Harry Potter und die Schatten der Vergangenheit - BEENDET

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Muggelchen
EuleEule
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Beitrag von Muggelchen »

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Erst vor vier Jahren erforschten Muggelwissenschaftler der Universität von Iowa die Ursache für eine Ohnmacht nach übermäßigem Alkoholkonsum. Übeltäter waren ein niedriger Blutdruck und zudem geweitete Blutgefäße. Bei der Menge Wein, die Lucius genossen hatte, war sein Körper schon auf dem Weg vom Keller nach oben nicht mehr in der Lage, den Druckunterschied auszugleichen. Die Schwerkraft ließ sein Blut in die Beine sacken, was normalerweise durch einen natürlichen Schutzmechanismus ausgeglichen werden konnte, indem die Gefäße verengt wurden. Der Alkohol hatte diesen Reflex jedoch ausgeschaltet – und somit auch Lucius.

Es waren höchstens drei Sekunden, in denen er langsam in sich zusammensackte – unbemerkt von den Gästen, die sich weiter hinten im grünen Salon aufhielten. Marie hatte nach ihm gegriffen, hatte dafür gesorgt, dass er sich nicht den Kopf stieß. Weitere drei Sekunden lang sah Lucius eine noch nie da gewesene Großaufnahme des dunkelgrünen, handgeknüpften Bordürenteppichs, bevor er das Sehvermögen kurzweilig völlig einbüßte und alles schwarz wurde.

Für einen Augenblick wähnte sich Lucius in seinem Bett, entspannt und friedlich, leicht dösig von der Nacht. Im nächsten Moment hörte er Maries Stimme. Er öffnete die Augen und sah Tisch- und Stuhlbeine aus der Perspektive eines kleinen Haustiers.

Kaum einer der Gäste hatte seine fünfzehn Sekunden andauernde Bewusstlosigkeit bemerkt. Sie alle unterhielten sich dank Narzissa prächtig. Sie war eine der wenigen, die ihren Gatten ständig im Auge behalten hatte und voller Sorge Severus dazu anhielt, unauffällig nach dem Rechten zu sehen, während sie, um Lucius die Blamage zu ersparen, die Gäste ablenkte. Momentan sah man Lucius von Narzissas Position aus gar nicht mehr. Er war hinter dem großen Esstisch verschwunden, ebenso Marie.

An seinem rechten Oberarm fühlte Lucius eine kräftige Hand. Eine weitere griff ihm ungeniert unter die linke Achsel. Schnell und leise hievte ihn jemand auf einen Stuhl. Marie reichte ihm sofort ein Glas Wasser. Sie verhielt sich ruhig, wollte keine Aufmerksamkeit erregen. Nur an ihren Augen konnte man erkennen, dass sie aufgewühlt war, denn sie blinzelte häufig, musterte ihn nervös. Als Lucius trank, waren zwei Hände auf seinen Schultern präsent, die nach Überprüfung all seiner körpereigenen Funktionen nicht zu ihm gehörten. Jemand stabilisierte ihn von hinten. Für alle anderen Gäste müsste es wie eine freundschaftliche Geste aussehen, dachte Lucius benommen. Eine Hand verließ seine Schulter. Als er einen weiteren Schluck nehmen wollte, tauchte eine bekannte Hand mit den gelblich verfärbten Fingern in seinem Blickfeld auf. Aus einem kleinen Fläschchen wurde ihm ungefragt eine durchsichtige Flüssigkeit unters Wasser gemengt.

„Was is’ das?“, fragte Lucius lallend.
Die vertraute Fistelstimme seines Freundes war zu hören. „Davon wachsen dir Eselsohren.“
Lucius lachte und trank danach ohne Murren sein Wasser. „Das hättest du vorhin allen Gästen untermischen müssen. Das hätte sicherlich zur allgemeinen Belustigung beigetragen.“ Der Zaubertrank wirkte schnell. Nach kurzer Desorientierung war Lucius stocknüchtern. „Danke, Severus.“
„Nichts zu danken. Ich habe mich bereits gefragt, wie lange du das durchhalten würdest. Du hast bei Geselligkeiten wie dieser nie über den Durst …“ Severus hielt inne, weil er vor Marie keine persönlichen Informationen preisgeben wollte.
„Es sind ja auch andere Zeiten.“
„Bessere?“
„Kommt drauf an, wer man ist“, murmelte Lucius. Plötzlich erinnerte er sich an das, was Marie gesagt hatte. Er ergriff ihre Hand. „Habe ich das geträumt?“
Marie warf Severus einen unsicheren Blick zu, den Lucius kommentierte: „Er ist mein Freund, gehört sozusagen zum malfoyschen Inventar.“
Hinter ihm schnaufte es leise, was Marie zum Lächeln brachte. Sie holte einmal Luft, bevor sie versicherte: „Sie haben nicht geträumt. Ich möchte Sie aber wirklich nicht aufregen, Lucius. Ich …“
„Wie geht es ihr?“ Seine Unterbrechung nahm er als solche nicht einmal wahr, obwohl er wusste, dass man sein Gegenüber, besonders wenn es so freundlich war, nicht das Wort abschnitt.
„Es geht ihr gut.“ Sie nickte mehrmals heftig, um ihre Aussage zu unterstreichen.

Lucius’ Mundwinkel wussten nicht, ob sie sich nach oben ziehen oder der Schwerkraft nachgeben sollten. So entstand ein nervöses Zittern an der Mundpartie. Er räusperte sich, schürzte seine Lippen erst nach links, dann nach rechts, um die Kontrolle über seine Muskeln wiederzuerlangen.

„Was bedeutet gut?“, fragte er zaghaft nach.
Über sein Interesse war Marie erfreut. „Sie ist sehr fidel, gut zu Fuß und wach im Geist.“
„Sie ist nicht krank?“

Abraxas Malfoy hatte nach der Zwangseinweisung nie wieder von seiner Frau gesprochen, hatte seinem Sohn verboten, jemals die Mutter zu erwähnen. Totgeschwiegen war sie nach Ansicht des damaligen Familienoberhaupts besser dran, vor allem aber würde das Ansehen der Familie Malfoy nicht unter ihrem Gebrechen leiden. Gebrechen.

Seinem eigenen Sohn hatte Lucius erzählt, dass der Großvater die Großmutter weggeschickt hätte. Was hätte er sonst sagen können, dachte Lucius, wo er selbst nicht genau wusste, was ihr widerfahren war oder wohin man sie gebracht hatte.

Als er an seine Mutter dachte, hörte er wieder ihre Stimme. ‚Du darfst Vater nicht sagen, dass es mir nicht gut geht. Es wird bestimmt von allein wieder besser werden.‘ Lucius war erst sieben Jahre alt gewesen, und er hatte das Geheimnis seiner Mutter gehütet. Er verlor kein Wort darüber, dass sie ihr Wollknäuel mit der Hand auflas, wenn es ihr beim Stricken vom Schoß gerollt war, anstatt einen Aufrufezauber anzuwenden. Nicht eine Silbe war über seine Lippen gekommen, als sie beim Arrangieren der Akeleien die teure Vase zerbrach und die Scherben heimlich wegwarf. So sehr sie sich auch bemüht hatte, einen Reparo wollte ihr Zauberstab nicht ausführen. Ihre magischen Fähigkeiten zu verlieren hatte Abélia Estelle Malfoy sehr mitgenommen, aber die Liebe zu ihrer Familie war ungebrochen.

Kein Wort zu niemandem! Dann würde es immer so bleiben wie es war. Nur Kinder konnten so unkompliziert denken. Und Lucius hatte so gedacht.

Ein Räuspern sollte dafür sorgen, dass seine Stimme nicht zerbrechlich klang, als er Marie fragte: „Wie haben Sie sie kennengelernt? Hat sie von mir gesprochen?“

Neugierde zählte zwar nicht zu den Tugenden, aber schon damals, als Severus als Doppelagent arbeiten musste, war das Interesse an Informationen groß. Er blieb hinter Lucius stehen und lauschte, als Marie von Mrs. Malfoy erzählte, von den Akten, die sie im Gorsemoor fand und die sie neugierig gemacht hatten. Severus war immer davon ausgegangen, dass Lucius’ Mutter viel zu früh verstorben war. Ein Schicksal, das die beiden in der Jugend verbunden hatte. Das Treffen mit Lucius’ Mutter schilderte sie sehr kurz und am Ende kam die gewünschte Antwort.

„Ja, sie hat von Ihnen gesprochen, Lucius. Sie hat die Zeitungen verfolgt.“ Marie verschwieg, dass Abélia nicht über alle Neuigkeiten erfreut war, von denen sie erfahren musste. „Sogar von der Hochzeit ihres Enkels hat sie gelesen. Eine Schwester war so freundlich, ihr das Bild zu beschreiben.“

Lucius wollte fragen, doch ein Instinkt stoppte ihn. Sich ein Bild beschreiben zu lassen konnte nur eines bedeuten. Auch er war davon nicht verschont geblieben. Bei ihm hatte jedoch die Therapie im Mungos angeschlagen. Auf sein Augenlicht musste er nicht verzichten. Er hatte Glück gehabt.

„Sie ist blind“, sagte er mit Gewissensbissen. Keine Vermutung. Ein Fakt.
„Ja, aber sie kommt damit wunderbar zurecht“, tröstete ihn Marie.

Trotz der lieben Worte war der Gedanke daran, sich nie zuvor um den Verbleib der Mutter gekümmert zu haben, unerträglich. Jetzt, wo sie greifbare Nähe gerückt war, plagten ihn Schuldgefühle. Sie würde ihn für einen schlechten Sohn halten. Davon ging er aus.

„Ich nehme an, sie möchte mich nicht sehen.“

Seine Mutter war bereits dreißig, als sie Lucius zur Welt brachte. Wie viele Reinblüter hatte sie arge Mühe gehabt, schwanger zu werden – und es zu bleiben. Für acht Jahre war sie seine liebevolle Mutter, bis sein Vater das gut gehütete Geheimnis lüftete und Nägel mit Köpfen machte. Knapp 42 Jahre lang hatte man ihr verwehrt, ein normales Leben zu führen, während ihre Familie sie behandelte, als wäre sie gestorben. Selbst nach Abraxas’ Erkrankung an Drachenpocken und dem darauf folgenden Tod des Familienoberhauptes hatte sich Lucius weiterhin stillschweigend an das Verbot seines Vaters gehalten und die Mutter nie wieder erwähnt.

„Ich weiß nicht.“ Marie hob und senkte die Schultern. „Ich habe ihr nicht gesagt, dass ich Kontakt mit Ihnen habe, Lucius. Soweit ich die Situation einschätzen kann, vermute ich sehr, dass Ihre Mutter den gleichen Gedanken hegt. Auch sie ist der Meinung, dass ihre Familie sie nicht sehen möchte.“
„Hach“, seufzte Lucius laut, ergriff dann plötzlich die Hand an seiner Schulter. „Severus“, Lucius führte Severus um den Stuhl herum, so dass er ihn sehen konnte. „Sag, was würdest du tun?“
„Dabei kann ich dir nicht helfen. Ich kenne keinerlei Details. Bisher dachte ich, deine Mutter wäre schon seit langer Zeit tot.“
Marie bot an: „Wenn Sie möchten, Lucius, können wir einmal ganz in Ruhe darüber reden. Und vielleicht auch überdenken, ob und wie Sie Kontakt zu ihr aufnehmen.“
„Es ist meine Pflicht, nicht wahr? Streichen Sie das Ob und konzentrieren wir uns auf das Wie, aber alles zu seiner Zeit.“

Einen nervösen Lucius bekam man selten zu Gesicht. Sogar in Askaban war er Herr seiner Selbst, aber jetzt trommelte er mit den Fingern auf seinem Oberschenkel herum, atmete schwer ein und aus. Lucius war angespannt.

„Ich werde mich erst einmal meinen Gästen widmen. Mich beschleicht das Gefühl, ich könnte den einen oder anderen vor den Kopf gestoßen haben.“ Als Lucius aufstand und sich umblickte, bemerkte er den besorgten Gesichtsausdruck seiner Frau. Die Falten an der Stirn standen ihr nicht. Mit einem Nicken, gefolgt von einem zuversichtlichen Lächeln zeigte er ihr, dass alles in Ordnung war.
„Willst du nicht dein Geschenk öffnen, Lucius?“ Severus schob das Päckchen, das vor ihm auf dem Tisch lag, näher an seinen Freund heran.
„Oh, sicher. Das hätte ich beinahe vergessen.“

Das Papier war schnell beseitigt, die Mappe geöffnet. Lucius benötigte einen Moment, um den gesamten Umfang des Geschenkes zu erfassen. Die beiden Papiertickets versprachen drei Wochen Urlaub auf Mauritius für zwei Personen, inklusive eines nicht gerade kleinlichen Taschengelds, das man dezent in einem extra Umschlag beigefügt hatte. Lucius zählte nicht zu den Männern, die zu feuchten Augen neigten. Weinen war unmännlich, wenn man Abraxas Malfoy Glauben schenken wollte. Die winzige Träne der Rührung, die sich bilden wollte, blinzelte Lucius schnell weg. Hinter dem Geschenk verbarg sich etwas viel Bedeutsameres. Es war, wenn nicht unbedingt Hochachtung, zumindest Achtung, die seine Familie und Bekannten ihm mit diesem Präsent entgegenbrachten. Kein Schlips, kein Fotoalbum – man hatte sich wirklich Gedanken gemacht. Es lag nahe, dass Narzissa als Ideengeberin zu betrachten war, möglicherweise sogar sein Sohn.

„Das ist doch mal etwas, worauf ich mich freuen kann“, sagte Lucius, als er mit einem Finger über die Tickets strich, die gleichermaßen die Portschlüssel darstellten. „Ein Dank ist das Mindeste, was ich aussprechen sollte.“

Marie und Severus folgten Lucius, der sich mit dem Geschenk in der Hand den Gästen näherte. Einige standen, andere saßen, aber jeder hatte einen Drink in der Hand und fühlte sich zudem sichtlich wohl. Sehr bald waren die Blicke auf Lucius gerichtet. Niemand erwartete etwas Böses. Manch einem lag noch ein sanftes Lächeln auf den Lippen, das während der Unterhaltung mit dem Gesprächspartner entstanden war.

„Ich möchte mich ganz herzlich für diese Aufmerksamkeit bedanken.“ Er hob die Mappe kurz an, damit jeder sehen konnte, was er meinte. „Urlaub habe ich wahrhaftig nötig. Meinem Dank möchte ich eine Entschuldigung für mein vorangegangenes Benehmen anfügen“, sagte er mit einem selbstsicheren Lächeln, denn peinlich war es ihm nicht. „Alkohol lockert bekanntermaßen die Zunge und übt fatalen Einfluss auf die sonst so wichtigen Hemmungen aus.“ Sorgsam legte Lucius das Geschenk auf einen Tisch, bevor er sich erneut an die Gäste wandte und einmal in die Hand klatschte. „Ich bin dennoch für etwas Unterhaltung. Hätten die Herren Lust auf Billard?“

Sirius schaute sich um, fand Blickkontakt mit Remus, aber keiner der beiden äußerte sich. Harry war drauf und dran, die Hand zu heben und „Hier!“ zu rufen, aber er musste sich eingestehen, dass er nicht besonders gut beim Billard war, obwohl er im Schloss Schnatzer von Seamus die wichtigsten Regeln erklärt bekam.

