrer Eltern gesetzt und verlangte von ihm das Unmögliche.

„Bitte, Harry. Konzentriere dich darauf, mehr sehen zu können als andere Menschen.“
Harry schüttelte den Kopf. „Das funktioniert so nicht, Hermine. Ich habe es ausprobiert, habe sogar meditiert – ich glaub zumindest, dass das als Meditation durchgehen würde. Ich konnte Nicholas trotz Tarnumhang nicht sehen.“
„Der Affe bei Luna trug keinen Tarnumhang.“
„Racker.“
„Wie bitte?“
„Der Affe reißt Racker. Und auch wenn er keinen Tarnumhang getragen hat: Du hast selbst gesagt, aus den Haaren dieser Tiere webt man solche Umhänge.“
Das war wahr, dachte Hermine. „Und was war mit den Farben der Schüler? Die konntest du alle sehen, obwohl du sie nicht hättest sehen dürfen.“
„Das war ein blöder Zufall, den ich nicht ein Stück beeinflussen konnte. Ich habe mich in dem Moment an die eigene Schulzeit erinnert und das hat so ein wohliges Gefühl ausgeslöst.“ Mit einer Hand fuchtelte er in der Nähe seines Bauches herum. „Ich habe mich einfach gut gefühlt. Ich weiß nicht, wie ich das reproduzieren kann.“
„Indem du an was Schönes denkst?“, wollte Hermine ihn motivieren. „Der Test, den ich machen möchte, wird sehr wahrscheinlich nicht funktionieren.“
„Warum sitzen wir denn überhaupt hier?“
„Ich will es trotzdem ausprobieren.“
„Erklärst du mir auch, was du vor hast?“ Bevor sie den Mund öffnen konnte, bat er: „Leicht verständlich.“
„Also gut, Harry. Bei dir tritt die Wahrnehmungsveränderung immer nur teilweise ein, niemals vollständig. Woran ich noch lange zu knabbern haben werde ist der Tag, an dem du die beiden Männer in der Winkelgasse sehen konntest, aber sonst niemanden mehr. Dafür habe ich keine Erklärung. Eine Theorie habe ich nur dafür, dass du manchmal Dinge sehen kannst, die niemand sonst sieht. Die Magiefarben zum Beispiel.“ Harry nickte, woraufhin Hermine fortfuhr. Er würde sie schon stoppen, sollte er nicht mehr folgen können. „Man geht davon aus, dass Magie genau wie Licht aus Korpuskeln besteht.“
„Jetzt wird’s mir zu hoch.“
„Ich schraube ein wenig zurück“, versicherte Hermine. „Licht ist unsichtbar.“
„Aber …“ Seinen Einspruch schluckte er hinunter, denn als er genauer darüber nachdachte, schien sie Recht zu haben.
„Nehmen wir“, sie zeigte nach vorn, „den Fernseher. Tageslicht fällt auf ihn und es wird von dem Gerät absorbiert wird. Der Fernseher strahlt im Gegenzug andere Photonen aus, deswegen siehst du ihn. Wenn aber nichts da ist, was das Licht absorbiert, dann sieht man auch nichts. Die Demiguise können auf magische Weise verhindern, dass ihr Fell Licht absorbiert oder abgibt, also sieht man sie nicht mehr.“
„Und wie machen die das?“
Hermine schüttelte den Kopf. „Ich sollte es einfach halten, Harry. Wenn ich jetzt mit der Biologie der Affen und deren magischer Fähigkeiten anfange …“
„Schon gut, erzählt einfach weiter.“
„Wenn etwas unsichtbar ist, ist es nur für das menschliche Auge nicht wahrnehmbar, aber ein anderes könnte es sehen.
„Darf ich eine Frage stellen?“
„Klar.“
„Du sagst, ein anderes Auge könnte es sehen, obwohl ein menschliches es nicht sieht?“
Hermine nickte. „Eine Schlange zum Beispiel. Die bezeichnen wir als blind, aber sie kann mehr sehen als wir, Harry. Sie sieht Wärme.“
Über seiner Nasenwurzel bildete sich eine dreieckige Falte. „Das Ganze wird doch wohl nichts damit zu tun haben, dass ich ein Parselmund bin?“
„Ich, ähm, das habe ich noch gar nicht bedacht. Möglich wäre einiges.“ Sie machte sich die gedankliche Notiz, Harrys Fähigkeit, mit Schlangen sprechen zu können, zu berücksichtigen. „Aber zurück zum Sehen. Umgebungsbedingungen spielen in Bezug auf Licht und Sichtbarkeit natürlich eine große Rolle – in physikalischer Hinsicht. Wir müssen im Gegensatz zu Muggeln aber auch die magischen Einflüsse berücksichtigen. Dass Zauberer und Hexen tagtäglich naturwissenschaftliche Unmöglichkeiten vollbringen, muss ich wohl nicht extra hervorheben. Wir können die Gravitation beeinflussen, formen eine beliebige Masse nach unserem Wunsch, krümmen Raum und Zeit ...“ Harry hatte verstanden, so dass sie die Aufzählung nicht fortführte. „Trotzdem gibt es natürlich auch in unserer Welt Atome, Moleküle, Teilchen und Wellen. Mein Farbtrank kann einen Teil der magischen Teilchen und Wellen sichtbar machen, weil er sich einfach an sie haftet.“
„Und bunt macht“, warf Harry ein.
„Nicht ganz. Die Teilchen in meinem Trank sind farbneutral. Sie legen sich um die Magieteilchen und wirken“, sie fuchtelte mit den Händen umher, „in etwa wie ein Wassertropfen, der Licht brechen kann. So siehst du die einzelnen Farben, aber nicht mein Trank macht das alles bunt, sondern die Intensität der Magie.“
„Hermine, ich glaube, ich bin heute nicht sonderlich aufnahmefähig.“
„Ich bin aber noch lange nicht auf den Punkt gekommen.“
Harry schüttelte den Kopf. „Ich versteh es nicht. Ehrlich nicht. Tut mir leid.“
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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Teil 3/3 von Kapitel 224

Sie seufzte, bevor sie unerwartet den Fernseher anschaltete. Ein Nachrichtensprecher unterrichtete von einem Einbruch auf David Beckhams Anwesen, was Hermine so interessant fand, dass sie auf der Stelle durch die anderen Sender schaltete. Ein Cartoon, eine Werbesendung, eine Soap-Opera, andere Nachrichten, noch eine Werbesendung, eine Dokumentation, eine Werbesendung und ein Dauerverkaufssender. Mit dem Programm wäre ein Fernseher sicherlich keine Bereicherung für die Zaubererwelt.

Diesmal seufzte Harry. Ohne dass Hermine es bemerkte, schloss er die Augen. Er glaubte zwar nicht, dass sich etwas tun würde, aber er versuchte sich zu konzentrieren. Ein wenig von dem, was sie erklärt hatte, glaubte er sogar zu verstehen, was daran liegen mochte, dass er sich ausgeglichen fühlte. Die Aufregung des heutigen Tages bestand nur darin, als Gast der Familie Granger an einem anderen Ort zu sein. Ein Ort, der ihm gefiel. Es war ihm möglich, zu entspannen. Das Haus von Hermines Eltern war ähnlich gebaut wie sein Traumhaus, nur dass hier die Nachbarn gleich hinter den Zäunen lebten. Mit Herzklopfen erinnerte sich Harry an den Geist, den er in seinem zukünftigen Haus gesehen hatte. Ohne es aufhalten zu können, schossen ihm einige Momente durch den Kopf, bei denen er Leute nicht sehen konnte. Sirius, Remus, die Quidditch-Spieler. In diesem Augenblick fand Harry für sich selbst heraus, dass er es lieber mochte, Dinge zu sehen, die andere nicht sehen konnten. Die Titelmelodie einer Fernsehserie ließ ihn die Augen öffnen. Kung Fu.

„Die 105. Wiederholung“, nörgelte Hermine.
„Ich hab die 68. Wiederholung gesehen, komplett“, behauptete er grinsend. Im Fernsehen setzte sich Caine gerade hin, um in sich zu gehen. Mit ausgestrecktem Finger zeigte Harry nach vorn. „Das habe ich nicht hinbekommen.“
„Was?“
„Schneidersitz“, erwiderte er. „Kann ich nicht. Stelle ich mich zu blöd an.“
Hermine lächelte. „Falls es dich tröstet, Harry, ich kann es auch nicht.“

Bei der folgenden Werbepause schaltete Hermine weiter. Harry bemerkte unten am Fernseher, genau dort, wo der rote Punkt leuchtete, wenn Hermine die Fernbedienung betätigte, ein bläuliches Licht. Er dachte sich nichts dabei. Erst als es mit der Zeit grünlich wurde, fragte er sich, ob er ihr das mitteilen sollte.

„Siehst du da unten das Licht?“ Um es genauer zu zeigen, stand er auf und kniete sich vor den Fernseher.
„Das ist der kabellose Empfänger am Fernseher.“
„Weiß ich doch. Ich wundere mich nur, warum es erst blau war und jetzt grün.“
„Wie bitte?“ Hermine sprang von der Couch und hockte sich neben Harry. Beide blickten auf die dunkelrote Fläche aus Plastik. „Das ist rot.“
„Den roten Punkt sehe ich auch aufleuchten, wenn du drückst, aber in der Nähe hier“, mit dem Finger zeichnete er einen Umriss in die Luft, „wird es grün.“
Die Freude, die Hermine empfand, konnte sie nicht verbergen. „Das ist genau das, was ich meine, Harry! Ich glaube, du kannst mehr Licht sehen als andere Menschen.“
„Mehr Licht?“
„Vielleicht sogar das ganze Lichtspektrum!“
„Hermine?“
Sie atmete tief ein und aus, bevor sie auf die rote Abdeckung am Fernseher tippte. „Das hier unten, Harry, ist nichts anderes als ein Infrarotempfänger. Du scheinst das Licht zu sehen, wenn es von der Fernbedienung auf den Fernseher trifft und zurückgeworfen wird.“
„Warum aber blau und grün?“
Sie hob und senkte die Schultern, spitzte dabei die Lippen. „Ich habe keine Erklärung. Vielleicht hat das damit zu tun, dass der Fernseher langsam wärmer wird. Das könnte heißen, du siehst Infrarotlicht eventuell in Falschfarben. Ich habe keine Ahnung, wie es aussehen muss, wenn man wirklich Wärme sehen kann. Ich werde in die Bibliothek gehen müssen.“
Diese Aussage amüsierte Harry. „Im Zweifelsfall …“
„… geh in die Bibliothek!“, vervollständigte sie den Satz, der sie zum Schmunzeln brachte. „Möglich wäre es, dass sich deine Netzhaut tatsächlich verändert hat.“
„Du bekommst keine Probe.“
Sie lachte. „Ich will dir höchstens in die Augen schauen, Harry.“ Daraufhin klimperte er mit den Wimpern, weshalb sie nur noch mehr lachen musste. „Ach, Harry“, sie schien völlig überwältigt, „stell dir vor, dass das noch weiter gehen könnte. Der Mensch sieht nur ein Fitzelchen von dem gesamten Lichtspektrum. Es gibt noch viele andere Bereiche. Verschiedene Wellenlängen und Frequenzen. Infrarot könnte nur der Anfang sein. Es könnten noch Mikrowellen folgen, UKW oder Kurzwellen.“
„Ich bin doch kein Radio“, sagte er vorgetäuscht empört.
Wieder lachte sie. Hermine war in bester Stimmung. „Ich meine damit nicht, dass du das hörst, aber stell dir vor, du könntest diese Wellen sehen!“ Ihre Augen funkelten. „Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Du als Zauberer wirst sicher alt genug werden, diese Fähigkeit in den Griff zu bekommen. Vielleicht erschließt sich der wahre Sinn dahinter erst viel später. Nützlich war es dir schon ein paar Male.“
„Das kann doch aber nicht nur mit dem Licht zusammenhängen“, warf er skeptisch ein.
„Das habe ich auch nie behauptet. Ich muss nur noch dahinterkommen, was bei dir alles mit reinspielt. Gerade weil deine Emotionen diese Fähigkeit beeinflussen, wie wir ja bereits wissen. Aber das, was ich heute erfahren habe, ist schon mal ein Anfang. Darf ich mir die Erinnerung an heute im Denkarium ansehen? Am besten die Erinnerungen an all deine Wahrnehmungsveränderungen. Ich möchte mir ein genaues Bild davon machen.“

Beide schauten sich einen Moment lang an, bevor Hermine den Fernseher ausschaltete. Ein letztes Mal sah er das grünliche Licht.

„Warum hast du vorhin noch geglaubt, der Test würde nicht funktionieren?“, wollte er wissen, nachdem er aufgestanden war.
„Weil auch ich Wärme ausstrahle. Wenn du die Wärme der Infrarotfernbedienung sehen kannst, warum dann nicht meine?“ Sie deutete auf den ausgeschalteten Fernseher. „Oder die Wärme von dem Gerät?“ Ihre Überlegung war nicht von der Hand zu weisen. „Deswegen meinte ich auch vorhin, dass die Veränderung deiner Wahrnehmung bisher niemals vollständig eingetreten ist. Es hat sich immer nur auf einen Punkt konzentriert, nie auf dein komplettes Sichtfeld.“ Auf dem Weg nach unten ließ sie ihn an ihren Überlegungen teilhaben. „Stell dir nur vor, was du mit dieser Fähigkeit, solltest du sie eines Tages beherrschen, alles anstellen könntest. Häuser unter Fidelius könntest du mit Leichtigkeit aufspüren. Über Desillusionszauber könntest du hindurchsehen. Du wärst bestimmt ein perfekter Auror! Du könntest noch vor allen anderen Wärmequellen in Gebäuden erkennen.“
„Das prädestiniert mich auch prima als Feuerwehrmann. Hast du denn eine Erklärung, warum ich manchmal Menschen nicht mehr sehen konnte?“
„Mmmh“, machte sie, als sie in die Küche trat, in der ihre Mutter und Ginny den Abwasch erledigten. „Das waren überwiegend Momente, in denen du missgestimmt warst oder Angst hattest. Vielleicht war es eine magische Reaktion auf den Stress? Das trat kurz nach dem Krieg auf, oder?“ Harry nickte, was sie mit Bedacht nachahmte. „Wann war es das letzte Mal?“
„Beim Quidditch, als die Spieler und Zuschauer nur noch Schatten waren. Ich konnte sie auch nicht mehr hören. Da war ich aber nicht missgestimmt.“
„Es war dein Wunsch gewesen?“
Harrys Kopf schlackerte uneins hin und her. „Ja. Vielleicht. Ich weiß es nicht.“
„Wir werden schon noch dahinterkommen.“ Hermine blickte sich in der Küche um sah erst jetzt die beiden Frauen beim Abwasch. Sie war hörbar in Alarmbereitschaft, als sie ihre Mutter fragte: „Ist Papa etwa ganz allein mit Severus draußen?“

Geschlossen gingen die vier zurück in den Garten, brachten dabei etwas frisches Obst und Getränke mit. Severus und Joshua unterhielten sich, obwohl Harry feststellen musste, dass es für ihn mehr nach einer Frage-und-Antwort-Stunde aussah – und Hermines Vater war der Quizmaster. Es war immer schwer, sich sofort an einem Gespräch beteiligen zu können, wenn man nicht wusste, um was es ging, also hörte jeder erst einmal zu.

Zu Severus’ Entsetzen kamen die anderen Gäste in genau dem Moment zurück, als er sich dagegen sträubte, Joshua – wie er Mr. Granger nennen musste – Informationen über seine Eltern zu geben. Das Thema war ihm unangenehm. Der Tod von Eileen Snape hatte Joshua im ersten Moment mundtot gemacht. Nach anfänglicher Befürchtung, womöglich ins nächste Fettnäpfchen zu treten, fragte er dennoch nach dem werten Vater. Severus fühlte alle Augenpaare auf sich ruhen. Selbst Harry interessierte es, was aus Tobias Snape geworden war, dessen wütende Stimme er in einer von Severus’ Erinnerungen gehört hatte. Kaum jemand würde verstehen, warum Severus seinen Vater in die Hände von Muggelpflegern gegeben hatte und diesen Entschluss bis heute kein bisschen bereute.

„Zum Verbleib meines Vaters möchte ich mich nicht äußern.“
Joshuas Augenbrauen schossen in die Höhe. „Heißt das, er ist noch wohlauf?“
„Ich habe keine Ahnung, ob er …“ Als Severus bemerkte, dass er durch zusammengebissene Zähne sprach, womit seine gereizte Stimmung nicht verbergen konnte, hielt er kurz inne. „Ich sagte bereits, dass ich mich dazu nicht äußern möchte.“
Joshua war anderer Meinung. Auch wenn er leise zu Severus sprach, konnten zumindest Harry und Hermine ihn gut hören. „Es ist doch kein Verbrechen, wenn man wenig Kontakt zu seinen Angehörigen hat. Ich habe mich auch mal mit meiner Mutter zerstritten. Wir haben zwei Jahre nicht mehr miteinander geredet, bis …“
„Ich habe seit Jahrzehnten gar keinen Kontakt mehr zu ihm und strebe nicht an, das zu ändern. Er ist dort gut aufgehoben, wo er jetzt ist.“
„Und wo ist er?“

Der Gedanke an die Briefe aus der Nachsendung schob sich in den Vordergrund. Ein Brief von vor sechs Jahren war dabei. Severus hatte ihn noch nicht geöffnet. Auf dem Umschlag stand als Absender das Pflegeheim. Irgendwann während des Krieges, zu einer Zeit, als Severus und Draco sich auf einem Bauernhof versteckt hielten, hatte das Pflegeheim aus bisher unbekannten Gründen versucht, ihn zu kontaktieren. Der Umschlag mit den durchgestrichenen Adressen machte deutlich, dass man ihn erst nach Spinner’s End geschickt hatte. Das Haus war zu dem Zeitpunkt schon von Todessern dem Boden gleichgemacht worden, so dass das Postamt den Brief nach Hogwarts weiterleitete. Weil sich dort ebenfalls kein Empfänger fand, lagerte man ihn für viele Jahre im Posteulenamt zwischen, wie wahrscheinlich unzählige andere Briefe in der magischen Welt auch, deren Empfänger verschollen oder untergetaucht waren.

Einen rettenden Strohhalm hatte Harry zu bieten, denn er lenkte ab und fragte: „Wer hat denn Nicholas in den Auslauf gesteckt?“
„Ich war so frei“, erwiderte Severus.
„Er ist doch kein Kaninchen.“
„Du hast doch wohl auch ein Laufgitter für ihn Zuhause, oder etwa nicht?“ Weil Harry nickte, sah sich Severus in seiner Entscheidung, Nicholas über den Zaun gehoben zu haben, bestärkt. Außerdem konnte er auf diese Weise nicht ausbüxen. Der Junge hatte vorhin angefangen zu weinen, weil er die Tiere nicht anfassen konnte. „Jetzt fühlt er sich wohl“, brachte Severus es auf den Punkt.

Alle schauten gleichzeitig zu Nicholas. Der Junge saß völlig fasziniert auf einer Decke, umgeben von flauschigen Kaninchen, die an der Möhre in seiner Hand mümmelten. Selig lächelnd tätschelte er das eine oder andere Tier. Er brauchte nur die Hand ausstrecken. Kein Zaun trennte sie mehr.

Das vorherige Thema war für Joshua längst nicht erledigt. „Wo lebte Ihr Vater zuletzt, als Sie ihn gesehen haben?“
Verbissen erwiderte Severus: „In einem Pflegeheim.“

Es sollte endlich Ruhe sein, dachte er. Die Information reichte. Es war mehr, als er aus seinem Privatleben zu erzählen bereit war. Niemand hatte davon Kenntnis. Hermine erfuhr es lediglich aus einer der Erinnerungen, die sie gesehen hatte, und Albus wusste sowieso immer alles. Aus freien Stücken hatte Severus diese Tatsache nie preisgegeben. Man sollte ihm hoch anrechnen, dachte er, dass er es gleich vor fünf Personen offenbart hatte. Es war eine Premiere. Und es war genug.

„Verstehen Sie mich nicht falsch, Severus“, Josh verspürte eine diebische Freude, häufig Severus’ beim Namen zu nennen, „aber ich kann nicht nachvollziehen, warum Sie ihn noch immer nicht besucht haben. Ich kann mir vorstellen, dass Sie Ihren Vater schützen wollten.“ Von seiner Tochter hatte Joshua das Wichtigste über Severus’ Rolle im Kampf gegen Voldemort erfahren. „Das ist durchaus verständlich, aber der Krieg ist vorbei.“
„Vielleicht ist er längst verstorben.“ Severus’ gleichgültige Aussage konnte falscher nicht sein. Hermines Vater schien seinen Ohren kaum zu trauen.
„Sie wissen das nicht einmal?“
„Mr. …“ Severus seufzte. Die persönliche Anrede ließ er vollständig weg. „Dieser Abschnitt meines Lebens geht niemanden etwas an.“
Josh ließ sich nicht abwimmeln. Er wählte seine nächsten Worte mit Bedacht. „Hatten Sie eine schlechte Kindheit?“
„Papa!“, mahnte Hermine vom Stuhl gegenüber.
„Liebling, ich will das doch nur verstehen. Für mich ist das unvorstellbar.“ Er schaute seine Tochter eindringlich an. „Und ich hoffe doch stark, dass du dir daran kein Beispiel nimmst. Wenn ich alt und runzelig bin, möchte ich nicht in einem Heim landen und jeden Tag auf Besuche meiner Tochter hoffen, die sowieso nie kommen wird.“
„Du solltest mich eigentlich kennen, Dad.“

Die ganze Situation war Harry unangenehm, weil er wusste, dass sie Severus unangenehm war. Auch Ginny wusste nicht recht, wie sie reagieren sollte. Einzig Hermines Mutter blieb die Ruhe in Person. Sie schenkte Severus ein Glas Wasser ein, lächelte ihm freundlich und auch entschuldigend zu.

„Vielen Dank, Jane. Und auch vielen Dank für die beiden vorzüglichen Kuchen. Es ist ein Jammer, dass Sie die Fähigkeit, solche Leckereien auf den Tisch zu zaubern, nicht an die werte Tochter vererbt haben.“
Von dem Kompliment leicht errötet erklärte Jane: „Als Kind hat sie es schon nicht gemocht, mit der Spielzeugherdplatte zu spielen, die ihr Onkel ihr geschenkt hat. Stattdessen wünschte sie sich einen Detektiv-Koffer. Sowas kennen Sie vielleicht. Mit Fingerabdruck-Set und Handmikroskop.“
„Das Handmikroskop war blöd“, warf Hermine ein. „Das hat überhaupt nichts vergrößert.“
„Weswegen dein Vater dir auch das ausrangierte von der Arbeit mitgebracht hat.“

Hermine lächelte ihrem Vater zu. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, von überall im Haus Proben genommen zu haben, um sie unter dem Mikroskop zu bewundern. Die Probe von ihrer Matratze hatte allerdings dafür gesorgt, dass Hermine bei all den Milben dort nicht mehr schlafen wollte, bis ihre Mutter ihr ein Buch über diese ungebetenen Gäste in die Hand drückte. Mit der beinahe zu Ende gelesenen Lektüre war Hermine beruhigt auf ihrem Bett eingeschlafen.

Joshua Granger gingen in diesem Moment wahrscheinlich die gleichen Erinnerungen durch den Kopf. Sein seliger Gesichtsausdruck konnte das erahnen lassen. Nichtsdestotrotz wandte er sich wieder den Themen zu, die ihn interessierten.

„Zurück zu Ihrem Vater …“
Severus schloss die Augen und massierte mit Daumen und Zeigerfinger die Nasenwurzel. Aufkommende Kopfschmerzen konnte er jetzt wirklich nicht gebrauchen. „Wissen Sie was, Joshua?“ Severus klang gestresst. „An Ihrer Familie kann man die Wunder der Vererbung bestens aufzeigen. Von Ihrer reizenden Frau“, er blickte kurz zu Jane, „hat Hermine die Fähigkeit erlangt, einfühlsam auf Mitmenschen einzugehen. Auch den Wunsch nach stetiger Fortbildung möchte ich den Genen Ihrer Gattin zuschreiben. Die Veranlagung zur genießbaren Lebensmittelzubereitung blieb leider auf der Strecke.“ Severus winkte mit einer Hand, als wollte er eine Fliege vertreiben. Somit zeigte er, dass der Punkt nicht ins Gewicht fiel. „Stattdessen hat Hermine von Ihnen, Joshua, die Kunst der unangenehmen Fragestellung geerbt, gewürzt mit einer Portion Lästigkeit und einer Prise Hartnäckigkeit. Ich kann über diese manchmal regelrecht nervtötenden Eigenschaften von Hermine hinwegsehen. Diese mit viel Zeit und Geduld erlernte Nachsicht meinerseits lässt mich hoffen, auch mit Ihnen eines Tages zumindest auf normaler Basis halbwegs gut auszukommen.“

Nach seiner Rede, bei der sich Severus nicht ein einziges Mal im Ton vergriffen hatte, nahm er sein Glas Wasser. Die anderen tauschten gegenseitig Blicke aus. Severus rechnete damit, dass Hermine die Erste wäre, die das Schweigen brechen wollte. Stattdessen hörte er ihren Vater.

„Jane, bin ich wirklich so schlimm?“, fragte Joshua mit einem leicht amüsierten Unterton in der Stimme. Jane nickte. Als Joshua zu Hermine schaute und von ihr eine Antwort erhoffte, kam diese ebenfalls in Form eines Nickens. „Hach“, machte Joshua bestürzt, aber seine gute Laune fand er schnell wieder. Er wandte sich an seinen Gast und lächelte. „Von meiner Seite aus haben Sie nichts zu befürchten, Severus. Ich werde versuchen, mich im Zaum zu halten. Ansonsten denke ich, werden wir gut miteinander auskommen, denn wenn es etwas gibt, dass ich über alle Maße schätze, dann ist das Ehrlichkeit.“

Joshua unterließ es, Severus weiterhin über die Eltern zu befragen. Stattdessen erkundigte er sich über Einzelheiten, was die Apotheke betraf. Bei dem Gespräch bekam Harry mit, dass der ehemalige Schüler Gordian Foster bei Severus als Lehrling anfangen würde.

Trotz der bis zum Ende hin netten Unterhaltungen mit den Grangers war Severus weiterhin missgestimmt. Das änderte sich auch nicht, als er mit Hermine zusammen gegen halb sechs die Apotheke betrat. Schnurstracks ging er nach oben und beschäftigte sich im Wohnzimmer mit unwichtigen Dingen, nur um nicht mit ihr reden zu müssen. Hermine ließ ihn.

In Hogwarts hingegen begann das Leben erst. Nicholas war von seinem Erstkontakt mit Kaninchen völlig überdreht. Harry hatte Mühe, dem Jungen die Schuhe auszuziehen, weil er am Boden entlangrobbte.

„Bleib hier“, sagte Harry, kniete sich dabei auf den Boden und griff nach einem Schuh. „Du riechst schon selbst wie ein Kaninchen.“ Ein Schuh war ausgezogen, der zweite folgte auf der Stelle.
Ginny kam gerade von der Toilette zurück. „Gehst du mit ihm baden oder soll ich?“ Das Wasser lief bereits, das konnte Harry hören.
Anstatt Ginny zu antworten, fragte er Nicholas: „Na, willst du mit Papa baden gehen, der immer so tolles Spielzeug mit in die Wanne nimmt? Oder mit Mama, die nur darauf achtet, dass du auch hinter den Ohren sauber wirst?“
„Hey“, beschwerte sich Ginny mit einem Grinsen auf den Lippen. „Ich nehme auch das Schiffchen mit in die Wanne.“
„Mag sein.“ Harry löste die Schnalle von Nicholas Latzhose. Mit hörbarem Stolz fügte er hinzu: „Aber du machst nicht so tolle Dampfergeräusche wie ich.“
Ginny versuchte, ernst zu bleiben, aber ihre Mundwinkel hatte sie nicht unter Kontrolle, als sie erwiderte: „Stimmt, ich bin kein geprüfter Diplom-Dampfschiffgeräusche-Imitator. Ich lasse dir den Vortritt.“

Als Nicholas auf dem Boden entlangkroch, musste Harry nur die Hosenbeine festhalten und schon war die Hose ausgezogen. Es hatte sich eingebürgert, die Taschen von Nicholas’ Kleidung zu überprüfen, bevor man sie zur Wäsche gab. Todesmutig griff Harry in die linke Hosentasche der Latzhose und zog, nachdem er Schlimmstes befürchtete, nur ein paar Grashalme, einen Stein und ein Stück angeknabberte Karotte heraus. Mit einem Evanesco schickte er den Fund ins magische Nirvana. In der rechten Hosentasche wartete der Schrecken. Ginny beobachte Harry dabei, als er die Nase rümpfte.

„Was zum Henker ist das?“ Harry zog die geballte Faust heraus und öffnete sie. „Ach, du meine Güte! Weißt du, womit Nicholas sich die Taschen vollgestopft hat?“ Von ihrer Position aus konnte Ginny es nicht erkennen. Mit vor Ekel verzogenem Gesicht musterte Harry die runden, bräunlichen Kugeln. „Kotbällchen!“
Ginny legte eine Hand auf die Brust. „Dann hast du jetzt auf jeden Fall auch ein Bad nötig. Nachher bringen wir ihn zu Madam Pomfrey. Nicht dass er davon auch was gegessen hat. Wer weiß, was da für Bakterien drin sind.“

Etwas später saß Ginny auf der Couch und ging die Informationen durch, die man ihr nach der Untersuchung bei Eintracht Pfützensee gegeben hatte. Bis ins Wohnzimmer konnte sie Harrys hallende Dampfergeräusche hören und das Lachen von Nicholas. Sie musste lächeln, denn sie erinnerte sich daran, dass ihre Brüder für die gleiche Unterhaltung gesorgt hatten, wenn sie ihre Schwester badeten.

Auch in der Winkelgasse wurde ein Bad genommen. Das kühle Wasser sollte Severus bei den herrschenden Temperaturen ein wenig abkühlen. So lange wie heute war er selten draußen gewesen. Nicht nur die frische Luft hatte ihn ermüdet, sondern auch die Unterhaltung mit Joshua. Severus wusste, dass er einen schlechten Eindruck hinterlassen haben muss. Für viele Menschen bedeutete die Familie alles. Selbst die Malfoys legten mehr Wert auf harmonische Verhältnisse als Severus. Ihm war sein Vater egal. Severus seufzte und tauchte seinen Kopf einen Moment lang ins frische Wasser. Wenn sein Vater ihm so gleichgültig war, warum, fragte sich Severus, musste er dann ständig an dessen Verbleib denken? Der Brief war sicherlich der Auslöser gewesen. Zusätzlich die Fragerei von Hermines Vater. Früher hätte er sich mit solchen Überlegungen nicht aufgehalten, doch jetzt fragte er sich, ob er richtig handelte, wenn er seinen Vater so behandelte, als wäre er tot.

Das Klopfen an der Badezimmertür riss ihn aus seinen Gedanken.