Unerwartet meldete sich Ginny zu Wort: „Ich hätte Lust.“
„Ah“, stieß Lucius hervor.
Er überlegte noch, ob es ein Fauxpas gewesen war, nur die Herren zu fragen, da hörte er Sirius die Frage stellen: „Was ist Morologie?“
„Ich weiß wirklich nicht, was Sie meinen, werter Cousin“, redete sich Lucius aus dieser unangenehmen Situation heraus. „Aber vielleicht kann ich auch Sie zu einem Spiel überreden?“ Gerade mit Sirius hatte Lucius seine Probleme, aber was konnte schon passieren, wenn man eine Zeit lang mit einem Queue ein paar Kugeln hin und her schob? Zur Not könnte man den Queue auch als Schlagstock nutzen.
„Ich, ähm …“
Sirius war sich nicht schlüssig, dafür aber Remus, der freudestrahlend seine Teilnahme kundtat: „Ich würde gerne mitspielen, wenn man mir die Regeln erklärt.“
Harrys Stichwort. „Ich mache mit, aber ich muss warnen. Ich habe bisher nur einmal gespielt.“
„Wunderbar, dann haben wir schon zwei Teams zusammen. Dann ab ins Nebenzimmer.“ Lucius deutete mit einladender Geste zu einer Tür. „Zuschauer sind herzlich willkommen.“

Der Abend wurde wider Erwarten sehr nett. Narzissa konnte die Familie Bones, Hermine, Anne und Marie doch noch für andere Gesellschaftsspiele begeistern. Die Dame des Hauses hatte ein Händchen dafür, die Gäste so gut zu unterhalten, dass die Zeit wie im Fluge verging.

Sirius zog sich vorsichtig zurück und gesellte sich zu Sid, damit der nicht ganz allein war. Sie redeten, wie sollte es anders kommen, über die Arbeit. Mit einem Ohr hörte Severus aus sicherer Entfernung zu und entschied für sich, dass Duvall der passende Ansprechpartner wäre, wenn er später seinen Bluttrank unter die Leute bringen wollte, oder besser gesagt unter die Vampire.

Als die Gäste spät abends aufbrachen, ging Severus mit zum Kamin, um die anderen zu verabschieden. Auch Hermine wünschte er eine gute Heimreise.

„Du kommst nicht mit?“, fragte sie nach.
„Ich würde gern noch bleiben.“ Um deutlicher zu werden, fügte er hinzu: „Allein.“
„Sicher.“
„Du musst nicht auf mich warten.“
Hermine nickte. Sie presse kurz die Lippen zusammen, bevor sie sagte: „Okay, kein Problem.“

Nachdem die Gäste gegangen waren, entschuldigte sich Susan, um den noch immer von den vielen Leuten und den Geschenken aufgedrehten Charles endlich ins Bett zu bringen. Nur noch Severus, Draco und Narzissa hielten sich beim Geburtstagskind im grünen Salon auf.

„Na, das lief doch alles wie am Schnürchen“, wagte Lucius zu behaupten.
Zwar wollte sich Narzissa die Rüge bis morgen aufsparen, aber der Satz ihres Mannes regte sie auf: „Der Abend verlief alles andere als reibungslos, Lucius. Es wäre nett gewesen, wenn du den Wein in Ruhe genossen hättest, vor allem aber in kleineren Mengen. Mit deinem ondulierten Gang hast du niemanden beeindruckt, und deine Zunge wurde so locker, dass sie getan hat was sie wollte.“ Ihre Wut hielt sie zurück. Trotzdem oder gerade deswegen bebte ihr Körper. „Ich fand es unangenehm.“ Gezwungen legte sie ihre Hände ineinander, um sich zur Gelassenheit zu überreden. „Wenn ihr mich bitte entschuldigen würdet? Ich begebe mich zur Nachtruhe.“

Ihr Mann lief ihr nach. Severus konnte beobachten, wie Lucius seine Frau beruhigte. Es waren zärtliche Gesten, die Lucius anwandte. Ein Streicheln am Arm, das Nehmen der Hand. Es schien zu wirken, wenn man Narzissas sanftes Lächeln so interpretieren wollte. Auf dem Stuhl neben Severus nahm unerwartet Severus’ Patensohn Platz.

„Den Tag gut überstanden, Draco?“
„Ich wünschte, er wäre weniger peinlich ausgefallen, aber ja, ich habe ihn gut überstanden.“ Nach einem Seufzer schilderte er von seiner Frau. „Susan hat es reichlich mitgenommen, so völlig unverhofft an …“ Er ersparte sich zu sagen, dass Susan an das Ableben ihrer Verwandten erinnert wurde.
„Ah, mein Junge!“ Lucius war zurückgekehrt, zauberte sich einen dritten Sessel heran. „Endlich finden wir Zeit für ein echtes Gespräch unter Männern.“
„Ich geh schon“, sagte Draco und stand auf.
„Nein, behalt doch bitte Platz. Ich habe auch dich gemeint.“
„Ich bin müde, Vater. Charles wird mich früh wecken. Der nimmt auf die Uhrzeit keine Rücksicht.“

Mit einem Nicken verabschiedete sich Draco von seinem Vater und von Severus.

„Schade“, sagte Lucius, als er seinem Sohn hinterherblickte. „Es wäre schön gewesen, wenn er uns noch etwas Gesellschaft geleistet hätte.“

Als Lucius sich wieder umdrehte, bemerkte Severus ein spitzbübisches Funkeln in den grauen Augen, das er nur aus Schulzeiten kannte.

„Dann eben nur wir beide, Severus.“ Lucius zauberte zwei Gläser und eine Flasche teuren Whiskys heran.
„Lucius, willst du wirklich …?“
Die Flasche war bereits geöffnet. „Was? Ich bin doch jetzt nüchtern.“
Severus nahm das eingeschenkte Glas entgegen und stieß mit Lucius an. „Auf deinen Fünfzigsten!“
„Ach“, winkte Lucius ab, „stoßen wir nicht auf so etwas Belangloses wie das Alter an. Trinken wir auf …“ Lucius überlegte, kniff dabei die Augen leicht zusammen. „Auf gute Zeiten?“
„Die sind längst eingetroffen.“
„Ja, aber nicht für mich“, sagte Lucius zynisch. Die Gläser klirrten, als er das seine an Severus’ stieß, bevor er einen Schluck nahm.
„Bevor ich es vergesse …“, warnte Severus vor. Mit einer Hand fischte er ein kleines Päckchen aus der Innentasche seines Gehrocks. „Ein Geschenk.“
„Noch eines?“ Sein Glas stellte Lucius auf dem kleinen Beistelltisch ab, bevor er das Päckchen entgegennahm. Sofort entfernte er das Papier und öffnete die Schachtel. Überrascht schnappte er nach Luft, bevor er den Gegenstand behutsam aus dem gepolsterten Boden nahm. „Meine Herren!“, war das Erste, was Lucius aufgrund der Überraschung von sich geben konnte. Den Gegenstand drehte und wendete er. „Eine echte Calabashpfeife? Ich hoffe nicht, du hast dich deshalb finanziell übernommen.“
„Nein, ich fand sie zwischen meinen Sachen, als ich Hogwarts verließ.“
Eine blonde Augenbraue hob sich, und mit einem Schmunzeln stichelte Lucius: „Du schenkst mir Gerümpel?“
„Antikes Gerümpel“, verbesserte Severus mit regungsloser Miene. „Die Pfeife wollte ich ursprünglich veräußern, bis mir ein Sohn von Mr. Burke ans Herz legte, sie lieber an einem Sammler zu verkaufen.“
„Wie bitte?“, fragte Lucius verdutzt nach. „Mr. Burke hat einen Sohn?“
„Zwei sogar, und darüber hinaus sehr ehrliche, sonst hätten Sie meine Unwissenheit ausgenutzt und mich übers Ohr gehauen.“
„Es scheint so, als würde die heutige Jugend nichts mehr von den Eltern lernen.“ Lucius nickte gedankenverloren, bis sein Blick erneut auf die orangefarbene Pfeife fiel. „Wenn du sie bei Borgin & Burke's verkaufen wolltest, dann ist sie …?“
„Schwarzmagisch, ja, aber nur in Kombination mit bestimmten Tabaksorten.“ Severus griff in eine andere Tasche. „Ich habe dir drei besorgt. Des Weiteren habe ich eine Beschreibung zusammengefasst, was der Rauch der Pfeife alles bewirken kann.“
Lucius’ Augen glitzerten wie die eines hellauf begeisterten Kindes. „Das ist interessant, vielen Dank!“ Die Pfeife verstaute er vorsichtig wieder in der Schachtel. „Es gibt nur ein Problem. Sollte mich Narzissa beim Rauchen ertappen, wird sie mir was auf die Finger geben.“ Aus heiterem Himmel wechselte Lucius das Thema. „Ich habe mich noch nie richtig bei dir bedankt, Severus.“
Die ernste Stimme seines Freundes ließ Severus aufhorchen. „Wofür?“
„Dass du dich um meinen Sohn gekümmert hast. Er hätte den Krieg nicht überlebt, wäre er bei mir geblieben.“

Obwohl Lucius erst fünfzig Jahre jung geworden war, klang seine Stimmt mit einem Male verlebt – wie die von einem gebrechlichen Mann, der auf dem Sterbebett einige ehrliche Worte an die Freunde und Verwandten richtete.

„Hatte er es sehr schwer?“ Die grauen Augen fixierten die von Severus und hofften auf eine Antwort.
„Er war sechszehn. Natürlich war es eine schwere Zeit für ihn“, erwiderte Severus ruhig. „Ich riss ihn aus der vertrauten Umgebung. Ich, der Verräter.“
„Hat er dich so genannt?“
„Mehr als einmal.“
„Das tut mir …“
„Muss es nicht. Es entsprach zum damaligen Zeitpunkt der Wahrheit. Und wie du sehen kannst, haben Draco und ich alle Differenzen beseitigt.“

Ein kurzes Schweigen folgte, das Lucius nutzte, um in sein Whiskyglas zu blicken. Möglicherweise würde auf dem Grund des goldbraunen Getränks eine Offenbarung auf ihn warten.

„Es ist die Familie“, sagte Lucius plötzlich. Danach entwich ihm die Luft, als würde eine schwere Last auf seiner Brust liegen. Severus wollte sich nicht die Blöße geben zu gestehen, dass er nicht wusste, wovon der Gastgeber sprach. Vom Whiskyglas löste sich Lucius’ Zeigefinger, mit dem er auf Severus zeigte, um seine Erkenntnis zu untermalen. „Die Familie ist das Wichtigste. Nicht die Macht oder das Geld.“ Die Hand, die das Glas hielt, machte einen halbrunden Schwenker, mit dem er all das abwinken wollte. „Auch nicht das Ministerium und schon gar nicht ein Dunkler Lord. Narzissa hatte immer Recht. Manchmal täte man gut daran, öfter auf seine Frau zu hören.“ Wieder setzte der Zeigefinger mit seiner deutenden Geste ein unsichtbares Ausrufezeichen. „Was meinst du, Severus?“
„Ich meine, dass ich im Gegensatz zu dir noch viel zu viel Alkohol intus habe, als dass ich mich in philosophischen Äußerungen versuchen wollte.“
„Du weichst mir nur aus, mein Freund. Nimm etwas von deiner eigenen Medizin.“ An vorhin erinnert grinste Lucius, als er anfügte: „Ich möchte dich mit Eselsohren sehen.“
„Der Genuss von Alkohol ohne anschließenden Rausch stellt nur die Hälfte des …“
„Du warst“, unterbrach Lucius zwar ruhig, aber mit Bestimmtheit, „und bist der Einzige, den ich ohne Bedenken einen Freund nennen kann. Wenn ich in die Tiefen allen Übels abtauchen musste, hast du dort unten bereits auf mich gewartet. Erschien ich wieder an der Oberfläche, hast du am Ufer gewartet und mir die Hand gereicht. Als Freund ist deine Pflicht, mir zuzuhören …“
„Ich höre zu!“
„… und mit mir zu reden.“
Severus ließ den Kopf nach hinten fallen, und er stöhnte theatralisch: „Merlin, ich hätte doch nachhause gehen sollen.“
„Nimm deinen Trank und werde nüchtern. Ich will mich unterhalten!“
„Und Malfoys bekommen immer, was sie wollen“, beklagte sich Severus, griff aber trotzdem in seine Innentasche und nahm einen der Tränke, von denen Lucius bereits nüchtern geworden war.
Von Neugierde gepackt wollte Lucius wissen: „Was hast du eigentlich alles in deinen Taschen?“
„Das geht dich gar nichts an.“
„Komm schon, pack aus. Früher zählten zu deiner Ausrüstung … Lass mich kurz überlegen: ein Stärkungstrank, ein Felix Felicis“, Lucius tippte sich mit einem Finger auf die Unterlippe, „Weinrautenessenz, ein Trunk des Friedens, Vergesslichkeitstrank, Murtlap-Essenz, Veritaserum … Da war doch noch einer.“ Lucius spitzte die Lippen, bis er drauf kam. „Natürlich! Ich habe zwar nie verstanden, warum du gerade den immer mit dir geführt hast, aber es war der Plappertrank.“
Severus musste grinsen. „Das Resultat eines Vergesslichkeitstrank und eines dazu verabreichten Plappertranks ist äußerst amüsant anzusehen.“ Ausprobiert hatte Severus diese Kombination ein einziges Mal an Pettigrew, der danach so einen Stuss von sich gegeben hatte, dass Bellatrix kurz davor war, ihn mit einem Avada ins Jenseits zu befördern. „Hast du dir über all die Jahre gemerkt, was ich zu welchem Anlass aus meinem Umhang gezaubert habe?“
„Nein, ich habe damals deinen Gehrock untersucht“, gestand Lucius.
„Warum das?“
„Ich war nur neugierig“, erklärte Lucius mit unschuldiger Miene, als würde das seine Handlung rechtfertigen.
Severus schnaufte. „Machst du das noch immer? Die Taschen deiner Gäste durchwühlen?“
„Nicht im Entferntesten, das ist unter meinem Niveau. Damals wusste ich nicht, wem ich noch trauen konnte.“
„Wusstest du es danach?“
„Ja“, kam auf der Stelle. Lucius hatte nicht einmal nachdenken müssen. „Leere deine Taschen“, forderte er nochmals.

Severus kam der Aufforderung nach. Noch zwei Tränke gegen übermäßigen Alkoholgenuss stellte er auf den Beistelltisch.

Amüsiert fragte Lucius: „Sag mal, mit was für einer ausschweifenden Feier hast du denn gerechnet?“
Eine Antwort umging Severus. „Kannst sie behalten. Beide sind ein Jahr lang haltbar.“

Ein Stärkungstrank und ein Trunk des Friedens gesellten sich zu den anderen Fläschchen auf den Tisch. Danach lehnte sich Severus gemütlich in seinen Sessel zurück.

„Was denn, das war alles?“ Lucius klang enttäuscht.
„Hermine ist die Heilerin von uns beiden. Gegen ihre Erste-Hilfe-Tasche komme ich sowieso nicht an.“

Lucius glaubte ihm kein Wort, was der eindringliche Blick sehr klar zum Ausdruck brachte. Severus seufzte und griff ein letztes Mal in seinen Gehrock. Eine Phiole mit einer wasserähnlichen Flüssigkeit lag in seiner Hand.

„Ich wusste es! Du hast Veritaserum bei dir. Hättest mir vorhin etwas geben soll, als ich danach verlangte.“
Severus schüttelte den Kopf. „Ist dir entfallen, dass es vom Ministerium verboten ist, damit leichtfertig zu hantieren? Ich werde bestimmt nicht in Anwesenheit einer Aurorin und der Tochter des Ministers auf einer Party eine Runde Wahrheitsserum schmeißen.“
Lucius lachte aus vollem Hals. „Das wäre aber Feier gewesen, an die sich jeder noch lange erinnert hätte. Hach …“ Er atmete tief durch. „Weißt du noch? Die Spielchen im Gemeinschaftsraum?“
„Meinst du die, an denen ich nur einmal und nie wieder teilgenommen habe?“, fragte Severus mit hörbarer Verachtung nach.
„Ich weiß gar nicht, was du hast. In meinen Augen war das immer sehr unterhaltsam. Ich frage mich, ob die Schüler das noch heute heimlich tun.“
Severus schüttelte den Kopf. „Jedenfalls nicht, als ich Lehrer war. Ich war nie wie Slughorn, der es auf seine eigene Schusseligkeit schob, wenn er Zutaten oder Tränke vermisste.“
„Ach“, Lucius winkte ab, „ich bin mir sicher, dass er es mit Absicht getan hat. Er wollte, dass seine Schüler eigene Erfahrungen sammeln.“
„Das bezweifle ich.“
Seinen Whisky hatte Lucius seit dem Geschenk nicht wieder angerührt, und die paar Schlucke hatten nichts bei ihm bewirkt. „Sag, hättest du Lust?“, fragte Lucius scheinbar zusammenhanglos.
„Auf was?“
Sein reinblütiger Freund hohnlächelte wie damals in der Schule, wenn er eine Dummheit ausheckte. „Auf ein Tröpfchen Veritaserum, natürlich.“
„Schlag dir das aus dem Kopf. Wenn du etwas von mir erfahren möchtest, dann frage mich.“
In seinem Sessel drehte sich Lucius, damit er seinem Freund direkt in die Augen sehen konnte. „Du verstehst mich falsch, Severus. Ich möchte, dass du mir Fragen stellst.“

Die Wahrheit.

Es gab immer verschiedene, niemals eine einzig richtige Wahrheit, wenn es um Betrachtungsweisen ging. Auf die Frage, ob es richtig gewesen wäre, sich Voldemort anzuschließen, hätte Bellatrix unter Veritaserum mit einem klaren Ja geantwortet, Severus hingegen würde verneinen. Das unveränderte Wahrheitsserum konnte jedoch überlistet werden, weshalb das Ministerium zu anderen Methoden und auch zu härteren Tränken griff. Es gab drei Möglichkeiten, Veritaserum abzuwehren. Man könnte eine Flüssigkeit, in dem man diesen Trank vermutete, in etwas anderes verwandeln, bevor man sie zu sich nahm. Das wäre die erste Variante. Die zweite wäre, den Hals magisch zu verschließen, damit die ungebetene Flüssigkeit nicht in den Magen gelangte. Zum Tode konnte dies führen, wenn man den Zauberspruch, der den Hals wieder öffnete, nicht wortlos beherrschte. Die dritte Möglichkeit war jene, die Severus in der Vergangenheit einige Male angewandt hatte. Eine Person, die wie er Okklumentik beherrschte, konnte sich gegen den Trank abschirmen. Lucius sah nicht so aus, als wollte er eine dieser drei Techniken anwenden. Er wollte Veritaserum einnehmen.

„Und was genau soll ich dich fragen?“ Das interessierte Severus momentan am meisten.
„Dir wird schon etwas einfallen.“
„Wohin soll das führen?“
Ungeduldig klopfte Lucius mit der flachen Hand auf die Stuhllehne. „Lügen sind immer kompliziert, nicht wahr?“, zischte er plötzlich gereizt. „Sie sind erbaut auf wackligem Fundament. Je höher man baut und je mehr man hinzudichtet, desto baufälliger wird das Ganze. Es wird knifflig, den Überblick zu behalten. Was ich möchte, ist die Einfachheit der Wahrheit.“
„Aber was für Fragen erwartest du?“
Lucius hatte sie schnell wieder beruhigt. „Ich sagte bereits, dass dir schon etwas einfallen wird.“ Er zeigte mit einem Finger auf die Phiole Veritaserum. „Ein Tröpfchen genügt. Damit kann ich nicht lügen, wenn ich etwas sage.“
„Mit nur einem Tropfen hältst du dir die Option offen, auf manch eine Frage gar nicht zu antworten. Das volle Programm, Lucius, oder wir lassen es bleiben“, stellte Severus klar.
Der Gastgeber nahm sein Gegenüber in Augenschein und überdachte ab, ob er es wagen durfte. „Darf ich damit rechnen, dass du mir keine Fragen stellst, die unter die Gürtellinie gehen?“
Einer von Severus’ Mundwinkeln machte sich selbstständig und wanderte nach oben. „Du kennst mich.“
„Deshalb ja! Versprich es mir: nichts Intimes.“
Severus nickte. „Machen wir zwei Tropfen draus. Damit wirst du nicht gezwungen, alles haarklein zu erklären. Soll ich auch etwas nehmen?“
„Ha, du kannst dich doch dagegen wehren.“
„Ich gebe mein Ehrenwort, dass ich mich nicht gegen die Fragen abschirmen werde.“
Lucius überlegte nochmals, bevor er völlig untypisch für seine Person erwiderte: „Deal!“

Alle Wahrheiten sind leicht verständlich von dem Zeitpunkt an, wo sie aufgedeckt werden. Die Frage ist, ob sie aufgedeckt werden.

Diese Weisen Worte stammten von Galileo Galilei. Im Falle von Lucius wurden sie ans Tageslicht gebracht. Es war eine langwierige, aber notwendige Prozedur. Die Wahrheit aus seinem eigenen Mund zu hören machte sie für Lucius erst präsent, real.

Bei dem Frage-und-Antwort-Spiel unter dem Einfluss von Veritaserum ging es nicht um jugendliche Frivolitäten. Verhört wurde Lucius’ innere Einstellung. Sie stand unter Verdacht, ihre wahre Identität zu verbergen. Severus war sich darüber im Klaren, was Lucius sich von dieser Fragestunde erhoffte. Er wusste sogar genau, welche Fragen er wie zu stellen hatte. Einige von ihnen hatte er in den vergangenen Wochen bereits gestellt, doch Lucius war stets ausgewichen. Diese Möglichkeit war nun nicht mehr gegeben.

Marie und Susan. Severus konzentrierte sich anfangs auf den vermeintlichen Unterschied, den Lucius zwischen den beiden Damen zu sehen glaubte. Lucius durfte nicht länger mit zweierlei Maß messen, dann würde das Leben für ihn erträglicher werden.

Die gegebenen Antworten bezeugten, dass die von Lucius nach außen zur Schau gestellten Ansichten schon lange nicht mehr all seine aktuellen Empfindungen widerspiegelten. Von der heimlichen Wandlung seiner Sichtweise, die schon damals im Krankenhaus durch Susan und besonders durch Marie in Gang gesetzt worden war, hatte Lucius selbst nie Notiz genommen. Verbissen hatte er alles daran gesetzt, seine alten Vorurteile weiterhin aufrechtzuerhalten. Über Unstimmigkeiten wurde großzügig hinweggesehen. Die echten Empfindungen waren über lange Zeit durch Lügen gedeckt worden. Lucius’ Selbsttäuschung war so sehr perfektioniert, dass die ans Tageslicht gebrachten Wahrheiten, die ihm ungebremst über die Lippen kamen, bitter schmeckten.

Das Spiel wurde von zweien gespielt.

Lucius lauschte aufmerksam, wenn Severus eine seiner Fragen beantwortete. Sie halfen ihm zu verstehen, was sein Freund durchgemacht hatte. Vor allem aber öffnete es ihm die Augen, warum Severus die Dinge heute anders sah und mit seiner Situation so gut zurechtkam.

Um einige Wahrheiten reicher, die beiden Männern mit Bestimmtheit eine unruhige Nacht bescheren würden, verabschiedeten sich Lucius und Severus inniger voneinander als je zuvor.

Es war gegen halb fünf Uhr morgens.

Durch das Geräusch des Kamins im Nebenzimmer wurde Hermine geweckt. Severus war nachhause gefloht. Er verhielt sich leise, als er das Schlafzimmer betrat.

„Ich bin wach.“
„Mmmh“, summte er, um ihr zu verstehen zu geben, dass er sie gehört hatte, während er sich auszog.
„Warst du bis jetzt noch mit Lucius zusammen?“
Es war so warm, dass er heute auf das Baumwollnachthemd verzichtete. „Ja, und eine Bitte: Stell mir keine Fragen.“
Hermine setzte sich im Bett auf: „Warum denn nicht?“
„Weil ich Veritaserum eingenommen habe.“ Er fluchte leise, weil er die Antwort nicht hatte aufhalten können.
„Tatsächlich?“
„Ja.“ Severus zog sich im Dunkel des Zimmers eine neue Unterhose an.
„Das verspricht ja ungeahnte Möglichkeiten!“, scherzte sie.
„Hermine, bitte, keine Fragen! Die Wirkung wird morgen verflogen sein.“ Severus legte sich neben sie. Er war hundemüde.
„Vielleicht möchte ich ja die Situation ausnutzen.“
„Dann würdest du mein Vertrauen aufs Spiel setzen. Gute Nacht.“
Natürlich würde sie niemals pikante Fragen stellen, aber ein wenig necken wollte sie ihn doch. „Hast du Lust auf Sex?“
„Nein.“ Empört holte er Luft. „Hermine …!“, warnte er mit mürrischem Tonfall.
Sie lachte und gab ihm einen Kuss auf die große Nase. „Dann schlaf schön.“

Das Trara auf Lucius’ Geburtstagsfeier wurde von niemandem offen angesprochen. Jeder wollte nachsichtig mit dem Mann sein, auch wenn es dem einen schwerer fiel als dem anderen. Am Ende freute oder wunderte man sich über die Postkarte, die zwei Wochen später eintrudelte. Sie wies zwar keine blaue Mauritius auf, stammte dafür jedoch von dieser Insel. Ein schriftliches Dankeschön von Narzissa und Lucius, die das Geschenk eingelöst hatten.

Den Urlaub nutzte Lucius nicht, um sich von der Sonne bräunen zu lassen. Das wäre Verrat an seinen Pigmentzellen. Viel mehr lag ihm daran, sich mit seiner Frau auszusprechen. Wichtigstes Thema war Abélia Estelle Malfoy. Narzissa war aus allen Wolken gefallen, als sie erfuhr, dass die tot geglaubte Schwiegermutter in guter geistiger und körperlicher Verfassung zu sein schien und ihr Leben in verschiedenen Heimen verbringen musste. Einen Entschluss hatte Lucius bereits auf seiner Geburtstagsfeier gefasst. Nach der Rückkehr aus dem Urlaub wollte er seiner Mutter einen Besuch abstatten. Die Zeit auf Mauritius benötigte er, um sich seelisch auf dieses Treffen vorzubereiten.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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Muggelchen
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Rest von Kapitel 226

Zu einer frühen Stunde, zu der manche Menschen gerade erst von ausgelassenen Feiern nachhause wankten, waren einige schon fleißig bei der Arbeit. Dazu zählten Bäcker, wie der in der Winkelgasse, Heiler und Schwestern und natürlich auch Postangestellte.

Ein Ottonormalzauberer ahnte gar nicht, was es für einen Aufwand darstellte, die Briefe und Päckchen von Muggeln in der Zaubererwelt zuzustellen. Möglich war es auf jeden Fall, sonst hätten Muggelstämmige wie Dean und Hermine während ihrer Schulzeit niemals Post von den Eltern erhalten.

Vor genau zwei Tagen war es Petunia Dursley gewesen, die mit einer Postsendung in der Hand unentschlossen an einem der vielen Briefkästen stand. Sie zögerte. Sollte sie den Brief einwerfen, könnte sie ihn nicht wieder herausfischen, falls sie es sich anders überlegen sollte. Er war ausreichend frankiert, sogar ihren Absender hatte sie hinterlassen. Das seltsame war die Adresse des Empfängers: Harry Potter, Hogwarts-Schule. Keine Postleitzahl, keine weiteren Ortsangaben. Die korrekte Bezeichnung der Einrichtung wollte sie nicht auf den Umschlag schreiben. Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei klang für sie noch immer falsch. Petunia wusste, dass der Brief dennoch ankommen würde. Schon durch Lily hatte sie erfahren, dass die Schule bekannt war – in der Welt ihrer Schwester, in der magischen. Jeder Zauberer und jede Hexe wusste von Hogwarts. Wahrscheinlich auch solche Leute wie Mrs. Figg.

Als Petunia an Mrs. Figg dachte, kam diese mit zwei Tüten voller Katzenfutter um die Ecke gebogen. Langsam kam sie auf Petunia zu, schnaufte dabei. Mrs. Figg war nicht mehr die Jüngste.

„Mrs. Dursley, schönen guten Morgen“, grüßte die betagte Nachbarin.
Um die Adresse zu verdecken, hielt Petunia den Brief an ihre Brust. „Guten Morgen.“
Mrs. Figg schaute auf den Umschlag. „Hogwarts?“
In ihrer Nervosität hatte Petunia die Rückseite gegen den Körper gepresst. „Ja.“ Sie schaute sich den eigenen Brief an. „Meinen Sie, der kommt so an?“
Die Katzenfreundin überflog die Adresse und nickte. „Es würde sogar ankommen, wenn nur Hogwarts draufstünde. Dann würde er aber direkt beim Direktor landen.“ Mrs. Figg lächelte, und Petunia strengte sich an, die Freundlichkeit zu erwidern.
„Tja, dann …“

Mit zittriger Hand hielt sie die Klappe geöffnet. Unter den wachen Augen von Mrs. Figg warf sie den Brief ein. Er war weg, irgendwo in diesem metallenen Kasten zwischen unzähligen anderen Briefen. Würde sie ihn jetzt noch aufhalten wollen, müsste sie den Inhalt des Briefkastens in Brand setzen. Erleichtert atmete sie durch. Sie hatte ihre Angst überwunden und Harry nach all den Jahren einen netten Brief geschickt.