„Ja?“
Die Tür öffnete sich einen winzigen Spalt, so dass Hermine ihn zwar besser verstehen, aber nicht sehen konnte. „Ich hole mir noch ein Eis bei Fortescue's. Möchtest du auch eines?“
Severus überlegte einen Augenblick. Ihm war nach Koffein. „Einen Eiskaffee.“
„Gut, bin gleich wieder da.“

Die Zeit ohne Hermine nutzte er, um sich für den frühen Abend etwas Leichtes anzuziehen. Er wollte ihren Fragen aus dem Weg gehen, die mit Sicherheit kommen würden. Es war schlimm genug, dass Joshua ihn dazu gebracht hatte, über seinen Vater nachzudenken. Der gehörte zu den Themen, die Severus nicht mal mit der Beißzange anfassen wollte. Sein Vater war tabu. Erlebnisse mit ihm würde er mit niemandem teilen. Er müsste sich mit irgendetwas beschäftigen, dachte Severus, als er vor dem Spiegel seine Haare kämmte. Irgendein Buch käme ihm gelegen. Hermine würde es nicht wagen, ihn ständig beim Lesen zu unterbrechen.

Als Hermine von Fortescue's zurückkam, fand sie Severus im Wohnzimmer. Er las das Geschichtsbuch, das ihm die Schüler zum Abschied geschenkt hatten. Wortlos stellte sie ihm den Eiskaffee vor die Nase und setzte sich ihm gegenüber. Er rang sich ein Danke ab, griff zu und schlürfte die kühle Erfrischung, während seine Augen auf den Seiten ruhten. Es wirkte. Hermine sprach nicht mit ihm, informierte ihn nur darüber, dass sie heute etwas früher schlafen gehen würde. Severus ließ ihr zwei Stunden Vorsprung. Auf diese Weise konnte er sicher gehen, dass sie bereits schlafen würde, wenn er sich neben sie legte.

Im Schlafzimmer war es warm. So leise wie möglich trat er ans Bett heran.

„Mmmh“, summte Hermine verschlafen. „Machst du bitte das Fenster auf?“
„Das Fenster ist auf.“
„Mir ist warm. Kannst du Durchzug machen?“

Über den Flur ging er hinüber zu Hermines verlassenem Schlafzimmer und öffnete dort das Fenster. Mit einem Zauber sorgte er dafür, dass Türen und Fenster offen bleiben würden. Dennoch tat sich nichts. Keine frische Brise. Es war völlig windstill. Zu warm zum Schlafen. Severus versuchte es trotzdem.

Kaum hatte Severus die Augen geschlossen, fand er sich ohne bewussten Übergang in einem dunklen Raum wieder. Es dauerte einen Moment, bis er sich darüber klar wurde, wohin ihn der Nebel des Schlafes geführt hatte. Er befand sich im Keller von Spinner’s End. In diesen Räumlichkeiten hatte seine Mutter die gängigen Salben und Tränke gebraut, die in keinem anständigen, magischen Haushalt fehlen durften. Den Duft der verarbeiteten Zutaten verband er mit diesem Keller und mit den schönen Momenten im Leben. Vielleicht hatte er aus diesem Grund in Hogwarts die Kerker für seine Arbeit gewählt. Das Haus Snape war zwar nie ein Vorbild für andere Haushalte gewesen, denn es wurden keine alten Traditionen gepflegt, aber dennoch oder gerade deswegen fühlte Severus sich hier wohl. Die Gerüche waren heimisch. Er war Zuhause.

„Mein Junge“, hauchte eine Frauenstimme. Als sich Severus umdrehte, sah er seine Mutter, die sich ihm mit offenen Armen näherte. Sie drückte ihn an sich. Die Vertrautheit ließ ihn die Augen schließen und tief durchatmen. Sie war die Verkörperung der guten Seite seiner Kindheit. Severus wollte ihr, wenn auch nur im Traum, ins Gesicht sehen. So löste er die Umarmung und drückte sie leicht von sich, doch es war nicht Eileen Prince, die ihn anlächelte. Es war Jane, die gleich wieder zurück an den Arbeitstisch ging. Nicht um einen Trank zu brauen, sondern eine wohlriechende Suppe zu kochen.

Vom Erdgeschoss hörte Severus eine Melodie, gespielt auf einer Flöte. Süßeste Töne lockten, und er drehte den Kopf, um zu sehen, woher sie kamen. Oben an der Kellertreppe stand die Tür zur Küche offen. Sonnenlicht erhellte den Absatz. Severus wollte hinaufsteigen. Als er einen Fuß auf die hölzerne Stufe der Kellertreppe setzte, begann es unangenehm laut zu krachen. Das Holz unter ihm verwandelte sich in hellen Marmor. Eine Kettenreaktion war ausgelöst worden, bis die gesamte Treppe sich auf edle Weise verändert hatte. Severus ging die ersten Stufen hinauf, hörte noch immer die Musik von oben. Nach der Hälfte des Weges sah er sich mit einem Hindernis konfrontiert. Er konnte nicht weitergehen. Sein Vater lag betrunken auf den Stufen und versperrte ihm den Weg. Sein Oberkörper war ans Geländer gelehnt, die angewinkelten Beine an die gegenüberliegende Mauer gestützt. Tobias Snape war in einen schwarzen Talar gekleidet, der von der harten Arbeit auf dem Bau beschmutzt war. Anstelle der Gattin umarmte er eine fast leere Weinflasche.

Im Rahmen der Tür erschien unerwartet Hermines Vater, der ihn heiter heranwinkte. „Komm doch hoch.“ Das war leichter gesagt als getan. Der Aufstieg war mühsam. Severus konnte nicht über seinen Vater hinübersteigen, ohne ins Wanken zu geraten. Als er direkt vor dem Betrunkenen auf den harten Marmor trat, versank er mit dem Fuß auf der plötzlich morastigen Stufe. Allein konnte er das Bein nicht mehr befreien. „Hey“, hörte er von oben. Joshua warf ein Seil hinunter, das Severus zu fassen bekam. Nun konnte er mit Leichtigkeit seinen Vater und die umliegenden, nachgebenden Stufen überwinden. Die letzten nahm Severus ohne Hilfe.

Endlich oben in der sonnengefluteten Küche angelangt, die ganz anders als die Küche in Spinner’s End aussah, wurde er von Joshua empfangen. Der hielt in beiden Händen dunkle, wohlriechende Kaffeebohnen und präsentierte sie Severus. „Einen Kaffee?“
„Ja, bitte.“
Die Quelle der Flötenmusik war schnell ausgemacht. Hermine saß am Küchentisch, direkt am weit geöffneten Fenster, und spielte das Instrument. Als sie ihn bemerkte, legte sie die Flöte beiseite und näherte sich ihm. Sie griff zu einem Besen und reichte ihn Severus. „Du solltest mal die Kellertreppe fegen.“
„Später“, erwiderte Severus, der sich in der Küche umsah. Jane und Ginny standen am Herd und kochten. Von dem Kuss, den Hermine ihm unerwartet gab, war er im ersten Moment überrascht.

Ein helles Kinderlachen war mit einem Male zu hören. Nicholas lief grinsend um einen Stuhl herum, immer im Kreis, bevor er sich auf den sauberen Boden setzte und ausgelassen mit einer hölzernen Lok spielte. Unbewusst dachte Severus, dass eine Person noch fehlen würde, damit der Traum komplett sei. In genau diesem Moment kam Harry durch die Tür herein. Er grüßte alle freundlich. Nachdem er Nicholas’ Kopf gestreichelt hatte, nahm er den Jungen auf den Arm und reichte ihn Severus.

„Nimmst du ihn kurz?“, fragte Harry und drückte Severus ein weißes Kaninchen in den Arm. Das Tier war im ersten Moment aufgeregt und trat mit den Hinterbeinen aus. Severus drückte es an sich und streichelte es, genoss das weiche Fell des Kaninchens, dessen Herz bald nicht mehr so aufgebracht pochte.

Das dumpfe Grollen eines Donners kündigte ein Gewitter an. Ein Blitz folgte. Draußen wurde es stürmischer. Severus gab das Kind zurück an Harry, um zum Fenster zu eilen. Als er es schloss, blitzte für einen Moment sein Spiegelbild im Glas wider, doch es war nicht sein Gesicht. Zu seinem Entsetzen starrte ihn das grimmig Gesicht von Tobias Snape an.

Ein weiterer Donnerschlag. Eine unsanfte Landung.

Sofort griff Severus nach dem Stab unter seinem Kopfkissen, bis er erkannte, dass er sich im Schlaf so sehr gewälzt haben musste, dass er aus dem Bett gefallen war. Das Gewitter war nicht geträumt. Endlich wehte ein frischer Wind ins Zimmer und vertrieb die stickige Sommerluft. Ein Blick zur Seite verriet, dass Hermine weiterhin selig schlummerte. Severus seufzte. Mit seiner neuen Seele war die Fähigkeit zurückgekommen, erlebte Situationen im Traum aufzuarbeiten. Nicht nach jeder Nacht, aber in regelmäßigen Abständen konnte sich Severus an die seltsam skurrilen Geschichten erinnern, die entweder der Feder eines opiumsüchtigen Schauspielautors entsprangen, der seine Werke mit einem komplizierten Legilimentik-Zauber an einem Schlafenden ausprobierte oder direkt – was der Wahrscheinlichkeit viel näher kam – von seinem eigenen, verkorksten Unterbewusstsein inszeniert wurden.

Mit einer Hand fuhr sich Severus über das Gesicht, rieb sich den Schlaf aus den Augen. Draußen begann ein Unwetter zu toben. Der Wind wurde heftiger und war viel zu kalt, als dass er zum Schlafen noch angenehm sein konnte. Behutsam zog er die Decke über Hermines entblößte Taille, damit sie sich nicht verkühlen würde. Das Fenster im Schlafzimmer lehnte er an, damit der beginnende Regen nicht hereinwehen konnte.

Im verlassenen Schlafzimmer gegenüber schloss er das Fenster. Zugluft wurde viel zu oft unterschätzt. Mit einem steifen Hals braute es sich schlecht.

Von dem Sturz aus dem Bett und dem Unwetter war Severus hellwach. Er begab sich nach kurzer Überlegung nicht zurück ins Schlafzimmer, sondern ins Wohnzimmer. Harrys Ohren drehten sich, dann hob er den Kopf und fiepte.

„Schlaf weiter“, riet Severus mit ruhiger Stimme. Der Hund gehorchte, obwohl der von dem Gewitter ebenfalls geweckt worden war. Severus stellte sich ans Fenster und beobachtete den Himmel. Bei jedem Blitz sah er die schwarzen Wolken, die sich trotz des Windes kaum bewegten. Blitze, Donner, Sturm, Regen. Ein Naturschauspiel, das ihm als Kind immer imponiert hatte. Als Jugendlicher entsprach ein Gewitter oft seiner Stimmung und als Erwachsener war ihm das herrschende Wetter stets gleichgültig gewesen. Bis jetzt. Dieses Unwetter stellte für Severus einen Übergang vom Traumdasein in den Wachzustand dar, was den Traum für ihn viel realer machte.

Es würde bestimmt eine ganze Weile regnen. Vielleicht so lang und stark, hoffte Severus, dass sie morgen mit weniger Kunden rechnen könnten. Mit einem Schwung seines Stabes entzündete er einige Lichter, bevor er sich auf die Couch setzte. Severus war sich uneins, was er jetzt tun könnte, um nicht in Langeweile zu ersticken. Der Traum beschäftigte ihn, ohne dass er es wollte. Mit jedem Blitz sah er sich selbst, als er das Fenster in der Küche schließen wollte, sah im Glas das Gesicht seines Vaters als das eigene. Severus schnaufte, wollte damit die Spielereien seines Unterbewusstseins ins Lächerliche ziehen. Er war nicht wie sein Vater, und er würde es niemals werden. Die symbolische Gegenüberstellung missfiel ihm. Wäre es möglich, den verborgenen Teil seiner Psyche abzusondern und zu personifizieren, würde Severus es auf der Stelle tun. Nur so könnte er sein Unterbewusstsein auf seine typisch bissige Art zusammenstauchen und für die Beleidigung – Severus empfand es als solche – den Fehdehandschuh vor die Füße werfen.

Man musste den Traum nicht unbedingt deuten, dachte Severus, um zu verstehen, was der Keller seines Ichs ihm mitzuteilen versuchte. Vieles würde man mit einem gesunden Menschenverstand interpretieren können, doch eine Sache machte ihn neugierig. Die Flöte. Sicherlich ein phallisches Symbol, mutmaßte Severus. Weil Hermine im Traum das Instrument spielte, sah sich Severus wissbegierig genug, um in einem Buch nachzuschlagen, das er normalerweise nicht einmal zu seinem Besitz zählen würde. Hermine hatte sich den Band, den sie damals für seine Traumdeutung in Hogwarts benutzt hatte, vor einiger Zeit angelegt: Oneirologie. Das Buch befand sich im Wohnzimmerschrank, gleich neben der Sammlung von Lockharts Lebenswerk. Bücher, die einem unangenehm waren oder ein schlechtes Bild auf einen werfen konnten, platzierte man nicht für jedermann sichtbar. Die Schwarte griff er sich, um ein wenig in ihr zu blättern.

F wie Flöte war bald gefunden.

„Natürlich“, seufzte Severus. Die Form einer Flöte war eindeutig phallisch, stand in diesem Sinne für die männliche Potenz. Schon in der Mythologie brachte man mit ihr Gesellschaftlichkeiten in Verbindung. Für einen Moment blitzte zeitgleich mit dem Unwetter ein Gedanke auf, der Severus in Gestalt eines wollüstigen Satyrs zeigte, welcher über eine Wiese hüpfte und Hermine in orgiastischer Leidenschaft nachstellte. Eine Flöte im Traum zu sehen spielte auf sexuelle Bedürfnisse an. Severus war sich nur nicht klar darüber, ob die eigenen gemeint waren oder die der Person, die die Flöte gespielt hatte.

Er rümpfte die Nase. Das waren Dinge, mit denen er sich nicht beschäftigen wollte. Bedürfnisse dieser Art waren zwanzig Jahre lang nicht vorhanden. Jetzt waren sie präsent, das stand für Severus fest, aber mit ihnen umzugehen musste er lernen. Sie waren vollkommen anders als er sie aus seiner Jugend kannte. Sie waren viel tiefer verwurzelt, von größerer Bedeutung und vor allem waren sie nicht mehr beliebig zu befriedigen. Als junger Mann hätte er sicher nicht lange gezögert, wenn ihn eine Dame in der Nokturngasse angesprochen hätte, je nachdem, wie erschwinglich sie gewesen wäre. Dieser Gedanke bescherte ihm heute eine Gänsehaut. Offenbar kam mit dem vorangeschrittenen Alter tatsächlich die dritte und letzte Stufe der Tobias-Snape-Skala zum Tragen: der Verstand. Er wollte nicht irgendeine.

Vielleicht stand die Flöte aber auch für etwas anderes. Erst die Einbeziehung aller anderen Symbole könnte eine aufschlussreiche Übersicht bringen. Sibyll wäre stolz auf ihn, würde sie sehen, dass ihr ehemaliger Kollege sich aus freien Stücken intensiv mit seinem Traum beschäftigte. Es gab wenige Dinge, die man sonst um halb drei morgens unternehmen konnte.

Von Hermine wusste er, dass jede Kleinigkeit, die ihm von seinem Traum im Gedächtnis geblieben war, Klarheit geben konnte, also begann er mit dem dunklen Keller. Das Buch riet ihm, Licht ins Dunkel zu bringen, weil er sich mit einer Situation konfrontiert sah, die seine Seele gefährden würde. Severus atmete tief durch. Das fehlte ihm gerade noch, dachte er entmutigt. Er blätterte nach hinten zum Buchstaben Z. Das Zuhause stand für die Wiederkehr der Werte, die einem als Kind vermittelt wurden. Weil er sich wohl gefühlt hatte, war der erste Schritt im realen Leben bereits getan. Die Mutter stand zudem nicht nur in seiner Realität für das Gute. Sie verkörperte seinen emotionalen Mittelpunkt. Das Verhältnis zu ihr würde auf alle Beziehungen im Leben Einfluss haben. Der Punkt erleichterte Severus. Er hatte seine Mutter immer geliebt. Die Treppe als Verbindung der verschiedenen Gebiete seines Charakters symbolisierte den Aufstieg zu einer neuen Bewusstseinsebene. Das überraschte ihn nicht. Gefühlskälte gehörte der Vergangenheit an. Natürlich nahm er jetzt seine Umwelt anders wahr, besonders emotionell, auch wenn er das nicht zu zeigen bereit war. Probleme beim Aufstieg gab es in Form seines Vaters, der ihm den Weg versperrt hatte. Der Vater: Sinnbild für Autorität. Severus schnaufte nochmals. Er hatte keinen Respekt vor ihm, weder damals noch heute. Die offensichtliche Trunkenheit stand für Enttäuschungen seelischer Art. Schwierig wurde es bei dem auffälligen Merkmal der Kleidung. Unter Talar fand Severus keinen Eintrag, wohl aber bei dem Begriff Pfarrer, der ihm in einer logischen Assoziation sofort durch den Kopf schoss. Ein Gottesmann wollte auf das schlechte Gewissen hinweisen, was der Schmutz auf der Kleidung noch unterstrich. Severus presste die Lippen zusammen, fühlte sich von sich selbst zu Unrecht verurteilt.

Ein Blitz schlug in weiter Ferne ein. Der Krach war dennoch so laut, dass Fellini von seinem Fensterplatz sprang und die sichere Nähe von Severus suchte. Direkt neben Severus kuschelte sich der Kater an den Schenkel und rollte sich zum Schlafen ein. Der Blitzeinschlag erinnerte ihn an das Geräusch, das er im Traum wahrgenommen hatte, als sich die Stufen in Marmor verwandelten. Krach war mit Unannehmlichkeiten verbunden, las Severus. Das harte, edle Gestein warf Severus auch noch Hartherzigkeit vor.

Er wusste nicht, ob er weiterhin die Symbole nachschlagen wollte. Noch nie hatte ein Buch es gewagt, ihm den Spiegel vorzuhalten. Es waren gerade mal zehn Minuten vergangen und trotzdem fühlte sich Severus so ausgelaugt wie nach fünf Stunden Gesprächstherapie mit Hermine. Der halbe Traum war bereits nachgeschlagen. Eines hatte Severus gelernt: Selbst wenn man von Träumen wenig hielt, brachten deren Deutung einen dazu, über bestimmte Dinge nachzudenken, die man normalerweise zu ignorieren versuchte. Gespräche über Tobias Snape blockte Severus stets ab, aber sein Unterbewusstsein nahm kein Blatt vor den Mund. Und die Sache mit der Flöte? Wenigstens bis zu Hermines Erscheinen wollte er noch kommen, also schlug er bei Moor auf. Erneut stieß Severus auf Schuldgefühle, die um seinen Vater herum angesiedelt waren, weil er nur dort mit den Füßen versunken war. Im Traum kam ihm Joshua Granger zu Hilfe. Severus fragte sich, wo er nachschlagen müsste. Ein Freund war der Mann nicht. Nach kurzer Überlegung fand Severus das Wort Schwiegervater. Das kam seiner Beziehung zu dem Mann am nächsten. War der Schwiegervater gut gelaunt, durfte man mit einer angenehmen familiären Atmosphäre rechnen. Endlich etwas Gutes, dachte Severus erleichtert. So wie er Joshua vom Wesen her einschätzte, würde der nie absichtlich Ärger bereiten. Das Seil, das Joshua ihm zugeworfen hatte, symbolisierte darüber hinaus ein Bündnis, mit dessen Hilfe Severus seine Ziele erreichen könnte.

„Was für Ziele?“, fragte Severus in den Raum hinein. Eine Antwort gab ihm weder der Hund noch Fellini, der im Halbschlaf damit begonnen hatte, den Milchtritt an Severus Oberschenkeln auszuüben. Zum Glück kamen die Krallen nicht durch das Nachthemd hindurch, sonst wäre es schmerzhaft gewesen.

Im Traum war die Küche sein Ziel gewesen, ein Ort der Veränderung. Ähnlich wie beim Tränkebrauen fertigte man in diesem Raum aus verschiedenen Zutaten etwas ganz Neues. Von der hellen Sonne hatte er damals bereits geträumt und auch diesmal war Harry anwesend. Severus zwang sich, bei der Deutung chronologisch vorzugehen und keinen Punkt auszulassen. Die Kaffeebohnen, die Joshua ihm angeboten hatte, versprachen häusliches Glück. Ein weiteres Indiz dafür, dass Joshua ihm das Leben nicht schwermachen würde. Aufmerksamer las Severus über die Musik, die er im Traum gehört hatte, denn wenn die angenehm war – und das war sie – könnte sie womöglich das Ziel darstellen, welches vorhin angesprochen wurde. Als Severus jedoch las, was die wohl klingende Melodie bedeutete, sträubte sich sein Innerstes. Das konnte unmöglich sein Ziel sein, dachte er, als er die Erklärung las. Er, der gemeine Ex-Lehrer und der ehemalige Todesser, der über Leichen gehen musste, um Harrys Bestimmung nicht zu gefährden, würde sicherlich Reichtum anstreben, Wissen und Macht, aber laut der Traumdeutung visierte er ein ganz anderes Ziel an. Etwas völlig Harmloses. War es wirklich sein Wunsch, Harmonie im Leben zu erlangen? Das war etwas, das er nie habt hatte. In seiner Jugend stand das Streben nach Macht und gesellschaftlichem Ansehen hoch im Kurs. Mit seiner Anhängerschaft bei Voldemort waren diese Ziele zum Scheitern verurteilt. Man strebte immer das an, das einem verwehrt blieb. Severus gestand sich ein, dass er seine Ruhe haben wollte. Ein schöner Alltag, genügend Zeit für sich selbst, für seine Forschung und Zeit mit einer festen Partnerin an seiner Seite waren die Dinge, die jetzt nicht nur erfüllbar waren, sondern auch nach seinem aufregenden und gleichzeitig deprimierenden Leben wie Balsam auf Geist und Seele wirkten. Ungern gab er der Traumdeutung Recht, aber all seine Wünsche könnte man mit Harmonie gleichsetzen. Die Sehnsucht nach Normalität. Eine Sehnsucht, die Severus mit Harry teilte, denn dem ging es genauso.

Das schwere Buch auf seinem Schoß ließ er einen Moment ungeachtet. Seine Hand fand das Fell des Kniesels, der bei der ersten Berührung am Kopf laut zu schnurren begann. Severus’ Blick wanderte zu seinem Hund, der seinen Korb vernachlässigte und stattdessen mit dem Rücken auf dem Sessel lag – die vier Beine in alle Richtungen von sich gestreckt. Obwohl er ein Kuvasz war, fühlte er sich pudelwohl. Severus schaute zum Fenster. Das Gewitter war noch immer unverändert – voll im Gange. Regen peitschte an die Scheiben, schnell aufeinander folgende Blitze erhellten die Nacht. Im Gegensatz zu damals spiegelte das Unwetter nicht seine Gemütslage wider. Alles hier im Raum strahlte Frieden aus, nicht zuletzt die beiden Tiere. Das Wohnzimmer würde sich ohne das Wissen, dass er es mit Hermine teilte, anders anfühlen. So wie seine Räume in den Kerkern, die von ihrer Anwesenheit profitierten, mit ihr an Leben gewonnen hatten und mit ihrem Abschied wieder trostlos geworden waren.

Severus hielt sich den Traum vor Augen. Die Küche, die Musik. Beides hatte er als Veränderung im Leben und den Wunsch nach Harmonie entschlüsselt. Er überlegte, was als Nächstes gekommen war. Der Besen, erinnerte er sich, mit dem er die Kellertreppe fegen sollte. Er schlug, während er weiterhin den Kniesel kraulte, das Buch wieder auf und blätterte zum Buchstaben B. Mit einem Besen wurde man laut Deutung dazu aufgefordert, gewisse Angelegenheiten zu bereinigen. Da es sein Vater gewesen war, der auf den Stufen lag, war klar, was der Traum ihm sagen wollte. Er sollte den geistigen Müll kehren, tätig werden und Ordnung hineinbringen. Severus las eine Stelle darunter. Für Frauen trat der Besen wieder als phallisches Symbol in Erscheinung, das diesmal nicht nur für sexuelle Bedürfnisse stand, sondern für deren Vernachlässigung. Wieder war sich Severus nicht sicher, ob er damit gemeint war oder Hermine, weil sie es gewesen war, die ihm den Besen gegeben hatte. Möglicherweise projizierte er sogar seine eigenen Ansichten in den Traum. Severus empfand es als Tatsache, dass Hermine diesbezüglich den Kürzeren zog. Über das Küssen waren sie bisher nicht hinausgekommen. Für ihr junges Alter war sie äußerst verständnisvoll und geduldig. Mehr als Anspielungen oder freche Hinweise mit Körpereinsatz kamen von ihr nicht. Ihre Bereitschaft hatte sie mehr als einmal offengelegt. Jetzt war er am Zug, und damit kam die Unsicherheit zurück, der Severus bisher genauso aus dem Weg gegangen war wie ihr. Nach zwanzig Jahren der körperlichen Abstinenz war er tatsächlich gehemmt, geradezu verlegen, wenn es sich um intime Kontakte drehte. Ihm machte es jedoch noch mehr zu schaffen, dass Hermine darunter zu leiden schien. Zwar zeigte sie es nicht, aber es war nicht von der Hand zu weisen, dass sich einiges an sexueller Spannung zwischen ihnen aufgebaut hatte, die bisher hoffnungslos auf eine Entladung wartete.

Jetzt, in genau diesem Moment, konnte Severus sowieso nichts dagegen unternehmen. So entschloss er sich, die restlichen Symbole seines Traumes nachzuschlagen. Das Lachen von Nicholas war ihm deutlich im Gedächtnis geblieben. Schon im Traum hatte es ihn an Freude erinnert und genau das las er bei der Deutung nach. Nicholas’ kindliches Spiel stand zudem für Zufriedenheit, das Spielzeug für eine bevorstehende, glückliche Heirat. Severus fiel ein Stein vom Herzen, dass wenigstens sein Unterbewusstsein keine Zweifel daran hegte, was er für Hermine empfand. Im Anschluss hatte Harry ihm kein Kind gereicht, sondern ein Kaninchen. Es überraschte Severus nicht, dass dieses Tier für Fortpflanzung und Fruchtbarkeit stand, aber hier war auch die Fellfarbe von Bedeutung. Weiße Kaninchen würden als eine Art Führer den Weg zur spirituellen Welt zeigen.

„Sibyll würde vor Freude in die Hände klatschen“, murmelte Severus, schüttelte dabei verachtend den Kopf. Traumdeutung wurde seiner Meinung nach völlig überbewertet. Die Menschen kamen auch ohne sie aus. Er konnte jedoch nicht leugnen, dass es einen gewissen Unterhaltungswert mit sich brachte zu wissen, dass manch einer sein gesamtes Leben nach diesem ganzen Humbug ausrichtete. Sibyll verließ ihren Turm nicht, bevor sie nicht eine Tasse Tee zu sich genommen und aus dem Satz ihre Zukunft gelesen hatte.

Weil er das Kaninchen gestreichelt hatte, schaute Severus noch bei entsprechendem Verb nach. Der Text der Deutung hielt ihm vor Augen, dass er mit seiner kompletten Seele wieder ein ganz normaler Mensch mit normalen Gefühlen war. Im Traum eine Person oder ein Tier zu streicheln zeigte das neu gewonnene Mitgefühl für andere Lebewesen, drückt aber auch den eigenen Wunsch nach Zärtlichkeit aus.

Severus fühlte sich ertappt. Nie hätte er gedacht, dass er sich einmal mit seinen eigenen Bedürfnissen auseinandersetzen würde. Sein Leben hatte er damals in Dumbledores Hände gelegt, hatte alles getan, um Harry vorzubereiten. Eigene Bedürfnisse waren dank des Ewigen Sees für lange Zeit nicht mehr vorhanden, bis auf das Bedürfnis, seine Abneigung bestimmten Personen gegenüber regelmäßig zum Ausdruck zu bringen. Beinahe hätte er den Kuss vergessen, den Hermine ihm gegeben hatte. Er war kurz gewesen, hatte ihn überrascht. Im Traum geküsst zu werden bedeutete, dass die Person einem Hochachtung entgegenbrachte, man von ihr sehr geschätzt wurde. Severus musste lächeln. Genauso empfand er auch für sie.

Ein Glas kaltes Wasser musste her, bevor Severus weiterlesen wollte. Im Wohnzimmer war es noch immer warm. Gefühlte 30 Grad Celsius. Nachdem er sich etwas zu trinken besorgt hatte, öffnete er trotz des stürmischen Wetters das Fenster. Sofort war Fellini bei ihm, der sich aufs Fensterbrett setzte. Damit das Tier nicht versehentlich hinausfallen würde, versah Severus die Öffnung mit einem Schutzzauber. Einen Moment lang blieb Severus bei dem Kater und blickte hinaus. Angenehm frische Luft wehte herein. Severus mochte den Geruch von nasser Erde. Der Regen reinigte die Luft, machte das Atmen zu einem Vergnügen. Fellini war ein Angsthase. Beim nächsten Blitz sprang er von der Fensterbank und hüpfte auf die Rückenlehne des Sessels, auf dem Harry sich wälzte.

Das Unwetter erinnerte Severus an das Ende seines Traumes. Das Gehör, im Zustand des Schlafes noch immer wach und aufnahmefähig, musste das tatsächliche Gewitter in den Traum eingearbeitet haben. Dennoch wollte er nachsehen, also nahm er wieder Platz. Zuerst blätterte er zu dem Wort Donner, denn das war das Erste, das er im Traum vernommen hatte. Wenn man sich am Tage über etwas sehr geärgert hatte, konnte dieser Ärger im Traum noch nachhallen. Das Einzige, was Severus wirklich wütend gemacht hatte, war die Fragerei von Joshua, auch wenn der sich im Nachhinein dafür entschuldigt hatte. Damit hatte das Buch auf seinem Schoß das erste Mal Severus’ volle Zustimmung. Nach dem Blitz hatte sich der Himmel im Traum sofort verdunkel. Da er jedoch keine Wolken gesehen hatte, schlug er sofort bei Gewitter nach. Jetzt konnte er dem Buch wieder nur Geringschätzung entgegenbringen. Es wollte ihn mit dem Unwetter auf eine Situation im Leben hinweisen, die ähnlich wie eine steinerne Mauer niedergerissen werden sollte, um an das zu gelangen, was sich dahinter verbarg. Mit der Situation waren ignorierte Spannungen gemeint. Severus wusste genau, dass das Buch seinen Vater meinte. Das Gewitter im Traum wollte ihn dazu anhalten, eine Angelegenheit zu bereinigen, damit die Luft wieder klar werden würde. Er hasste es, dass die Traumdeutung ihn ständig an seinen Vater erinnerte. Es war jedoch er selbst, der diese Gedankenverknüpfung erstellte, denn unter Gewitter stand mit keinem Wort etwas von einem Elternteil.

Severus schaute zum Tisch hinüber. Dort lag, noch immer geschlossen, der vom Eulenpostamt nachgesandte Brief. Nicht einmal Hermine hatte ihn geöffnet, obwohl Severus ihn in der Hoffnung offen herumliegen ließ, dass sie ihre Neugierde nicht zügeln könnte. Zu seinem Bedauern bewies sie, dass sie seine Privatsphäre schätzte. Severus fragte sich, was in dem Brief wohl stehen würde. Vielleicht wollte das Pflegeheim ihn lediglich über das Ableben seines Vaters informieren, was bereits vor einigen Jahren gewesen wäre. Severus zwang sich, nicht darüber nachzudenken. Stattdessen blätterte er weiter in dem Werk über Oneirologie.