„Ich habe gehört“, begann Mrs. Figg, „dass Dudley demnächst nach London reist?“
Über die Ablenkung war Petunia mehr als nur erfreut. „Ja, mit seinem Trainer.“ Ihr Blick fiel auf die schweren Tüten. „Darf ich Ihnen helfen?“
„Oh, das wäre nett. Vielen Dank.“

Die beiden Damen gingen gemächlich den gefegten Bürgersteig entlang und unterhielten sich, während der Brief seine Reise antrat.

Nicht mal eine Stunde später kam ein Angestellter der Post und leerte diesen Briefkasten sowie die anderen in der Umgebung. Zwischen geschäftlicher Korrespondenz, Glückwunschkarten zum Geburtstag, wenigen Liebesbriefen und einem Erpresserbrief – alle Inhalte waren dem Postbeamten natürlich nicht ersichtlich – reihte sich Petunias Brief nach Hogwarts ein. Zusammen mit allen anderen wurde er in einem Auto zum Briefverteilzentrum gefahren und dort entladen.

Im Briefverteilzentrum arbeiteten die Muggel nicht überwiegend mit der Hand. Das würde viel zu lange dauern. Die Anschriften auf den Briefen wurden von einer Maschine gelesen. Wenn jemand beispielsweise zu betrunken gewesen war, um die Adresse ordentlich niederzuschreiben oder wenn der morgendliche Kaffee für eine kräftige Sauerei auf dem Umschlag gesorgt hatte, dann bekam die Maschine Probleme, die Adresse zu entziffern. Aber auch Briefe mit unbekannter Adresse wurden von der Maschine aussortiert, damit die Mitarbeiter der Post sich an ihnen versuchen konnten.

Noch immer war keiner der Angestellten nah genug an den Briefen, um sie in die Hand zu nehmen. Die Briefe mit nicht leserlicher Anschrift wurden videokodiert, damit sie von den Damen und Herren der Post am Bildschirm betrachtet und zugeordnet werden konnten. Hier trennten sich die Wege von dem Brief an Hogwarts, der mit den freundlichen Worten „Lieber Harry“ begann und dem Brief an eine ehemalige Geliebte mit der weniger netten Anrede „Du alte Schabracke!“. Natürlich konnte keiner der Postangestellten in die Briefe hineinsehen. Es ging bisher nur um die pure Adressen. Die krakelige Handschrift auf einem der Briefe wurde von einem der Mitarbeiter am Bildschirm entziffert. Er gab die Postleitzahl per Hand ins System ein. Demnächst würde die Dame, die vom Briefeschreiber mit der ursprünglich türkischen Bezeichnung für Satteldecke beschimpft wurde, ihre Post erhalten und sich wohl weniger darüber freuen. Der Brief an Harry Potter wurde abermals aussortiert, da hier kein bekannter Ort angegeben war und eine Straße komplett fehlte.

Petunias Brief landete Stunden später in der Ermittlungszentrale für unzustellbare Briefe. Kaum einer der Postangestellten wusste, dass in diesem Gebäude Zauberei mit im Spiel war. In der Lagerhalle, in der die angelieferten Briefe kurzzeitig auf ihre Weiterbearbeitung warten mussten, tauschten die magischen Postrollwagen unentdeckt von den Muggeln ihre Briefe untereinander aus. Sie erledigten die gleiche Arbeit wie die Maschine im Briefverteilzentrum.

Hogwarts war den Rollwagen natürlich ein Begriff, ebenso Flourish & Blotts, Gringotts, Minister Weasley oder Muggel wie Anne Black, die in die magische Welt eingeheiratet haben. So kam es, dass einer der Postrollwagen all die Briefe beinhaltete, die an magische Einrichtungen oder an Zauberer und Hexen beziehungsweise deren Lebenspartner adressiert waren. Und genau dieser eine Postrollwagen landete in einem Büro mit insgesamt fünf Mitarbeitern, die allesamt eines gemeinsam hatten. Sie waren Squibs.

„Sagt mal“, begann der schlaksige Squibs mit den abstehenden Ohren, „arbeitet Harry Potter noch in Hogwarts?“ Er beäugte den Brief, der von einer Petunia Dursley stammte.
„Warum sollte er nicht?“, stellte seine Kollegin Doris als Gegenfrage.
„Ich dachte, er wäre vielleicht umgezogen. Er hat doch die Tochter vom Minister geheiratet.“
„Wen?“, fragte die Dame neben ihm, die nur mit einem Ohr zugehört hatte, weil sie Briefe in verschiedene Fächer einsortierte.
„Stand doch in der Zeitung!“

Er nahm die aktuellste Ausgabe des Tagespropheten in die Hand und wedelte damit herum. In genau diesem Moment öffnete sich die Tür und der Abteilungsleiter, Mr. Witherspoon, kam herein. Als der die Zeitung erblickte, schloss er hektisch die Tür hinter sich und wandte sich an den hoch gewachsenen Herrn.

„Sind Sie denn von allen guten Geistern verlassen?“ Mr. Witherspoon durchquerte eilig das Büro. Das hallende Geräusch seiner Herrenschuhe war zu vernehmen. Dem Angestellten riss er heftig die Zeitung aus der Hand, so dass das Papier knitterte. „Auch wenn Sie in diesem Raum unter sich sind, müssen Sie immer damit rechnen, dass ein Kollege eintritt.“ Jetzt wedelte er mit der Zeitung, aber wesentlich heftiger, weil er wütend war. „Muggel sind bewegte Bilder in Tageszeitungen nicht gewohnt!“ Um das verräterische Objekt loszuwerden, öffnete Mr. Witherspoon die unterste Schublade des Schreibtisches. Es klirrte leise. Der Abteilungsleiter blickte entgeistert auf drei Flaschen Feuerwhisky verschiedener Marken. „Und was soll das bitte?“ Eine der Flaschen nahm er in die Hand und hielt sie dem Angestellten unter die Nase. „Habe ich Ihnen nicht gesagt, dass damit Schluss ist?“
„Die gehört nicht mir! Ich meine, das ist ein Geschenk“, stotterte der Angestellte. „Für meinen Bruder.“
„Ach, und der mag angebrochene Flaschen?“ Enttäuscht stellte Mr. Witherspoon die Flasche wieder in die hohe Schublade, bevor er den Tagespropheten ebenfalls dort unterbrachte. „Das geht so nicht weiter, haben Sie verstanden, Mr. Shunpike?“
Stan senkte das Haupt. „Ja, Sir.“

Als er das, weswegen Mr. Witherspoon eigentlich gekommen war, erledigt hatte, verließ er das Büro. Nach diesem Vorfall sprach Stan Shunpike nicht ein Wort mit seinen Kollegen, die ihm mitleidige Blicke zuwarfen. Den Brief an Harry Potter reichte er an Doris, die ihn in das Fach legte, deren Inhalt später von einem Mitarbeiter der Posteulerei in der Winkelgasse zur Weiterbearbeitung abgeholt werden würde.

Zwei Tage später, an dem Tag, an dem Harry Potter den Brief enthielt, der durch die Hände des Squibs gegangen war, verlor Stan Shunpike seine Anstellung bei der Post.

Harry erhielt ebenfalls eine Postkarte von den Malfoys. Sofort träumte er vom blauen Himmel, dem ruhigen Meer und der warmen Sonne. Seine Hochzeitsreise mit Ginny stand noch aus. Vor der Eröffnung seines Kindergartens wollte er sich diese Auszeit mit Frau und Kind noch nehmen.

Gerade war er dabei, die Post durchzugehen, als Ginny ihn von hinten umarmte und ihm über die Schulter schaute.

„Was für mich dabei?“, wollte sie wissen.
„Nein, tut mir leid.“ Ginny hatte all sein Mitgefühl. Sie fragte jeden Tag nach einem Brief für sie. „Ich möchte mal wissen, was bei Eintracht Pfützensee so lange dauert“, regte er sich solidarisch auf.
„Vielleicht kommt morgen was“, vertröstete sich Ginny selbst.

Ein Brief mit einer Muggelbriefmarke weckte seine Neugierde. Der Absender war der seiner Tante. Nachdem er ihre Zeilen gelesen hatte, wandte er sich an Ginny.

„Meine Tante hat uns eingeladen. Mein Cousin ist zu der Zeit in London und mein Onkel auf Geschäftsreise.“ Murmelnd fügte er hinzu: „Was für ein Zufall.“
„Willst du hin?“
„Ja, warum nicht? Sie war zu unserer Hochzeit recht umgänglich, meinst du nicht?“
Ginny lächelte. „Sie war angetrunken und von Slughorn abgelenkt.“
„Wir besuchen sie auf jeden Fall. Ich weiß, wie viel Überwindung es sie gekostet haben muss, den Brief einzustecken.“

Harry öffnete den nächsten Umschlag. Der war dicker als alle anderen.

„Schau mal, unsere Besitzurkunden zum Grundstück und zum Haus.“ Zwei gefaltete Papiere klappte er auf. „Und das Wassergrundstück ist auch genau eingezeichnet. Mann, ist das groß!“ Harrys Augen bekamen einen kindlich begeisterten Blick. „Kaufen wir uns ein Boot?“
„Wenn du mir versprichst, dass du damit nicht untergehst.“
„Beim Baden ist mir das Schiffchen jedenfalls nie abgesoffen.“
Mit einer Hand wuschelte Ginny in seinen Haaren. „Kauf gleich ein größeres Boot, mindestens für vier Personen.“

Lächelnd wandte er sich der restlichen Post zu. Bei einem Brief zog Harry beide Augenbrauen in die Höhe.

„Ich glaub’s ja nicht. Endlich!“
„Was?“
„Ein Brief von Gringotts.“ Eilig öffnete er ihn.
„Das ist bestimmt eine Absage“, bereitete sie ihn auf eine mögliche Enttäuschung vor. „Die Strafe dafür, dass du den Kobolden drei Tage lang auf den Geist gegangen bist.“
Wie so oft in den letzten Tagen verteidigte er sich. „Ich sehe nichts Falsches darin, für das, was ich haben möchte, ein bisschen zurückzustecken.“
„Zurückstecken? So etwas nennt man auch jemandem in den Hintern kriechen“, ärgerte sie ihn.

Als Ron davon erfuhr, dass sein Freund drei Tage lang die Bank belagert hatte, meinte er nur „Du spinnst!“. Von Severus hatte er sich auch einiges anhören müssen, besonders aber von Draco, der felsenfest der Meinung war, die Kobolde hätten sich mit Harry den längsten Scherz ihres Lebens erlaubt. Selbst Remus, der sonst in allen Lebenslagen seine Freunde ermutigte, selbst bei schier aussichtslosen Unterfangen, äußerte zögerlich, dass sich Harry nicht so viele Hoffnungen machen sollte. Hermine setzte noch einen oben drauf, denn auch sie war der Meinung, dass er keine Chance hätte, die Geschäftsräume in der Winkelgasse zu erhalten. Sie hatte extra recherchiert, hatte Kopien gemacht und sich Informationen notiert, nur damit sie ihre Meinung mit Fakten untermauern konnte, die sie ihm nicht nur sinnbildlich um die Ohren hauen konnte. Sie fand heraus, dass in den 122 Jahren, in denen das Gebäude bereits in den Händen der Bank war, nur ein einziger Mensch vertraglich als Mieter aufgeführt war. Es handelte sich dabei um niemand anderen als Perpetua Fancourt, die sich vor 83 Jahren im zarten Alter von 21 mit ihrer Erfindung, dem Lunaskop, in der Winkelgasse selbstständig machte. Das Geschäft behielt sie nur zwei Jahre, bevor sie den Mietvertrag kündigte und sich ausschließlich dem Versandhandel per Eule widmete. Diese Informationen waren nicht motivierend, selbst für Harry nicht. Mit einem Schmollmund entfaltete er den Brief.

„Was schreibt Gringotts?“, hörte er Ginnys neugierige Stimme.

Aus einem Gefühl heraus rechnete er mit einer Zusage. Andererseits konnte es nicht sein, dass all seine Freunde mit ihren Gefühlen falsch liegen sollten. Den Brief las er zweimal, weil dort etwas anderes stand als erwartet. Langsam wurde die Information von seinem Gehirn an die Lachmuskeln weitergetragen, was sich in einem breiten Grinsen niederschlug.

„Was glaubst du?“, fragte er Ginny.
„Sag schon!“
„Die Winkelgasse gehört mir!“, verkündete er stolz, riss dabei triumphierend beide Arme in die Höhe.
„Was denn, die ganze Winkelgasse?“
„Ach, du Spaßbremse weißt genau, wie ich das meine.“
Ginny drückte ihn, bevor sie ihm den Brief aus den Händen nahm, um ihn selbst zu lesen. „Gratuliere, Harry!“
Sein Grinsen wollte nicht vergehen. „Und jetzt nimmst du das mit dem in den Hintern kriechen zurück.“
„Das tu ich nicht!“, sagte sie vorgetäuscht ernst. „Die haben nur nachgegeben, weil du sie genervt hast.“
„Hab ich nicht!“
„Doch! Das ist wie mit kleinen Kindern, wenn sie plärren und heulen, um etwas zu bekommen. Irgendwann hat man genug und gibt ohne Rücksicht auf erzieherische Maßnahmen nach, weil man einfach seine Ruhe haben möchte.“
„Echt?“ Harry grinste fies. „Klappt das bei dir auch?“
„Nein, ich bin gegen Bettelei immun“, behauptete sie mit ernster Miene.

Immer wieder blickte Harry auf den Brief. Er konnte es nicht fassen und musste sich vergewissern, dass er sich nicht verlesen hatte.

„Ich gehe zu Draco“, verkündete er voller Stolz. „Soll ich Nicholas mitnehmen, damit du deine Ruhe hast?“
„Der ist doch mit den Elfen bei Hagrid.“
Mit einem Male war Harrys Gesicht ernst. Er blinzelte durch die Brille hindurch, die nur aus Fensterglas bestand. „Bei Hagrid?“
„Ja, er sagte, er hätte flauschige, niedliche Tiere zum Streicheln.“
„Mmmh“, machte Harry und presste skeptisch die Lippen zusammen. „Ich kenne seinen Streichelzoo. Hagrid hat nichts Flauschiges und Niedliches. Jedenfalls nichts, das auf meiner Kuschelskala steht.“
„Nicholas hat einen Krake zum Freund“, erinnerte seine Frau ihn freundlich lächelnd.
„Stimmt auch wieder. Willst du vielleicht mit zu Draco?“
„Bloß nicht! Nicht wegen ihm, aber das geschäftliche Geschwafel ist nichts für mich. Ich langweile mich ja schon, wenn ich nur daran denke.“

Um jenes geschäftliche Geschwafel, wie Ginny es nannte, ging es auch in der Winkelgasse. Die Magische Gesellschaft hatte sich nach dem Krieg soweit erholt, dass die Galleone wieder eine stabile Währung darstellte. Des Weiteren liefen die Geschäfte gut. Die Leute hatten Geld und waren in der Stimmung, es auszugeben.