Der Blitz – das Zeichen für ein Ärgernis – begleitete auch das letzte Szenario, in welchem Severus als eigenes Spiegelbild das seines Vaters sah. Sein Vater hatte ihn oft wütend gemacht. Er war ein ungebildeter Mann, ein Prolet und ein aggressiver Mensch, wenn er Alkohol im Übermaß zu sich genommen hatte. Das Buch riet ihm im Bezug auf das Spiegelbild, sich mit einem Schatten zu versöhnen.

Von einem Geräusch aufgeschreckt blickte Severus zur Tür. Er hörte die Toilettenspülung, dann das Geräusch nackter Füße auf dem Holzboden. Ein Kopf mit ungezähmten Haaren lugte ins Wohnzimmer. Nachdem Hermine ihn gesehen hatte, lächelte sie und trat herein. Sie ging schnurstracks zum offenen Fenster und genoss die frische Brise, so wie er den Anblick genoss, den sie in ihrem kurzen, gelben Schlafanzug mit den weißen Rüschen abgab. Die schönste Raute entsprang nicht der Mathematik, sondern dem weiblichen Rücken. Als Hermine sich streckte, um sich vom Wind abkühlen zu lassen, lüftete sich ihr Hemd und gewährte ihm einen Blick auf die obersten drei Punkte der Michaelis-Raute. Die Grübchen in ihrer symmetrischen Anordnung nahmen ihn gefangen. Regungslos starrte er die kleinen Vertiefungen an, die eine erotische Wirkung auf ihn ausübten.

Hermine blickte über ihre Schulter und erwischte Severus bei seiner gedankenverlorenen Observation. Erst als sie sich ihm näherte, blickte er kurz weg, fragte sie aber gleich im Anschluss: „War es dir zu kalt?“
„Nein“, sie setzte sich neben ihn, „es war mir zu laut.“ Das Buch in seinen Händen entging ihr nicht. Es war bei S aufgeschlagen. „Schlecht geträumt?“, fragte sie mit mitfühlender Miene.
„Nein, nur“, eine kurze Pause folgte, „geträumt.“
„Muss interessant gewesen sein, wenn du schon nachschaust.“
Diesen Satz deutete er als Hinweis, den Traum zu schildern, wozu er nicht bereit war. „Ein, zwei Dinge wollte ich nachlesen.“
„Ach ja? Du hältst das doch für Quatsch.“
„Du doch auch“, hielt er sofort dagegen.
Sie nickte. „Es kann trotzdem spannend sein. Man beschäftigt sich mehr mit seiner momentanen …“ Der Satz musste unterbrochen werden, weil sie kräftig gähnen musste. „Entschuldige.“ Ein sanftes Lächeln. „Ich meine, man hält sich seine Lebenssituation mehr vor Augen, auch wenn das meiste Stuss ist, was dort steht.“ Einen kurzen Moment zögerte sie, bevor sie wissen wollte: „Kam ich drin vor?“
„Ja“, erwiderte er knapp.
„Ich hoffe mal stark, ich war nett.“
Hermine gab ja doch keine Ruhe, dachte Severus, also warf er ihr einen Happen vor die Füße. „Erwähnte dein Vater nicht einmal, du hättest als Kind Blockflöte gespielt?“
„Hat er das gesagt?“ Weil Severus nickte, gab sie es zu. „Ja, es stimmt. Ich hab’s nicht gemocht.“
„Dein Vater sagte, du wärst nicht besonders gut gewesen.“
Hermine grinste. „Ich gestehe: Ich wollte meinen Eltern weitere Qualen ersparen und hab das Ding eingemottet.“ Erst jetzt wurde sie skeptisch. „Das hast du geträumt?“
„Ich nehme an, die Information deines Vaters habe ich im Traum lediglich so verarbeitet, wie ich sie von ihm …“
„Ich habe in deinem Traum Blockflöte gespielt?“ Es kribbelte ihr in den Fingern. „Darf ich?“, fragte sie und deutete zeitgleich auf das Buch auf seinem Schoß.
„Nein.“
„Es ist mein Buch. Ich werde sowieso irgendwann nachschauen“, gestand sie mit einem Augenzwinkern.
Das war auch wieder wahr, dachte er und reichte ihr das Buch, doch er hielt er eine Hand auf den Deckel. „Bevor du nachsiehst, wollte ich dich etwas fragen, etwas Persönliches.“
„Schieß los“, forderte sie locker auf.
„In unserer Beziehung“, er stockte, riss sich jedoch zusammen, „fehlt es an einer gewissen …“ Er kam aus dem Konzept, weil sie ihn verängstigt ansah. „Hör erst zu“, riet er. Sie nickte. „Es mangelt bisher noch an einer bestimmten Interaktion, die von vielen Paaren fälschlicherweise als wichtigster Aspekt einer Partnerschaft angesehen wird.“ An ihren Augen konnte er die Erleichterung erkennen, als sie verstand, was er zu sagen versuchte. „In dieser Hinsicht wollte ich dich fragen, ob dir das zu schaffen macht.“
Erst hob sich ganz kurz eine ihrer Augenbrauen, dann spitzte sie die Lippen und schüttelte den Kopf. „Was nicht ist, kann ja noch werden.“

Weil er nur nickte und seine Hand zurückzog, hielt Hermine die Angelegenheit für erledigt. Sie schlug das Buch auf und sah bei Flöte nach.

„Ah“, machte sie nach einem Moment. „Jetzt verstehe ich auch deine Frage.“ Sexuelle Bedürfnisse. „Aber du warst der Träumer, Severus, nicht ich.“ Hermine schloss das Buch und beugte sich nach vorn, um es auf dem Tisch abzulegen. Sie sah den noch immer verschlossenen Brief von dem Pflegeheim seines Vaters und nahm ihn in die Hand, legte ihn jedoch wieder zurück. Danach blickte sie ihm in die Augen. Ihre Lippen öffneten sich langsam.

Severus hatte aufmerksam verfolgt, wie sie den Brief angesehen hatte. Jeden Moment würde die Frage kommen, die er – wahrscheinlich auch neunzig Prozent aller Männer – nicht ausstehen konnte. Die Frage, die nie korrekt zu beantworten war. Severus wollte nicht über den Brief sprechen, er wollte ihr stattdessen den Wind aus den Segeln. Bevor die Worte über ihre Lippen kommen konnten, drehte er den Spieß um und stellte die verhasste Frage.

„An was denkst du gerade?“ Er hatte es geschafft, er war schneller gewesen.
Ihr verdutzter Gesichtsausdruck hätte ihn beinahe zum Lachen gebracht, wenn sie nicht auf der Stelle geantwortet hätte: „An Sex.“ Damit hatte er nicht gerechnet. Jetzt war er derjenige, der sie sprachlos anblickte. Sie setzte ihrer Antwort noch die Krone auf, als sie schüchtern lächelte und sagte: „Und ich habe auch wieder mal Lust dazu bekommen, Flöte zu spielen.“ Sie errötete bei ihrer eigenen Zweideutigkeit, lächelte aber tapfer weiter, womit sie ihn ansteckte. „Ich weiß nur nicht, ob ich es noch kann“, fügte sie unsicher an.

In diesem Augenblick fiel jede Scheu von ihm ab. Ihre eigene Unsicherheit gab ihm Kraft. Wie ihre Vorliebe für Zaubertränke teilten sie sich offensichtlich auch jene spezielle Befangenheit, für die es keinen Grund gab.

„Vielleicht“, er nahm ihre Hand in unmissverständlich romantischer Geste, „sollten wir uns ins Schlafzimmer zurückziehen, um gemeinsam ein wenig“, er küsste ihren Handrücken, „zu musizieren?“

Die Sonne ging auf, aber nicht draußen, wo das Gewitter tobte, sondern in ihren Augen.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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225 In vino veritas




„Warum nimmst du nicht den Kamin?“, fragte Ginny.
„Weil ich mich nicht lächerlich machen möchte, falls ich auf meinem Hintern lande und das auch noch vor Malfoy senior. Nein, ich appariere lieber.“
„Grüß Draco und Charles von mir. Ich gehe mit Nicholas ein wenig raus, vielleicht zu Hagrid.“
„Viel Spaß euch beiden.“ Mit einem Kuss verabschiedete sich Harry von Frau und Kind.

Vor den Toren Hogwarts’ apparierte er mit einem Zwischenstopp. Harry fand sich in der freien Natur wieder. Im Juli blühte die Glockenheide, die der großflächigen Wiese um ihn herum einen zartrosa Teint gab. Als er sich umdrehen wollte, wäre er beinahe gefallen. Seine Füße steckten im Moor fest.

„Verflucht nochmal!“ Nur eine Apparation befreite ihn, ansonsten wäre er verloren gewesen. Harry Potters Leiche hätte man eventuell Jahrhunderte später im trockengelegten Moor beim Torfstechen entdeckt. Was für ein Ende für den Held der Magischen Welt.

Vor dem Anwesen der Malfoys putzte er mit Hilfe seines Zauberstabes die Kleidung, um keinen schlechten Eindruck zu hinterlassen. Den Weg durch den Garten genoss Harry. Die Rhododendronbüsche – größer als er – blühten in allen möglichen Farben: weiß, rot, lila. Hier und da müssten sie mal beschnitten werden, aber dem farbenfrohen Anblick tat das keinen Abbruch. Es fiel auf, dass der Garten nicht so gepflegt war wie man es von einem Anwesen dieser Größe – vor allem aber von einer Familie mit so großem Vermögen – erwartete.

An der Tür klopfte Harry. Draco erwartete ihn, weshalb Harry fest damit rechnete, von ihm hereingebeten zu werden. Stattdessen öffnete Mr. Malfoy – Lucius Malfoy. Er hielt die neuste Ausgabe des Tagespropheten in der Hand und blickte an seiner langen, geraden Nase auf den Gast herab.

„Ah, Mr. Potter.“ Die Freude war geheuchelt. „Sind Sie etwa wegen der Stelle“, er wedelte mit der Zeitung, „als Haushälterin gekommen?“
Harry grinste. Er beherrschte das Spiel auch. „Ja, freilich! Ich kann ganz gut kochen, putzen und bestens mit Kindern umgehen.“

Das unechte Lächeln auf Lucius’ Gesicht blieb bestehen, als er darüber nachdachte, wie er kontern konnte.

„Vater, wer ist an der Tür?“, hörte man Dracos Stimme fragen, bevor er in Harrys Sichtfeld trat. „Ah, da bist du ja.“ Skeptisch beäugte Draco seinen Vater und den Gast, versuchte herauszubekommen, welche Stimmung gerade herrschte. Als er bei beiden angelangt war, fragte er geradeheraus: „Ist etwas vorgefallen?“
Sein Vater verneinte. „Wir haben lediglich gescherzt. Ab hier überlasse ich dir deinen Gast.“ Das angeboren höfliche Nicken folgte. „Mr. Potter.“
„Mr. Malfoy.“ Auch Harry nickte ihm zu. ‚Geht doch‘, dachte er.

Draco führte Harry in den ersten Stock. Noch auf der Treppe fragte Harry: „Ihr sucht eine Haushaltshilfe?“
„Vater sucht eine.“
„Warum beantragt er keinen Elf?“ Kaum war diese Frage über seine Lippen gekommen, beantwortete Harry sie sich selbst. „Er bekommt keinen.“
„Richtig.“
Dean Thomas arbeitete bei beim Amt für die Neuzuteilung von Hauselfen. „Ich könnte vielleicht mit dem Zuständigen im Ministerium …“
Draco winkte ab, schnaufte dabei. „Er schlägt meine Hilfe aus und das, obwohl ich Unmengen an vermittelbaren Arbeitskräften an der Hand habe. Glaubst du, er würde sich von dir helfen lassen?“

Die Antwort lag auf der Hand. Draco öffnete eine Tür und bat Harry herein. Im ersten Moment war er erschlagen von dem pompös eingerichteten Arbeitszimmer und blieb wie angewurzelt in der Mitte stehen, während Draco sich zu seinem Schreibtisch begab. Selbst der Tisch war beeindruckend, aus dunkelrotem Mahagoniholz gefertigt.

„Setz dich doch bitte“, bat Draco, zeigte dabei auf einen Stuhl, der teuer aussah. Vorsichtig nahm Harry vor dem Schreibtisch Platz. „Wie geht’s der Familie?“
„Gut. Ginny war bei der Untersuchung von Eintracht Pfützensee.“
„Wird sie genommen?“
„Wissen wir noch nicht. Erst in ein paar Wochen.“
„Sag ihr, ich wünsche ihr Glück.“
Harry nickte. „Was macht Charles?“
„Er spricht noch nicht und krabbelt lieber, anstatt zu laufen, aber es geht ihm bestens. Danke der Nachfrage. Er war enttäuscht, dass ich ihn eben beim Spielen alleingelassen habe.“

In diesem Moment hörte man jemanden an der Tür. Harry blickte über seine Schulter. Beim zweiten Versuch wurde die Klinke bis ganz nach unten gedrückt und die Tür schwang auf.

Draco konnte ein Lächeln nicht zurückhalten, als er zu dem Besuch sprach: „Bist wohl deiner Großmutter ausgebüxt.“ Scheu blickte Charles zu seinem Vater, dann zu Harry. Ja, er kannte alle Personen im Raum. Er stürmte hinein, fiel hin und krabbelte munter weiter. „Einen Moment, ich bringe ihn zu meiner Mutter zurück.“
„Nicht nötig“, warf Harry ein. „Lass ihn ruhig rein. Genau deswegen bin ich ja hier.“
„Wegen Charles?“, fragte Draco verwundert, als er seinen Sohn auf den Arm nahm.
„Nicht direkt wegen ihm, aber wegen Kindern.“
„Jetzt hast du mich neugierig gemacht.“ Zusammen mit seinem Sohn auf dem Schoß nahm Draco wieder hinter dem Schreibtisch Platz. „Du hast noch nicht erzählt, warum du mit mir sprechen möchtest.“

Nervös spielte Harry mit seinen Fingern. Draco wäre der Erste, dem er seine Idee von vorne bis hinten erklären würde.

„Ich möchte mich selbstständig machen.“
Hier zog Draco beide Augenbrauen in die Höhe, was ihn arrogant aussehen ließ. „Was möchtest du machen? Ein Buch über dein Leben schreiben? Ein Tipp von mir: Dein Leben hat so viel Potenzial, dass du es in mehreren Büchern unterbringen kannst. Dann verdienst du dir eine goldene Nase und musst nie wieder einen Finger …“
„Ich möchte einen Kindergarten eröffnen.“

Das Einzige, das man im Raum hörte, war das zufriedene Gurgeln von Charles, als er nach dem bunten Briefbeschwerer griff. Draco hingegen war so überrascht, dass er völlig sprachlos war.

„Was ist?“, fragte Harry vorsichtig nach. „Findest du die Idee blöd?“
„Ich …“ Draco räusperte sich. „Wenn du mir die Definition des Wortes Kindergarten näherbringen würdest. Ich will ehrlich sein. Ich weiß nicht, was das sein soll.“
„Das ist eine Muggeleinrichtung, wo Eltern ihre Kinder unterbringen können, bevor sie zur Arbeit gehen. Und danach“, weil Draco ihn mit seinen graublauen Augen so eindringlich ansah, kam Harry ins Straucheln, „holen sie sie wieder ab.“
Die Konzentration versah Dracos Stirn mit kleinen Falten. Es dauerte einen kleinen Augenblick, bis er seine Überlegungen mitteilte: „Aber es ist doch immer ein Elternteil Zuhause. Wozu dann …?“
„Damit beide arbeiten gehen können, wenn sie möchten. Aber das ist gar nicht der Hauptgrund.“ Harry bemerkte, dass Draco von dem Gedanken nicht angetan war. „Es geht mir darum, Kinder zusammenzubringen. Hat Charles Freunde im gleichen Alter, die er regelmäßig sieht?“
„Nein“, kam unverzüglich zurück. „Aber ich hatte früher auch keine …“ Dracos Mund stand zwar weiterhin leicht offen, aber es kamen keine Worte mehr über seine Lippen, als er über das Ende seines Satzes nachdachte. „Ich bin wohl ein schlechtes Beispiel. Erzähl mir mehr. Ich möchte mir ein Bild von der Sache machen.“

Harry könnte sich selbst Ohrfeigen. Er hatte sich überhaupt nicht darauf vorbereitet zu erklären, was ein Kindergarten war. Dass Hermine solche Einrichtungen kannte, selbst Severus mit dem Begriff etwas anzufangen wusste, war nur logisch. Beide lebten lange genug in der Muggelwelt, hatten als Kind selbst vielleicht einen besucht. Draco hingegen war in Muggelbelangen völlig unbeleckt.

„Es geht darum, den Eltern die Entscheidung zu lassen, ob einer für die Kinder Zuhause bleiben möchte oder beide arbeiten gehen“, versuchte Harry verständlich zu erklären.
Draco hielt gleich dagegen: „Es ist Tradition, für den Nachwuchs daheimzubleiben.“ Demonstrativ wippte Draco mit seinen Knien auf und ab. Charles lachte. „Was für einen Vorteil hat es, doppelt zu verdienen, aber dabei seine Kinder seltener zu Gesicht zu bekommen?“
„Ähm, ja.“ Harry biss sich kurz auf die Unterlippe. „Man könnte den Kindern spielerisch schon etwas über die Magische Gesellschaft beibringen.“
„Diese Aufgabe übernehmen die Erziehungsberechtigten.“
Harry grinste, aber an seinem Gesichtsausdruck erkannte man die Hilflosigkeit. „Sag mal, was soll das? Warum machst du alles mies?“
„Ich mache nichts mies, Harry. Ich sehe es aus der Sicht eines Geschäftsmannes. Ich möchte dir ungern Ratschläge erteilen, wenn am Ende keine magische Familie deinen Kindergarten in Anspruch nehmen möchte. Verkauf mir deine Idee.“

Diesmal lutschte Harry an seiner Unterlippe und blickte zur Seite. Die Finger seiner rechten Hand trommelten auf der Armlehne, während er überlegte, wie er seine Idee an den Mann bringen könnte.

„Es ist wichtig für Kinder, dass sie mit Gleichaltrigen interagieren können.“ Harry dachte, das wäre ein überzeugendes Argument, aber er irrte sich.
„Sagt wer?“
Mittlerweile fand Harry das Gespräch anstrengend. Er hatte es sich leichter vorgestellt. „Darüber gibt es Studien.“
„Muggelstudien?“ Harry nickte. „Bring sie das nächste Mal mit. Ich will mir das ansehen. Was noch?“
„Was meinst du?“
„Ich kann mich daran erinnern, dass die Parkinsons früher oft hier waren, mit Pansy. Es gibt für Eltern also eine kostengünstige Variante, Gleichaltrige zusammenzubringen. Warum braucht die Magische Welt einen Kindergarten?“
„Mann, du bist eine harte Nuss“, nörgelte Harry, woraufhin Draco nur grinste. „Muggelgeborene Hexen und Zauberer!“, fiel ihm plötzlich ein. „Die könnte man auf diesem Weg schon vorbereiten.“
Draco schüttelte den Kopf. „Die bekommen ihr Schreiben aber erst mit elf Jahren. Vorher …“
„Ich habe mit dem Minister gesprochen“, unterbrach Harry. „Er hat zugesagt, in diesem Fall die Eltern magischer Kinder schon früher zu kontaktieren – mit Aussicht auf einen Kindergartenplatz.“
„Du hast mit Minister Weasley darüber gesprochen?“
„Klar“, Harry zuckte mit den Schultern. „Weißt du, ich bin damals aus allen Wolken gefallen, als die ganzen Eulen mit den Briefen von Hogwarts kamen.“
„Die ganzen Eulen?“, wiederholte Draco verdutzt. „Wie viele Einladungen hast du denn bekommen?“
„Das müssen Hunderte gewesen sein.“ Harrys Gegenüber machte ganz große Augen, weshalb er erklärte: „Meine Verwandten wollten verhindern, dass ich nach Hogwarts gehe. Sie haben mir die Briefe immer weggenommen.“ Harry wollte das unangenehme Thema wechseln. „Muggelgeborene sollten nicht einfach ins kalte Wasser gestoßen werden. Es gibt hier eine Menge Dinge, die einem Angst machen können.“
„Den Punkt kann ich nachvollziehen.“ Mit dem Jungen im Arm lehnte sich Draco nach vorn und zog ein leeres Stück Papier heran, auf dem er eine Notiz machte.
Harry machte Stielaugen, konnte aber trotzdem nichts erkennen. „Was schreibst du da?“
„Ist erst einmal unwichtig. Erzähl weiter. Was für Vorteile hat der Kindergarten noch? Momentan scheint er nur für Muggelgeborene interessant zu sein.“
„Der Kindergarten soll nicht nur für Zauberer und Hexen sein“, stellte Harry klar. „Auch für Squibs. Für Kinder eben, egal in welche Schublade man sie stecken möchte. Hauptsache, sie haben irgendwie mit der Magischen Welt zu tun.“ Draco schrieb wieder etwas auf sein Papier. Ohne eine erneute Aufforderung gab Harry weitere Ideen preis. „Auch die Geschwister, die nicht zaubern können …“
„Das geht jetzt aber etwas zu weit, meinst du nicht?“, fragte Draco mit dem Tonfall damaliger Verachtung.
„Finde ich nicht. Soll man sie trennen?“ Mit seinen Händen machte Harry eine fragende Geste. „Soll man gleich von Anfang an deutlich machen, dass ganze Welten zwischen ihnen liegen? Der eine ist besser, der andere nur ein Muggel?“

Wie Tante Petunia sich wohl gefühlt haben musste, fragte sich Harry in Gedanken. Lily bekam einen Brief von Hogwarts, die Schwester nicht. Harry wollte gar nicht wissen, wie viele geschwisterliche Beziehungen dadurch einen Bruch erlitten hatten.

Bei Draco zeigte sich keine Regung. Er starrte Harry einfach nur an, aber der Blick war finster. Jeden Moment – so schien es – würden aus Draco all die schlimmen Bezeichnungen hervorbrechen, die er als Kind schon gelernt hatte. Blutsverräter, Schlammblut, Muggel. Harry wartete ruhig und hielt den Blickkontakt.

Draco kämpfte mit sich, bemühte sich, sein altes Ich dort zu lassen wo es war. Tief in ihm verwurzelt gab es sie noch immer, die geringen Ansichten über Muggel. Er schaute Harry in die Augen, um nach einer versteckten Provokation zu suchen. Er fand nichts außer Geduld.

Muggel. Sie durften neben Draco existieren, ohne dass er die Nase rümpfte. Bei Halbblütern und Muggelgeborenen konnte er heutzutage ebenfalls ein Auge zudrücken. Ihm machte jedoch zu schaffen, dass Harry kurzerhand Spreu und Weizen in einen Topf werfen wollte. Keine Selektion mehr. Das Beste vom Besten sollte einem Pfuhl der Gewöhnlichkeit untergemengt werden. Dracos linke Oberlippe bebte, als wollte er das Gesicht vor Ekel verziehen. Alle sollten gleich sein, wenn es nach Harry ging. Draco hatte nichts gegen ein wenig Kontakt zur Muggelwelt einzuwenden. Und je länger er über Harrys Idee nachdachte, desto mehr Bedeutung sah er in ihr. Es war eine Aktion von viel größerer Tragweite als Harry vermutete. Was sein Freund hier anstrebte war eine nie da gewesene gesellschaftliche Integration, die sogar eine politische Auswirkung haben würde. Politik! Ein Malfoy würde nach langer Zeit wieder Politik machen. Einer von Dracos Mundwinkeln hob sich, bevor er sich nochmals nach vorn beugte und eine Notiz niederschrieb.

„Was schreibst du da ständig?“
Draco blickte auf. „Ich halte dein Konzept fest. Du brauchst doch einen Sponsor für die Umsetzung, der wissen möchte, in was er investieren soll, oder irre ich mich?“
„Ich wollte eigentlich nur in Erfahrung bringen, was ich alles beachten muss. Von den Gesetzen her und so weiter. Ich habe noch nie etwas Geschäftliches gemacht. Außerdem gibt es da eine Räumlichkeit, die ich gern mieten würde. Man sagte, es gäbe da eventuell Probleme.“
„Probleme welcher Art?“
„Das Haus gehört der Bank – Gringotts. Sie vermieten nicht an jeden.“
Draco lachte. „Nicht mal an Harry Potter?“
„Ich hab’s noch nicht probiert.“
„Na dann“, Draco winkte mit dem Stück Papier, nach dem Charles sofort greifen wollte. „Ich glaube nicht, dass die Kobolde dem hier eine Absage erteilen möchten.“ Die Stichpunkte hielt er sich vor Augen, bevor er sie in Sätzen zusammenfasste: „Du schaffst einen Ort, an dem die Freundschaft zwischen Muggeln und Magiern nicht nur auf symbolischer Ebene stattfinden soll. Des Weiteren setzt du ein klares Zeichen gegen Diskriminierung, indem du die Einrichtung für Squibs ebenfalls zugänglich machen möchtest. Eine soziale Interaktion mit Gleichaltrigen wird gefördert, was laut Studie für eine gesunde Entwicklung der Kinder erforderlich ist. Zu guter Letzt kurbelst du die Wirtschaft an, indem du beiden Elternteilen die Möglichkeit bietest, ein produktives Mitglied der Gesellschaft zu werden.“ Draco blickte auf und bemerkte, dass Harry irritiert dreinschaute. „Das hast du gesagt.“
„Hab ich?“ Aus Dracos Mund hörte sich sein Vorhaben so fremd an. „Ich meine: Ja, hab ich!“
„Sag ich doch. Es wird den Kobolden gefallen, dass die Ehepaare mehr Geld auf die Bank bringen. Letztendlich profitieren sie davon. Kommen wir zu den Finanzen. Du meinst, du brauchst keinen Sponsor?“
„Ich denke nicht. Wenn erst einmal alles eingerichtet ist, dann wird sich der Kindergarten hoffentlich selbst tragen.“
„Mit Hoffnung hat das wenig zu tun, Harry. Mit Rechnungen schon mehr. Schreib auf, was du alles benötigen wirst. Trenne zwischen monatlichen und einmaligen Kosten. Ich werde mich beim Ministerium informieren, ob so eine Einrichtung bestimmten Regeln unterworfen ist. Es wäre auch gut für dich, wenn du vielleicht mal in einem dieser Muggel-Kindergärten nachsiehst, wie die das handhaben.“

Jetzt lief alles so, wie Harry es sich anfangs vorstellte. Draco machte ihn auf Dinge aufmerksam, die er übersehen hätte.

„Du solltest deinen Antrag auf Hauselfen rechtzeitig einreichen, damit …“
Harry unterbrach. „Ich wollte keine Hauselfen beschäftigen.“
„Dann willst du richtiges Personal einstellen? Das wird teuer, das sage ich dir gleich. Andererseits habe ich genügend Leute an der Hand, die dringend eine Beschäftigung suchen. Wenn es soweit ist, dann sprich mich an.“
„Werde ich“, sagte Harry und nickte dabei heftig. Er zeigte auf das Stück Papier. „Darf ich?“
„Klar.“

Harry überflog alle Punkte, die Draco festgehalten hatte. Für das vorhin deutlich lange Zögern von Draco fand er keinen Hinweis. Was in Dracos Kopf vorgegangen war, als er über magische Kinder und deren nicht-magische Geschwister gesprochen hatte, würde für immer ein Geheimnis bleiben.

„Du hast eine Sauklaue“, platzte aus Harry heraus, ohne dass er es aufhalten konnte.
Draco grinste. „Ich wünsche mir zu Weihnachten ein magisches Schreibfederset. Dann ist das Problem behoben.“
Eine Sache fiel Harry ein, die er noch zu regeln hatte. „Wo wir gerade von Geschenken sprechen.“
„Ich weiß nicht, womit man meinem Vater eine Freude bereiten kann“, riet Draco ganz richtig. „Er denkt nicht daran, mir einen Hinweis zu geben. Wir haben uns all die Jahre offensichtlich doch mehr auseinandergelebt, als ich geglaubt habe.“

Mit einem Seufzer ließ Draco den Jungen hinunter, der prompt um den Tisch herum zu Harry lief. Harry konnte nicht anders, er musste Charles über den Kopf streicheln. Das rotblonde Haar war so sehr gewachsen, dass sich am Pony eine große Locke geformt hatte, die mit jedem Schritt auf und ab wippte. Der Junge sah sich im Büro um, bis er etwas entdeckte. Ein Bilderrahmen auf dem Arbeitstisch. Harry sah nur die Rückseite. Sicherlich ein Bild von Susan und Draco, dachte er sich. Charles griff danach und hätte es beinahe fallengelassen, doch Harry war schneller. Das gefangene Bild drehte Harry um. Zu seinem Erstaunen zeigte es Lucius und Narzissa an einem Strand. Beide lächelten glücklich.

„Die Hochzeitsreise meiner Eltern“, erklärte Draco, der das Bild tagtäglich vor Augen hatte und es bisher nie übers Herz bringen konnte, es gegen ein eigenes auszutauschen. Er hatte bereits ein schlechtes Gewissen, dem Vater das Büro genommen zu haben.
„Wo waren sie?“
„Auf einigen Inseln im Indischen Ozean. Das da“, Draco zeigte auf das Bild in Harrys Hand, „war auf Mauritius.“
Nochmals musterte Harry das Bild, betrachtete den blauen Himmel und die dazu strahlenden Gesichter der frisch Verheirateten. „Scheint ihnen gefallen zu haben“, murmelte Harry.
„Mein Vater sagte früher immer, die Hochzeit und die anschließende Reise waren die schönsten Augenblicke in seinem Leben – bis ich kam.“

Harry hätte Lucius nie als Familienmensch eingestuft, aber er schien tatsächlich einer zu sein. Das zeigte auch sein Umgang mit Charles.

Ein Gedanke formte sich langsam. „Vielleicht wäre es eine gute Idee, ihm nochmal so einen Augenblick zu schenken?“
Draco stand auf und ging um den Tisch herum zu Harry, um – obwohl er es auswendig kannte – einen Blick auf das Foto zu werfen. „Du könntest Recht haben. Aber Mauritius ist nicht billig.“
„Du meinst wirklich, das wäre was für ihn?“
„Ich kann mir nichts Schöneres für ihn vorstellen, als eine Reise mit meiner Mutter an einen Ort, an dem er glücklich war.“
Behutsam stellte Harry den Rahmen zurück auf den Schreibtisch. „Dann müssen wir mit deiner Mutter nur noch besprechen, wann es ihnen passen würde. Das Geld für die Reise ist kein Problem. Wir legen einfach alle zusammen.“
„Ich muss schon sagen …“ Draco grinste, nickte zustimmend. „Du rettest mir damit den Hals. Ich hätte mir sonst lang und breit anhören müssen, wie einfallslos ich wäre, nicht einmal dem eigenen Vater ein schönes Geschenk machen zu können.“

Unten in der Eingangshalle wurden Harry und Draco Zeuge dessen, wie eine junge Frau hoch erhobenen Hauptes und mit sichtlicher Wut im Gesicht zur Tür stürmte. Lucius Malfoy eilte hinter ihr her. Es wurden ein paar Worte gewechselt, bevor die Dame, noch immer erbost, das Haus verließ. Lucius seufzte, bemerkte erst dann die beiden jungen Männer auf der Treppe.

„Sie war nicht geeignet“, sagte er zu seinem Sohn, als der bei ihm angelangt war.
„Warum?“
„Sie ist nicht sehr kundig mit dem Stab.“
Harry machte den Fehler, sich in das Gespräch einzumischen. „Mit der Hand kann man auch kochen und putzen.“
Langsam drehte sich Lucius zu Harry, achtete derweil darauf, den aristokratisch anmuten Gesichtsausdruck zu wahren – die Mimik, die ihn arrogant wirken ließ. „Mr. Potter, ich weiß nicht, wie Sie sich das vorstellen, ein Haus von dieser Größe ohne Zauberstab rein zu halten. Wäre man mit den Räumen fertig, könnte man gleich wieder von vorn beginnen. Außerdem war die Dame nicht …“
Sein Sohn unterbrach: „Nicht reinblütig?“
Draco erhielt einen bösen Blick von seinem Vater, eine nonverbale Rüge, bevor Lucius seinen Satz leise vervollständigte: „… nicht im Umgang mit Kindern geschult.“

Diesen Moment hielt Harry für den perfekten Zeitpunkt, sich aus dem Hause Malfoy zu verabschieden. Er wollte nicht mit ansehen, wie sich Draco mit seinem Vater zankte.

Harry apparierte in die Winkelgasse. Nicht Hermine wollte er einen Besuch abstatten, sondern dem Reiseunternehmen, das dort kürzlich ansässig wurde. Es hätte ihm bereits an der leeren Straße auffallen müssen, aber erst, als er vor den verschlossenen Türen stand, fiel ihm wieder ein, dass zur Mittagszeit die meisten Geschäfte geschlossen hatten. Jetzt hätte er die Wahl, bei Florean kostenlos ein Eis zu essen – der Mann nahm noch immer kein Geld von ihm – oder doch Hermine mit seiner Anwesenheit zu beglücken. Er entschied sich für Letzteres.

Die Tür der Apotheke war natürlich verschlossen. Harry wagte es nicht, die Klingel für Notfälle zu betätigen. Es wäre falsch. Stattdessen, das hatte er sich von Nicholas abgeschaut, drückte er seine Nase an die Fensterscheibe der Tür und spähte in den Raum hinein. Etwas bewegte sich. Da war jemand. Harry klopfte. Als ein Kopf gehoben wurde, winkte er. Die Person hinter der Theke stand auf und näherte sich der Tür. Erst jetzt bemerkte Harry, dass es sich weder um Hermine noch um Severus handelte. Daphne öffnete ihm. In der Schule hatten sie nie ein Wort gewechselt.

„Hallo Harry.“
Er war froh über die persönliche Begrüßung. In seinen Augen war es albern, ehemalige Schulkameraden mit Sie anzureden. „Hallo Daphne. Ist Hermine da?“
„Im Labor. Komm rein und warte kurz. Ich sag ihr Bescheid.“

Hinter Harry wurde die Tür wieder geschlossen. Es dauerte nicht lange, da kam Daphne mit Hermine zurück.

„Hi Harry, ich hoffe, es ist kein Notfall.“
Er schüttelte den Kopf. „Sag mal, kann ich bei euch warten, bis die Läden wieder öffnen?“
„Klar.“ Sie bedeutete ihm, dass er ihr folgen sollte. An der Theke vorbei warf Harry noch einen Blick auf Daphne, die es sich dort mit einer Tasse Kaffee, einem Mohnhörnchen und der Buchführung gemütlich gemacht hatte. Sie sah gestresst aus.

Im Labor nahm er auf dem Hocker Platz, dem Hermine ihm anbot. Sie selbst eilte zurück zu ihrem Kessel.

„Guten Tag, Severus.“ Der konzentrierte Tränkemeister erwiderte seinen Gruß, ohne den Blick von dem Gebräu zu nehmen.
Während Hermine eine Zutat in ihren Kessel warf, fragte sie: „Was führt dich in die Winkelgasse?“
„Ich will ins Reisebüro und mir ein paar Kataloge besorgen.“
„Ach“, Hermine grinste, „endlich Zeit für eine Hochzeitsreise gefunden?“
„Was?“ In Gedanken wiederholte er die Frage. „Nein, wir reisen später. Ich komme gerade von Draco, wegen … Du weißt schon.“ Sie nickte. „Und ich habe ihn gefragt, was man seinem Vater schenken könnte.“
Hier blickte Severus kurz von seinem Kessel auf und fragte: „Und?“
„Eine Reise“, offenbarte Harry. „Neulich waren Remus und Sirius bei mir. Beide hatten keine Idee. Es kam der Vorschlag, etwas Größeres zu besorgen, an dem sich alle beteiligen können.“ Harry schaute zu Hermine, dann wieder zu Severus. „Habt ihr selbst etwas oder möchtet ihr bei dem Sammelgeschenk mitmachen?“
„Was soll es denn kosten?“, wollte Severus wissen.
„Kann ich noch nicht sagen. Deswegen brauche ich die Kataloge. Ich habe keine Ahnung, wie teuer es wird, die Malfoys nach Mauritius zu verfrachten.“
„Mauritius!“, wiederholte Hermine den Namen mit Verzückung in der Stimme. „In Moka gibt es ein kleines Zaubereiinstitut, das sich mit dem Gift des Steinfischs beschäftigt.“
„Mmmh“, machte Harry, der keine Ahnung hatte, wovon Hermine sprach.
„Es gibt dort einen verborgenen Strand für magische Touristen.“
Wie es aussah, war Hermine bestens informiert, dachte Harry. Severus ebenso, denn er sagte: „Sofern ich mich erinnere, war das einer der Orte, die Lucius für seine Hochzeitsreise ausgewählt hat.“
„Stimmt“, bestätigte Harry. „Die Idee kam mir, als ich ein Bild von besagter Reise gesehen habe.“
„Also, ich würde mich gern daran beteiligen.“ Hermine stellte das Feuer unter dem Kessel auf kleine Flamme. „Ich wüsste nämlich auch nicht, was man Dracos Vater schenken könnte.“
„Ich wüsste schon etwas“, kam von Severus.
Hermine hielt gleich dagegen: „Nichts Schwarzmagisches!“
„Warum?“
„Weil ein kleines Kind in dem Haus wohnt.“
„Das hat bei Draco auch keinen Schaden hinterlassen“, konterte Severus, denn es war die Wahrheit. Von schwarzmagischen Gegenständen war Draco nicht so hochnäsig geworden – daran war die Erziehung schuld gewesen.
Um keinen Streit vom Zaun zu brechen, atmete Hermine einmal tief durch, bevor sie sich wieder an Harry wandte. „Ich gebe was zu der Reise dazu. Plan mich fest ein.“ In Windeseile war das Thema gewechselt, denn sie fragte: „Was kam bei dem Gespräch mit Draco raus?“
„Ich muss einige Informationen sammeln und sie ihm bringen. Soweit sah erst mal alles gut aus. Er hat jedenfalls nicht gesagt, es wäre Stuss.“
„Was für Informationen will er denn haben?“
„Na ja, in einem Anflug von Überheblichkeit habe ich von einer Studie erzählt, die belegt, dass die Entwicklung von Kindern gefördert wird, wenn sie mit Gleichaltrigen zusammen sind.“
Hermine wurde stutzig. „Und?“
„Ich weiß nicht mal, ob es so eine Studie überhaupt gibt und wenn ja, wie ich da rankomme.“ Er klimperte mit seinen Wimpern.
„Das hätte ich eigentlich ahnen müssen“, sagte sie mit einem frechen Lächeln. „Ich such dir eine Adresse raus, wo du so etwas anfordern kannst.“
„Klasse, danke Hermine! Was wäre ich nur ohne dich?“
Severus konnte sich nicht zurückhalten. „Und ich sage es nochmal, Hermine: Du solltest dafür Geld nehmen.“
„Für was? Fürs Beschaffen von Informationen? Das ist ein Freundschaftsdienst.“ Sie zwinkerte Harry zu, und er musste sich ein Lachen verkneifen.

Als die Geschäfte wieder öffneten, verabschiedete sich Harry. Ein paar Minuten später schaute Daphne ins Labor.

„Ich brauche mal kurz jemanden im Verkaufsraum.“
Hermine konnte sich fünf Minuten erlauben, seitdem Severus die Braupläne nicht mehr so knapp gestaltete. „Ich komme.“

Ein Auge warf Severus auf Hermines Kessel, während er seinen Trank braute. Nur wenige Minuten später war sie zurück. In ihrer Hand hielt sie eine dicke Mappe. Sie las etwas.

„Was hast du da?“, wollte Severus wissen.
„Einen Brauauftrag.“
„Etwas viel Papier für einen einfachen Brauauftrag.“
Sie schnaufte. „Wer sagt denn, dass er einfach wäre?“ Mit dem Zeigefinger tippte sie auf einige Stellen. Sie schien zu zählen. „Wir haben eine Brauanfrage für achtundzwanzig Liebestränke erhalten. Elf von ihnen sollen mit einem potenzsteigernden Mittel versetzt sein.“
Severus erlaubte sich ein schiefes Grinsen. „Sind wir auch zu der Party eingeladen?“
Mit einer in die Hüfte gestemmten Hand wollte Hermine Empörung vortäuschen, doch das Lächeln in ihrem Gesicht machte ihr einen Strich durch die Rechnung. „Die Party findet im Zoo statt. Offensichtlich haben einige Tierchen keine Lust, für Nachwuchs zu sorgen.“ Sie legte den Brauauftrag auf den Tisch. „Und außerdem braucht keiner von uns beiden einen Liebestrank. Oder einen, ähm …“ Sie besaß die Grazie zu erröten.
„Das natürliche Rouge steht dir“, stichelte er freundlich.
Verlegen legte Hermine eine Hand auf die heiße Wange. „Dir auch!“, wollte sie dagegenhalten, doch Severus’ Wangen waren fahl wie der Vollmond, der wieder vor der Tür stand.
„Meine Wangen sind mit vornehmer Blässe gesegnet.“
„Warten wir mal ab, ob das heute Abend immer noch so ist“, erwiderte sie dreist.

Gerade noch rechtzeitig drehte sich Severus um, um seinen Trank in Flaschen abzufüllen. Auf diese Weise konnte Hermine nicht sehen, dass sich zwei kreisrunde Stellen in seinem Gesicht blassrosa färbten.

Ohne sich umzudrehen sagte er wenig später: „Morgen Abend kommen Mr. Worple und Mr. Sanguini. Ich möchte, dass du dich etwas in mein Projekt einliest.“
„In den Bluttrank? Klar, aber warum jetzt auf einmal?“
„Du sollst bestens informiert sein, falls ich unerwartet das Zeitliche segnen sollte.“
„Severus!“ Sie klang wütend. „Sag nicht sowas.“
„Warum nicht? Man muss vorausschauend handeln. Ich möchte, dass alles glatt läuft, wenn ich mal nicht …“
„Jetzt hör aber auf!“
„Ich könnte sonstwas haben.“

Hermine hatte genug. Sie zog ihren Stab und richtete ihn auf Severus, der im ersten Moment nicht wusste, was ihn erwartete. Es folgten Zaubersprüche, die ihm nicht geläufig waren. Als das erste Pergament sich in der Luft materialisierte, verstand er, dass Hermine gerade Diagosesprüche an ihm anwandte.

„Hör sofort damit auf!“, befahl er. Schon zwei Pergamente waren auf Hermines Tisch geschwebt.
„Nur den einen noch.“
„Ich habe nicht meine Zustimmung gegeben, dass du …“
Sie hörte überhaupt nicht zu, griff stattdessen zum ersten Pergament und las die Resultate: „Zucker ist in Ordnung, Leberwerte auch.“ Einige Spalten ließ sie unkommentiert. „Eisen könnte etwas höher ausfallen, aber sonst ...“ Den Rest nickte sie zufrieden ab, bevor sie zum zweiten Pergament griff. „Wie kannst du nur so einen niedrigen Blutdruck haben, wo du immer so viel Kaffee in dich reinschüttest?“ Er kam nicht dazu, ihr Konter zu geben, denn sie griff zum dritten Pergament. „Sieht alles wunderbar aus. Das Einzige, was du hast, ist eine kleine Zyste über den linken Backenzähnen“, unbewusst fuhr er mit der Zunge über besagte Stelle, was eine sichtbare Beule an der Wange hinterließ, „die aber gerade dabei ist, wieder zu verschwinden. Und du hast eine leichte Hyperthyreose.“
„Eine was?“
„Eine leichte Schilddrüsenüberfunktion.“ Hermine schaute ihn mit ihrem Heilerblick an, der ihn zu röntgen schien. „Vielleicht bist du deshalb so dünn?“
„Ich bin nicht …“ Er biss sich auf die Zunge. Wegen ihrer Übereifrigkeit nur minimal missgestimmt sagte er in sarkastischem Tonfall: „Mir geht es gut, danke der Nachtfrage. Wenn das Elixier des Lebens das nicht geheilt hat, dann befindet sich für mich alles im Normbereich.“
„Ja, da hast du Recht.“ Hermine strahlte, bevor sie die Pergamente mit einem Evanesco verschwinden ließ. „Was zieht man zu einer Feier bei den Malfoys eigentlich so an?“, fragte sie völlig unerwartet.
„Aus seiner Einladung konnte ich herauslesen, dass legere Kleidung ausreicht. Das hat mich etwas verwundert. Früher wurde immer zur Abendgarderobe aufgefordert.“
„Es reicht also ein hübsches Sommerkleid.“
„Würde ich meinen“, erwiderte Severus.
„Und was ziehst du an?“ Aufgrund seines Blickes hielt sie eine Hand in die Höhe und scherzte: „Schon gut. Tut mir leid, dass ich gefragt habe.“ Gut gelaunt schnitt sie ihre Zutaten und murmelte: „Ich hoffe, es fällt nichts vor.“
„Was sollte vorfallen?“ Er erinnerte sich an den Tag, an dem er Lucius wegen einer Beleidigung, die Hermine galt, zurechtweisen musste. „Ich denke nicht, dass er sich danebenbenehmen wird. Er mag andere Ansichten vertreten, aber er weiß, was sich für Menschen seines Kalibers gehört. Auf der eigenen Feier ausfallend zu werden zählt nicht zum guten Ton.“
„Trotzdem“, Hermine wackelte unschlüssig mit dem Kopf hin und her. „Remus ist ein Werwolf, Susans Mutter und Sirius’ Frau sind Muggel.“
„Das wird in der Tat eine Premiere sein. Die Malfoys haben damals sehr darauf geachtet, wer das Haus betritt. Muggel waren verständlicherweise nie darunter.“
„Du als Halbblut warst immerhin dort, zu Dracos Taufe.“
Severus verbesserte: „Das war keine Taufe. Das war die Feier, bei der ich zu seinem Patenonkel ernannt wurde.“ Er blickte von seinem Kessel auf. „Ich weiß nicht, warum, aber bei mir hat man großzügig über die Herkunft des Vaters hinweggesehen.“
„Über was kann man sich mit Mr. Malfoy unterhalten?“
Ihre Frage irritierte ihn. „Warum willst du das wissen?“
„Na, man muss als Gast doch wenigstens ein Mal mit dem Geburtstagskind geplaudert haben. Ich will mich nicht dumm anstellen.“
„Du plapperst doch sonst immer munter drauf los, warum nicht auch bei ihm?“ Severus musste schmunzeln, weil Hermine versuchte, böse dreinzuschauen. „Er interessiert sich für Politik, allerdings rate ich davon ab, die neuen Gesetze anzusprechen.“
„Aber das ist ein brandaktuelles und heiß diskutiertes Thema.“
„Gerade deswegen. Ihr wollt doch nicht als zwei Kampfhähne enden, die man mühsam auseinanderbringen muss.“
„Na, du machst mir vielleicht Mut.“ Hermine seufzte leise.
„Lucius hat sich immer sehr für Schutzzauber interessiert.“
„Oh!“ Das war ein Thema, über das sie Bescheid wusste.
„Ja, er hat immer versucht, Wege zu finden, die seiner Feinde zu durchbrechen.“
Diesmal klang ihr Oh wenig enthusiastisch. „Kein gutes Thema. Sonst noch was? Hobbies?“
„Schwarze Magie.“
Sie rollte mit den Augen. „Und irgendwas Normales?“
„Soweit ich weiß, spielt er hervorragend Klavier.“ Schadenfreude breitete sich auf Severus’ Gesicht aus. „Du könntest ihn bitten, dich zu begleiten, während du Flö…“
„Vergiss es! Er muss doch noch andere Hobbies haben, irgendwelche Interessen. Was hat er denn die ganze Zeit gemacht, wenn er nicht gerade Voldemorts Speichellecker war?“
„Im Ministerium die Mitarbeiter ausgehorcht. Hermine, wirklich“, Severus legte sein Messer beiseite, „mach dir keine Gedanken. Lass den Tag auf dich zukommen. Ein Gespräch, wenn es sein muss, wird sich von ganz allein ergeben.“

Als er seinen Kessel unbeaufsichtigt lassen konnte, widmete sich Severus der Brauanfrage des Zoos. Es waren 28 verschiedene Tierarten, bei denen man Nachwuchs arrangieren wollte.

„Rentiere“, murmelte er gedankenverloren. „Da ist eine Nachzucht immer schwierig.“ Er blätterte weiter. „Nebelparder, Fischkatzen“, er stutzte, „Galápagos-Riesenschildkröten? Die sollten sich lieber an den Zoo Zürich wenden. Europaweit ist das der einzige Zoo, dem die Nachzucht überhaupt gelungen ist. Kürzlich stand in der Zeitung, im Juni wäre das fünfzigste Jungtier geschlüpft.“ Severus blätterte hin und her. „Steht irgendwo, wie viel wir damit verdienen können?“
„Nein, der Herr sagte, wir sollen ihm ein Angebot unterbreiten.“
„Ah, dann werden wir das demnächst in Ruhe durchrechnen. Billig wird es nicht. Wir benötigen die veterinärärztlichen Unterlagen von jedem einzelnen Tier.“
„Ich befürchte nur, wir werden gar keine Zeit haben, um uns so intensiv mit einem Kunden zu befassen.“

Ohne Kommentar, denn er sah keinen Grund dafür, dem Offensichtlichen zuzustimmen, legte Severus den interessanten Brauauftrag zur Seite. Er wollte ihn zu gern annehmen, aber Hermine hatte Recht. Sie würden ihn nicht erfüllen können. Vielleicht, mit etwas Glück, würde er eine Möglichkeit finden.

Am nächsten Abend gegen halb sieben kamen Mr. Worple und Mr. Sanguini zu Besuch. Normalerweise nickte der Vampir zur Begrüßung, aber dieses Mal hielt er ihr die Hand entgegen. Hermine hatte ihre Lektion gelernt. Sie schüttelte die Hand des Vampirs nicht.

„Sie können ruhig, Miss Granger“, ermutigte Mr. Worple sie mit freundlichem Lächeln.
„Ich …“

Keinesfalls wollte Hermine auf ihren damaligen Ausrutscher mit Mr. Caedes aufmerksam machen. Andererseits war es Mr. Worple gewesen, der ihr nach dem Biss sofort zur Seite gestanden hatte. Wenn Mr. Worple sein Okay gab, sollte alles in Ordnung sein. Sie schaute zu Sanguini, der momentan harmlos und darüber hinaus umwerfend gut aussah – wie immer. Unter Severus’ wachen Augen reichte sie dem Vampir vorsichtig die Hand. In dem kurzen Augenblick, in welchem sie sich auf normale Weise begrüßten, fielen Hermine einige Details auf. Die Hand war eiskalt – natürlich. Sanguini fühlte zudem nicht nach ihrem Puls, wie Caedes es getan hatte. Außerdem schaute er ihr in die Augen, nicht auf den Hals und er beugte sich auch nicht vor, um der Wärme ihres Blutes näher zu sein. In wenigen Sekunden war das Händeschütteln wieder vorbei.

„Ah“, machte Severus. „Wie ich sehe, werden gewisse Dränge unterdrückt.“
Sanguini schaute ihn an und nickte. „Ich habe kein Verlangen mehr.“
„Wunderbar!“ Severus war mit sich und seiner Arbeit überaus zufrieden. „Und die Ernährung?“ Er musterte den Vampir. „Nehmen Sie es mir nicht übel, aber Sie sehen nicht sehr gut aus.“
Hier schritt Mr. Worple ein. „Ich musste ihn daran erinnern, wenigstens etwas Blut zu sich zu nehmen.“
Nachdenklich nickte Severus. „Der Trank hat die Bedürfnisse vollständig unterdrückt?“
„Ja“, erwiderte Sanguini.
„Wann haben Sie das letzte Mal wie viel Blut zu sich genommen?“
Sanguini überlegte. Es fiel ihm nicht auf Anhieb ein. Mr. Worple blätterte derweil in seinen Unterlagen und fand die Antwort: „Kurz bevor wir mit dem neuen Trank begonnen haben. Es waren“, sein Finger fuhr auf einer Liste entlang, „80 Milliliter.“
„Nur 80? Die ganze Zeit über?“, fragte Severus erstaunt nach. Er wollte den Blutdurst nicht komplett unterdrücken. Das könnte so verheerende Folgen haben wie ein Zaubertrank, der einem das Hunger- und Durstgefühl nahm. „Der Trank ist noch nicht optimal. Ihr Organismus soll mit wenig auskommen, aber er muss sich weiterhin von allein melden, wenn eine Blutzufuhr notwendig ist.“

Die ganze Zeit über lauschte Hermine dem Gespräch. Die vier saßen am Küchentisch. Diese beiden Männer gehörten zu den wenigen Bekannten, die Severus in den eigenen Wänden willkommen hieß – die er sogar selbst einlud und in die private Umgebung führte. Hermine wusste nicht hundertprozentig, ob Severus sich nur wegen der gemeinsamen Forschung mit Worple so gut verstand. Ihr Blick fiel auf Sanguini, der über Eck neben ihr saß. Er lauschte dem Gespräch genauso schweigsam wie sie. Plötzlich drehte er sich zu ihr und sie fühlte sich ertappt. Sanguini schenkte ihr ein mildes Lächeln, mit dem er ihr zeigte, dass er sich durch ihre Observation nicht belästigt fühlte.

„Wie fühlen Sie sich?“, fragte Hermine unverhofft. Die Frage nach dem Wohlbefinden schien der Vampir, wie man seinem erstaunten Gesichtsausdruck entnehmen konnte, nicht oft zu hören. Vielleicht fiel ihm deswegen eine Antwort schwer.
„Das erste Mal fühle ich mich frei“, versuchte er zu erklären. „Frei von der Furcht, einem dunklen Instinkt folgen zu müssen, koste es was es wolle.“ Sanguinis leuchtende Augen ließen den Trübsinn hinter sich, den man sonst aus ihnen herauslesen konnte. „Dieser“, er suchte nach einem Wort, „Heißhunger macht blind. Eldred musste bereits das ein oder andere Mal um sein Leben fürchten. Ich weiß nicht, ob Sie sich das vorstellen können.“
Hermine schüttelte den Kopf. „Ich habe zwar auch manchmal Heißhunger, aber der ist mit Ihrem sicher nicht zu vergleichen.“
Ihr Scherz amüsierte Sanguini und des Weiteren fühlte er sich an Zeiten erinnert, in denen er noch ein Mensch war. „Wenn Sie keine Schokolade im Haus finden, werden Sie kaum auf die Straße rennen und Menschen umbringen, um das zu bekommen, nach dem es Ihnen dürstet.“
„Nein.“
„Nun“, begann Sanguini gut gelaunt, „ich auch nicht mehr.“

Sie freute sich mit ihm. Während Severus weiterhin Details mit Mr. Worple erörterte, begann Hermine einen unbefangenen Smalltalk mit dem Vampir.

„Haben Sie eine Lebensgefährtin?“, platzte es unvorhergesehen aus ihr heraus.
Von dieser Frage nicht ein bisschen echauffiert entgegnete er: „Sehnsüchte dieser Art liegen schon lange zurück.“ Hermine verstand nicht, woraufhin Sanguini genauer wurde. „Ein Gefährte für intellektuelle Gespräche ist mir willkommen. Eine Gefährtin für einsame Stunden nicht.“
„Aber warum nicht?“, hakte sie uncharmant nach.
„Ich habe kein Interesse. Sofern ich von meinen“, er spitzte kurz die Lippen, „Artgenossen unterrichtet bin, bin ich nicht der Einzige.“
Hermine hatte nicht bemerkt, dass Severus und Mr. Worple mit der eigenen Unterhaltung innehielten und ihrem Gespräch lauschten. Und sie sah auch nicht, wie Severus eine Augenbraue hob, als sie Sanguini fragte: „Aber so ganz allein … Wie hält man das aus?“
„Miss Granger, eine Dame erwartet in der Regel eine gewisse Zuwendung, die ich nicht zu erfüllen imstande bin.“
„Wieso sind Sie nicht …?“

Jemand räusperte sich. Es war Severus, der Hermine daran hindern wollte, sich noch mehr in eine unangenehme Situation hineinzureiten. Sanguini winkte gelassen ab und wandte sich erneut an Hermine.

„Ich habe schon lange keine Berührungsängste mehr, über dieses Thema zu sprechen, weil es mich nicht mehr betrifft. Das Verlangen nach Blut ist bei einem Vampir am größten und das Einzige, das noch zählt, Miss Granger. Und wie Sie wissen, bin ich seit dem Biss schon lange kein Mensch mehr, auch nicht nach Ansicht des Ministeriums. Für mich gelten andere Regeln. Selbst mit regelmäßiger Speisung fließt in meinen Adern kein Blut, das für bestimmte körperliche Funktionen verantwortlich ist. Aber selbst wenn ich eigenes Blut besäße“, er legte eine flache Hand auf seine Brust, „würde es nicht mehr durch meinen Körper gepumpt werden. Mein Herz schlägt nicht, ergo: keine Erektion.“ Hermines Wangen glühten, doch Sanguini stellte noch eine Sache klar. „Seit meiner Andersartigkeit ist glücklicherweise jedes Verlangen in dieser Hinsicht gestorben, sozusagen mit Abdanken meiner Menschlichkeit verpufft.“
Sie schluckte kräftig, und spürte förmlich, wie ihr Gesicht in Flammen stand. Diesmal räusperte sich Mr. Worple, der das Wort an Hermine richtete: „Wie ich annehmen muss, haben Sie keines meiner Bücher gelesen.“
Severus versicherte: „Ich sorge dafür, dass Sie sie liest.“
Worple amüsierte sich köstlich, blickte zu Severus: „Ich habe übrigens mit einem neuen Buch begonnen.“ Er deutete auf die Ampullen. „Über den Bluttrank, über das gesamte Experiment. Mit Ihrer Zustimmung …“
„Es wäre freundlich“, fiel Severus ihm ins Wort, „wenn Sie wenigstens so viel Zeit verstreichen lassen würden, sodass niemand annehmen könnte, ich hätte mit dieser Forschung gegen geltende Gesetze verstoßen.“
„Darüber machen Sie sich mal keine Sorgen. Es dauert sowieso, bis es fertig ist. Danach geht es durch die Hände meiner beiden Lektoren. Wenn es auf den Markt kommt, wird es so aussehen, als hätten wir sofort am 1. September mit der Forschung begonnen.“ Weil Severus sich nicht äußerte, fügte Worple an: „Ich möchte Ihnen Tantiemen anbieten, Mr. Snape.“

An dieser Stelle nickte Hermine Severus dezent zu, woraufhin er das Angebot annahm.

Nachdem die Gäste gegangen waren und Hermine und Severus sich ins Schlafzimmer zurückzogen, kramte er in einer der Kisten, die er nach seinem Einzug in die Apotheke noch nicht vollständig ausgeräumt hatte. Er fand das gesuchte Objekt.

Severus hielt Hermine ein Buch entgegen. „Hier, die Einstiegslektüre.“
Sie las den Titel Blutsbrüder: Mein Leben unter Vampiren. „Wie ist er eigentlich so nahe an sie herangekommen?“ Das Buch nahm sie ihm aus der Hand, um darin zu blättern.
„Anstatt schreiend davonzulaufen, hat Mr. Worple den Kontakt zu Vampiren gesucht. Es war Sir Castus Caedes, der sich seiner annahm und ihn anderen Vampiren vorstellte. Später kam Sanguini, der wesentlich ruhiger und umgänglicher war, deshalb von Worple sehr geschätzt wurde. Eine Art Eifersucht machte sich bei Caedes breit, der übrigens auch der Erste war, den ich jemals zu Gesicht bekam. Das war in meiner Jugend, ich glaube, während einer von Slughorns Zusammenkünften.“ Severus zeigte auf das Buch. „Du wirst darin unter anderem von Caedes lesen können.“ Hermine verzog das Gesicht. „Und auch von den Rivalitäten unter Vampiren. Sanguini und Caedes waren sich spinnefeind.“
„Aus welchem Grund?“
„Lies selbst.“
Hermine legte das Buch auf ihren Nachttisch, bevor sie begann, ihre Hose auszuziehen. „Warum hast du es mir nicht schon vorher gegeben, anstatt mich ins offene Messer laufen zu lassen?“
Unweigerlich musste er an das unangenehme Gespräch zwischen Sanguini und Hermine denken, woraufhin er grinsen musste. „Ich hätte nie geahnt, dass dich das Sexualverhalten von Vampiren interessiert.“
„Nicht nur das von Vampiren. Mich interessiert in biologischer Hinsicht alles, Severus. Das Sexualverhalten von Galápagos-Riesenschildkröten, von Hauselfen“, sie lächelte neckisch, knöpfte ihre Bluse auf, „und auch das von Tränkemeistern.“
In Windeseile war Severus dabei, sich der eigenen Kleidung zu entledigen. „In Bezug auf Letzteres kann ich dir ein praktisches Lehrangebot unterbreiten.“
„Das nehme ich doch gern an.“

Wie es sich anfühlte, wenn zwei Herzen im gleichen Takt schlugen, das wussten auch Harry und Ginny.

Am frühen Nachmittag machte sich Harry auf zu Draco. Unter dem Arm trug er eine Menge Informationsmaterial und die Hoffnung, seine Idee von einem gemischten Kindergarten verwirklichen zu können.

Anfangs las Draco die wichtigsten Punkte Muggelstudie über das soziale Verhalten von Kindern. Dabei kopierte er einige Stellen mit seinem Zauberstab auf ein separates Papier. Bei Harrys finanzieller Auflistung hakte er noch nach, weil einiges vergessen wurde. Weil Harry sich aber den Ratschlag zu Herzen genommen hatte, in Kindergärten der Muggelwelt Informationen einzuholen, war sehr bald alles vollständig. Auf dem Schreibtisch lag eine große Mappe, in der Draco sämtliche Papiere einsortierte.

„Was ist das?“, wollte Harry wissen.
„Dein Konzept. Wir wollen doch etwas vorzuweisen haben, wenn wir mit den Herren von Gringotts sprechen.“
„Ah!“ Harry nickte. „Wann sprechen wir mit denen?“
„Wie wäre es mit gleich? Wir gehen einfach hin. Wenn sie keine Zeit haben, machen wir persönlich einen Termin aus. Das kommt immer gut, wenn man zeigt, dass das Anliegen einem wichtig ist.“
„Ich bin aber nicht für ein Geschäftsgespräch gekleidet.“

Dracos Blick musterte Harry von oben bis unten. Eine blaue Jeans, ein weißes Muggelshirt, ungekämmt wirkende Haare. Draco grinste.

„Ich glaube nicht, dass die Kobolde sich erlauben würden, eine Person nach dem Äußeren zu beurteilen. Oder willst du es verschieben?“ Harry schüttelte den Kopf. „Dann auf in die Winkelgasse.“

Gringotts dominierte die Winkelgasse. Von beinahe jeder Stelle aus konnte man einen Teil der hoch gebauten Bank gut sehen.