Am Frühstückstisch blätterte Severus in den Unterlagen, die die Einnahmen und Ausgaben der Apotheke aufführten. Die Handschrift von Daphne war ordentlich und sah beinahe noch genauso aus wie damals in der Schule. Als Severus die Gewinne der letzten Wochen durchging, stellte er eine Sache fest. Er hielt Hermine, die gerade in ihr Marmeladenbrötchen biss, die Seite unter die Nase.

„Wir sollten Miss Greengrass eine Gehaltserhöhung geben. Leisten können wir es uns offenbar.“
Hermine nahm das Blatt entgegen und blickte auf die wichtigen Zahlen, kaute dabei den Happen weiter, bis sie ihn schlucken konnte. „Ich hab durchaus gemerkt, dass es rapide aufwärts geht. Kann man aber nach ein paar Monaten schon sagen, dass es so bleiben wird?“
„Kann man. Ich war so frei und habe einigen Unternehmen einen dreijährigen Partnervertrag schöngeredet. Sie haben ohne zu Murren unterschrieben.“
„Partnervertrag?“, fragte Hermine nach.
Severus nickte. „Du weißt, dass unter anderem Hogwarts zu unseren Kunden zählt.“ Hermine nickte. „Das Genesungsheim von Mr. Panagiotis beliefern wir jetzt ebenfalls. Außerdem habe ich einige der frei praktizierenden Heiler kontaktiert, selbst die feinen Pinkel hier in der Winkelgasse.“
„Die kaufen alle bei uns?“
„Was habe ich denn eben gesagt?“, stellte Severus etwas grimmig als Gegenfrage. „Ich bin noch am Gorsemoor dran. Das Mungos können wir allerdings vergessen. Die haben ihre eigenen Tränkemeister.“
„Das Gorsemoor doch auch, oder nicht?“
„Ja, aber für Aufträge, die über einen Abschwelltrank hinaus gehen, suchen sie sich in der Regel jemand anderen. Ich nehme an, es hat mit der langen Brauzeit zu tun, die manch komplizierte Tränke mit sich bringen. Ich habe mich erkundigt. Das Gorsemoor beschäftigt nur einen Tränkemeister und der braut nicht nur für alle Patienten die Mittelchen, sondern fungiert zudem als Lehrer für die Auszubildenden. Man muss nur eins und eins zusammenzählen, um zu dem Schluss zu kommen, dass er völlig überlastet ist.“
„Denkst du auch daran“, Hermine gab ihm das Blatt zurück, „irgendwann zu expandieren?“
„Möglicherweise?“ Das Blatt heftete er wieder in den Ordner zurück, auf dessen Rücken ganz dick Buchführung stand. „Meinst du, zwanzig Galleonen mehr die Woche wäre für Miss Greengrass angemessen? Sie ist immerhin unsere einzige Verkäuferin, kümmert sich zusätzlich um den Wareneingang, die Buchführung um Bestellungen, um …“
„Ich weiß, was sie alles leistet“, unterbrach Hermine. „Sie schreibt sich nicht einmal die Überstunden an. Vielleicht sollten wir lieber überlegen, ob wir eine Teilzeitangestellte hinzuziehen. Eine, die wirklich nur verkauft. Dann hat Daphne mehr Freiraum.“
Severus schüttelte den Kopf. „Nein, ich spiele eher mit dem Gedanken, einige Tränkemeister einzustellen.“
„Was denn, gleich einige?“
„Wir brauchen keine zweite Verkäuferin, wenn wir beide mit der Arbeit gar nicht nachkommen.“
Das klang logisch, dachte Hermine, weshalb sie nickte. „Wie viele?“
„Ich dachte an zwei Tränkemeister mit etwas Berufserfahrung. Zusätzlich werde ich Mr. Foster ausbilden. Letzteres mache ich nicht uneigennützig. Ich hoffe darauf, dass er nach der Ausbildung bei uns bleibt. Wenn auch nur für ein paar Jahre.“
„Neben Gordian noch zwei Tränkemeister?“
Severus nickte. „Vorerst, ja. Halt es dir doch mal vor Augen. Das würde bedeuten, dass wenigstens du immer Zeit hättest, dich um etwas völlig anderes zu kümmern. Selbst ich werde Mr. Foster nicht ständig auf die Finger schauen müssen, nur bei den prüfungsrelevanten Tränken.“
„Wie dem Adlerauge“, fiel ihr sofort ein.
„Genau“, stimmte er zu. „Auf diese Weise werden wir Zeit für eigene Projekte haben. Dein Farbtrank ist bisher noch in der Testphase, aber wenn dieses Produkt erst einmal vermarktet wird, müssen wir uns gar keine Gedanken mehr machen.“
„George hat neulich, als wir das Geld weggebracht haben, gefragt, ob sie den Farbtrank in einer neuen Süßigkeit verarbeiten können.“
„Siehst du? Ich hoffe, du hast zugesagt. Das wäre wieder eine Gelegenheit, die eine langjährige Partnerschaft und regelmäßige Einnahmen verspricht.“
Hermine nickte. „Ich glaube, ich weiß langsam, auf was du hinaus möchtest.“ Er wartete auf ihre Erklärung und die gab sie ihm. „Du willst irgendwann nur noch andere arbeiten lassen und dich selbst deinen Projekten widmen.“
„Unseren Projekten“, verbesserte er mit ungewohnt sanfter Stimme. „Ich möchte noch vor meinem Ableben die Erinnerungen von dem Alchimist durchgehen. Da könnte etwas Interessantes bei sein.“
„Ach ja, die haben wir ja auch noch“, murmelte Hermine gedankenverloren.
„Mit unserem kombinierten Potenzial auf dem Gebiet der Forschung werden wir mit Sicherheit einige Neuheiten entwickeln. Allein durch die Patente würden wir uns dumm und dämlich verdienen. Je mehr Geld reinkommt, desto größer die Chance, eines Tages zu expandieren. Eine Filiale in Hogsmeade, eine in …“
„Wow, Severus.“ Hermine wedelte mit ihrer Hand. „Wann hast du dir diese Pläne ausgedacht?“
„Vor dem Schlafengehen“, erwiderte er, als wäre es völlig normal. „Wir haben dank Harrys kleinem Hochzeitsumtrunk zwanzig Jahre Leben und vor allem Lebensqualität geschenkt bekommen. Wir beide sollte uns bemühen, das Beste daraus zu machen.“
„Du möchtest erreichen“, vermutete Hermine, „dass wir uns so bald wie möglich zurücklehnen können.“
„Ja, zumindest in dem Sinne, dass wir nicht mehr arbeiten müssen, um leben zu können, sondern um uns und unsere Ideen zu verwirklichen. Den größten Sprung möchte ich innerhalb eines Jahres erzielen, nämlich dass die Apotheke auch laufen würde, ohne dass wir selbst brauen.“
„Dann müssen wir aber richtig ranklotzen. Warum schon in einem Jahr, Severus? Das ist etwas knapp bemessen.“
„Weil wir heiraten werden.“

Den Sinn dahinter verstand Hermine nicht. Ob mit oder ohne Ring am Finger – es würde sich ihrer Meinung nach nichts an ihrem gemeinsamen Leben ändern.

„Das ist doch kein Grund.“ Mit einem Male fiel ihr etwas ein. Neugierig fragte sie: „Oder hast du vor, zeitig eine Familie zu gründen?“ Hermine bemerkte, dass ihre Wangen warm wurden.
„Nein, und du?“, fragte er unsicher zurück.
„Nicht sofort, nein. Irgendwann“, sie nickte, „ja.“ Sie sah lediglich, wie er kräftig schluckte. Ein unangenehmes Kribbel breitete sich in ihr aus. „Und wie sieht es bei dir aus? Irgendwann?“
„Ich weiß nicht. Im Moment muss ich ehrlich sagen, dass ich mich nicht in der Vaterrolle sehen kann.“ Als er sich traute, ihr in die Augen zu blicken, sah er dort die Hoffnung bröckeln. „Ich bezweifle, ein guter Vater zu sein, aber andererseits weiß ich, dass du eine gute Mutter sein wirst.“

Genau wie bei den Snapes, dachte er. Und das war kein vorbildliches Elternhaus gewesen.

„Da gehören aber zwei zu, Severus.“ Sie räusperte sich, damit die trübe Stimme verschwinden würde. „Würdest du mir glauben, wenn ich sage, dass du bei Charles und Nicholas für deine Verhältnisse sehr tolerant bist?“
„Für meine Verhältnisse?“
„Ich meine damit, dass du immer sagst, Kinder von anderen würden dir nichts bedeuten. Dafür kommst du mit den beiden aber wunderbar zurecht.“
„Ich …“ Es würde nichts bringen dagegenzuhalten. „Ich habe genug Zeit, mich mit dem Gedanken anzufreunden. Solange ich mich nicht sofort entscheiden muss.“
„Nein, auf keinen Fall.“ Diesmal klang sie erleichtert. „Das ist nichts, was man mal eben“, sie schnippte mit den Fingern, „übers Knie brechen sollte. Bei Ginny und Susan war es zum Beispiel gar nicht geplant und sie kommen dennoch gut zurecht. Von Remus und Sirius weiß ich aber, dass sie planen.“ Hermine grinste. „Sie wollen in etwa zur gleichen Zeit für Nachwuchs sorgen. Sirius und Anne warten nur noch, bis das Gesetz in Kraft tritt und dann …“
„Merlin, verschone mich mit solch dämlichen Wettbewerben.“
„Ich war übrigens auch geplant“, beteuerte Hermine kopfnickend. „Meine Eltern haben gewartet, bis die neue Assistentin eingearbeitet war. Und als die Praxis ohne meine Mutter lief, kam neun Monate später ich.“
„Ich könnte wetten, du hast im Mutterleib schon Bücher gelesen. Über Geburtsvorbereitungen, damit du weißt, wie du dich als Säugling verhalten musst, wenn du auf die Welt kommst.“
„Ha, das ist ulkig. So etwas Ähnliches hat mein Vater immer gesagt.“ Sie holte Luft, als wäre ihr gerade eben etwas eingefallen. „Wo ich gerade von ihm rede. Er will heute vorbeikommen und mit dir reden.“
Severus stöhnte. „Und worüber?“
„Weiß ich nicht.“

Nach dem Frühstück ging es ins Labor. Daphne war wie immer früher da, um die Regale aufzufüllen.

Kurz vor der Mittagspause, als Hermine sich fertigmachte, um mit George die ersten Einnahmen von heute und des Rest von gestern zur Bank zu bringen, fand sich ihr Vater ein. Joshua Granger sprach nur kurz mit ihr, wandte sich dann an Severus.

„Joshua, wie kann ich Ihnen helfen?“
Hermines Vater schaute sich stolz in der gut sortierten Apotheke um, bevor er Severus ansah. „Könnten wir unter vier Augen …“
„Aber sicher“, unterbrach Severus und wies den Weg.

In der Küche setzte Severus einen Kaffee auf, nachdem er Joshua einen Platz angeboten hatte.

„Es geht um Hermine“, sagte der Schwiegervater in spe, der sich diesmal in der Küche umblickte. Die Räume hatte er bisher nur einmal gesehen und das war, als er sich mit Hermine und seiner Frau die Apotheke von Mrs. Cara zeigen ließ. „Sie haben sich hier sehr gemütlich eingerichtet“, kommentierte Joshua die warmen Farbtöne von Boden und Wänden, die hölzernen Schränke und die Essecke, die gerade von ihm in Beschlag genommen wurde. „Es sieht nicht mehr so aus wie aus dem letzten Jahrhundert.“
„Hermine war für die Innenausstattung verantwortlich.“

Severus hoffte, somit weitere inhaltslose Gespräche über das Innendesign zu vereiteln. Er selbst hatte nie einen Finger krumm gemacht, weil es ihn nicht interessierte, wie die Räume aussahen. In diesem Sinne war er eher praktisch veranlagt. In einer Küche musste man kochen und essen können. Alles andere war zweitrangig.

Von dem Kaffee, der bereits durchgelaufen war, schenkte Severus zwei Tassen ein. Eine davon reichte er Joshua, bevor er sich ihm gegenübersetzte.

„Danke, Severus. Bevor Hermine zurückkommt …“ Nach einem Spritzer Milch, den er seinem Kaffee hinzufügte, sagte Joshua: „Haben Sie eine Idee, was sie sich zum Geburtstag wünscht?“
Severus behielt die Information für sich, dass er an Hermines Geburtstag bis jetzt gar nicht gedacht hatte und erwiderte stattdessen: „Ich befürchte, mir fällt auf die Schnelle nichts ein.“ Oh, doch, da war plötzlich ein Gedanke an ein Gespräch mit Hermine. „Sie sprach neulich davon, dass sie gern nach Tibet reisen würde. Der Chinesische Raupenpilz hat es ihr angetan.“
„Tibet“, wiederholte Joshua verträumt, bevor er schnaufte. „Warum nicht einfach mal ein hübscher Pullover LeComte oder eine Tasche von Pussy Deluxe?“
„Pussy?“
Joshua schlug sich auf die Schenkel. Die Entscheidung war gefallen. „Dann also eine Reise nach Tibet.“ Von seiner Tochter hatte er offenbar nichts anderes erwartet. Er grinste. „Designerklamotten kommen eben nicht gegen Raupenpilze an.“
„Das ist wohl wahr“, stimmte Severus zu. „Ich kennen keinen Trank, in dem ein Pullover als Zutat dienlich ist.“
Joshua musste lachen. „Wann würde es denn passen? Ich nehme an, Sie reisen mit ihr?“
„Momentan können wir uns nicht leisten, die Apotheke allein zu lassen, geschweige denn, für eine Woche zu schließen.“
„Oh, dann muss ich mir etwas anderes überlegen? Schade, meine Frau und ich hätten ihr wirklich gern eine Reise geschenkt. Haben Sie eine andere Idee? Wir sehen Hermine nicht mehr so häufig und haben daher keine Ahnung von ihren aktuellen Interessen.“
„Wenn alles so klappt, wie ich es plane“, begann Severus nachdenklich, „wäre eine Reise zwischen Weihnachten und Neujahr möglich.“
„Was planen Sie denn, wenn ich fragen darf?“ Joshua nahm einen Schluck Kaffee und blickte Severus über den Rand der Tasse hinweg an.
„Zwei verlässliche Tränkemeister einzustellen.“
„Das rechnet sich auch? Die Apotheke ist doch noch nicht so lange ihn Ihrem Besitz.“
Nur leicht zog Severus beide Augenbrauen in die Höhe, was darauf hindeutete, dass er sich der Sache sicher war. „Der Vorteil dieser Apotheke ist, dass jedermann sie kennt. Wir haben nicht nur Mrs. Caras Kundenstamm übernommen, sondern auch einen neuen hinzugewonnen. Es sind aber nicht nur die Laufkunden, von der die Apotheke profitiert. Ich bin dabei, einen festen Kundenstamm aufzubauen, darunter große Einrichtungen. Finanziell steht jetzt bereits nichts im Wege, zwei oder drei Angestellte mehr zu beschäftigen.“
Mit gespitzten Lippen nickte Joshua, hob dabei selbst die Augenbrauen. „Das hört sich gut an. Demzufolge geht es der Apotheke bestens?“
„Das kann man so sagen, ja.“
„Das freut mich, Severus. Ich weiß, dass es schwer ist, sich in die Selbstständigkeit zu stürzen. Halten Sie mich auf dem Laufenden? Ich meine, wenn sich die Zeit zu einem Urlaub finden sollte. Dann bekommt Hermine eben ein verspätetes Geschenk.“
„Das kann ich gern tun.“ Die Zeit, bis Hermine wiederkam, musste Severus mit Smalltalk vergeuden. „Sagen Sie, wie können Sie“, als Muggel, dachte Severus, „eigentlich die Winkelgasse betreten?“
„Tja, das war anfangs ein kleines Problem. Aber Hermine war so nett, mich mit Tom bekanntzumachen, dem Wirt. Ein netter Mann. Er öffnet mir die Backsteinmauer. Zurückzukommen ist ja kein Problem, wenn ich erst einmal hier bin.“
„Waren Sie schon häufiger hier?“
Joshua schüttelte den Kopf. „Früher, vor jedem neuen Schuljahr. Sonst nicht. Heute bin ich das erste Mal allein hier. Ich bin extra früher hergekommen, um mir mal in Ruhe ein paar Geschäfte anzusehen. Wirklich interessante Dinge, die man hier kaufen kann.“
„Und Sie hatten nie Probleme?“
„Inwiefern?“
Severus legte den Kopf einmal nach links, dann nach rechts. „Mit den anderen Leuten, die hier in der Winkelgasse ein- und ausgehen. Sie sind für jeden als Muggel zu erkennen.“
Erstaunt schaute Joshua an sich herab, bevor er lächelte. „Das hat mir die Dame in dem Bekleidungsgeschäft auch gesagt. Sie hat mich geradezu ausgefragt. Offenbar hat sie nicht häufig Besuch von Muggeln, die ohne magische Begleitung unterwegs sind.“
„Davon können Sie ausgehen.“

In diesem Moment hörte man, wie jemand sich im Flur der Küche näherte. Zum Glück war alles Relevante geregelt, was Hermines Geschenk betraf. Sie trat auch gleich in die Küche ein.