Zunächst zeigte Harry ihm die Räumlichkeiten, die er von der Bank mieten wollte. Draco notierte die Gebäude-Nummer, die auf dem Schild an der Tür stand. Kurz darauf kamen sie an Flourish und Blotts vorbei. Im Schaufenster lagen Bücher aus, deren Buchdeckel Harrys Aufmerksamkeit erregte. Er blieb stehen.

„Dürfen die einfach ein Bild von mir nehmen?“
Draco gesellte sich zu ihm und betrachtete die neuste historische Ausgabe, die vom Krieg handelte. „Willst du den Verlag verklagen? Können wir gern machen.“
„Nein, ich bin nur überrascht.“

Drinnen im Geschäft führte einer der Angestellten eine Dame zum Schaufenster, nahm eines der Bücher und reichte ihr es. In dem Moment blickte sie auf und sah Harry durch das Glas. Aufgebracht rannte sie nach draußen, der Verkäufer hinterher.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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Teil 2/3 von Kapitel 225

„Moment, Sie können nicht einfach mit einem unbezahlten Buch auf und davon …“ Jetzt sah auch er Harry. „Oh, was für eine Freude. Harry Potter!“
Der Enthusiasmus der Frau war nicht zu bremsen. „Mr. Potter! Es ist so wundervoll, Sie einmal in natura zu sehen.“ In stinknormalen Jeans. „Würden Sie mir dieses Buch signieren?“
„Sie haben es noch nicht bezahlt“, erinnerte der Verkäufer.
„Ich werde schon noch bezahlen“, blaffte sie zurück. Die Dame blätterte zu einer bestimmten Seite. „Das ist das Ende des Kapitels über Sie, Mr. Potter. Hier ist genügend Platz, wenn Sie mir die Ehre erweisen würden?“ Man drückte ihm eine in Tinte getauchte Feder in die Hand. Woher die kam, war ihm schleierhaft. „Mein Name ist Alias.“ Harry stutzte. Das war ein Name? Als er die Stelle mitten im Buch betrachtete, fiel ihm das folgende Kapitel mit dem Titel Severus Snape auf.
„Das Buch kenne ich noch gar nicht“, murmelte er, als er einen Gruß an Alias auf dem Papier hinterließ.
„Es wäre mir eine Ehre“, begann der Verkäufer, „Ihnen eines zu überlassen.“ Einem der jungen Verkäufer, der an der Tür stand und mit seinen großen Augen den berühmten Harry Potter verschlang, schnippte der ältere Verkäufer zu. Sofort brachte man ein weiteres Exemplar vor die Tür. „Für Sie, Mr. Potter.“
„Oh, vielen Dank.“ Dabei las er ja auch so gern, seufzte Harry innerlich. Obwohl dieses Buch tatsächlich etwas für ihn sein könnte. Immerhin kam er darin vor – und seine Freunde. Er gab das signierte Exemplar an Alias zurück.
„Vielen Dank, Mr. Potter.“ In ihrer Geldbörse suchte sie sich Galleonen zusammen, die sie dem Verkäufer gab.
„Jetzt kostet das Buch aber fünfzig Galleonen mehr“, sagte er bierernst. „Weil es signiert ist.“
„Bitte?“
Gerade wollte Harry seinen Einwand kundtun, da verbesserte der Verkäufer: „War nur ein Scherz, meine Dame.“
Draco hatte sich das ganze eine Weile lang angesehen, bevor er an Harry herantrat und fragte: „Können wir weitergehen?“ Der Verkäufer und Alias blickten auf. Beide schienen zu wissen, um wen es sich bei Draco handelte, aber keiner sagte etwas.
Harry nickte. „Klar, wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden.“

Draco ging vor, als sie die weißen Stufen von Gringotts erreichten. Am blankpolierten Bronzetor trafen sie auf einen vom Alter gebeugten Angestellten. Der Kobold in seiner goldverzierten, scharlachroten Uniform verneigte sich vor den beiden Besuchern.

„Guten Tag“, sagte Harry, bevor er durch die Tür ging, die Draco ihm aufhielt.
Nachdem die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel, fragte Draco leise: „Du grüßt den Türsteher?“
„Warum nicht?“

Draco zuckte mit den Schultern und beließ es dabei. Er schaute sich um. Hinter der silbernen Doppeltür sah man Kunden und Kobolde, doch man hörte sie nicht.

„Wir fragen an einem der Schalter, ob wir mit einem Verantwortlichen reden können.“

Auch diesmal hielt Draco die Tür auf. Sofort drang der Redeschwall verschiedener Personen an ihre Ohren. Ein organisiertes Durcheinander. Die Bank war immer gut besucht. In der Marmorhalle saßen die Bankangestellten auf ihren hohen Schemeln, um auf die großgewachsenen Menschen herabblicken zu können. Draco ging auf einen der Schalter zu und stellte sich an. Eine Dame wurde gerade bedient. Danach wären Harry und er an der Reihe.

Harry beobachtete die anderen Besucher. Jeder war so sehr mit seinen Belangen beschäftigt, dass er seine Ruhe vor aufdringlichen Fans hatte. Von einem der anderen Schalter kamen gerade zwei Personen, die Harry kannte.

„Hermine, George!“
„Harry, wie geht’s dir?“, fragte George.
„Gut, danke. Das ist aber ein Zufall, dass ich euch hier treffe.“
Hermine schüttelte den Kopf. „Ich komme mit George jeden Tag zur Mittagszeit her, um die Einnahmen einzuzahlen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ich mal jemanden treffe, den ich kenne.“
Draco unterbrach: „Harry, wir sind dran.“
Er ließ es sich dennoch nicht nehmen, seine Freunde zu verabschieden. „Ich komm nachher noch bei euch im Laden vorbei“, sagte er zu George.
Vom Schalter raunzte es: „Der Nächste!“

Kobolde waren ungeduldige Gesellen. Draco und Harry gingen zum Schalter, betraten die eine Stufe davor. Trotzdem waren sie gerademal auf Augenhöhe mit der Fläche, auf dem der Bankangestellte seine Arbeit verrichtete.

„Was kann ich für Sie tun?“ Der Kobold klang sehr unfreundlich.
Das Gespräch übernahm Draco. „Wir möchten gern mit jemandem sprechen, der für die Vermietung von 10/12 verantwortlich ist.“
„Von den Geschäftsräumen hier in der Winkelgasse? Wer will die mieten?“
Harry trat vor. „Ich, Sir. Guten Tag erst einmal.“ Harry streckte die Hand über den Schalter, die der Angestellte sich betrachtete, als wäre sie schmutzig. Nur zögerlich schüttelte der Kobold sie. „Mein Name ist Harry Potter.“
„Ja, glauben Sie denn, ich wäre blind?“
Harry blinzelte nervös. „Nein, natürlich nicht, Sir.“
„Lass mich reden!“, zischte Draco. An den Kobold gewandt sagte er: „Wegen der Räumlichkeiten.“
„Sind nicht zu vermieten.“ Der Kobold stand auf und belferte über die Köpfe der beiden hinweg: „Der Nächste!“
Draco wurde sauer. „Wir waren aber noch nicht fertig!“
„Doch, waren Sie. Ich sagte, die Räumlichkeiten wären nicht zu vermieten.“
„Warum hängt dann ein Schild an der Tür? Um die Leute zu verar…“
„Draco, lass mich mal“, bremste Harry ihn. Er war mehr als nur aufgeregt. „Könnten wir bitte mit dem zuständigen Mitarbeiter reden, Sir? Ich möchte ihm wenigstens sagen, warum ich diese Räume gern haben möchte.“

Der Kobold überlegte einen Moment, denn er blickte Harry lange an, ohne ein Wort zu verlieren. Vielleicht aber, und bei dem Gedanken wurde es ihm unbehaglich, dachte der Kobold nur, was für ein Idiot er wäre, weil er ein Nein nicht akzeptieren wollte.

„Bitte, Sir“, bohrte Harry nach.
„Nehmen Sie Platz und warten Sie. Ich werde sehen, was ich tun kann.“
Harry grinste. „Danke, Sir.“

Der Kobold grinste zurück, aber es wirkte nicht freundlich. Als sie sich vom Schalter entfernten, strahlte Harry übers ganze Gesicht. Draco hingegen wirkte verbissen.

„Was hast du denn?“, wollte Harry wissen. „Es sieht doch gut aus.“
„Findest du? Der Kobold hat gesagt, wir sollen Platz nehmen. Jetzt schau dich mal um.“
Bald verstand Harry, was Draco meinte. „Es gibt keine Sitzmöglichkeiten.“
„Richtig. Er hat und auf den Arm genommen. Komm, wir gehen.“
„Was denn, schon aufgeben?“
„Was willst du denn tun?“
Harry zuckte mit den Schultern. „Na, warten.“
„Wie lange soll das dauern?“
„Ich musste hier schon einmal bis zu fünf Stunden warten, nur um an mein Verlies zu kommen. Das war im sechsten Schuljahr. Ich kann warten. Die sollen ruhig sehen, dass es mir ernst ist.“
Draco schnaufte. „Gut, warten wir.“

Nach geschlagenen drei Stunden, in denen der Kobold nicht einmal seinen Schalter verließ, tat sich etwas. Ein anderer Kobold kam zu ihm, brachte ihm etwas. Wahrscheinlich etwas zu trinken. Die beiden tuschelten miteinander, wie Harry es beobachten konnte.

„Da, jetzt sagt er ihm bestimmt Bescheid, dass wir hier warten“, flüsterte Harry Draco zu. Sein Begleiter schaute zum Schalter, um noch rechtzeitig zu sehen, wie beide Kobolde in ihre Richtung blickten und kicherten. Harry rutschte das Herz in die Hose, und Dracos Zorn wuchs nur noch mehr.
„Die verarschen uns, Harry! Ich will nicht mehr warten.“
„Dann geh, ich warte noch. Die können mich doch nicht ewig hier sitzen lassen. Ähm, stehen lassen.“

Sie konnten. Nachdem Draco gegangen war, weil er noch andere Dinge erledigen musste, wartete Harry in der Marmorhalle auf einen Mitarbeiter, mit dem er sprechen konnte.

Endlich, nach vielen Stunden, kam ein Kobold auf Harry zu. Erwartungsvoll spitze Harry die Ohren.

„Wir schließen jetzt. Wenn Sie so freundlich wären und das Gebäude verlassen würden.“
„Ich …“ Man hätte ihm auch gleich mit einer Keule ins Gesicht schlagen können. „Ich warte auf einen Sachbearbeiter, Sir.“ Es war ihm ein Rätsel, warum er immer noch so höflich bleiben konnte und das kleine Wesen Sir nannte. Verdient hatte der Kobold es nicht.
„Tut mir leid, da müssen Sie wohl morgen wiederkommen.“

Jetzt war Harry wirklich sauer, aber er war auch hartnäckig.

Der Erste, der am nächsten Morgen mit einer dicken Mappe unterm Arm vor den noch verschlossenen Toren der Koboldbank wartete, war kein Geringerer als Harry Potter. Es war eine Sache, nach einem geschäftlichen Gespräch eine ablehnende Antwort zu erhalten, aber komplett ignoriert zu werden fand er unhöflich. Er selbst hatte sich gestern vorbildlich verhalten, war immer freundlich geblieben. Für heute hatte er sich extra elegant gekleidet, in traditioneller Zauberermontur. Möglicherweise trug seine legere Muggelbekleidung Schuld daran, dass man ihn nicht ernst genommen hatte. Harry wollte einen guten Eindruck hinterlassen.

Die Tür öffnete sich. Der betagte Türsteher trat heraus, beäugte Harry argwöhnisch.

Harry nickte ihm zu. „Guten Morgen.“
Der Kobold war über den heutigen Gruß genauso erstaunt wie über den gestrigen. „Guten Morgen“, erwiderte der kleine Kerl. Wenigstens einer war höflich.

Er war tatsächlich auch der Erste, der die Bank betrat. In der sonst so gut besuchten Marmorhalle herrschte eine seltsame Stille. Harry ließ seinen Blick schweifen. Ausnahmslos jeder der Kobolde, die an ihren Schaltern saßen, hatte die Augen auf ihn gerichtet. Harry entschloss sich dazu, mit dem Herrn zu reden, mit dem er gestern bereits Kontakt hatte. Als er auf den Schalter zuging, senkte der Kobold das Haupt. Man konnte es nicht hören, dafür jedoch sehen, dass der Bankangestellte stöhnte.

Artig wartete Harry an der Linie, die die Diskretion wahren sollte. Der Kobold hob eine Augenbraue, bevor er Harry zu sich heranwinkte.

„Guten Morgen, Sir“, grüßte Harry, hielt ihm abermals seine Hand entgegen.
Diesmal griff der Kobold sofort zu, wusste er doch, dass all seine Kollegen zusahen. „Mr. Potter, wie kann ich Ihnen behilflich sein?“
„Ich habe gehofft, Sie erinnern sich vielleicht noch an mein Ersuchen.“ Harrys Stimme hallte durch die Marmorhalle und drang an die Ohren aller anderen Kobolde, die gebannt lauschten.
„Sie wollen mit einem Zuständigen wegen der zu vermietenden Räumlichkeiten sprechen.“
Ha, dachte Harry, der Kobold hatte zugegeben, dass sie zu vermieten waren. „Richtig“, erwiderte er ruhig. Obwohl er sich sicher war, dass der Kobold darüber informiert war, denn er hatte ihn die ganze Zeit über sehen können, rief er ihm ins Gedächtnis: „Ich habe gestern sechs Stunden gewartet. Vielleicht findet sich heute eine Möglichkeit zu einem Gespräch?“

Der Kobold spielte mit seinen langen, knorrigen Fingern, spitzte dabei die Lippen. Ein hurtiger Blick zur Seite verriet ihm, dass seine Kollegen ebenso auf eine Antwort warteten wie der Kunde.

„Wenn Sie …“ Der Kobold biss sich auf die Zunge. Zweimal der gleiche Scherz bei derselben Person wäre selbst ihm zu dämlich. Es gab keine Stühle, auf denen Kunden Platz nehmen könnten. „Wenn Sie bitte warten würden.“
„Können Sie mir in etwa verraten, wie lange es dauern wird, bis mich jemand anhört?“ Von gestern taten Harry bereits die Füße weh, und er hatte das seltsame Gefühl, durch das lange Stehen heute einen Zentimeter kleiner zu sein. Vielleicht würden sie ihn erst anhören, wenn er sich die Beine in den Bauch gestanden hatte und genauso groß war wie sie?
„Tut mir leid, der Zuständige ist noch nicht im Haus.“
„Ah“, Harry versuchte es gar nicht erst, seine Enttäuschung zu verbergen, „gut, dann warte ich. Danke, Sir.“

Harry wählte die gleiche Säule wie gestern. Er lehnte sich an sie, drückte seine Unterlagen an den Oberkörper und begann zu warten. Warten war in diesem Sinne gleichzusetzen mit aufmerksamer Beobachtung. Es waren weniger die Kobolde, die er sich genauer ansah, sondern das Gebäude. Hier hingen eine Menge Bilder, in die er während der langen Zeit des Nichtstuns eintauchen konnte. Das Weizenfeld mit dem Birkenbaum in der Mitte hatte er gestern schon auswendig gelernt. Auch war er in seiner Fantasie bereits mit nackten Füßen durch die Botanik gelaufen und hatte es sich mit dem Rücken an den Stamm gelehnt gemütlich gemacht. Heute wollte er sich die Architektur des Gebäudes genauer betrachten. Überall waren goldene Verzierungen zu sehen.

Die Tür öffnete sich. Die Kobolde und Harry blickten die Frau an, die plötzlich innehielt und sich zu fragen schien, ob noch Reste ihres Frühstücks im Gesicht klebten. Nachdem sie sich gefangen hatte, warf sie Harry einen fragenden Blick zu. Sie erkannte ihn, das konnte er an ihren Augen sehen, die für einen kurzen Moment größer wurden, aber sie ließ ihn in Ruhe. Ihr weiterer Weg führte sie zu einem der Schalter.

Schon gestern hatte Harry die Zeit genommen. Kobolde arbeiteten schnell und effektiv. Die Frau, die Geld abheben wollte, war in fünf Minuten wieder draußen. Nicht immer musste man für solche lapidaren Angelegenheiten wie eine Auszahlung gleich in das persönliche Verlies reisen. Der Zeitaufwand wäre viel zu groß. Damals, als Gringotts die Sicherheitsmaßnahmen erheblich verschärft hatte, bekam man bereits einen Einblick, wie lange es dauerte, wenn jeder persönlich sein Verlies aufsuchte. In Friedenszeiten griffen die Kobolde wieder zu anderen Methoden. Vielleicht, so vermutete Harry, gab es hier oben einen Raum, in dem bereits Geld gelagert wurde oder wo man es aus den Verliesen hochzauberte.

Die Zeit verging schleppend. Die Säulen im Raum hatte er längst gezählt – es waren zweiundzwanzig. Jetzt nahm er sich das Gemälde vor, welches rechts von ihm an der Wand hing. Ein Koboldmädchen, das sich die Füße wusch. Für Kobolde stellte sie wahrscheinlich ein reizendes Geschöpf dar, in Harrys Augen war sie nicht sehr stimulierend, aber irgendetwas hatte die junge Frau an sich. Zunächst konnte man bestens sehen, dass sie jung war, denn ihre Haut war nicht so furchig wie ein Ackerfeld, die Ohren waren straff. Es war ihr leicht gesenkter Blick, der Harry faszinierte. Ihr gesamtes Gesicht war so entspannt, dass Harry beinahe meinen würde, sie würde das Fußbad nach einem harten Arbeitstag auf dem Feld genießen. Ein kühles Bad könnten auch seine Füße vertragen.

Die Tür zur Marmorhalle öffnete sich häufiger als am vorigen Tag. Mit Harry Potter schien kaum ein Kunde in der Bank zu rechnen. Sie gingen nicht mit wachem Blick durch die Welt, dachte Harry. Er hingegen sah selbst unwichtige Details. Der eine Kunde beispielsweise. Er humpelte, hielt einen beigefarbenen Schein in der Hand. Harry wusste, dass das ein Auszahlschein vom Ministerium war, der an Bedürftige ausgegeben wurde. Wahrscheinlich eine Kriegsverletzung, die zur dauerhaften Arbeitsunfähigkeit führte. Die Augenringe zeugten von schlaflosen Nächten. Obwohl Harry den Mann nicht kannte, empfand er Mitleid.

„Harry?“
Sein Kopf fuhr herum. „Hermine! Was für ein …“
„Kein Zufall. Die gleiche Zeit, Harry“, erinnerte sie ihn mit einem Lächeln.
George betrachtete ihn von oben bis unten. „Was machst du denn wieder hier?“
„Gestern hatte man keine Zeit für mich. Vielleicht heute.“
„Wie lange wartest du denn schon?“, fragte Hermine skeptisch.
„Seit neun.“
Sie stutzte. „Haben die dich auch nicht vergessen?“
„Glaube ich nicht. Der Kobold dort“, er nickte zum Schalter gegenüber, „weiß ganz genau, dass ich hier bin.“
„Herrje“, George seufzte, „man könnte meinen, sie spielen dir einen Streich.“
„Ich will wenigstens angehört werden“, verteidigte Harry sein hartnäckiges Verhalten.
Hermine knetete die beiden dicken Geldbeutel in ihrer Hand. „Hast du keinen Hunger?“
„Doch, so langsam schon. Aber ich gehe nicht, sonst heißt es nachher, als ich weg war, hätte man Zeit für mich gehabt.“

Ein wenig Aufmunterung hatte Harry nötig, aber Hermine musste bald wieder gehen, um während der Mittagszeit Tränke zu brauen. Womit Harry nicht gerechnet hatte, war, dass sie zurückkam. In ihrer Hand eine weiße Papiertüte und ein großer Pappbecher.

„Hier, Harry, was zu essen und einen großen Orangensaft für dich. Kürbis war leider aus.“
„Oh, vielen Dank.“ Aus der Tüte zog er eines der Sandwiches. In dem Moment, in welchem er herzhaft hineinbeißen wollte, wurde er von einer krächzenden Stimme gestoppt, die von einem der Schalter herüberhallte.
„Die Nahrungsaufnahme in diesen Geschäftsräumen ist nicht gestattet!“ Es war sein Kobold gewesen. Alle Menschen im Raum starrten ihn an, einige erkannten ihn als der, der er war. Ihm war danach, laut zu schreien, aber er schluckte seine Wut hinunter.
„Tut mir leid.“ Die momentane Stille nutzte er für sich. „Ich bin kurz vor der Tür, nur falls der Zuständige unerwartet Zeit für mich finden sollte.“ Damit sollte er ihnen die Möglichkeit genommen haben, ihn tatsächlich auf den Arm zu nehmen.

Harry war sauer. Dreieinhalb Stunden wurde er heute schon ignoriert, aber ihn auf ein Verbot hinweisen, das konnten sie. Hermine begleitete ihn nach draußen. Glücklicherweise war es sonnig und warm. Die erste Stufe nahm Harry als Sitzgelegenheit in Anspruch. Er stöhnte erleichtert. Nach der ganzen Zeit, die er stehend verbringen musste, war seinem Gesäß harter Stein so willkommen wie eine weiche Wolke. Den Orangensaft, die Tüte mit den Sandwiches und seine Mappe legte er zur Seite. Harry war sich klar darüber, dass Hermine keine Zeit hatte, aber dennoch blieb sie, setzte sich neben ihn. Freunde waren eben doch wichtiger als alles andere.

„Harry, willst du das wirklich durchziehen? Ich hätte längst aufgegeben.“
„Überleg doch mal, warum ich unbedingt in die Winkelgasse möchte.“ Er öffnete den Schnürsenkel eines Schuhs und zog ihn aus. „Das ist der Ort, an dem die Eltern mit ihren Kindern das erste Mal einkaufen gehen werden, bevor es nach Hogwarts geht.“ Der zweite Schuh folgte. „In dieser Einkaufsstraße ist alles beisammen.“ Harry hatte ein Loch in der Socke, durch das der große Zeh schlüpfte, als er sie streckte. „Und jeder, selbst der verbohrteste Reinblüter mit all seinen Vorurteilen, wird meinen Kinderladen in der berühmten Winkelgasse sehen und vielleicht, mit etwas Glück, dadurch zum Nachdenken angeregt werden.“ Obwohl Harry so ernst war, musste Hermine plötzlich lachen. „Was ist?“, blaffte er sie versehentlich an.
„Ich dachte nur eben …“ Sie schüttelte den Kopf, lächelte noch immer. „Du solltest nicht unbedingt ein leuchtendes Schild raushängen, auf dem Kinderladen steht. Sonst glaubt noch jemand, du würdest Kinder verkaufen.“ Harry musste schnaufen. „Du weißt doch, dass Zauberer manchmal etwas weltfremd sein können.“
„Mit dem Begriff Kindergarten konnte Draco auch nichts anfangen. Vielleicht hat er gedacht, ich stecke die Kids in einen Topf voller Erde, gieße sie und stelle sie in die Sonne.“
Sie deutete auf das Loch im Strumpf. „Soll ich …“
„Nein, das ist ein Luftloch. Das muss dort sein.“
Hermine strich ihm über den Rücken. „Wenn dir nach Reden ist, dann komm zu mir.“
„Du hast doch keine Zeit.“ Es schmerzte sie, das von Harry zu hören. „Ich meine das nicht so“, verbesserte er. „Und wenn ich vorbeikomme, dann erst nach Feierabend.“ Harry blickte über seinen Rücken zum Eingang und bemerkte den Türsteher, der auffällig unauffällig in die Luft schaute. Harry sprach vorsichtshalber leiser: „Mann, ich habe Voldemort besiegt. Ich lass mich doch jetzt nicht von ein paar Bankern in die Flucht schlagen.“ Kurz presse er die Lippen zusammen. „Von einer Horde Rechtsanwälten vielleicht, aber nicht von Bankern!“
„Ich wusste gar nicht, dass du so hartnäckig sein kannst.“
„Na, irgendwas musste ich mir in all den Jahren ja von dir abgucken.“
Hermine grinste. „Und das konnte nicht meine Liebe für Bücher sein?“
Aus Spaß verzog er das Gesicht, bevor er seufzte. „Hermine, du musst gehen. Ich weiß doch, dass du viel zu tun hast.“
„Mein Angebot steht.“
„Ich stehe auch gleich wieder“, stöhnte er zurück, bevor er zur Tüte griff. „Aber vorher stärke ich mich. Danke fürs Essen.“
„Dann viel Glück bei deinem Stehstreik, Harry.“ Über den Kuss an die Schläfe freute er sich. Es machte Mut.

Harry verschlang beide Sandwiches. Für den Orangensaft nahm er sich etwas mehr Zeit. Mit dem leeren Becher in der Hand beugte er sich leicht nach vorn, um einen Fuß zu massieren. Langes Stehen war er nicht gewohnt. Ein Herr kam an ihm vorbei. Plötzlich hörte er es klimpern. Zeitgleich wurde sein Getränkebecher schwerer. Verdutzt schaute Harry hinein. Der Mann hatte ihm vier Galleonen in den Becher geworfen.

„Hey, Sir!“, rief er ihm nach.
Der Mann schaute nicht einmal zu Harry, winkte nur ab und sagte: „Nichts zu danken.“

Mit seinem Zauberstab trocknete Harry den Inhalt des Bechers, bevor er die vier Münzen in seine Handfläche rutschen ließ. Das Loch in der Socke war nicht unbedingt sehr schick, dachte Harry, aber daraus gleich zu schließen, dass es sich bei ihm um einen Bettler handelt? Die vier Galleonen steckte er ein. Den Müll vom Lunch stopfte er in die leere Tüte, bevor er sich wieder die Schuhe anzog. Als er aufstand, spürte er sofort seine beanspruchten Füße. Er grummelte in sich hinein, als er seine Sachen nahm. Ordentlich, wie er war, warf er seinen Müll in den Abfalleimer, der sich in der Nähe des Türstehers befand.

„Ich bewundere Sie“, sagte Harry, als er den Kobold anblickte.
„Sir?“
„Sie stehen hier den ganzen Tag und verziehen keine Miene. Ich könnte das nicht.“
Der Kobold grinste. „Vielleicht stehe ich in Wirklichkeit gar nicht.“
„Aber ich sehe doch, dass Sie stehen.“
„Ihre Augen wollen es so sehen.“
„Ein Zauber?“, fragte Harry neugierig. Das wäre was für ihn.
„Das verrate ich Ihnen nicht. Ich kenne Sie ja nicht einmal.“
Harry streckte dem Kobold seine Hand entgegen. „Harry Potter ist mein Name, Sir.“ Der Kobold schüttelte Harry Hand und krächzte etwas. „Wie bitte?“, fragte Harry vorsichtig nach.
„Das war mein Name.“
„Oh, ich bedaure. Meine Zunge ist offenbar nicht gelenkig genug, um Ihren Namen zu wiederholen.“
„Versuchen Sie es.“ Der Kobold wiederholte seinen Namen. Es klang wie Gräschdn – fast wie ein Nieser.
Harry versuchte es: „Gräschdn.“
„Vor dem d noch ein e, Sir.“
„Gräschedn.“
„Sehen Sie, war gar nicht so schwer.“
Harry lächelte. „Ich habe bestimmt einen schlimmen Akzent.“
„Ach, die Kobolddamen finden so einen ausländischen Akzent sehr anziehen.“
„Wirklich?“ Harry machte eine gedankliche Notiz, niemals in Anwesenheit einer Kobolddame Koboldgack zu sprechen. „Ich habe noch nie eine Koboldfrau gesehen.“
„Nein? In der Bank arbeiten doch genügend.“
‚Fettnapfalarm!‘, dachte Harry. „Das Bild ist schön, das drinnen hängt. Sie wissen, welches ich meine?“
„Ja, das kenne ich. Sehr hübscher Pinselstrich.“
Harry nickte. „Na, dann will ich mal wieder.“
„Sir? Wenn ich fragen darf: Arbeiten Sie in der Bank?“
„Nein, ich warte.“ Kobolde hatten ebenso eine Mimik wie Menschen und dieser Türsteher warf ihm gerade einen fragenden Blick zu, sodass Harry erklärte: „Ich würde ja auch lieber mit jemandem sprechen, der für die Räumlichkeiten von 10/12 verantwortlich ist, aber da findet sich keiner, also warte ich.“
„Sie warten stundenlang?“
„Was bleibt mir denn übrig? Ich muss wieder … Warten gehen. Sie wissen schon.“

Drinnen lehnte sich Harry wieder an seine Säule. Er warf dem Mitarbeiter am Schalter gegenüber einen Blick zu, der besagte ‚Ich bin wieder da. Wäre schön, wenn man Zeit für mich hätte.‘

Es tat sich nichts. Harry war der Letzte in Gringotts. Der Kobold verließ seinen Schalter und kam auf Harry zu.

„Tut mir leid, Mr. Potter, aber …“
„Ja ja, ich weiß. Der Zuständige war nicht im Haus.“
„Ganz recht.“

Hörbar holte Harry Luft und ließ sie durch die Nase wieder hinaus. Er nickte dem Kobold zu und verschwand.

Noch bevor die Apotheke schloss, schaute Harry im Laden vorbei. Daphne winkte ihn nach hinten durch. Im Labor traf er auf Hermine und Severus – wie immer.

„Hat es geklappt?“, fragte Hermine ihn sofort, als sie ihn sah.
„Nein.“
„Setz dich erst einmal.“ Als sie sich zu Harry gesellte, übernahm Severus ihren Trank. „Kann ich etwas für dich tun.“
„Mir tun die Füße weh“, nörgelte er. „Darf ich mir die Schuhe ausziehen?“
„Oh, bitte“, warf Severus ein, „geht gefälligst in die Küche! Auf dem Boden hier kleben unzählige Zutaten. Du willst doch nicht, dass dir ein paar Zehen mehr wachsen?“

Den Vorschlag nahm Harry gern an. In der Küche entledigte er sich seiner Schuhe und stöhnte wonnig.

„Das tut gut.“ Er zog noch eine Socke aus und betrachtete seine Füße, die irgendwie anders aussahen als sonst.
Hermine bemerkte es ebenfalls. „Ach herrje, deine Füße sind ganz geschwollen.“ Vor ihm ging sie in die Knie und betastete den Spann. „Du hast Wasser in den Füßen.“
„Ist das schlimm?“
„Nein, höchstens unangenehm. Das kommt vom Stehen, Harry. Gehst du da morgen etwa nochmal hin?“
„Klar!“
„Sei nicht so störrisch.“ Hermine griff nach seinem Fuß, der zwar warm war, aber nicht verschwitzt und begann mit einer leichten Massage.
„Ah, das tut gut.“
„Ich geb dir ein Diuretikum. Allerdings musst du dann häufig auf die Toilette, also nicht erst kurz vorm Schlafengehen einnehmen.“

Nach wenigen Minuten betrat Severus die Küche, gefolgt von Hund und Kniesel. Er erblickte Hermine in der Hocke, Harrys Unterschenkel auf ihren Oberschenkeln, ihre Hände an seinem Fuß.

„Du massierst fremder Herren Füße?“
„Harrys Füße“, verbesserte sie.
Harry hielt Severus den anderen Fuß entgegen. „Hier, ich hab noch einen, falls du mitmachen möchtest.“
„Merlin bewahre!“
Der Hund kam zu Harry gelaufen und leckte die Fußsohle. „Nicht!“ Harry gackerte. „Hör auf, Harry.“ Beinahe wäre Harry vom Stuhl gefallen, aber Severus rief den Hund rechtzeitig zurück, um ihm Futter zu geben.
„Wenn du morgen wirklich noch einmal hingehen solltest“, begann Hermine, „dann mach ein paar Venenübungen, wenn du so lange stehen musst. Rolle mit dem Fuß vom Hacken bis zur Sohle, hin und her. Oder stelle dich auf die Zehen, hoch und runter. Nicht zu schnell.“ Hermine machte es vor. Sie stellte sich auf die Zehen, zählte bis drei, stellte sich wieder normal hin. „Und das ein paar Mal wiederholen. Oder mach so.“ Sie hob ein Knie an, umfasste es mit beiden Händen und zog es leicht an den Körper, wie Fußballer es zum Aufwärmen machten.
„Ich werde bestimmt keine Gymnastik machen, wenn ich in der Bank bin.“
„Ist ja nur gut gemeint.“ Aus einem Schrank holte sie eine Ampulle, die sie ihm gab. „Fünf Tropfen, mehr nicht. Du wirst ein paar Male ziemlich dringend müssen, also bleib in der Nähe der Toilette.“

Zuhause erhielt Harry von Ginny eine Fußmassage im Bett, aber auch eine Standpauke über sein stures Verhalten. Wenn die Kobolde nicht wollen, sagte sie, sollte er sich nicht so erniedrigen und betteln. Mit betteln hatte es seiner Ansicht nach nichts zu tun. Er blieb freundlich und ruhig. Sollte man ihm das Gebäude nicht vermieten, könnte man es ihm mitten ins Gesicht sagen. Den Kobolden müsste es irgendwann peinlich werden, ihn so an der Nase herumzuführen.

Am nächsten Morgen fand sich Harry pünktlich vor Gringotts ein. Auf den steinernen Stufen hatte er Platz genommen, bis er hinter sich hörte, wie ein Schlüssel ein schweres Schloss öffnete. Harry nahm all seine Sachen und stand auf. Durch die Tür kam zunächst der alte Türsteher nach draußen.

„Guten Morgen, Mr. Gräschedn“, grüßte Harry. Als er auch den Kobold vom Schalter bemerkte und grüßte, zeigte er die Courage, freundlich zu lächeln. Ron wäre wahrscheinlich jetzt schon aus der Haut gefahren. Die Zwillinge würden Stinkbomben werfen und Severus hätte die Gelegenheit genutzt, ein paar böse Flüche an den kleinen Gesellen auszuprobieren. Aber egal, wie sehr der Trotz der Kobolde seine Nerven auch strapazierte – Harry blieb ruhig und höflich.

„Mr. Potter“, sagte er Bankangestellte, mit dem er schon gestern und vorgestern zu tun hatte. „Es geht um die Immobilie 10/12, wie ich annehmen darf?“
„Ja, aber lassen Sie mich raten“, unterbracht er den Kobold, der bereits Luft geholt hatte, „ich soll warten. Wenn der Zuständige die Bank betritt, kann ich mit ihm reden.“

Der Kobold blickte ihn lange an, wirklich lange, so dass Harrys Gedanken einen Augenblick zu schweifen begannen und er sich vorzustellen versuchte, was der kleine Mann von ihm wohl denken mochte. Womöglich hielt er Harry für einen Idioten. Das machte ihm seltsamerweise gar nichts aus. Damals hatte ganz Slytherin ihn für einen Idioten gehalten, samt Severus als sarkastisches Sprachrohr des Hauses. Seine Verwandten waren nicht anders gewesen, und dann noch Umbridge, Fudge …

„Korrekt, Mr. Potter“, hörte er den Kobold plötzlich mit einem Hauch von Reue sagen. „Ich bedaure sehr, dass ich keinen Einfluss darauf habe, wann entsprechende Person in der Bank eintrifft.“
Resignierend presste Harry die Lippen zusammen. „Schon gut. Er ist aber nicht im Urlaub oder so? Nicht dass ich hier tagelang umsonst warte und der Zuständige sich gerade für einen zweiwöchigen Hula-Kurs auf Hawaii eingetragen hat.“
Der Kobold musste lächeln. Es war nicht dieses abfällige, gekünstelte Lächeln, das die für Menschen unansehnlichen Gesichter noch mehr zu Fratzen mutieren ließ. Es war ein echtes Lächeln. „Nein, Mr. Potter. Urlaub hat derjenige nicht.“
Harry atmete tief durch. Er glaubte dem Kobold. „Sie wissen, wo Sie mich finden können.“ Harry nickte zu der Säule gegenüber vom Schalter. „Aber auch ich werde mal Pause brauchen und kurz rausgehen.“
„Wenn nicht hier, dann werde ich Sie vor dem Gebäude finden, nehmen ich an?“

Harry nickte dem Kobold zu und nahm den Platz an seiner Säule ein. Gegen die Langeweile hatte Harry heute vorgesorgt. Das Buch, welches ihm der Herr von Flourish und Blotts geschenkt hatte, befand sich in seiner Hosentasche. Unter den neugierigen Blicken von etwa zwanzig Kobolden vergrößerte Harry es magisch, bevor er sich gemütlich an die Säule lehnte und mit dem ersten Kapitel des historischen Wälzers begann.

Beim Lesen verging die Zeit wie im Fluge. Heute fanden sich weit mehr Kunden in der Bank ein als an den letzten beiden Tagen. Einige Male wurde er von Fans angesprochen, aber auch von Bekannten. Hagrid, Filius, Molly, Neville. Letzterer erklärte das Kundenaufkommen damit, dass Mitte und Ende eines Monats die Leute ihr Geld bekommen würden. Das war auch der Grund, warum Valentinus Svelte sich hier einfand.

„Harry?“ Svelte blieb wegen des ehemaligen kollegialen Status auf der persönlichen Ebene, trotz der Meinungsverschiedenheiten und dem Vorfall mit Hermine. „Harry, was tun Sie denn hier?“
„Lesen“, erwiderte Harry trocken.
„Ah“, ein verlegenes Lachen, „im Park, in einem Wartebereich … Da lesen die Leute, aber in einer Bank? Das habe ich noch nie gesehen.“ Ein Lockhart-Lächeln blitzte auf, das mit großer Wahrscheinlichkeit das Copyright verletzte. „Was lesen Sie denn?“ Svelte griff zum Buch und drückte es an Harrys Brust, um den Titel lesen zu können. „Ich hab es auch gelesen, fantastische Buch. Wenn Sie es durchhaben, dann lesen Sie doch mal dieses.“ Svelte hielt Harry ein Buch mit dem Titel 100 fröhliche Knieselgeschichten unter die Nase. „Nehmen Sie es, ist ein Geschenk. Das ist mein zweites Werk“, verkündete Svelte stolz. Harry hielt es für besser, das Geschenk entgegenzunehmen und so wenig wie möglich mit Svelte zu sprechen. „Vielleicht sieht man sich mal wieder. Ich hoffe, etwaige persönliche Missverständnisse können eines Tages aus dem Weg geräumt werden. Meine Mutter war von Ihnen übrigens sehr angetan. Sie würde sich freuen, Sie nochmals treffen zu können.“
Eleanor. Die Frau, die sich Hopkins angeschlossen hatte. Die betagte Dame hatte er zu ihrem ersten Gespräch mit dem verlorenen Sohn begleitet. „Man wird sehen.“
Svelte war sich der ablehnenden Worte bewusst. „Sie können mich jederzeit über den Verlag kontaktieren. Die Adresse steht ihm Buch.“ Nach einem kurzen Schweigen verabschiedete sich Svelte.

Harry las sein Geschichtsbuch weiter. Und er versuchte, seine schmerzenden Füße zu vergessen.

Eine dunkle Gestalt vor ihm ließ ihn Stunden später aufblicken.

„Severus?“ Der Tränkemeister stand mit am Rücken verschränkten Armen vor ihm.
„War das tatsächlich eine Frage? Man sollte meinen, nach all den Jahren erkennst du mich.“
Harry schnaufte. „Ich war nur überrascht, dich hier zu sehen.“
„Wie üblich zur Mittagszeit werden die Einnahmen zur Bank gebracht.“ Harry schaute sich um. Hermine, die sonst diese Aufgabe übernahm, war nicht zu sehen, durchaus aber George, der sie nach dem Überfall immer abholte, damit sie nicht allein gehen musste. „Mit meinen eigenen Augen wollte ich mich davon überzeugen, wie du deine Zeit vergeudest.“ Harry kam nicht dazu, Einspruch einzulegen. Einige Kunden der Bank, auch einige der Banker, beobachten die beiden bereits. „Eigentlich solltest du schon in der Schule gelernt haben, wann man dir einen Streich spielt und wann nicht.“ Severus gab sich nicht einmal Mühe, seine Stimme zu zügeln. „Ich würde mir das nicht bieten lassen.“
„Severus.“ Harry sprach in der Hoffnung, dass sich seine Ruhe auf Severus übertragen wurde, sehr besonnen. „Wenn ich genug habe, habe ich genug. Im Moment macht es mir nichts aus zu warten.“
„Und es macht dir offenbar nichts aus, öffentlich schikaniert zu werden.“
Diesmal schnaufte Harry abfällig. „Schikane ist etwas anderes, das hat mir der Tagesprophet beigebracht. Warum kümmert’s dich eigentlich?“
Weil man für seine Freunde einsteht wäre die richtige Antwort gewesen, stattdessen sagte Severus: „Weil es ein Unding ist, wie man in diesem Haus als Kunde behandelt wird.“ Einige Kobolde begannen nervös miteinander zu tuscheln. „Ich überlege ernsthaft, die Bank zu wechseln. Möchtest du, dass ich vielleicht mal ein Wörtchen mit Angestellten wechsel?“
„Um Himmels Willen, nein!“ Die Kobolde müssten um ihr Leben fürchten, zumindest aber um ihr Gesicht, das sie bei einem Gespräch mit Severus mit Sicherheit verlieren würden. „Meine Geduld ist auch nicht unbegrenzt, Severus, aber im Moment …“ Harry seufzte. „Es macht mir nichts aus zu warten.“
„Mmmh“, grummelte es von Severus auf Harry herab. „Fein, wie du meinst.“
„Ich habe eigentlich gehofft, Hermine kommt heute wieder. Versteh das bitte nicht falsch, ich freue mich über jede Ablenkung, aber sie hat mir gestern was zu essen gebracht und …“
„Man trat durchaus mit der Bitte an mich heran, mich um diese Angelegenheit zu kümmern.“

Die Hände hinter dem Rücken waren nicht verschränkt, wie Harry anfänglich dachte. Dort hatte Severus eine Tüte und einen Becher verborgen gehalten, die er ihm nun präsentierte. Ein Mittagessen, heute mit Kürbissaft. Harry lächelte. Er verkleinerte sein Buch, verstaute es und nahm das Menü dankend entgegen.

Severus und George begleiteten ihn nach draußen, bevor sie sich verabschiedeten.

Gerade wollte Harry es sich wie gestern auf den steinernen Stufen gemütlich machen, da begann es bei schönstem Sonnenschein zu regnen. Im Nu stellte er sich bei dem Türsteher unter.

„Muss ausgerechnet jetzt eine Husche kommen?“ Harry schaute neben sich. „Dürfte ich mich vielleicht neben Sie setzen und essen?“
Gräschedn blickte von der Seite an Harry hinauf. „Sicher, Sir.“

Hier hatte Harry wenigstens eine Rückenlehne, wenn man die Wand des Bankgebäudes so nennen konnte. Er streckte seine Beine aus, zog plötzlich Luft durch die Zähne ein und winkelte ein Bein an. Mit einer Hand betastete er den Knöchel. Er war geschwollen.

„Sie dürfen Ihre Schuhe ruhig ausziehen, Sir“, sagte Gräschedn.
„Nur wenn es Ihnen nichts ausmacht.“ Weil der Kobold wortlos verneinte, befreite Harry seine Füße und stöhnte erleichtert.
„Heute ohne Luftloch?“
Erstaunt blickte Harry neben sich, dann lächelte er. „Sie haben gestern gelauscht.“
„Nein, Sir. Mit diesen Ohren muss man nicht lauschen.“ Es waren große Ohren, auf die Gräschedn zeigte, fast so groß wie die von Elfen.
Grinsend stöberte Harry in der Tüte, die Severus ihm gegeben hatte. „Möchten Sie vielleicht ein Sandwich?“, bot er höflich an.
Das Gesicht des Türstehers wurde mit einem Male ganz weich, begleitet von einem milden Lächeln. „Nein, aber vielen Dank, Sir.“

Ganz in Ruhe verspeiste Harry sein Essen, hielt derweil einen lockeren Plausch mit Gräschedn – wie der Name geschrieben wurde, war ihm noch immer nicht bekannt. Der Türsteher entschuldigte sich jedoch, bevor Harry fertig war, und ging nach drinnen.

Seine Pause hatte er genossen. Am liebsten würde er noch einen Moment hier verweilen, im Sitzen, aber er rang sich dazu durch, seine Sachen zu packen und sich wieder an seine Säule zu lehnen.

Der Kobold vom Schalter gegenüber winkte Harry unerwartet zu sich heran. Die Menschen, die in einer Schlange anstanden, sagten kein Wort, als Harry sich an ihnen vorbeidrängte.

„Mr. Potter, Sie finden Gehör. Einer unserer Angestellten wird Sie ins Büro des Zuständigen begleiten“, sagte der Kobold am Schalter.

Harry konnte es gar nicht fassen. Endlich, am Ende des dritten Tages, hatte er die Kobolde mit seinem Warten mürbe gemacht. Ein Sieg! Er hoffte nur, dass dieser Sieg am Ende nicht doch mit einer Niederlage enden würde, wenn man ihm sagte, er könnte die Räume vergessen.

Der Kobold führte ihn einen Gang entlang, der für den Publikumsverkehr tabu war. Schon die Türen hier sahen prachtvoll aus; aus dunklem Holz, groß und üppig verziert. An der größten Tür am Ende des Korridors machte der Kobold Halt.

„Einen Moment bitte. Ich werde Sie ankündigen.“
Harry nickte dem Kobold zu. „Sicher.“

Den Moment lang, den er warten musste, betrachtete er die hölzernen Schnitzereien über der Tür. Engelsgleiche Koboldkinder wachten über dem Eingang. Die Tür öffnete sich erneut.

„Sie können jetzt eintreten und auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch Platz nehmen.“
„Vielen Dank.“

Im großräumigen Büro blickte sich Harry schüchtern um. Noch war er allein, der lederne Sessel hinter dem Schreibtisch leer. Gemälde hingen an der Wand, ausschließlich von Kobolden. Harrys Blick fiel auf den Stuhl, auf den er sich setzen sollte. Er war für kleine Wesen gemacht, wirkte wie der Stuhl aus einem Kindergarten. In diesem Sinne passte es zu seinem Anliegen, dachte Harry mit einem Schmunzeln, bevor er sich setzte. Mit seinen Händen konnte er den Boden berühren. Als sich eine andere Tür öffnete, stand er höflicherweise auf.

„Behalten Sie Platz“, hörte er eine bekannte Stimme sagen. Es war der alte Türsteher, der sich langsam zum Schreibtisch begab, doch er trug jetzt einen schwarzen Anzug in Miniaturausgabe. Harry blinzelte, blinzelte nochmals.

„Sir?“, wagte er leise zu fragen.
Gräschedn verzog keine Miene. „Nehmen Sie doch Platz, Mr. Potter.“
„Oh ja, vielen Dank.“ Der erste Schock war überwunden, aber jetzt stellte Harry sich Fragen – eine Menge Fragen.
„Meine Mitarbeiter teilten mir mit, Sie hätten Interessen an der Immobilie in der Winkelgasse.“
„Ja, Sir. Ich …“ Harry konnte nicht anders. „Darf ich fragen, warum Sie als Türsteher agieren, wenn Sie doch offenbar der Chef der Bank sind?“
Wieder dieses milde Lächeln. „Nur manchmal überkommt mich das Verlangen, meine Kunden zu beobachten. Ansonsten hocke ich hier, in diesem tristen Büro und lasse mir jegliche Arbeit abnehmen.“
Harry nickte. „Das verstehe ich, dass es einem schnell langweilig werden kann.“
„Zurück zu Ihnen, Mr. Potter. Erzählen Sie mir, was Sie mit den Räumlichkeiten vorhaben.“ Harry schlug seine Mappe auf, in der er sofort sein von Draco zusammengefasstes Konzept fand, doch Gräschedn war davon wenig begeistert. „Lesen Sie mir nichts vor, Mr. Potter. Erzählen Sie es mir.“

Und Harry begann zu erzählen, mit Händen und Füßen. Ähnlich wie bei Draco hatte er manchmal Probleme, seine Gedanken verständlich zu formulieren, aber seine Begeisterung machte das wieder wett. Bei einigen Punkten fragte Gräschedn nach, wollte mehr erfahren. Dämlich schien seine Idee keinesfalls zu sein, dachte Harry, sonst hätte man ihm längst einen Laufpass gegeben.

Als Harry sich alles von der Seele geredet hatte, besonders auch die Erklärung, warum er unbedingt in der Winkelgasse ansässig werden wollte, wurde es ruhig. Der Kobold machte ein ernstes Gesicht und dachte nach. Geduldig wartete Harry, blickte sich dabei im Zimmer um. Plötzlich krächzte eines der Gemälde und zwar genau das, das hinter dem Schreibtisch hing. In seinem Stuhl drehte sich Gräschedn zu dem Gemälde um und grunzte etwas zurück.

„Entschuldigung“, bat Harry um Aufmerksamkeit. „Ist das etwa der berühmte Gringott auf dem Bild?“ Gräschedn nickte. „Wow!“ Noch nie hatte Harry ein Bild von dem Gründer der einzigen Koboldbank gesehen. „Ich meine, guten Tag.“
„Mr. Potter“, begann Gräschedn sehr ruhig, „ich möchte Sie bitten, jetzt zu gehen. Sie werden von mir hören.“
Harry stand auf, sammelte seine Unterlagen zusammen. „Ist das ein eher schlechtes Zeichen?“
„Das werden Sie früh genug erfahren.“
„Auf jeden Fall danke ich vielmals dafür, dass Sie mich angehört haben. Auf Wiedersehen, Mr. Gräschedn.“

Als Harry den Koboldnamen aussprach, blickte Gringott ihn mit einer Mischung aus Verwunderung und Skepsis an. Die Augen des gemalten Kobolds wurden noch größer, als Harry sich per Handschlag von Gräschedn verabschiedete.

Zuhause wurde Harry von Wobbel begrüßt. Als Erstes mussten Schuhe und Socken dran glauben.

„Wo ist meine Frau?“
„Sie ist mich Nicholas die Mutter besuchen gegangen, weil sich ihr Gatte lieber die Beine in den Bauch steht, als mit ihr zu …“
„Hey!“, stoppte Harry den Elf.
„Ich wiederhole nur sinngemäß, was Mrs. Potter gesagt hat.“
„Na klasse.“ Harry seufzte, warf seine Unterlagen auf den Tisch und ließ sich auf die Couch plumpsen. „Dafür hatte ich endlich Erfolg.“ Nach einer kurzen Pause gab er zu: „Glaube ich jedenfalls. Mr. Gräschedn hat mich angehört. Ich denke, ihm gefällt meine Idee von einem Kindergarten.“
„Gräschedn ist ein Vorname in der Koboldgesellschaft.“
„Ach wirklich? Deswegen hat er immer gegrinst, wenn ich ein Mister davorgesetzt habe.“
„Ich bin mir sicher, mal gelesen zu haben, dass der Name gleichzusetzen ist mit dem englischen Vornamen Grayson, was soviel bedeutet wie ‚der graue Sohn‘.“
„Was denn, Wobbel“, Harry grinste, „du kannst Koboldgack?“
„Ich verstehe alles sehr gut, sprechen geht einigermaßen, aber schriftlich …“ Wobbel schüttelte den Kopf. „Das beherrsche ich nicht. Es ist eine sehr umfangreiche Sprache mit über fünfzig Buchstaben und extra Zeichen für Begriffe. Ich könnte Gräschedn nicht einmal zu Papier bringen. Der Anfangsbuchstabe ist ein Zwischending von k und g, nicht hart, nicht weich und mit keinem Buchstaben der Menschen zu vergleichen.“
„Und wie ist es mit deiner Sprache? Ist sie schwer?“
„Nein, elfisch ist recht einfach.“
„Dann kannst du es mir irgendwann mal beibringen.“
„Vinn!“
„Bitte?“
„Ich sagte Vinn. Wiederholen Sie es, Sir.“
Wegen Wobbels Eifer musste Harry lachen. „Ich sagte irgendwann, nicht sofort.“
„Das eine Wort schadet doch nicht.“
Da musste Harry ihm zustimmen, also wiederholte er das einfache Wort und sagt: „Vinn.“
„Sehr gut. War gar nicht schwer, nicht wahr?“
Harry schüttelte den Kopf. „Aber was heißt es?“
„Es heißt ‚Freund‘, Sir.“

Harry war gerührt und zudem stolz, dass Wobbel dieses Wort als so wichtig empfand, um es ihm als Erstes beizubringen.

Anders als Demut, Ehre oder Eitelkeit, die unter den Selbstgefühlen angesiedelt waren, zählte Freundschaft zu den Gefühlen der Verbundenheit. Ebenso wie der Hass.

Der Hass war ein Gefühl, das gemeinhin im Stillen gepflegt wurde. Uneingeschränkt zeigen sollte man ihn nicht unbedingt, besonders dann nicht, wenn diejenigen, die man hasste, in der Überzahl waren. Hass war obendrein angriffslustig. Er breitete sich im Herzen aus, konnte sein Pendant, die Liebe, verzehren und im Austausch eine ungesunde Leidenschaft für böse Taten wecken. Der Hass in der Brust machte einen aktiv.

Geringschätzung war im Gegensatz zum Hass viel leichter zu kontrollieren, denn sie fand im Kopf statt. Mitmenschen und weitere Kreaturen konnte man aufgrund ihrer Andersartigkeit schnell und unkompliziert als unwert bezeichnen und mit Verachtung strafen. Aber nicht alles, was man verachtete, hasste man von ganzem Herzen.

Verachtung drückte man am besten dezent aus, mit gewöhnlicher Mimik, anstatt mit bösen Worten. Man konnte beispielsweise die Nase rümpfen, als wäre man einem üblen Geruch ausgesetzt. Eine Gewohnheit, von der Narzissa seit langem schon abgelassen hatte. Severus schnaufte gern, um seine Geringschätzung zum Ausdruck zu bringen. Auf nonverbaler Ebene beherrschte er seinen Musculus frontalis perfekt. Er konnte mit seinen Augenbrauen eine Mimik erzeugen wie kein zweiter, aber selten machte er davon Gebrauch, um Überraschung zum Ausdruck zu bringen. Viel mehr lag ihm daran, dem Gegenüber deutlich zu machen, dass er ihn für unwissend, närrisch oder schwach an Verstand hielt. Gilderoy Lockhart zählte übrigens zu den wenigen Personen, die mit Severus’ gesamter Palette an verschiedenen Augenbrauenformationen bedacht worden waren.

Lucius hingegen zog es vor, ein prächtiges Gemeinschaftsspiel zwischen Mund, Nase und Augen zum Besten zu geben. Sein Mienenspiel war so sehr vollendet, dass die eigene Erhabenheit so gut wie nie durch ein hässliches Gesicht verunziert wurde. Wie aber, und das fragte er sich gerade, sollte er die Gäste seiner Geburtstagsfeier behandeln? Ein Werwolf in seinem Haus! Der Gedanke daran ließ ihn unbewusst jede Kontrolle über die Gesichtsmuskeln verlieren. Vor Ekel war es so sehr entstellt, als hätte man ihm Cerumen aufs Brot geschmiert. Abscheu war das, was er empfand. Hätte er die Möglichkeit, würde er die Schande, die mit so einem Wesen über seine Familie gebracht wurde, mit einer deukalischen Flut wegspülen, ganz wie Zeus es bei König Lykaon vorgemacht hatte. Erste Assoziationen zu einem solchen dunklen Wesen war die fortwährende Gefahr, die es für jedermann darstellte. Jeder wusste, was unschuldigen, kleinen Mädchen widerfuhr, die allein im Wald unterwegs waren.

Bei einem Werwolf dachte man ohne Umschweife an ein verschlagenes Monstrum, blutrünstig, Kinder fressend, behaart, stinkend und mit einem großen Maul voller scharfer Zähne. Als Lucius aus dem Fenster schaute, spitzte er die Lippen. Genau genommen verkörperte Greyback all dies, sogar ganz ohne Vollmond, ging es ihm durch den Kopf. Der Mann hatte stets nach Schweiß, Blut und Urin gestunken, dass es einem den Magen umdrehte. Zweifelsfrei rührte die größte Verunreinigung von Greybacks Kleidung nicht durch eigene, sondern durch die Körperflüssigkeiten seiner Opfer her, die vor lauter Todesangst keinen Muskel mehr unter Kontrolle hatten. Im Gegensatz zu Greyback, der eines Tages unverhofft auf Voldemorts Türschwelle auftauchte und wie ein anhänglicher Straßenköter einfach nicht mehr gehen wollte, war ihm Lupin bereits aus der Schule bekannt. Erst als ehemaligen Mitschüler und später als Lehrer von Draco. Sein Sohn hatte damals nichts Gutes über ihn sagen können. Und eben jener Lupin, eine dieser Bestien, würde demnächst in die Familie einheiraten und somit die gesellschaftliche Blamage für die Familie Malfoy vervollständigen.

Lucius schloss die Augen und versuchte, sich dem Schicksal zu beugen – den Dingen einfach ihren Lauf zu lassen. Immerhin, das hatte er sich vor einiger Zeit bereits vor Augen gehalten, gab es niemanden, der ihn für diese Schande despektieren würde. Diese Sorge war ihm von dem brennenden Mal genommen worden, das die meisten Anhänger des Dunklen Lords, fast seinen gesamten Bekanntenkreis, dahingerafft hatte. Unbewusst strich sich Lucius über den linken Unterarm.

„Fröstelt es dich?“, hörte er seine Frau fragen. Lucius drehte sich zu ihr. Mit ihren offenen Haaren wirkte sie in seinen Augen gleich zwanzig Jahre jünger.
„Nein.“
„Möchtest du dich noch etwas hinlegen, bevor die Gäste kommen?“
Lucius schenkte ihr einen irritierten Blick. „So alt bin ich ja nun auch nicht geworden.“
„Ich dachte nur …“ Narzissa stockte. „Du hast heute sehr unruhig geschlafen.“
„Hab ich?“ Daran konnte sich Lucius nicht erinnern. „Ich fühle mich ausgeruht. Mach dir keine Gedanken.“ Schnell wechselte er das Thema. „Was ist mit der Küchenhilfe?“
„Hat leider abgesagt. Dafür kommen Susans Eltern früher, um etwas zu helfen.“
Da war es, sein Mienenspiel, das Verachtung ausdrücken sollte. „Es ist mir unangenehm, dass die Gäste meiner Feier in der Küche arbeiten sollen. Ich wünschte zudem“, Lucius nahm ihre Hände in seine, „dass dir das ebenfalls erspart bliebe.“
„Es ist nicht sehr viel Arbeit. Vieles habe ich bestellt, nur wenig bereiten wir selbst zu.“
„Vielleicht sollte ich nochmals einen Hauself beantragen. Wer weiß?“
Narzissa schüttelte den Kopf. „Tu das nicht.“ Es würde ihn aufregen, sollte eine weitere Absage erteilt werden und die würde kommen. „Im Moment helfen Susan und Draco. Ich bin gekommen, um dich zu fragen, ob du auf Charles achten würdest, ihn nachher auch zum Mittagsschlaf hinlegst. Auf dem Küchenfußboden ist momentan nicht der richtige Platz für ihn.“
„Sicher, meine Teuerste. Ich werde ihm die Zeit vertreiben.“ Und sich selbst, dachte er missgestimmt. Am liebsten wäre es Lucius, wenn die Feier schon vorüber wäre.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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Teil 3/3 von Kapitel 225

Genauso unmotiviert wie Lucius begann auch der Tag von Sirius. Schon zum Frühstück war er erstaunlich ruhig, obwohl er sonst immer, wie Anne es gern ausdrückte, einen resoluten Optimismus an den Tag legte. Stets gut gelaunt, immer Zeit für einen Scherz. Heute nicht.

„Warum bist du denn so ein Brummbär?“, fragte sie geradeheraus.
„Bin ich gar nicht!“, rechtfertigte er sich mit kindlichem Schmollmund.
„Geht es um heute Abend?“ Er äußerte sich nicht dazu, weshalb sie nachstocherte. „Wenn du dort nicht hingehen möchtest, warum gehen wir dann?“
„Weil meine Familie es von mir erwartet.“

Es klang schön, fand er, von einer Familie sprechen zu können, die tatsächlich seine war. Gegen Andromeda, Ted, Tonks und Remus hatte er nichts. Narzissa war ihm manchmal noch nicht ganz geheuer und mit Draco hatte er bisher wenig zu tun. Aber Lucius …

„Seit wann interessiert dich, was andere von dir denken? Glaubst du, ich möchte deine schlechte Laune den ganzen Abend über ertragen? Sag ab, wenn es dir so sehr gegen den Strich geht.“
Sirius stieß Luft durch die Nase aus. „Nein, nein, wir gehen hin. Ich werde mich auch benehmen.“
„Kannst du mir wenigstens sagen, warum du so zickig bist?“
Wegen ihres Vorwurfs blickte er verstört auf und schien sich zu fragen, ob Männer zickig sein konnten. „Ich bin nicht zickig! Es ist nur …“ Sirius’ Gesicht zerknautschte sich an unzähligen Stellen, als er eine Grimasse schnitt. „Lucius Malfoy“, begann er langsam, doch die Abneigung konnte er nicht verbergen. „Er ist ein Heuchler! Ein Wolf im Schafspelz.“
„Also das genaue Gegenteil von Remus“, entwich es ihr scherzhaft.
„So ähnlich, ja. Er ist …“ Wie konnte man Lucius Malfoy für jemanden beschreiben, der noch nie mit ihm zu tun hatte? „Er ist ein Blender, ein Scheinheiliger. Du wirst das sicherlich zu spüren bekommen, denn er wird dich nicht ausstehen können. Du bist ein Muggel. Er hasst Muggel. In seinen Augen sind sie keinen Pfifferling wert.“
„Ich mag Pilze auch nicht besonders.“
„Anne, bleib bitte ernst.“
„Wie soll ich ernst bleiben, wenn du dich in solchen Hasstiraden verlierst?“
„Glaubst du mir etwa nicht?“
„Na ja, von Severus hast du auch nie gut gesprochen, aber zu mir war er immer freundlich.“ Bevor er gegenteiligen behaupten konnte, betonte sie nochmals: „Immer, Sirius! Gibt dir das nicht zu denken?“
„Natürlich gibt mir das zu denken“, murmelte er, fuhr sich dabei mit einer Hand über die Stirn. „Den habe ich ganz vergessen, der kommt ja auch. Womit habe ich das verdient?“
„Ich gehe hin! Wenn du nicht möchtest, dann sage es. Ich werde Remus und Tonks fragen, ob sie mich mitnehmen, aber ich möchte mal wieder raus aus dem Haus.“
„Ist ja gut, ich komme mit. Pass aber bitte auf dich auf. Am besten weichst du mir nicht von der Seite. Er kann sehr beleidigend sein. Ich möchte nicht, dass er dir irgendetwas antut.“
„Du reagierst völlig über!“
„Pah“, machte Sirius. „Wirst schon sehen, was für ein Typ Mensch er ist.“ In Rage geredet begann er am ganzen Leib zu zittern. „Das letzte Mal, als ich mit ihm zu tun hatte – richtig zu tun hatte – war im Ministerium. Wir haben gekämpft, gegeneinander. Es war eine persönliche Angelegenheit geworden, bis meine werte Cousine …“

Seine Augen flatterten. Er musste sie schließen. Dem Kampf im Ministerium folgten viele Jahre voller Unsicherheit. Eine surreale Existenz hinter dem Schleier in Form von Gedanken an die Vergangenheit.