„Papa! Gut, dass du noch da bist. Ich habe Kuchen besorgt. Möchtest du ein Stück?“
„Klar! Ist das irgendwas Besonderes? Hüpft mir das Stück vom Teller?“, fragte er mit einem Schmunzeln.
Hermine lachte. „Nein, das ist ganz ordinärer Bienenstich und man versicherte mir, dass er nur so heißt.“ Als sie das Kuchenpaket abstellte, bemerkte sie den Kaffee. „Oh, schön! Dann ist ja alles fertig.“ An der Tür rief Hermine nach Daphne. „Kommst du?“
„Sofort!“

Manchmal wurde Daphnes Einsatz mit einem Essen belohnt, für das sie natürlich nichts bezahlen musste. Heute bekam sie Kaffee und Kuchen.

In der Küche nickte Daphne nochmals dem Herrn zu, den sie vorhin nur flüchtig gegrüßt hatte.

„Ich habe mich gar nicht vorgestellt.“ Als Daphne Joshua die Hand entgegenhielt, erhob er sich höflich von seinem Stuhl. „Ich bin Miss Greengrass, Daphne Greengrass.“
„Habe die Ehre“, grüßte er gut gelaunt zurück. „Joshua Granger.“

Während des Essens bemerkte Joshua, dass die junge Dame ihn häufig betrachtete. Er sprach es ungeniert an.

„Habe ich gekleckert?“, scherzte er.
Ertappt hielt sie sich eine Hand vor den Mund. „Entschuldigen Sie, ich habe nur selten mit Muggel zu tun gehabt.“
„Ah“, machte er verständnisvoll. Ähnlich hatten auch Hermines Freunde reagiert, wenn sie während des Krieges in seinem Keller Pläne schmiedeten. „Haben Sie Fragen? Ich beantworte sie gern.“
„Was arbeiten Sie?“, kam wie aus der Pistole geschossen. Daphne war neugierig.
„Ich bin Zahnarzt.“ Sie brauchte gar nicht nachzufragen. „Ein Arzt ist so etwas wie ein Heiler“, erklärte er, weil er genau wusste, wie ihre nächste Frage ausgesehen hätte. „Und ich kümmere mich zusammen mit meiner Frau um den gesamten Bereich der Zähne samt Ober- und Unterkiefer.“
„Oh, ich dachte, ein Arzt ist für alles verantwortlich.“

Das Gespräch am Tisch fand fast ausschließlich zwischen Daphne und Joshua statt. Severus war froh, dass er sich nicht äußern musste, während Hermine manchmal einige Gesprächspunkte für Daphne „übersetzte“, weil sie nicht alle Muggelwörter verstand. Begriffe wie Zahnspange und Wurzelbehandlung waren ihr völlig fremd. Joshua wurde am heutigen Tag nicht von Hermine, sondern von Daphne zurück zum Tropfenden Kessel begleitet, damit er wieder die Charing Cross Road in der Muggelwelt betreten konnte.

Spät am Abend, als Hermine und Severus mit allen Tränken fertig waren, setzten sie sich einen Augenblick ins Wohnzimmer, anstatt wie üblich müde ins Bett zu fallen.

Hermines Blick fiel auf den ungeöffneten Umschlag, der auf dem Couchtisch lag. Sie nahm ihn in die Hand, wedelte Severus damit wie mit einem Fächer Luft zu und sagte: „Es gibt drei Möglichkeiten: du öffnest ihn, ich öffne ihn oder du wirfst ihn weg.“
„Interessiert dich so sehr, was darin geschrieben steht?“
„Nein, mich stört, dass er so lange schon auf dem Tisch liegt. Also …?“ Sie hielt ihm den Brief entgegen, aber er nahm ihn nicht. „Soll ich ihn öffnen?“
„Du kannst ihn wegwerfen.“
„Oh, nein!“ Hermine warf ihn zurück auf den Tisch. „Wenn es ums Wegwerfen geht, dann ist das deine Angelegenheit. Und wenn dich nicht interessieren sollte, was drin steht, dann frage ich mich, warum du ihn nicht längst ins Feuer geworfen hast.“
„Weil wir zu dieser Jahreszeit den Kamin noch nicht entzündet haben.“
„Du weißt ganz genau, wie ich das meine. Werde nicht spitzfindig.“
„Dann mach ihn auf“, stimmte er letztendlich zu. Sie schaute ihn einen Moment lang fragend an. „Na, wird’s bald!“, drängte er.

Endlich, dachte sie. Der Brief hatte sie gestört. Nicht nur als Ding, das nutzlos auf dem Tisch herumlag, sondern auch als Hürde, die Severus bisher nicht zu nehmen wagte. Alles, was seinen Vater betraf, war noch immer eine heikle Angelegenheit. Tobias oder Eileen Snape machten selten den Inhalt eines Gesprächs aus, obwohl es von Hermines Seite aus nicht an Fragen mangelte.

Der Brief, der jahrelang in einer Eulerei als unzustellbar zwischengelagert wurde, war schnell geöffnet und gelesen. Sie selbst konnte die dort gegebene Information nüchtern betrachten, weil sie Severus’ Vater nicht persönlich kannte.

„Sehr geehrter Mr. Snape,

aufgrund der Schließung des Pflegeheims „Paulinehaus am Quell“ möchten wir Sie davon in Kenntnis setzen, dass Ihr Vater, Tobias Snape, in die Einrichtung „Dii Penates“ umziehen wird. Die Kosten für den Aufenthalt werden nicht mehr von der National Insurance übernommen.

Für weitere Informationen wenden Sie sich bitte an die unten genannte Adresse von „Dii Penates“.

Mit freundlichen Grüßen,
J. Holcomb
- Heimleiterin - “

Hermine war sich nicht bewusst darüber, den Brief laut gelesen zu haben. Erst Severus’ Stimme machte sie darauf aufmerksam.

„Ich habe nie eine Rechnung von denen erhalten!“, sagte er irritiert. „Sie werden ihn doch nicht auf die Straße gesetzt haben?“ Er riss ihr den Brief aus der Hand und überflog ihn selbst. „Warum haben die nie wieder geschrieben?“
„Vielleicht haben sie und der Brief ist diesmal wirklich im Krieg verschütt gegangen. Was mich nur wundert: Warum ist er nach Dii Penates gekommen?“
„Haben Sie doch geschrieben. Das Heim wurde geschlossen und die Bewohner umgesiedelt.“
„Ja, das habe ich gelesen, aber mit Sicherheit sind nicht alle dorthin verlegt worden. Das ist nämlich eine Einrichtung für Betreutes Wohnen.“
„Dann heißt das“, kombinierte er vorsichtig, „er hat sich erholt und benötigt keine Rundumpflege mehr.“
„Mmmh“, stimmte Hermine summend zu. „Das heißt aber auch, dass das Zaubereiministerium für die Kosten der Unterkunft aufkommt. Dii Penates ist nämlich eine Einrichtung der Magischen Welt.“
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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227 Wie am Schnürchen




„Wir brauchen eigene Posteulen!“, zeterte Severus vorwurfsvoll, als hätte er das von Anfang an gepredigt, was nicht der Fall war. „Weißt du, was das kostet, ständig die von der Post zu benutzen?“

Die Rechnung hielt er in der Hand, betrachtete sie nochmals und legte sie auf den Küchentisch. Würden sie weitere dreimal Tagespost verschicken, wäre bereits ein Betrag zusammengekommen, von dem sie sich selbst eine Eule kaufen könnten. Hermine war gerade dabei, die einkommenden Eulen von ihren Briefen zu befreien. Dazu hatte sie das Küchenfenster weit geöffnet. Auf der Arbeitsfläche warteten bereits fünf Vögel. Severus fand es unhygienisch, aber anders war es momentan nicht zu bewerkstelligen. Kaum flog eine davon, kam die nächste. Es waren unzählige.

„Du hast mir doch neulich vorgerechnet, dass wir es uns leisten können“, sagte Hermine mit unschuldigem Gesichtsausdruck. Ihre Lippen kräuselten sich. Ein Zeichen dafür, dass sie ihn neckte.

Severus trat an Hermine heran und kümmerte sich um die wartenden Eulen, die ihre Briefe loswerden wollten. Mit seinen Fingern fummelte er vorsichtig an dem kleinen Beinchen des Federviehs herum, um das Band zu lösen.

„Wir können von Glück reden, dass momentan noch Ferien sind und die Kunden uns nicht das Geschäft einrennen“, murmelte er.
„Sieh mal!“, sagte sie von seinen Worten unbeirrt. Hermine hielt einen Brief in die Höhe. „Von Remus und Tonks. Die Einladung zur Hochzeit.“
„Ich versteh den Mann nicht.“ Ein Kopfschütteln sollte seine Aussage untermauern. „Wie kann er zwei Tage nach Vollmond heiraten? Ihm werden noch alle Knochen wehtun.“
„Tonks und er möchten eben …“
„Ja, ja, ich weiß. Sie gehen als das erste Paar in die Geschichte ein, das heiraten darf, obwohl einer von ihnen ein Werwolf ist.“ Den erschöpften Vögeln bröselte er gelangweilt etwas Brot auf einen Unterteller. „Was für eine Ehre.“
Hermine las derweil die Einladung, bevor sie sie mit eigenen Worten wiedergab: „Am 1. September, abends um neun Uhr in Hogwarts, Große Halle. Ich glaube, das kann ich mir merken.“
„Was denn? Wurde ein Mitarbeiter vom Ministerium zu einem Außendienst genötigt?“
„Ich weiß nicht, ob die so spät noch arbeiten.“ Ihre Stirn schlug Falten, als sie nachdachte.
„Du siehst alt aus, wenn du das machst.“
Ihr Kopf schnellte herum. „Wie bitte?“
„Wenn du so machst?“ Er selbst runzelte die Stirn und hoffte, damit seine Anmerkung gut sichtbar zu demonstrieren.
„Mach ich so? Ist mir nie aufgefallen.“ Erneut widmete sie sich den Eulen. „Hat Remus nicht mal gesagt, er will im kleinen Rahmen feiern? Eine Trauung im engsten Kreis und danach die Feier?“
„Dann lassen sie sich offenbar doch in Hogwarts trauen. Vielleicht sogar durch den Minister höchst persönlich. Nur so wäre es erklärbar, dass zu der späten Stunde noch einer von denen arbeitet.“
Als Hermine den nächsten Brief vom Eulenbein entfernt hatte, stutzte sie, bevor sie die Eule fragte: „Die ganze Strecke bist du aber nicht geflogen, oder?“
„Schuhu!“, machte die Eule.
Hermine betrachtete die Vorderseite des Briefes, der aus Japan stammte. „Eine Briefmarke. Takeda ist schlau. Er hat erkannt, dass die Muggelpost schneller ist als die Eulen.“
Mit einem Deut auf den Vogel sagte er: „Die Eule wäre heute noch nicht hier, wäre sie geflogen. Die Entfernung zwischen Dublin und Tokyo schätze ich auf fast 10.000 Kilometer.“

Eine Eule mit einem strahlend weißen, herzförmigen Gesicht und augenscheinlich ohne Ohren landete geräuschvoll auf dem Fenstersims. Sie drängte sich an allen anderen Vögeln vorbei. An ihrem Bein schleifte sie eine schwere Briefsendung hinter sich her. Die anderen Eulen ließen den Drängler gewähren. Jede von ihnen wusste, wie es sich mit so einer Last anfühlte.

„Ah!“ Severus erleichterte die Eule, die gleich darauf zum Teller hüpfte. „Der Katalog ist gekommen.“
„Was denn für einer?“
„Vom Eulenzüchter. Ich wollte mich erkundigen.“ Anstatt ihr weiterhin bei der Post zu helfen, öffnete er die Sendung und blätterte sich durch Hochglanzfotos. „Hast du eine bestimmte Eule im Auge?“, wollte er wissen. Dabei hatte sie sich noch nie Gedanken über Vor- und Nachteile verschiedener Rassen gemacht. Weil sie den Kopf schüttelte, zeigte er auf die Eule mit dem herzförmigen Gesicht – nicht die im Katalog, sondern die, die sich gerade für den Rückweg stärkte. „Normale Schleiereulen sind in der Regel zwanzig Kilometer pro Stunde schnell. Die trainierten Posteulen schaffen sogar das Doppelte, je nach magischem Kraftfutter.“
Hermine deutete auf eine dunkelbraune Eule mit flauschig wirkenden Ohren. „Und die da? Ich meine die, die dich beim ‚Bösester Blick-Wettbewerb‘ geschlagen hat.“
Severus hob eine Augenbraue und tat so, als wäre er beleidigt, bevor er erörterte: „Mein Favorit: die Waldohreule. Normale Fluggeschwindigkeit liegt bei dreißig Kilometer pro Stunde. Auch diese Angabe darf man bei Posteulen verdoppeln.“ Er musterte die Eule. „Sie sind nicht nur schnell, sie sind für ihre Größe auch recht schmal.“ Vorsichtig befühlte Severus einen der Flügel, den die Eule daraufhin ohne zu Murren streckte und zur Schau stellte. „Bei der hier muss es sich allerdings um ein Weibchen handeln. Die sind in der Regel etwas beleibter.“

Mit einem Male schnappte die Eule zu. Gerade noch rechtzeitig zog Severus seine Hand weg, damit der scharfe Schnabel ihn nicht verletzen würde.