Sirius spürte eine Hand an der Wange und öffnete die Augen.

Ihre Stimme war ein Flüstern. „Ich dachte, ihr hättet euch auf Harrys Hochzeit …“
„Kein Wort haben wir gewechselt.“ Sirius wandte sich von ihr ab, um vorzugeben, in einem Schrank nach Kleidung für heute Abend zu suchen, die er längst herausgelegt hatte. Er nuschelte noch etwas, dass sich wie Kanaille anhörte, aber Anne ging nicht mehr darauf ein.

Malfoys Geburtstag war auch woanders ein Thema. Im Hause Bones war gerade die Frage aktuell, ob das blaue oder das gelbe Kleid getragen werden sollte.

Mr. Bones schaute sich die nervösen Handbewegungen seiner Frau noch eine Weile an, bevor er eingriff und versicherte: „Megan, beruhige dich. Beide Kleider sehen gut aus.“
Letztendlich ging es nicht um Äußerlichkeiten. Dem Schwiegervater ihrer Tochter war sie schon über den Weg gelaufen, aber miteinander gesprochen hatten sie noch selten. „Ich weiß nicht, Elliot.“
Sie wusste von seinen Vorurteilen gegenüber Muggeln. „Draco hat sich als freundlicher, junger Mann entpuppt“, begann Elliot leise. „Wir können zumindest hoffen, dass Mr. Malfoy senior sich nicht herausnehmen wird, seiner Antipathie nachzugeben und dich zu beschimpfen. Ich bin mir sicher, dass Narzissa das nicht zulassen würde.“

Megan nickte. Mrs. Malfoy – Narzissa – war auf der Hochzeit der Kinder äußerst freundlich gewesen. Dennoch war die Angst da, einem ehemaligen Todesser gegenüberzutreten. Plötzlich waren die Kleider egal. Megan rannte zu einer Kommode und wühlte in der ersten Schublade.

„Schatz, was suchst du da?“
„Das Pfefferspray gegen Hunde.“
Elliot ging zu seiner Frau hinüber und ergriff ihre zitternden Hände am Handgelenk. „Meinst du wirklich, es zeugt von Entgegenkommen, wenn du Todesser-Abwehrspray einsteckst?“
Obwohl ihr Mann lächelte, war Megan nicht nach Scherzen zumute. „Ich habe Angst, Elliot. Ich habe wirklich Angst. Es war deine Schwester, die man umgebracht hat. Dein Bruder, den die Todesser samt Familie ermordeten.“ Ihr Zittern wurde stärker. „Woher willst du wissen, dass er nicht einer von denen war?“
„Ich …“ Elliot schluckte. Die Erinnerung an seine Geschwister, an die Schwägerin und Nichten, war mit einem Male wieder so präsent, als hätte er erst gestern die schreckliche Nachricht über deren Ableben erhalten. „Das Ministerium hätte ihn nicht freigelassen, wenn er auch nur einen Menschen auf dem Gewissen hätte. Soweit ich weiß, setzte man beim Verhör die Wahrheitsdroge ein.“
Megan nickte. Ganz überzeugt war sie noch nicht. „Mir gefällt auch nicht, dass unsere Tochter in diesem Haus lebt, zusammen mit ihm unter einem Dach. Sie kommt mit ihm nicht gut aus.“
„Susan ist eine erwachsene Frau, Megan. Sie kann Entscheidungen für sich treffen und wenn sie der Meinung ist, es wird ihr zu viel, wird sie entweder ein Wörtchen mit Mr. Malfoy wechseln oder, wenn das nicht möglich sein sollte, die Konsequenzen ziehen.“
Seine Frau nickte, als wollte sie sich selbst gut zureden. „Harry Potter hat sich heute gemeldet“, wechselte sie abrupt das Thema. „Das Geschenk hat er besorgt. Fünfzig Galleonen pro Person.“
„Ich hoffe, Mr. Malfoy weiß das zu schätzen.“

Im Hause Malfoy liefen die Vorbereitungen in der Küche auf Hochtouren. Susans Eltern waren bereits gekommen, unbemerkt von Lucius, der mit Charles im Arm auf einem Sofa saß und aus einem Kinderbuch las.

Wie es sich gehörte, wollten Megan und Elliot den Gastgeber begrüßen, bevor sie in der Küche mit anpackten. Narzissa führte sie in den grünen Salon. Die fröhliche Konversation endete auf der Stelle, als sie das schlafende Kind bemerkten. Mit Rücksicht auf Charles fand die Begrüßung ausnahmslos im Flüsterton statt.

„Lucius, Charles sollte doch seinen Mittagsschlaf halten“, erinnerte ihn Narzissa.
„Aber er schläft doch.“ Demonstrativ ließ Lucius seinen Blick auf das entspannte Gesicht des Kindes fallen, bevor er nochmals seine Frau ansah.
„Wollte er wieder nicht ins Bett?“ Es war eine rhetorische Frage. Narzissa wusste, dass Charles ungern einen Mittagsschlaf hielt. Ihn jetzt hier zu sehen, im Arm ihres Mannes und tief schlafend, brachte sie zum Lächeln.
„Mrs. Bones, Mr. Bones“, Lucius legte das Kinderbuch neben sich auf das Polster und streckte der Dame die Hand entgegen. „Bitte nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich Platz behalte.“
„Ach, das macht gar nichts“, winkte Megan ab. „Guten Tag, Mr. Malfoy und ganz herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.“ Mr. Bones wiederholte die Prozedur seiner Frau.

Zu seinem eigenen Erstaunen ließ man ihn wieder allein. Man schien sich nicht daran zu stören, dass er sich im grünen Salon die Zeit vertrieb, während die Gäste, wobei die Bones’ zur Familie gehörten, in der Küche arbeiteten. Das mochte jedoch auch an den Privilegien eines Geburtstagskindes liegen. In der angenehm ruhigen Atmosphäre des Zimmers, durch dessen offene Fenster die Vögel hineinzwitscherten, lehnte sich Lucius zurück an das Sofa und vergnügte sich dabei, abwechselnd seinen Enkel im Schlaf zu beobachten und nicht mehr in dem Kinderbuch, sondern in der letzten Ausgabe des Tagespropheten zu blättern.

Als ihm der Arm einschlief, legte er Charles vorsichtig auf das Sofa. Damit der Junge im Schlaf nicht fallen würde, schützte er ihn mit einem Zauberspruch, deckte ihn zu und begab sich, nachdem er tief durchgeatmet hatte, in die Küche.

Seine Frau und Mrs. Bones richteten eine kalte Platte an. Draco und Mr. Bones gingen die gelieferten Speisen des Catering-Service eines renommierten Gourmet-Restaurants durch. Seine Schwiegertochter war die Einzige, die eine Schürze trug und Käse schnitt – mit der Hand.

„Gibt es dafür keinen Haushaltszauber?“, fragte Lucius, den bisher niemand bemerkt hatte. Erst jetzt blickte man ihn an, dann hinüber zu Susan.
Seine Schwiegertochter erklärte: „Doch, gibt es, aber der Fachhändler sagte, dass ein Schnittzauber die geschmackliche Qualität beeinträchtigen würde.“

Wäre ihr die Güte der Speisen, die auf seiner Feier serviert werden sollten, egal, hätte sie sich nicht die Mühe gemacht, zu einem Messer zu greifen. Lucius war einerseits milde gestimmt, dass sie so aufmerksam war und die Mehrarbeit in Kauf nahm. Andererseits würde er ihr dafür Dankbarkeit zeigen müssen, aber dazu war er nicht bereit. Deshalb erwiderte er nichts.

„Wo ist Charles?“, wollte sein Sohn von ihm wissen.
„Er schläft auf dem Sofa. Keine Sorge, er kann nicht hinunterfallen.“ Sein Sohn nickte beruhigt und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.
Narzissa warf ihrem Mann ein Lächeln zu. „Lucius, möchtest du vielleicht für nachher schon den Wein auswählen?“
Übersetzt hieß das, in den dunklen, schmutzigen Keller zu gehen, durch Spinnennetze zu greifen und staubige Flaschen in die Hand zu nehmen. Lucius rümpfte die Nase, sagte entgegengesetzt seines sichtbaren Ekels jedoch: „Sicher, rot und weiß?“
„Ja, bitte.“

Der Keller war nicht so schlimm, wie er ihn sich vorgestellt hatte. Es roch zwar muffig, aber Narzissa musste erst kürzlich alles gesäubert haben. Die Fackeln erhellten das Gewölbe, in denen die alten Weinregale seines Vaters standen, die der schon von seinem Vater übernommen hatte.

Wahllos griff Lucius zu ein paar Flaschen und betrachtete ihr Etikett. Die besten Weine wollte er seinen Gästen nicht anbieten. Seiner Meinung nach würden sie es nicht zu schätzen wissen, welch hochwertiges Getränk ihre Zunge benetzte. Die Mittelklasse tat es auch, aber davon gab es wenig. Es wiederstrebte ihm, die teuren Flaschen mit durchschnittlichem Volk zu teilen.

„Achtzehnhundert…?“ Lucius drehte die Flasche, hielt sie unter eine der Fackeln, aber das Datum konnte er nicht entziffern.

Aus einem alten Metallbecher, der hier unten stand, zauberte er ein sauberes Weinglas. Den Wein von tiefpurpurroter Farbe wollte er sofort verkosten. Lucius nahm einen winzigen Schluck, rollte ihn über die Zunge und atmete ein, bevor er schluckte. Ein umwerfendes Pfirsicharoma und ein Hauch Zimt war zu schmecken, selbst die Spur von Pflaumen erkannte bei dem trockenen Wein. Lucius leerte das Glas, verschloss die Flasche danach magisch.

Ein anderer Wein wollte ebenfalls probiert werden. Ein Weißer, goldgelb, mit einem frischen Duft nach grünen Äpfeln und einem vollen und lieblichen Geschmack. Ebenfalls ein Trockener, der zu gut für die Gäste war.

Nach einer Weile, die Lucius allein mit den Weinen verbrachte, hörte er die Stimme seiner Frau.

„Hast du die alle geöffnet?“ Ungläubig deutete Narzissa auf die sechs Flaschen.
„Natürlich! Denkst du allen Ernstes, ich möchte mit einem Wein anstoßen, der nach Kork schmeckt? Was würde das für einen Eindruck hinterlassen?“ Lucius roch an dem Wein in seinem Glas und genoss die letzten beiden Schlucke.
„Wie viel hast du getrunken?“
„Nicht zu viel, falls du darauf anspielst.“ Sechs Flaschen, sechs verschiedene Weine – das machte logischerweise sechs Gläser, die nicht gerade bescheiden gefüllt waren.
„Die sechs hast du ausgewählt?“ Weil Lucius nickte, zauberte sie die Flaschen vom Keller in den grünen Salon, um sie später in die Rot- und Weißweinkaraffen umzufüllen. „Severus ist übrigens gerade gekommen.“

Lucius strahlte, doch sein Lächeln verblasste sehr schnell wieder, als er sich vor Augen führte, dass mit Severus auch das Schlammblut anwesend war. Er hoffte innig, sie würde Severus wenigstens einen Moment lang von der Leine lasse, damit er mit seinem alten Freund in Ruhe reden konnte.

Auf den Stufen, die nach oben führten, warnte Narzissa ihren Gemahl vor: „Die Blacks sind auch schon hier. Beinahe alle sind pünktlich.“
„Wie wundervoll! Dann stürzen wir uns mal in einen Krieg, in dem die Schwerter aus Worten geschmiedet wurden.“
„Lucius, ich bitte dich inständig …“
„Keine Sorge. Ich werde mich weder in Impetus noch Lautstärke steigern, sollte es zu unangenehmen Gesprächsthemen kommen.“

Vielleicht war es der Wein, möglicherweise die Aufregung, eine Fehlzündung im Gehirn, alles zusammen oder es hatte völlig andere Ursachen, als mit einem Male Lucius’ Zwerchfell beschloss, eine reflexartige Einatmungsbewegung auszuführen, die zu einem Geräusch führte, das man im allgemeinen Sprachgebrauch gern als Hickser bezeichnete. Narzissa drehte sich erstaunt zu ihm um.

Mit flacher Hand fasste sich Lucius an die Brust und versicherte: „Ich habe wohl falsch geatmet.“

Oben angelangt war der Einzige, der seine Anwesenheit sofort bemerkte, Severus. Seine bessere oder schlechtere Hälfte, wie man es nahm, unterhielt sich mit dem Cousin seiner Frau, Sirius Black. Es schien, als würde Severus einen Sicherheitsabstand zu eben jenem Mann halten, um einem möglichen Gespräch aus dem Weg zu gehen. Severus näherte sich Lucius.

„Alles Gute zum Geburtstag.“
Erleichtert schüttelte Lucius ihm die Hand, legte die andere auf dessen Schulter. „Severus, es ist schön, dass du hier bist. Ich freue mich.“
„Das glaube ich dir sogar.“
„Ganz im Ernst. Wir haben in letzter Zeit kaum die Gelegenheit gehabt …“

Schon wurde erwähnte Gelegenheit unterdrückt, denn Severus’ Verlobte steuerte zielsicher auf ihn zu. Sie hielt ihn also doch an der kurzen Leine, mutmaßte Lucius. Ein Umgang mit ihm war Severus anscheinend nicht gestattet.

„Mr. Malfoy, guten Tag. Ich möchte herzlich zum Geburtstag gratulieren.“

Höflich, wie er war, schüttelte er die entgegengestreckte Hand und bedankte sich. Erstaunlicherweise ließ sie die beiden Männer danach in Ruhe. Noch besser war, dass Severus ihr nicht folgte. Offensichtlich hatte er seine Freiheit behalten.

„Was hast du?“, fragte Severus.
„Ich dachte für einen Augenblick, man hätte dir verboten, mit mir zu reden“, erwiderte Lucius zwar mit schelmischem Lächeln, aber es war deutlich zu vernehmen, dass er es ernst meinte.
„Du müsstest mich kennen. Ich lasse mir von niemandem Verbote auftragen.“
„Ja, nicht einmal vom Dunklen Lord.“
„Warum musst du ihn erwähnen?“ Severus hob beide Augenbrauen, bevor er gelangweilt fragte: „Fehlen dir die alten Zeiten so sehr, dass du ständig an sie erinnern musst?“

Das Beben seiner Unterlippe konnte Lucius spüren, es musste sichtbar sein. Und tatsächlich erwischte er Severus dabei, wie er ihm für den Bruchteil einer Sekunde auf den Mund schaute.

Lucius atmete ruhig durch. „Du hast Recht, es war eine unangemessene Bemerkung.“ Er ließ seinen Blick schweifen, direkt vorbei an seinem Freund. „Oh, nein …“ Severus folgte Lucius’ Blick und sah Sirius, der mit seiner Frau näher kam.
„Lucius!“ Die Abneigung der beiden Männer war auch nicht damit zu verschleiern, dass sie sich beim Vornamen nannten. „Ich möchte mich den Gratulationen anschließen.“ Ein halbherziger Handschlag folgte. „Das ist meine Frau.“ Sirius schaute zu Anne, legte einen Arm um ihre Schulter. „Sie ist ein Muggel.“

Eine absichtliche Provokation. Lucius mochte es ganz und gar nicht, dieses Tatsache noch unter die Nase gerieben zu bekommen. Wahrscheinlich erwartete Sirius nun, dass er sich negativ äußerte, wenigstens aber seine Verachtung mit der Mimik zum Ausdruck brachte. Den Zahn wollte er ihm ziehen. Lucius setzte sein schönstes Lächeln auf und ergriff die Hand der jungen Frau.

„Mrs. Black“, ein galanter Handkuss folgte, „es ist mir eine große Freude, Sie näher kennenzulernen.“ Noch immer hielt er die Hand der Dame in seiner. „Sie müssen mir im Laufe des Abends unbedingt erzählen, wie Sie die magische Welt empfinden. Es ist sicherlich Neuland für Sie.“ Jetzt ließ er die Hand wie in Zeitlupe los, was eindeutig schmeichelnd gemeint war. „Eine aufgeschlossene Dame wie Sie, dazu noch eine so bezaubernde, konnte bisher bestimmt alle Hürden überwinden.“
„Ich …“ Verlegen spielte sie mit ihrer Halskette. „Ja, ich habe mich gut eingelebt. Ich arbeite sogar in der magischen Welt.“
„Nein, wirklich!“ Begeisterung vorzutäuschen war ein Leichtes für Lucius. „Als was, wenn ich fragen darf?“
„Als Hutmacherin bei Stock und Hut.“
Dort wollte Lucius in Zukunft nie wieder einkaufen gehen. „In der Winkelgasse!“ Jetzt schwang sogar Stolz in seiner Stimme mit, was ihm jedoch einiges an Mühe abverlangte. „Eine hervorragende Gegend.“

Sirius’ Blick verfinsterte sich. Er kam nicht dazu, stichelnde Bemerkungen von sich zu geben, denn aus der Küche rief Narzissa: „Sirius?“
„Ja, wir kommen.“ An Lucius gerichtet sagte er: „Wir sehen uns ja noch.“
Er zog Anne hinter sich her. Man konnte noch hören, wie sie zu ihm sagte: „Ich weiß gar nicht, was du hast …“

Ein selbstgefälliges Grinsen zierte Lucius’ Gesicht, als er Severus in die Augen blickte. Er konnte es noch immer.

Im Hause Tonks machte man sich für den Abend bereit. Man besprach Harrys Nachricht.

Wenn pinkfarbene Haare rot wurden, stand Missmut an. „Ich finde, fünfzig Galleonen pro Person sind viel zu viel für diesen Mann.“
„Wir haben das doch aber im Vorfeld geklärt. Es wäre nicht nett, wenn wir Harry jetzt weniger geben als ausgemacht.“ Dann und wann hatte Remus arge Mühe, Tonks zu beruhigen. Zum Glück waren sie gerade bei ihren Eltern, die auch ein Wörtchen mitzureden hatten.
„Es ist der fünfzigste Geburtstag.“ Mit einer Hand strich sich Andromeda das Kleid gerade. „Da ist es angemessen, für das Geburtstagskind ein wenig tiefer in die Tasche zu greifen.“
„Geburtstagskind?“ Tonks schnaufte abfällig. „Warum müssen wir so tun, als wären wir eine intakte Familie?“
„Nymphadora.“ Ted legte eine Hand auf die Schulter seiner Tochter. „Wir, die Familie Tonks“, er zeigte auch auf Remus, „versuchen wenigstens, über Vorurteile hinwegzusehen, freundlich und entgegenkommend zu sein und vor allem Streitigkeiten zu vermeiden. Deine Mutter und ihre Schwester haben alte Bande wieder gefestigt. Allein das gehört belohnt, meinst du nicht?“ Er wartete keine Antwort ab. „Wir sollten mit gutem Beispiel vorangehen und zeigen, dass wir gute Menschen sind, nicht wahr, Töchterchen?“ Tonks schmollte. „Es gibt in jeder Familie ein schwarzes Schaf. Er ist ein Außenseiter. Lucius denkt, wir würden Schande über seine Familie bringen, dabei ist er es, dessen Weste mal eine ordentliche Behandlung mit viel Bleichmittel vertragen könnte.“

Ihrem Vater wollte und konnte sie keine Widerrede leisten. Halt fand sie bei Remus, der von hinten seine Hände an ihre Taille legte und sie zu sich zog, damit sie sich mit ihrem Rücken an ihn lehnen konnte.

„Wollen wir aufbrechen?“, fragte Ted in die Runde.
Andromeda war fast fertig. „Ich hole noch die Blumen für Narzissa und das kleine Geschenk für den süßen Fratz.“
Tonks schüttelte den Kopf. „Damit meinst du hoffentlich Charles.“
Sie fühlte einen Kuss an ihrer Schläfe, gefolgt von einem angenehmen Vibrieren am Rücken, als Remus sprach: „Hast du auch etwas für Nicholas?“
Andromeda strauchelte. „Das habe ich ja völlig vergessen!“
„Ich habe für beide Kinder etwas besorgt, damit es keine Streitigkeiten gibt.“ Wegen Remus’ voraussehender Geste musste Tonks lächeln. Er dachte an solche Kleinigkeiten, dachte immer an die Kinder.
„Bestimmt finde ich noch etwas für Harrys Kleinen“, murmelte Andromeda, als sie die Schränke in der Küche aufriss, um eine Süßigkeit ans Tageslicht zu bringen.
„Schatz“, Ted klang nervös, „ich wollte pünktlich bei den Malfoys erscheinen.“
Andromeda winkte ab und suchte weiter, während die anderen drei geduldig warteten.

In der Zwischenzeit in Hogwarts waren zwei andere Gäste in Aufbruchsstimmung.

Harry und Ginny entschieden kurzfristig, Nicholas umzuziehen. In der feinen Hose fühlte sich der Junge nicht wohl, also zogen sie ihm eine Alltagshose an, die nirgends mehr in die zarten Kinderbeinchen kniff. Harry nahm Nicholas auf den Arm, während Ginny nach der Tasche mit Windeln, Trinkflasche und Spielzeug griff.

„Hast du nicht etwas vergessen, Harry?“ Mit hoch gezogenen Augenbrauen überlegte er, kam jedoch nicht drauf. Vom Tisch nahm Ginny das flache, viereckige Geschenk, in denen sich die Portschlüssel zum Hotel auf Mauritius, ein Umschlag mit Taschengeld und Informationsmaterial zum Ort befanden.
„Das wäre was geworden, wenn ich das Geschenk vergessen hätte“, seufzte Harry. „Gut, dass du dran gedacht hast.“
„Wobbel?“, sagte Ginny in normaler Zimmerlautstärke.
Der Elf erschien. „M’am?“
„Wir sind jetzt weg. Kannst eine Party schmeißen.“
„Das würde ich mir nie erlauben!“
„Aber du dürftest“, konterte sie mit einem Lächeln. „Bis dann, Wobbel.“

In Malfoy Manor waren sie, trotzdem sie überpünktlich losgegangen waren, nicht die Ersten. Kaum war Harry ohne Zwischenfälle aus dem Kamin getreten, wurde er von einer jungen Dame mit schwarzen Haaren angeblickt, die gerade mit Mr. Malfoy sprach und nun zu ihm schaute. Auch Susans Eltern befanden sich im Raum und ein Herr, ebenfalls mit pechschwarzen Haaren, den er irgendwo schon einmal gesehen hatte.

„Mr. Potter.“ Lucius kam auf ihn zu. „Guten Abend.“

Die Begrüßungs- und Glückwunschprozedur, die an diesem Abend bereits mehrmals abgehalten wurde, wiederholte sich auch zwischen Lucius und den neuen Gästen.

Um sich nicht mit Potter unterhalten zu müssen, winkte er seine Gesprächspartnerin heran.

„Ich weiß nicht, ob Sie sich bereits kennen. Das ist Miss Amabilis“, stellte Lucius die junge Dame vor. „Mr. Potter besitzt den Bekanntheitsgrad eines bunten Hundes. Ich kann mir wohl ersparen, ihn vorzustellen.“
„Haben wir uns schon einmal gesehen?“, fragte Harry. Ihr Gesicht kam ihm bekannt vor.
„Ich war auf Ihrer Hochzeit, Mr. Potter. Mr. Krums Frau war so frei …“
„Ach, die Cousine seiner Frau“, fiel es ihm ein. Die Dame nickte. „Ich wusste, ich kenne Sie irgendwoher.“ Er schaukelte kurz das Kind auf seinem Arm. „Mein Sohn Nicholas und“, er schaute zu Ginny, „und meine Frau haben Sie ja auch schon gesehen.“
Marie winkte den Herrn mit den schwarzen Haaren zu sich heran und stellte vor: „Mr. Duvall, mein Verlobter. Auf Ihrer Hochzeit war er mein Begleiter.“

Die Zeit bis zum Essen zog sich für Lucius in die Länge. Die Gäste unterhielten sich prächtig, doch mit ihm wechselte so gut wie niemand ein Wort. Das ein oder andere Mal schien einer der Geladenen darüber nachzudenken, wie er Lucius ansprechen sollte, doch jedesmal entschieden sich die Personen dagegen. Andromeda wagte es, ihn nach dem allgemeinen Befinden zu fragen, erkundigte sich sogar nach möglichen Plänen, wieder einer Arbeit nachzugehen. Ihr kam nicht in den Sinn, dass er damals nur auf Voldemorts Anraten hin im Ministerium beschäftigt war.

Bei Severus’ Verlobter hatte Lucius mehrmals den Eindruck, sie wollte mit ihm sprechen. Ihr Blick war jedesmal, wenn sie den seinen traf, voller Sorge, als würde sie das Schlimmste befürchten.

Seine Taten lagen wie ein drückender Nebel im Salon. Jeder wusste von seiner Anhängerschaft, kannte seine Meinung zu gewissen Themen und seine Aversion gegen Andersartigkeit. Ausnahmslos jeder versuchte, über diese Dinge hinwegzusehen. Neugierig lauschte Lucius einem Gespräch zwischen Sirius und Sid, in welchem es um Gesetzesänderungen ging. Ja, davon hatte Lucius schon gehört. Den Wert anderer Lebewesen heraufzusetzen stellte in seinen Augen eine Entehrung für die Zauberergesellschaft dar. Natürlich verschwieg er seine Ansicht.

Severus war so frei, sich nach einem Gespräch mit Draco und danach mit dem Werwolf einen Drink zu genehmigen. Mit einem weiteren Glas gesellte er sich zu Lucius.

„Warum so still, Lucius. Es ist dein Geburtstag“, sagte sein alter Freund, reichte ihm dabei das Glas.
Mit guter Miene zum bösen Spiel erwiderte er: „Das ist nur die Ruhe vor dem Sturm.“ Mit einem Nicken bedankte er sich für das Getränk.
Severus sah zu einer Dame hinüber und wollte in Erfahrung bringen: „Wer sind die beiden?“
Unauffällig schaute Lucius zu entsprechendem Gast. „Das ist Miss Amabilis, ehemalige Krankenschwester im Mungos. Dort lernte ich sie kennen.“
„Und mögen?“
„Sie ist eine fähige Frau“, umging Lucius die Frage. „Ich ermögliche ihr eine Ausbildung zur Heilerin im Gorsemoor.“
„Das ist äußerst großzügig von dir. Und der Herr neben ihr, wer ist das?“
„Mr. Duvall, mein ehemaliger Beistand.“
„Interessant! Ich hätte nicht gedacht, dass du ihn einlädst.“
Lucius schüttelte den Kopf. „Er begleitet sie. Geladen habe ich ihn nicht. Ich wusste nicht einmal, dass die beiden sich sogar ein Heiratsversprechen gegeben haben.“ Mit einer Hand deutet Lucius auf zwei Sessel, zwischen denen ein kleiner Tisch stand. „Nehmen wir doch Platz.“
Im Sitzen beobachteten sie die anderen Gäste. „Deine Frau und ihre Schwester verstehen sich wieder recht gut, habe ich den Eindruck.“
„Ja“, seufzte Lucius. „Erklären kann ich es nicht.“
„Hat dir Narzissa je erzählt, was ihr widerfuhr? Ich meine, während des Krieges, als sie sich versteckte.“

Lucius musste schlucken. Manchmal hatte Narzissa von dieser Zeit erzählt. Mit glasigem Blick driftete sie in zurückgehaltene Erinnerungen, schilderte von dem kleinen Haus, das Kreacher für sie geschaffen hatte – mitten auf dem sicheren Gelände Hogwarts. Wenn sie davon redete, dann mit betonter Objektivität und auktorialer Erzählform, als gehöre sie nicht zum Erlebten. Manchmal war es befremdlich. Eine Umarmung, das hatte Lucius schnell herausgefunden, wirkte Wunder, holte sie zurück.

Nach einem Schluck Wein sah sich Lucius imstande, Severus zu antworten. „Sie hat eine Menge durchgemacht. Die Einsamkeit hat sie verändert.“
„Zum Guten, wenn du mir diese Meinung gestattest. Das heißt nicht, dass sie früher ein schlechter Mensch war.“
Severus war der Einzige, dem Lucius so eine Äußerung nicht übel nahm. „Was ist mir dir, Severus? Du hast dich auch verändert.“
„Hab ich?“, hakte Severus in der Hoffnung nach, von Lucius eine genauere Beschreibung zu erfahren.
„Komm schon, Severus. Deine gute Beziehung zu Potter. Und mit dem Werwolf scheinst du dich auch prächtig zu verstehen. Nicht zu vergessen dein“, Schlammblut, „deine Verlobte.“
Severus ging einen Moment in sich, bevor er sich an ein Gedicht erinnerte und zitierte: „Die Zeit zerstört und baut Paläste …“
„Streut bunte Blumen auf die Flur.“ Lucius nickte. „Ja, das musste ich auch auswendig lernen. Meine Mutter legte viel Wert darauf, solche Texte zu kennen.“

Severus stutzte, hielt jedoch den Mund. Es war nicht der richtige Augenblick, Lucius darauf aufmerksam zu machen, dass es sich um ein Muggelgedicht handelte.

Ein gebeutelter Seufzer entwich Lucius. „Dann ist es die Zeit? Die Zeit ändert alles.“ Es mangelte an Überzeugung, als Lucius das sagte. „Bei dir, Severus, war es nicht allein die Zeit“, sagte er plötzlich sehr überzeugt. „Ich weiß nichts Genaues, keine Details, aber deine Veränderung ist mir nicht dennoch entgangen. Sogar zweimal habe ich sie miterlebt. Es war ein Trank, nicht wahr?“ Severus blieb stumm. „Mach mir nichts vor. Ich kenne die Bücher, die du gewälzt hast.“
Severus hatte seine Stimme wiedergefunden. „Man merkt, dass du ein Slytherin bist. Immer aufmerksam und stillschweigend. Niemand kann genau sagen, was dir entgangen ist und was du dir merkst. Warum bist du nicht Slytherin genug und streifst, wie das Symbol unseres Hauses, deine Haut ab, um neu zu beginnen?“
„Du weichst mir aus.“
„Darin bist du ebenfalls ein Meister, Lucius. Sag mir, kannst du Miss Amabilis gut leiden?“ Auch diesmal wollte Lucius nichts erwidern. „Weißt du, wozu deine Verschwiegenheit nützlich ist? Um dein eigenes Weltbild nicht zu zerstören. Ich weiß, dass sie halbblütig ist. In einem Gespräch mit Viktor Krum habe ich das erfahren und dennoch förderst du sie, wo du ihre Eltern doch als Blutsverräter bezeichnen würdest. Bloß nichts offen zugeben, Lucius. Du könntest dir selbst ein Bein stellen.“
„Bist du jetzt fertig?“, fragte Lucius gelangweilt. Ein kindlich vergnügtes Kreischen und Lachen drang an seine Ohren. Der Grund war bald gefunden. „Sieh nur, sie macht Affengesichter.“
Severus schaute zu Tonks hinüber, die mit ihrer Fähigkeit als Metamorphmagi nicht nur Charles und Nicholas unterhielt. „Zur Belustigung der Kinder.“
„Sie wäre in einer Freakshow sicherlich das beste Pferd im Stall.“
„Tonks hat eine außergewöhnliche Gabe, Lucius. Wenn jemand in eine sogenannte Freakshow gehört hätte, dann Voldemort.“ Mit fiesem Grinsen fügte Severus hinzu: „Als Schlangenjunge.“
Lucius musste lachen. „Dem man Pettigrew als Futter vorwirft. Ja, das passt wunderbar.“

Kaum sprach man von Futter, wurde auch schon zum Essen gerufen. Es missfiel Lucius, dass nicht wie früher am Tisch bedient wurde. Im Esszimmer war, denn Platz gab es genug, ein Buffet aufgebaut. Selbstbedienung. Es war billig, aber bei der Menge an Gästen die beste Wahl, die Narzissa hätte treffen können. Niemand schien sich daran zu stören, dass er sich selbst auftun musste. Es wurde sogar gelacht und geschäkert, als man die gebotenen Speisen begutachtete. Hummer, Lachs, Krebs und andere Meerestiere. Dem standen edelste Wildgerichte gegenüber, Geflügelkombinationen und etwas, das Lucius nicht zu identifizieren imstande war.