„Severus, Severus.“ Hermine schnalzte mit der Zunge und schüttelte den Kopf. „Man macht keine Bemerkungen über das Gewicht einer Dame, auch wenn es sich dabei lediglich um eine Eulendame handelt.“ Ohne etwas befürchten zu müssen tätschelte Hermine die gekränkte Waldohreule, die sich das sogar gefallen ließ.
„Frauen“, murmelte Severus abschätzig. „Ich wäre sowieso an einem Männchen interessiert.“
„Das klingt ja …“
„Für kleine Päckchen“, unterbrach Severus, „würde ich Zwergohreulen nehmen. Mit ihren vierzig Kilometer pro Stunde – in magischen Fall durchaus über sechzig – können wir sehr prompt liefern. Nachteil ist, dass sie nicht schwer tragen können. Das würde sie rapide in ihrem Tempo bremsen.“
„Ich bin für die Schleiereule“, sagte Hermine plötzlich.
„Warum?“
„Weil sie hübsch ist.“
„Ach, wir sind jetzt an äußerlichen Reizen interessiert, ja?“ Sie wusste nicht, warum, aber er nahm diesen Kommentar persönlich. „Dann kauf dir doch eine hübsche Eule“, stichelte er, „die nicht nur langsam ist, sondern auch …“
„Stopp!“ Zwei Eulen erschraken, als Hermine zusätzlich beide Hände in die Höhe riss. „Ich werde sofort morgen früh zu Eeylops gehen und die hässlichste Eule kaufen, die ich finden kann.“
„Das Aussehen ist doch völlig nebensächlich!“, meckerte Severus. Als die nächsten beiden Eulen ans offene Fenster geflogen kamen, war er nicht mehr zu bremsen. „Das geht so nicht weiter! Das bisschen Freizeit möchte ich nicht damit vergeuden, die Beine von zweiundzwanzig verschiedenen Posteulenarten zu befühlen.“
„Wir können doch ein Fach beim Eulenpostamt einrichten. Dann landen alle Eulen da und wir lassen uns die Post liefern.“
„Was wieder extra kostet“, murrte er.
„Ich könnte sie täglich abholen.“

Ein Seufzer entwich Severus. Mit Daumen und Zeigefinger massierte er sein Nasenbein, schloss dabei die Augen.

„Kopfschmerzen?“, fragte sie.
„Nein, ich überlege, wie ich dir beibringen soll, dass ich dir jetzt bei der Post nicht weiter helfen kann.“ Weil sie ihm einen fragenden Blick schenkte, erklärte er: „Ich bin mit Draco verabredet.“
„Oh!“, machte sie erstaunt. „Dann grüß ihn schön.“
Er stutzte. „Du hast nichts dagegen, hier alleine weiterzumachen?“
„Nein, warum auch? Geh ruhig.“

Es lag auf der Hand, dachte sie, dass Severus sich heute darüber informieren wollte, ob Draco auch Zaubertränkemeister in seinem Angebot hätte. Es blieb für einen Termin nur die Zeit während der Mittagspause.

Ohne Umhang flohte Severus direkt zu den Malfoys. Freien Zutritt zum Haus hatte er seit vielen Jahren.

Severus stieg im grünen Salon aus dem Kamin. Sein Blick fiel sofort auf Lucius, der die Tageszeitung zur Seite legte und mit einem ehrlichen Lächeln – das erkannte man daran, dass sich auch an den Augen Lachfältchen bildeten – sich ihm näherte.

„Mein alter Freund!“
„Lucius“, ein Handschlag folgte, „wie war die Reise?“
„Einfach nur fantastisch! Hast du die Ansichtskarte erhalten?“
Severus nickte. „Und vielen Dank dafür.“
„Ach, nicht der Rede wert. Narzissa hielt es für eine gute Idee, allen zu schreiben, denen wir diesen Urlaub zu danken haben.“ Lucius schlug Severus auf die Schulter und ließ die Hand dort verweilen. „Bist du gekommen, um ein wenig zu plaudern? Ich kann uns einen Kaffee machen.“
Es klang beinahe stolz, bemerkte Severus, denn Lucius hatte niemals zuvor selbst einen Finger in der Küche krumm gemacht. „Leider muss ich ausschlagen. Ich habe einen Termin bei Draco in genau …“ Severus blicket auf die Uhr an der Wand. „Jetzt!“
„Schade“, entwich es Lucius. Geknickt blickte er zur Uhr, dann wieder, diesmal mit aufgesetztem Lächeln, zu Severus. „Vielleicht danach?“
„Tut mir leid, da muss ich arbeiten.“
„Kann deine Verlobte nicht eine Stunde ohne dich auskommen?“
„Sie schon“, beteuerte Severus, „aber nicht die Kunden, die ihre Tränke wollen. Genau deshalb bin ich hier, Lucius. Ich suche weitere Tränkemeister.“ In diesem Moment wollte Severus seinen Freund nochmals auf eine wichtige Sache hinweisen, die sie am Abend der Geburtstagsfeier besprochen hatten. „Wärst du in die Geschäfte involviert, könnten wir beide das Gespräch führen.“
Lucius’ Mundwinkel zuckten, aber er schluckte die kleine Stichelei hinunter als wäre sie wohlschmeckend. „Wer weiß …?“
„Ich muss jetzt wirklich zu Draco.“
„Ich halte dich nicht auf.“

Im ersten Stock befand sich das Büro von Draco. Er ging gerade seine Karteikarten durch, um zu sehen, ob er eine Köchin, eine Reinigungskraft und zwei Hexen mit pädagogischen Fähigkeiten finden würde, die Harrys Ansprüchen genügten, als es klopfte. Nach der Aufforderung zum Eintreten stand er auf und begrüßte seinen Patenonkel wesentlich freundlicher als jeden anderen Kunden.

„Setz dich doch bitte. Möchtest du einen Kaffee?“ Severus nahm dankend an. „Wie kann ich dir helfen, Onkel?“ Die Anrede war Draco rausgerutscht. Die vertraute Umgebung des eigenen Zuhauses war daran schuld, denn hier war Severus für ihn immer mehr gewesen als nur ein Lehrer. Der schien sich daran jedoch nicht zu stören, bemerkte Draco erleichtert.
Severus deutete auf das Kästchen mit den Karteikarten. „Hast du auch Zaubertränkemeister im Angebot?“
„Ich glaube, einen Herrn habe ich.“
„Nur einen?“ Enttäuscht seufzte Severus. Er hatte damit gerechnet, dass er aus vielen die beiden Geeignetsten auswählen konnte.
„Ich mach das noch nicht lange“, rechtfertigte sich Draco, während er die Karteikarte durchsuchte. „Außerdem habe ich neulich erst einen ans Mungos vermittelt. Die Kunden kommen und gehen. Vor drei Wochen hatte ich fünf Tränkemeister auf einmal.“ Severus seufzte nochmals. „Keine Sorge, ich werde alle weiteren für dich zurückhalten. Ah!“ Die Karte war gefunden. „Hier ist er.“ Dracos Stirn schlug Falten. „Er ist schwer vermittelbar.“
„Warum? Ist er unfähig?“
„Nein, er hat sogar ganz ausgezeichnete Referenzen.“
„Dann will ich ein Gespräch mit ihm.“
„Er ist ein Kriegsopfer.“
Severus zuckte mit den Schultern. „Sind wir das nicht alle? Was soll ich tun? Einen Beitrag spenden?“
„Na gut“, Dracos Blick wurde hart, „wenn dir das egal ist?“
Es war Severus egal. „Wie läuft das ab? Muss ich ihn kontaktieren?“
„Du kannst mir gern einen Termin nennen. Ich sorge dafür, dass der Herr pünktlich bei dir eintrifft.“
„Bestens!“ Severus musste nicht lange überlegen. „Geht es auch sonntags?“
„Sicher.“
„Dann am kommenden Sonntag um acht Uhr.“
„Abends?“
Severus verzog den Mund. „Morgens!“
Draco notierte sich etwas auf einem Zettel. „Was bietet ihr? Vollbeschäftigung oder Teilzeit?“
„Voll.“
Wieder schrieb Draco etwas auf das Stück Papier. „Vierzig Stunden die Woche?“ Severus nickte. „Wie sieht es mit Überstunden aus?“
„Bekommt er extra bezahlt, wenn welche anstehen – und die werden anstehen. Freizeitausgleich ist derzeit nicht möglich.“
„Wie lang ist die Probezeit?“
„Ein halbes Jahr.“
„Mit welchem Gehalt könnte er rechnen?“

Zaubertränkemeister waren nicht billig. In Hogwarts hatte Severus lediglich das Gehalt eines Lehrers erhalten, das aufgrund seiner langen Beschäftigungszeit stetig erhöht wurde, aber in der freien Wirtschaft wäre er mittlerweile reich geworden. Andere Tränkemeister wollte Severus nicht benachteiligen, aber auch nicht sofort als gleichwertig betrachten. Die mussten sich erst beweisen.

„In der Probezeit bekommt er 330 Galleonen monatlich.“ Wenn die Währung stabil bleiben würde, wären das umgerechnet ungefähr 1.500 Pfund oder 1.800 Euro. Die magische Regierung belastete die Bürger zum Glück nur mit einer geringen Steuer. Bevor Draco die nächste Frage stellen konnte, stellte Severus klar: „Und er soll nicht anfangen zu feilschen. Nach der Probezeit sind vorerst 405 Galleonen vorgesehen.“
„Du hast das sehr genau berechnet.“
„Selbstverständlich! Ich komme doch nicht unvorbereitet zu einem Gespräch mit einem Malfoy, wenn es sich um Geld handelt.“ Damit brachte er Draco zum Grinsen. „Ich erwarte außerdem, dass er alle wichtigen Papiere mitbringt: Tränkemeisterlizenz, Gesundheitsnachweis, Lebenslauf, Zeugnisse, Referenzen und dergleichen.“
„Ihr braucht ihn nur fürs Labor, oder? Nur zum Brauen oder habt ihr vor, ihn im Verkaufsraum einzusetzen?“
„Nein, nur im Labor.“
„Gut, denn er hält sich für die Arbeit mit Publikumsverkehr nicht geeignet.“
Severus wurde stutzig. „Was ist das für ein Typ? Jemand, der streng nach Vorschrift arbeitet und nur das tut, zu dem er laut Vertrag verpflichtet ist?“
Draco schüttelte den Kopf. „Wenn ihr ihn bittet, wird er auch im Verkaufsraum aushelfen.“
„Gut, benötigst du sonst noch irgendwelche Informationen von mir?“, fragte Severus.
„Nein, ich werde den Termin weitergeben und er wird bei dir vorstellig werden.“ Den Notizzettel heftete Draco an die Karteikarte. „Möchtest du eventuell noch etwas wissen? Du hast nicht einmal gefragt, wie alt er ist oder ob er …“
„Was interessiert mich das? Solange er nicht tattrig ist und alles fallen lässt, was er in die Finger bekommt, spricht doch nichts gegen ihn.“
„Da hast du Recht. Ich gebe dir trotzdem seinen Namen. Das ist das Mindeste.“ Nicht einmal den hatte Severus erfragt. „Der Mann heißt Ignatius Lyon. Er wohnt etwas nördlich von London in St Albans.“

Letzteres interessierte Severus bereits nicht mehr. Er wollte den Mann im Labor beschäftigen und keine Freundschaft mit ihm schließen.

„Ich erwarte ihn am Sonntag um acht. Wenn andere Tränkemeister an dich herantreten sollten …“
„Dann sage ich dir sofort Bescheid.“
„Sag, was verlangst du überhaupt für das Gespräch und diesen Dienst?“ Severus war zwar Dracos Patenonkel, aber dennoch rechnete er nicht damit, etwas geschenkt zu bekommen.
„Von dir zwanzig Galleonen bei erfolgreicher Vermittlung und von Mr. Lyon ein Jahr lang fünf Prozent von dem, was ihr ihm monatlich zahlt. Sollte kein Vertrag zustande kommen, bekommst du zehn Galleonen zurück. Mr. Lyon zahlt mir ab der nächsten erfolgreichen Vermittlung ein Jahr lang sechs Prozent.“
„Warum plötzlich sechs?“
„Ich kann niemanden umsonst verwalten, Severus. Mit jeder versuchten Kundenvermittlung gibt es eine Steigerung von je ein Prozent, die erst beim Zustandekommen eines Arbeitsvertrages mit dem dritten Gehalt gezahlt werden muss.“
„Wenn er jetzt schon sechs Prozent an dich abtreten müsste, wenn wir ihn einstellen, heißt das, die Vermittlung war schon fünfmal erfolglos?“
„Ich sagte doch, dass er schwer vermittelbar ist“, wiederholte Draco.

Zwar wurde Severus’ Neugierde geweckt, aber auch seine Skepsis. Er unterließ es, nach einem Grund zu fragen. Das würde Draco denken lassen, er hätte sein Desinteresse an allen unwichtigen Informationen über den Bewerber verloren.

„Ich hoffe …“ Draco verbesserte sich. „Nein, ich weiß, dass du ihn nehmen wirst.“
Severus runzelte die Stirn. „Warum?“
„Weil du nicht oberflächlich bist.“ Draco lächelte. „Und Hermine auch nicht.“

Das Gespräch benötigte insgesamt nicht so viel Zeit, wie Severus es befürchtet hatte. Vielleicht lag es daran, dass er bei gewissen Dingen bezüglich eines Bewerbers anspruchslos war. Fähigkeiten hatten nichts mit dem Alter zu tun, daher war unter anderem dieser Punkt für Severus uninteressant.

Von Draco wurde er zur Tür begleitet.

„Ach, Severus, du hast sicherlich auch eine Einladung zu der Hochzeit bekommen, nehme ich an?“
„Remus und Tonks?“ Draco nickte, so dass Severus bestätigte. „Ja, habe ich. Ihr werdet kommen?“
„Susan und ich auf jeden Fall. Mutter möchte auch, aber Vater hat Bedenken wegen Dumbledore. In einer so kleinen Runde könnte es passieren, dass er von dem Direktor in ein Gespräch verwickelt wird. Harrys Hochzeit war da etwas umfangreicher, was die Gästeliste betraf. Da konnte man gewissen Leuten besser aus dem Weg gehen.“
„Dein Vater wird kommen“, versicherte Severus.

Mit diesen Worten verließ er das Büro, um den grünen Salon aufzusuchen. Hier traf er abermals auf Lucius, der diesmal in Gesellschaft seines Enkels war. Beide Hände des Kindes waren in gelber Knetmasse verschwunden.