Das Essen selbst war ihm egal. Am Ende des Tisches sitzend fand er mehr Gefallen daran, seine Gäste am Buffet zu beobachten. Die leeren Gläser stachen im plötzlich ins Auge.

„Narzissa, wie steht es mit Getränken?“, fragte er vorsichtig. Sie hatte sich bereiterklärt, sich am heutigen Tage um alles zu kümmern, was ihm nicht das Recht gab, sie wie eine Dienstmagd hin und her zu scheuchen.
Höflich fragte sie die ersten Gäste, die sich mit vollem Teller an den Tisch gesellten: „Was darf ich zu trinken anbieten? Rot- oder Weißwein vielleicht?“
Ted Tonks war ein einfacher Mann, aus einer einfachen Familie. Sein Wunsch hätte Lucius eigentlich nicht verwundern dürfen und dennoch war er baff, als er Ted antworten hörte: „Gibt es auch ein Bierchen?“
„Ich würde auch eines nehmen“, stimmte Sirius mit ein, als er sich neben Ted setzte.

Bier.

Einst neben Met als Getränk der Götter gehuldigt, von den Römern als barbarisches Getränk verpönt, war es in unmythologischen Zeiten schnell zu einem Billiggetränk mutiert, das für den Gaumen von Hinz und Kunz – oder Tonks – völlig auszureichen schien. Sechs Flaschen guten Weines hatte Lucius geöffnet und persönlich verkostet, nur um miterleben zu müssen, dass man Bier wünschte.

„Ja, ich habe welches besorgt“, beteuerte seine Frau. „Dunkel oder hell?“

Lucius schenkte sich etwas Edleres ein. Als das erste Bier am Tisch geöffnet wurde, verlor er seine Lust an dem nach frischen Äpfeln duftenden Wein, denn der muffige Gestank des dunklen Bieres verbreitete sich wie übler Darmwind. Missgelaunt stellte er sein Weinglas ab und stocherte in dem Krebsfleisch herum, während er seinen Blick über die Bauern der Tafelrunde schweifen ließ.

Severus trank Wein, einen roten. Seine Verlobte hielt sich neutral an Wasser. Mrs. und Mr. Bones tranken ebenfalls Wein, Potter schien unschlüssig und seine Herzensdame machte es Granger gleich. Auf der anderen Seite saßen Marie und Duvall, beide mit Weingläsern in der Hand. Andromeda leistete ihrem Gatten Gesellschaft und trank Bier, ebenso wie Nymphadora und Sirius nebst Gattin. Und der Werwolf? Erstaunlicherweise erhielt dessen Geflügelgericht die passende Weinbegleitung. Susan und Draco kümmerten sich zunächst nicht um sich selbst, sondern um Charles, während Potter sein Kind auf dem Schoß sitzen hatte und abwechselnd dem Jungen und sich etwas Hirschbraten gönnte.

Das war also seine Familie. Sein Seufzen über diese Erkenntnis musste gut hörbar gewesen sein, denn Andromeda fragte tatsächlich: „Ist alles in Ordnung? Du wirkst etwas bleich.“
„Das ist meine normale Hautfarbe, liebe Schwägerin.“ Irgendwer schnaufte. Lucius schaute sich schnell um und erhaschte Severus dabei, wie der amüsiert zu ihm hinübersah.

Aus Verlegenheit griff Lucius wieder zu seinem Wein und trank. Weil er wenig dazu aß, spürte er mittlerweile die ausgelassene Beschwingtheit, die sich zaghaft in Übermut verwandeln wollte.

„Wie ich gelesen habe, sollen die neuen Gesetze am 1. September ihre Gültigkeit erlangen“, läutete Lucius ein Thema ein, das jeder der Gäste in seiner Anwesenheit tunlichst vermieden hatte. „Werden in Zukunft alle menschenähnlichen magischen Wesen die gleichen Rechte besitzen wie wir?“
Einige hörten mit dem Kauen auf, andere verlangsamten diese Bewegung nur. Der Erste, der den Mund frei hatte, war Potter. „Ich sehe nichts Schlimmes daran, wenn diese Wesen mehr Rechte bekommen.“
„Ah!“ Lucius hielt sich nicht zurück, die Mimik zum Besten zu geben, die besagte, dass das Gegenüber keinen ebenbürtigen Gesprächspartner darstellte. „Das würde bedeuten, der Heirat zwischen“, er wedelte mit seiner Hand umher, als er ein Beispiel suchte, „einem Kobold und einer jungen Dame stünde nichts mehr im Wege?“
Harry hatte sich mit der Materie nicht gründlich befasst und war nicht zum ersten Mal dankbar, dass Hermine ihm aus der Patsche half und erklärte: „So eine Vereinigung ist äußerst selten.“
„Mag sein, aber wäre sie nun legal?“, hakte Lucius nach.
Hilfe suchend blickte sie zu Sirius, von dem sie wusste, dass er sich umfangreich mit menschenähnlichen magischen Wesen und den Gesetzen auseinandergesetzt hatte. Er brachte Licht ins Dunkel: „Solche Verbindungen, wie Hermine schon sagte, sind so selten, dass sie man über Jahrhunderte hinweg nur von dreien erfahren hat. Da aus solchen Verbindungen nie Nachteile entstanden, weder für die Personen noch für die Öffentlichkeit, hat man keinerlei Einschränkungen vorgesehen.“
„Na, wenn das mal nicht von diesen Kreaturen als Freibrief angesehen wird.“ Ein Schlückchen Wein später sagte Lucius: „Marie, sagen Sie, wie geht es im Gorsemoor voran?“
Die angesprochene Dame strahlte über das ganze Gesicht. „Ganz wunderbar, Lucius.“ Einige Gäste stutzten bei der freundlichen und vor allem so persönlichen Anrede. „Die Heiler dort sind sehr fähig. Ich habe bisher die besten Noten.“
„Freude bringt es auch, hoffe ich?“
„Und wie!“
Hermine fand Interesse an dem Gespräch, wollte jedoch mehr erfahren. „Waren Sie nicht im Mungos beschäftigt?“, fragte sie Marie. „Dort habe ich Sie einige Male gesehen.“
„Ja, das stimmt. Nach einem Zwischenfall wurde ich entlassen. Mr. Malfoy“, Marie schenkte dem Gastgeber ein dankbares Lächeln, „war so freundlich, mir eine Ausbildung zur Heilerin zu finanzieren.“

Lucius war nicht für jedermann durchschaubar. Severus konnte jedoch mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass Lucius dieses Gespräch aus dem Grund begonnen hatte, damit die anderen von seiner guten Tat erfuhren. Erfolgreich hatte er es so gedreht, dass nicht er, sondern Marie diejenige war, die alle anderen darüber informierte. Und es zeigte Wirkung. Tonks’ Gabel fror auf halben Weg zum Mund ein, während Sirius schlichtweg sprachlos war.

„Das ist toll“, ließ Harry verlauten, erntete damit erneut einen Blick von Lucius, mit dem er ihn wegen der wenig aussagekräftigen Bemerkung zu verurteilen schien. Das Wort toll hätte man durch nobel oder anerkennenswert ersetzen können, wenigstens aber mit wundervoll. Harry wollte von sich ablenken und fragte den Herrn neben Marie: „Und Sie, Mr. Duvall, womit verdienen Sie Ihr Geld?“ Nur vage erinnerte sich Harry daran, dass sein Patenonkel mal von Duvall gesprochen hatte.
„Ich bin mittlerweile stellvertretender Leiter der Initiative für die Forderung eines Anti-Diskriminierungsgesetzes für magische und nichtmagische Halbwesen, Mr. Potter.“ Aufgrund einiger fragender Blicke am Tisch wurde Duvall deutlicher. „Wir sind eine allgemeine Anlaufstelle für Menschen und Wesen, die im Alltag auf Ablehnung und Vorurteile stoßen.“
„Ah!“, stieß Lucius mit lächelnden Lippen aus. „Dann würde beispielsweise ein Troll, den ich nicht als Haushaltshilfe einstellen möchte, zu Ihnen kommen und mich als Rassist bloßstellen?“
Mr. Duvall blieb gelassen. „Das, Mr. Malfoy, ist sowohl ein undenkbares wie auch irrationales Beispiel. Durchaus ist die Diskriminierung am Arbeitsplatz ein wiederkehrendes Thema. Ich darf Sie aber beruhigen, denn Trolle zählen aufgrund der von ihnen ausgehenden Gefahr und der nachweislich geringen Intelligenz weiterhin zu den menschenähnlichen magischen Wesen, die nicht uneingeschränkt über Freiheitsrechte verfügen.“
„Aber …“
Duvall nahm sich das Recht heraus, Malfoy das Wort abzuschneiden. „Man würde auch keinem Löwen die uneingeschränkte Freiheit gewähren, in der Stadt zu schalten und zu walten, wie er es für richtig hält.“
„Daaa“, schrie Charles plötzlich.
„Wie recht du hast, mein Junge“, kommentierte Lucius seinen Enkel, wertete damit absichtlich Duvalls Erklärung ab, als läge sie auf der gleichen Ebene wie die eines Kleinkindes.

Verbissen widmete sich Duvall seinem Essen. Er hatte sich fest vorgenommen, sich in kein Streitgespräch verwickeln zu lassen, wusste er doch von Malfoys Einstellung zu anderen Kreaturen.

Durch den Alkohol im Blut fehlten Lucius bereits wichtige Hemmungen, so dass er allen Ernstes fragte: „Wie sieht es mit der seltenen Kategorie der ehemaligen Todesser aus?“ Ausnahmslos jeder schaute zu Lucius, bis auf die beiden Kinder. „In Bezug auf Diskriminierung musste auch ich unangenehme Erfahrungen sammeln.“
„Ich nicht“, warf Severus ein, obwohl es eine Lüge war. Schon auf der Ordensverleihung erfuhr er am eigenen Leib, dass nicht jeder von seiner Unschuld überzeugt war.
„Du, Severus, hast dir offenbar auch die richtigen Freunde gewählt.“ Lucius blickte demonstrativ zu Hermine, dann zu Harry. „Dir würde man sicherlich einen Hauself genehmigen, im Gegensatz zu mir.“

Draco stöhnte, mischte sich jedoch nicht in das Gespräch ein, um weder seinem Vater in den Rücken zu fallen noch seinen Freunden beizustehen. Solange es ging, wollte er neutral bleiben.

Diesmal war Sirius so frei, das Wort zu ergreifen. „Nach Inkrafttreten der neuen Gesetze wird man dir sicherlich einen Hauself gewähren. Das heißt“, er grinste überheblich, „wenn du gewillt bist, die neuen Verträge zu unterzeichnen.“
„Was gibt es denn Neues zu beachten?“, wollte Lucius wissen.
„Die Hauselfen haben mehr Recht bekommen. Ein eigenes Zimmer, eine angemessene Behandlung durch die Meister, Freizeit …“
„Freizeit?“ Lucius hob beide Augenbrauen, wirkte somit in höchstem Maße arrogant. „Haben die Elfen darauf bestanden oder setzte man sich über ihre Meinungen einfach hinweg? Das würde eine Bevormundung darstellen, wenn man gegen ihren Willen solche Privilegien schafft.“
Sirius war auf Konfrontationskurs. „Ich möchte Hauselfen ungern mit Kindern vergleichen, aber in gewisser Weise legen sie manchmal die gleiche Naivität an den Tag. Sie verstehen nicht, dass es falsch ist, von ihren Gebietern geschlagen oder anderweitig bestraft zu werden. Traditionen hin oder her: Hauselfen muss man zu ihrem Glück zwingen.“
„Zwingen!“ Natürlich musste Lucius diesen Begriff wiederholen. „Ist das nicht ein wenig anmaßend? Den Elfen Rechte einzuräumen, die sie gar nicht haben möchten.“
Duvall sprang ein. „Man sollte eigentlich von Zaubererfamilien annehmen, dass sie Lebewesen, egal in welcher Form, mit Respekt gegenübertreten. Und wo wir gerade bei treten sind: Haustiere wurden in der Vergangenheit wesentlich besser behandelt als Hauselfen. Da offenbar einige Damen und Herren nicht wissen, dass das Quälen von Mitgeschöpfen moralisch verwerflich ist, wurde das Gesetz für die Hauselfen in erster Linie für deren Gebieter geschaffen. Den Menschen wird untersagt, die Elfen zu bestrafen oder sie wie Sklaven Tag ein, Tag aus arbeiten zu lassen. Oder würden Sie, Mr. Malfoy, eine Haushaltshilfe treten, weil sie das Essen anbrennen ließ?“

Die Stimmung am Tisch sank gerade gen Nullpunkt. Harry und einige andere wussten, wie Lucius Malfoy seinen damaligen Hauself behandelt hatte. Dobby war häufig getreten und mit einem Stock geschlagen worden. Der arme Elf war eingeschüchtert und verängstigt, obwohl er seinem Gebieter treu bleiben wollte – oder musste. Im Gegensatz zu Dobby war Wobbel zwar ein loyaler Diener, aber gleichzeitig auch ein guter Freund.

Harry durchbrach die Stille und sagte: „Mit Freundlichkeit erreicht man viel mehr als mit Unterdrückung.“
„So so.“ Lucius schmunzelte. „Warum hat das damals niemand dem Dunklen Lord mit auf den Weg gegeben, frage ich mich?“ Mr. Bones zuckte bei der Erwähnung des Dunklen Lords zusammen, hielt jedoch seinen Mund.
Das erste Mal kam Draco zu Hilfe und ergriff Partei. „Weil der Mann geisteskrank war und nicht zugehört hätte.“
„Mmmh“, summte Lucius vorgetäuscht nachdenklich. „Da gebe ich dir sogar Recht, mein Junge. Allerdings ist mir der Geisteszustand von Dumbledore auch nicht geheuer.“
Harry musste lachen, obwohl Lucius ursprünglich mit seinen Worten provozieren wollte. „Tut mir leid, aber ich habe mich gerade an Dumbledores Rede am ersten Schultag erinnert.“
Susan nickte. „Ja, das war lustig! Was hat er nochmal gesagt?“ Sie dachte einen Augenblick nach und zitierte: „Schwachkopf! Schwabbelspeck! Krimskrams! Quiek! Danke sehr!“

Obwohl Lucius eine unangenehme Stimmung verbreiten wollte, lachte plötzlich der gesamte Tisch. Resignierend griff er zu der Karaffe und schenkte sich noch ein Glas ein, ließ seinen Teller weiterhin unangerührt. Mit Alkohol könnte er seine Gäste hoffentlich besser ertragen, vor allem aber die Demütigung, diese Menschen Familie nennen zu müssen. Selbst der Geruch des Bieres störte ihn kaum noch.

„Der Wein ist ausgezeichnet“, sagte irgendwer, was Lucius nur mit einer Hand als mehr oder weniger dankende Anerkennung abwinkte.

Mit bacchischer Freude hielt sich Lucius an dem edlen Tropfen fest. Selbst als abgeräumt wurde und man sich im Zimmer verteilte, um ein wenig zu plaudern, blickte Lucius lieber in sein Glas, als in die Augen der Gäste. Das beschwingte Gefühl samt dem leichten Übermut wollte langsam der Melancholie weichen. Es war nicht von Vorteil, wenn man in angetrunkenem Zustand nachdenklich wurde. Aus eigener Erfahrung wusste Lucius, dass sich sein Wesen bei weiterem Alkoholgenuss in eine andere Richtung verändern würde. Schluck für Schluck trank er sich dem Schalk näher, der ihm im Nacken saß und nur darauf wartete, Schabernack mit den Gästen zu treiben.

In seinem Sessel frönte Lucius dem Wein, als er plötzlich eine Hand an seinem Schenkel fühlte. Sein Enkel. In der anderen hielt er etwas Buntes.

„Mein Engelchen“, grüßte er den Jungen, der daraufhin wie ein ebensolches himmlisches Wesen lächelte. „Was hast du denn da?“ Lucius stellte sein Glas auf den Tisch und nahm das kleine Päckchen in die Hand, dass der Junge ihm entgegenhielt. Ein Blick zu Potters Balg verriet ihm, dass jemand den Kindern ein Geschenk gemacht hatte und dieses hier nicht für ihn war. „Ich helfe dir, es auszupacken.“ Charles setzte er auf seinen Schoß, bevor er das Geschenk von den Schnüren befreite. Eine Ecke des Papieres riss Lucius so weit auf, dass kindliche Hände es gut greifen konnten. „Hier, da muss du ziehen.“ Charles zerfledderte das Papier, gluckste dabei fröhlich. Eine Schachtel kam zum Vorschein und die beinhaltete einen Schokofrosch. „Sieh mal einer an, etwas Süßes.“

Lucius setzte Charles wieder ab. Mit seinem Zauberstab säuberte er vorsichtshalber den Boden, weil er wusste, dass Schokofrösche mindestens einen Sprung schafften. Sein Enkel sollte nichts Schmutziges essen. Neben Charles kniete er sich hin. Zusammen mit den kleinen Kinderfingern öffnete er die Pappschachtel und der Schokofrosch kam herausgehüpft. Charles schrie vor Aufregung und Freude. Aus einer anderen Ecke erklang das gleiche, glückliche Jauchzen. Die Kinder robbten ihrem Schokofrosch hinterher und kamen nebeneinander zur Ruhe.

Seine Aufgabe war erledigt, dachte Lucius, und ließ sich wieder in seinem Sessel nieder. Wie schon vorhin setzte sich jemand in den leeren Sessel nebenan.

„Severus, amüsierst du dich auch?“
„Ich mich schon, aber wie steht es mit dir? Du hältst dich an deinem Glas fest, als wäre es ein Rettungsanker.“
„Es ist auch einer“, stimmte Lucius zu.
„Du trinkst zu viel.“
„Nein, ich trinke zu wenig, denn noch immer überkommt mich das Gefühl der Abscheu, wenn ich Black sehe oder den Wolf.“
Severus schnaufte. „Bei Black kann ich es dir nachempfinden. Ansonsten muss ich dir ganz ehrlich sagen, dass du mir leid tust. Hier hast du die Möglichkeit, über deinen Schatten zu springen.“
„Über meinen Schatten springen, damit ich nicht mehr in dem eines anderen stehe, das meinst du wohl?“ Lucius leerte sein Glas und schenkte sich sofort frischen Wein ein. „Sag, wie würdest du jemanden in deinem Kreise aufnehmen, der voll und ganz deinem Feindbild entspricht? Ich bin derjenige, von dem sie Niederträchtigkeit gewohnt sind. Jemand von gemeinem Kalkül, kalt und berechnend, stellt den Feind dar, Severus. Niemand wird es jemals anders sehen.“
„Na, das wird wohl auch der Grund sein, warum sie so zahlreich erschienen sind.“ Severus hatte nur ein Kopfschütteln für ihn übrig. „Du drängst dich in die Opferrolle. Warum, frage ich mich? Hast du nicht immer deine gesamten Kräfte mobilisiert, um deine Ziele zu erreichen?“
„Pah!“ Nach dem Ausruf musste Lucius leise aufstoßen. „Welche Ziele? Wonach soll ich streben? Potter hat genügend Steigbügelhalter. Er braucht nicht noch einen.“
„Ich sprach von eigenen Zielen. Nicht davon, sich jemandem zu unterwerfen. Du könntest zusammen mit Draco arbeiten. Sein Geschäft läuft bestens, wie ich hörte.“
„Sicher läuft es bestens. Es hat bisher niemanden gekümmert, ob Squibs einem Beruf nachgehen oder nicht. Draco hat eine Marktlücke entdeckt und sie für sich genutzt.“
„Er kommt voll und ganz nach dir, würde ich sagen.“ Für einen Augenblick schien Lucius ein Licht aufzugehen, das konnte Severus an dem starren Blick sehen, der zwar glasig, dennoch nachdenklich auf das Weinglas in der Hand fixiert war. Den Moment wollte Severus ausnutzen. „Du war immer ein Mensch, der seine Lage erfassen konnte, aber du scheinst nicht willens zu sein, deine jetzige Position zu überdenken. Ein Quentchen Widersinn steckt in jedem von uns. Manch einer steht vor dem Spiegel, der einen konkav oder konvex verzerrt. Es liegt an einem selbst zu erkennen, ob man grotesk erscheint.“
„Ach du meine Güte, Severus. Ist es das? Erscheine ich sonderbar?“ Das laute Lachen des Gastgebers lenkte jede Aufmerksamkeit auf ihn. „Dann werde ich mal für Unterhaltung sorgen.“
„Lucius …“

Severus’ Warnung kam zu spät. Sein Freund leerte das Weinglas und stürzte sich mit überheblichem Lächeln in die Menge, rieb sich dabei die Hände.

„Amüsiert sich jeder?“ Niemand antwortete ihm. „Vielleicht kann ich Interesse an einem Spiel wecken?“
Auf der Stelle war Severus bei ihm, falls Lucius gebremst werden müsste. Der Gastgeber schlug vor: „Wie wäre es mit einem unterhaltsamen Zaubererduell? Ich würde Severus und Mr. Black in den Ring schicken. Wetten werden gern angenommen.“
Tonks Haare färbten sich feuerrot. „Zaubererduelle sind verboten! Ich würde auf der Stelle Meldung machen, sollte …“
„Ach, was für eine Spielverderberin“, unterbrach Lucius mit falschem Lächeln. „Dann etwas anderes? Blinder Niffler?“
„Was bitte?“, fragte Harry leise, sodass Hermine ihm eine Antwort geben konnte.
„Ist sowas wie Blinde Kuh.“
„Oder ein Denkspiel?“ Lucius schaute abwechselnd seine Gäste an, die allesamt dem Frieden nicht trauten. „Scharade wäre doch nett.“ Unerwartet klopfte er Sirius auf die Schulter. „Allerdings ein unangenehmes Spiel für alle, die Morologie studiert haben, nicht wahr?“ Sirius war nicht sicher, ob man ihn gerade beleidigt hatte, aber er würde es später erfahren, wenn er im Lexikon nachschaute. „Was unternimmt die feine Gesellschaft heutzutage, um sich zu unterhalten?“ Diesmal war es Ted Tonks, dem er übertrieben freundlich an die Schulter griff. „Karten spielen?“ Lucius ging einen Schritt weiter und erreichte den Tisch, an welchem Marie und Sid Duvall saßen. Er stellte sich direkt hinter Sid und legte beide Hände auf dessen Schultern, was dem Mann sichtlich unangenehm war. „Wusstet ihr eigentlich, dass ihr es diesem Mann zu verdanken habt?“
Einige stutzten. Mr. Bones fragte geradeheraus: „Was haben wir ihm zu verdanken?“
„Dass ich auf freiem Fuß bin, natürlich!“ Lucius machte eine Bewegung, als würde er Sids Schultern massieren. „Ich bin zwar bis heute ratlos, warum es am Ende so schnell vonstatten ging, aber ich will mich keinesfalls beschweren. Grund war wohl, dass man mir am Ende doch nichts anlasten konnte.“ Mit einem leichten Schwenker, der jedem veranschaulichte, dass der Alkohol aus Lucius zu sprechen schien, griff er wahllos zu einem Glas. „War das meines? Ach, egal …“ Schon füllte er es mit Rotwein auf und nippte genießerisch daran. „Ach, Mr. Bones, wo ich gerade Tacheles rede. Mir ist bewusst, dass es etwas gibt, das unausgesprochen zwischen Ihnen und mir in der Luft schwebt. Seien Sie versichert, dass ich weder Schuld noch Mitschuld am Tode von …“
„Lucius!“, fauchte seine Frau.
„Meine Teuerste, bitte unterbrich mich nicht bei einer der wohl wichtigsten Angelegenheiten, die ich geklärt wissen möchte. Es sei denn, Mrs. und Mr. Bones bestehen darauf, dass ich meinen Mund halte.“ Er wandte sich direkt an den Schwiegervater seines Sohnes. „Möchten Sie mir den Mund verbieten?“ Mr. Bones schüttelte den Kopf. „Das habe ich gehofft.“ Lucius holte tief Luft. „Ich werde die Frage, ob ich am Tode Ihrer Schwester und Ihres Bruders Mitschuld trage, gern auch unter Veritaserum beantworten. Severus, hast du zufällig etwas dabei? Es gehörte damals doch zu deiner Standardausrüstung als Spion, nicht wahr?“
„Ich bedaure“, verneinte Severus.
„Dann muss eben mein Wort ausreichen, Mr. Bones. Die Lestranges waren es, alle drei und niemand sonst.“

Jemand holte erschrocken Luft. Narzissa wurde kreidebleich, als sie erfuhr, dass ihre Schwester Schuld am Tode von Edgar und Amelia Bones war. Das Schluchzen hingegen kam von Susan, die von Draco aus dem Raum geführt wurde.

Als Lucius das sah, wurde er für einen Moment wieder nüchtern. „Oh, das tut mir leid. Das … Narzissa, bitte.“
Sie stählte sich innerlich, hob stolz den Kopf. „Deine Ehrlichkeit ist momentan in höchstem Maße taktlos, Lucius.“
„Aber dass ich ehrlich bin“, konterte er, „das sollte man mir hoch anrechnen, wo doch alle ganz anders über mich denken.“ Sein Glas Wein trank er sehr zügig, stellte es mit schlingernder Bewegung zurück auf den Tisch. „Ich habe den Moment für angemessen gehalten, reinen Wein einzuschenken.“

Prompt griff er zum Roten. In diesem Moment kam Draco ins Zimmer zurück, steuerte zielstrebig auf seinen Vater zu und nahm ihm wortlos die Karaffe aus der Hand. Lucius hatte nichts einzuwenden. Er war bereits zur letzten Stufe der Berauschung emporgestiegen. Mehr würde Übelkeit verursachen. Niemand wagte es, den Mund zu öffnen. Elliot war einerseits erleichtert, genau diese Information von Lucius erhalten zu haben, obwohl er den Zeitpunkt im Gegensatz zum Gastgeber eher unangemessen fand.

„Was ist denn das für eine trübe Stimmung hier?“, fragte Lucius leicht lallend. „Ist ja wie auf einer Beerdigung. Liegt womöglich daran, dass die meisten mich lieber tot sehen würden.“
„Jetzt machen Sie mal halblang, Mr. Malfoy“, mahnte Elliot mit kräftiger Stimme, jedoch keinesfalls bösartig. „Wie wir alle wissen, sind Sie vor gar nicht allzu langer Zeit selbst durchs Feuer gegangen.“

Unbewusst griff sich Lucius erst an den linken Unterarm, bevor er beide Arme vor der Brust verschränkte. Momentan fehlten ihm die Worte. Er ließ sich auf den Stuhl neben Marie nieder. Die anderen Gäste begannen wieder, miteinander zu sprechen. Nicht über ihn, nicht über das, was er gesagt hatte, sondern über Alltägliches. Eine Hand an seiner ließ ihn aufblicken. Es war Marie. Sie lächelte ihm zu und dieses freundliche, uneigennützige Entgegenkommen ließ ihn beschämt zu Boden blicken. Unter dem Tisch drückte Marie seine Hand, leistete Beistand wie schon damals im Krankenhaus.

Duvall war so umsichtig, Marie und Lucius allein am Tisch zurückzulassen und ein Gespräch mit Sirius zu beginnen. Noch immer hielt Marie seine Hand, bis er sich sichtlich beruhigt hatte.

„Möchten Sie etwas haben, um nüchtern zu werden?“, fragte sie höflich.
„Nein, die Vorstellung, dass ich mich morgen früh in Grund und Boden schämen werde, ist grausam genug.“
„Ach, so schlimm war das doch gar nicht. Ich denke, das musste einfach mal raus. Fühlen Sie sich jetzt besser? Erleichterter?“ Zu seinem eigenen Erstaunen war es so. Er nickte. „Sehen Sie, Lucius, manchmal hat so ein Ausbruch einen Zweck. Sich einfach mal alles von der Seele reden.“
„Normalerweise hat man dabei höchstens ein Gegenüber.“
„Aber es betraf alle. Jeder sollte es hören.“
„Ich kann von Glück reden, wenn morgen nichts davon im Tagespropheten wiederzufinden ist.“
Marie lächelte. „Das wird nicht passieren. Und sehen Sie mal“, sie blickte zu den Gästen, „niemand ist in Aufbruchsstimmung.“
„Das wundert mich allerdings wirklich.“

Die Tür öffnete sich und Susan trat leise ein. Sie musste geweint haben. Die Erwähnung ihrer ermordeten Verwandten war zu viel gewesen, aber sie gab dem Abend noch eine Chance. Mit einem Male stand jemand anderes neben Lucius.

„Mr. Malfoy?“
„Ah, Mr. Potter.“ Lucius erhob sich und war froh, dass Marie ihm eine helfende Hand reichte, mit der sie ihn stabilisierte. „Sie wollen doch nicht etwa schon gehen? Meiner kleinen Rede sollten Sie nicht allzu viel Beachtung …“
„Nein, nein“, winkte Harry ab, „es geht um etwas anderes.“ Ein viereckiges Päckchen wurde ihm entgegengehalten. „Das ist ein Geschenk von uns allen.“
„Ich befürchtete bereits, man würde mich strafen, indem man mir …“
„Kein Geschenk macht?“, vervollständigte Harry. „Ich habe selbst jahrelang keine Geburtstaggeschenke erhalten und weiß, wie erniedrigend das ist.“
Lucius blickte Harry in die Augen und sah nicht einmal den Hauch eines Scherzes. „Vielen Dank, Mr. Potter.“

An die anderen gerichtete sprach er ebenfalls seinen Dank aus, ohne das Geschenk geöffnet zu haben. Dazu fühlte er sich momentan nicht in der Lage. Harry ging zurück zu den anderen, doch Marie blieb bei ihm.

„Wenn Sie nüchterner wären, würde ich Ihnen gern etwas sagen, dass Sie hoffentlich erfreuen wird“, sagte sie.
„Sie können es mir auch jetzt sagen, Marie. Es gibt nichts, dass mich heute noch, wie man es so schön nennt, umhauen könnte.“
„Ich bin mir da nicht so sicher.“
„Marie, bitte. Ich habe eben meinen Gästen eine Menge zugemutet, habe über Mord gesprochen. Die Aufgaben, die ich als Todesser verrichten musste, härten einen ab, das können Sie mir glauben.“ Marie nickte verständnisvoll, war sich dennoch nicht sicher, ob der Zeitpunkt richtig wäre. „Rücken Sie schon raus mit der Sprache.“
„Ich habe mit Ihrer Mutter gesprochen.“

Sein Herz begann auf der Stelle, das weinverseuchte Blut so schnell durch die Adern zu treiben, dass ihm schwarz vor Augen wurde.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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