Lucius schaute auf. „Ah, das Gespräch ist vorüber? Wie lief es?“
„Es hätte besser laufen können. Nur ein einziger Tränkemeister fand sich in den Akten.“
„Ach, das wird schon noch. Draco schaltet regelmäßig Annoncen in den gängigen Tageszeitungen. Immer mehr Leute melden sich bei ihm.“

Nicht nur wegen der Arbeitsvermittlung. Draco gab Kredite an Menschen, die von der Bank abgewiesen wurden. Eine Geschäftsidee, die er von seinem Vater übernommen hatte, nur ohne die fragwürdigen Methoden zum Geldeintreiben.

An der Haustür klingelte es. Mittlerweile hatte sich Lucius daran gewöhnt, selbst die Tür öffnen zu müssen.

„Wirst du zusammen mit Narzissa zur Hochzeit gehen?“, fragte Severus, als er Lucius in die Halle folgte.
„Es wird mir nichts anderes übrig bleiben“, erwiderte der Hausherr, der dabei viel weniger gequält schien als sonst, wenn er glaubte, sich den familiären Zwängen unterwerfen zu müssen. Lucius hatte die Tür erreicht und öffnete sie. Vor ihm stand niemand anderes als … „Mr. Potter, guten Tag. Treten Sie ein.“ Höflich war Lucius, doch den Worten fehlte es an aufrichtiger Freundlichkeit.
„Guten Tag, Mr. Malfoy.“ Harrys Blick fiel auf die andere Person in der Halle. „Severus!“ Eine grüßende Geste folgte, die Severus mit einem Kopfnicken erwiderte.
„Sagen Sie, Mr. Potter, warum nutzen Sie nicht den Kamin? Ich bin mir sicher, dass mein Sohn Ihnen dieses Angebot gemacht hat.“
„Wenn es Sie nicht stören sollte, werde ich künftig gern den Kamin benutzen.“
„Danke, das erspart mir nämlich den Weg zur Tür.“ Lucius deutete die Treppe hinauf. „Sie wissen, wo sich das Büro befindet?“
„Ja, vielen Dank. Ich finde allein hin.“

In der Winkelgasse wurden ebenfalls Kunden empfangen, die Hilfe verschiedenster Art benötigten.

Bei Weasleys Zauberhafte Zauberscherze fragte ein Jugendlicher beispielsweise, ob man die Zutaten der Nasch-und-Schwänz-Leckereien auch in einem Kuchen verarbeiten könnte. Offenbar hatte der junge Mann mit einem baldigen Geburtstagskind noch eine Rechnung offen.

In der Granger Apotheke war man schon dabei, die Vorbestellungen für den Wolfsbanntrank entgegenzunehmen. Percy war so frei, die veränderte Variante mit Vanillegeschmack mit einem offiziellen Stempel zu versehen, denn nur so war es Hermine und Severus möglich, Lizenzen für ihr Patent an andere Apotheken zu vergeben. Zwar könnten sie nicht mit einem Gewinn rechnen, dafür aber mit einer Entlastung, weil die Werwölfe sich wieder auf die anderen Tränkemeister verteilen würden.

Einiges los war auch im Büro der IFAH – der Initiative für die Forderung eines Anti-Diskriminierungsgesetzes für magische und nichtmagische Halbwesen. Die Abkürzung passte viel besser auf den Briefkopf, wie Sirius es bei der Begutachtung der gerade gelieferten Papierbögen mit einem selbstzufriedenen Lächeln feststellte. Es war seine Idee gewesen. Sid meinte, solange eine Abkürzung nicht wie eine Krankheit klingen würde, hätte er nichts dagegen.

Als es klingelte, warf Sirius das blütenweiße Stück Papier mit dem neuen Aufdruck zurück in die Kiste und rief: „Sie sind da!“ Wo immer sich Sid auch befinden sollte, das musste er gehört haben. Sirius öffnete dem Gast die Tür. Der Mann war pünktlich zum Termin erschienen. „Mr. Fogg, treten Sie herein.“ Sein Blick fiel auf die Begleitung. Schon einige Male hatte der Kunde seinen Bekannten mitgebracht. „Mr. Stringer.“
„Mr. Black, schön Sie zu sehen“, sagte Fogg mit zittriger Stimme. Er war aufgeregt.
Sirius zeigte zur Tür. „Kommen Sie ins Büro.“ Das Büro war nichts anderes als ein gemütliches Wohnzimmer mit Sitzgruppe, Kaffeetisch und Schreibtisch. „Mr. Duvall sollte gleich …“
„Ich bin schon da“, meldete sich Sid zu Wort. In seinen Händen hielt er eine Akte und unzählige Papiere, die er durchblätterte.
Nachdem man Platz genommen hatte, erkundigte sich Fogg: „Hat alles geklappt?“ In seiner Stimme schwang die Angst mit, etwas wäre schiefgelaufen.

Sids ordentliches Wesen und seine Vorliebe für schwarze Anzüge, wie die feinen Herren in der Muggelwelt sie trugen, kombiniert mit edlen Kleidungsstücken aus der Zaubererwelt, machten ihn als Zauberer bereits zu einem Unikat. Es war jedoch seine Liebe zu gehobener Sprache, zu Spitzfindigkeiten und den gesetzlichen Details, die er gern für seine Vorteile drehte und wendete, die ihn für die IFAH unentbehrlich machten. Einfachen Leuten wie Stringer und Fogg konnte er mit einem einfachen Blick imponieren. Ehrfürchtig betrachteten die Gäste ihn, als er Platz nahm und sich ein bestimmtes Blatt vor Augen hielt.

„Keine Sorge, Mr. Fogg. Alles ging so vonstatten, wie ich es vorgesehen habe.“ Er blickte auf. „Der von mir beim Ministerium eingereichte Antrag auf die Stilllegung der Verliese 101, 103 und 112 zur Überprüfung des rechtmäßigen Eigentümers sowie die vorübergehende Unterlassung auf Veräußerung sämtlicher …“
Sirius unterbrach: „Lass mich mal bitte.“ Er wandte sich Fogg zu. „Was mein Kollege zu sagen versucht“, Sid warf ihm einen bösen Blick zu, „ist Folgendes: Ihre Frau und Schwiegereltern kommen zurzeit weder an das Geld in den Verliesen noch dürfen Sie Eigentum veräußern, bis geklärt ist, wer der Eigentümer ist. Diese Anträge benötigen in der Regel …“
Hilfe suchend schaute er zu Sid, der an dieser Stelle übernahm: „Solche Anträge werden beim Ministerium innerhalb von vier bis acht Wochen bearbeitet, nie früher. Das Positive ist, dass Sie Ihren Familienangehörigen frühzeitig die Möglichkeit genommen haben, Geld oder Gegenstände vor Ihnen in Sicherheit zu bringen.“
Sirius nickte. „Interessieren sich Ihre Verwandten für Gesetze?“
„Nein, sie waren niemals in irgendeiner Weise politisch interessiert. Gesetze finden sie langweilig.“
„Gut, dann waren sie im Vorfeld sehr wahrscheinlich nicht darüber informiert, was ihnen blühen könnte.“
Fogg schüttelte den Kopf. „Ich glaube vielmehr, sie haben nicht einen Gedanken daran verschwendet, ich könnte mir mein Zeug wiederholen wollen.“
„Und genau das“, warf Sid ein, „war das Überraschungsmoment.“ Auf einem der Papiere las er eine Notiz ab, die er sogleich weitergab. „In just diesem Moment sind Ministeriumsangestellte in Ihrem Haus, die mit entsprechenden Zaubern dafür sorgen, dass kein Gegenstand das Grundstück verlassen kann. Außerdem werden Ihre Verwandten rechtlich aufgeklärt.“
Fogg spielte mit seinen zittrigen Fingern, strich sich wiederholt über einen Daumennagel. „Können sie Einspruch erheben?“, fragte er unsicher nach. Seine Schwiegereltern würden ihm nichts kampflos überlassen.
Sid hob und senkte die Schultern. „Sie können und dürfen, aber Ihr Antrag hat Vorrang. Die Sperre wird vor der Prüfung nicht aufgehoben. Da Ihr Antrag erst nach Inkrafttreten der neuen Gesetze bearbeitet wird, müssen Sie sich absolut keine Gedanken machen. Es wird zu Ihren Gunsten entschieden werden, Mr. Fogg. Die Gesetze sind in dieser Hinsicht unmissverständlich. Eine Enteignung durch Angehörige ist nicht rechtens. Sie sind nur ein Werwolf und nicht jemand, der seinen Verstand eingebüßt hat.“
Stringer lachte. „Na, manchmal bin ich mir bei ihm nicht so sicher.“
Sein Freund war über die Anmerkung erbost. „Und dich habe dich als seelische Unterstützung mitgebracht! Vielen Dank auch.“
„Das war ein Scherz“, versicherte Stringer. „Nimm es doch locker, verflucht nochmal.“ Stringer wandte sich an Sirius und Sid. „Wann kann man mit einer endgültigen Entscheidung vom Ministerium rechnen?“
Sid wägte ab. „Ich schätze, spätestens November. Die Fälle werden nach Eingangsdatum bearbeitet. Mr. Foggs Anliegen wird sicherlich den ersten Fall dieser Art darstellen und somit als Erstes bearbeitet werden. Wenn das erst einmal durch die Presse geht, wird sich das Ministerium vor Mehrarbeit nicht mehr retten können.“
„Ja!“, stimmte Sirius mit ein. „Das wird eine Welle von Anträgen geben. Squibs, Werwölfe – alle, denen Unrecht widerfahren ist, werden ihren Teil einfordern.“
„Das …“ Fogg ließ sich das durch den Kopf gehen. „Das wird aber eine ganze Menge sein.“ Allein wenn man all die Squibs betrachtete, die von ihren Familien nur deshalb verstoßen wurden, weil sie nicht zaubern konnten.
„Korrekt“, bestätigte Sid. „Deshalb suchen wir aufgrund des in den nächsten Monaten zu erwartenden Andrangs noch einige Kräfte, die uns bei der Arbeit unterstützen.“
„Mmmh“, machte Fogg und kratzte sich am Kinn. „Was müsste man denn alles können?“
Die Erklärung hierfür übernahm ebenfalls Sid. „Man müsste sich in die neuen Gesetze einlesen, müsste die ganzen Formulare kennen und den Hilfe Suchenden dabei zur Hand gehen, diese auszufüllen. Manchmal müssten die Kunden ins Ministerium begleitet werden. Sind Sie interessiert?“
„Sicher! Momentan habe ich einen undankbaren Teilzeitjob bei einem Bäcker.“
„Sie backen?“, fragte Sirius nach.
„Nein, ich mache dort sauber.“

Das Reinigen in all seinen Arten, ob man nun die Fenster putzen oder den Boden wischen musste, zählte zu den Dingen, die regelmäßig erledigt werden wollten. Vielleicht war es deshalb eine Aufgabe, die kaum jemand gern, geschweige denn freiwillig tat. Das war ein Grund, warum einige diese Hausarbeit bei anderen erledigten und sie sich bezahlen ließen. So jemanden suchte Lucius noch immer.

Hermine gehörte eher zu denen, die die Zähne zusammenbiss und sich der Arbeit selbst widmete. Haushaltssprüche und Reinigungszauber waren im Labor tabu. Die Überreste eines am Boden zertretenen, angetrockneten Flubberwurms waren mehr als nur beschwerlich zu entfernen. Der Schleim der bräunlichen Würmer eignete sich zwar hervorragend zum Andicken von Zaubertränken, aber ohne andere Flüssigkeiten wurde er hart wie Stein. Hermine schrubbte seit zehn Minuten die gleiche Stelle.

„Geh ab, du blödes …!“, drohte sie dem zermalmten Getier, das sich davon nicht mehr einschüchtern ließ. Was könnte Schlimmeres kommen als der Tod? Und den hatte der Flubberwurm bereits hinter sich. Hermine hörte plötzlich Schritte, dann die Tür.
„Hermine?“
„Hier, unterm Tisch.“ Als sie hervorkroch und sich streckte, spürte sie jeden einzelnen Wirbel.
„Sonntag früh kommt ein Mr. Lyon“, informierte Severus sie.
„Ein Bewerber?“
„Ganz recht.“ Mit wachem Blick schaute sich Severus im Labor um. „Ist noch viel zu erledigen?“
„Nein, nur noch der Boden. Daphne hat geholfen, bevor sie Mittagessen gegangen ist.“
„Kann ich noch helfen?“ Er drückte sich selbst die Daumen, dass sie verneinen würde.
„Es reicht, wenn ich den Muskelkater bekomme.“ Sie wollte gerade wieder unter den Tisch krabbeln, da fiel ihr etwas ein. „Ach, du kannst die Post durchsehen. Da sind wieder Anfragen zum Farbtrank gekommen und die erste Apotheke zeigt bereits Interesse an dem Wolfsbanntrank mit Vanillegeschmack.“
„Na bitte! Ich hoffe, das spricht sich schnell herum.“

Wie Hermine es vorgeschlagen hatte, kümmerte sich Severus um die Post. Ein Brief vom Ministerium war dabei. Das kürzlich erst eingereichte Patent für seinen Bluttrank – natürlich nur die theoretische Fassung – war bestätigt. Man wies ihn ausdrücklich darauf hin, dass er ab dem 1. September dank der neuen Gesetze durchaus aktiv daran forschen dürfte. Wenn die wüssten, dachte er mit einem Grinsen im Gesicht. Er wollte sich lediglich die Idee sichern. Seine theoretische Arbeit war so ausgefeilt, dass es die Ministeriumsangestellten nicht wundern sollte, würde er ihnen schon im Oktober mit einem perfekten Trank zur Reduzierung des Blutdurstes bei Vampiren seine Aufwartung machen.

Ideen bekamen viele Menschen. Geistesblitze kamen einem nicht selten bei wenig anspruchsvollen Tätigkeiten wie beispielsweise der Entleerung des Darms, und einige Ideen waren genauso wenig brillant wie dessen Inhalt, aber selbst so etwas konnten kluge Köpfe zu Gold machen.

Bleiben wir aber bei den interessanten Einfällen. Ein purer Gedanke ersetzte nicht die Beschwerlichkeiten harter Arbeit. Um ihn zu verwirklichen, durfte man nie aufgeben. Vor Strapazen hatte Kingsley Shacklebolt noch nie Ausriss genommen. Sein erster Schritt war es gewesen, Geoffreys und dessen Sohn Joel in die Liste seiner Muggelfreunde aufzunehmen. Die Gefahr, die durch Vergissmich ausging, war auf diese Weise gebannt. Kingsleys Freundesliste war vom Minister persönlich abgesegnet worden. Der zweite Schritt war schon schwieriger gewesen, aber auch den hatte er ohne Mühe genommen. Mit genehmigtem Antrag auf die Nutzung eines der ministeriumseigenen Denkarien hatte Kingsleys seine eigenen Erinnerungen an die Nacht in Hogsmeade an Geoffreys weitergeben können, um dessen Lücken zu füllen. Treibende Kraft war dabei der Squib Dr. Fueller gewesen, in dessen Schränken sich ebenfalls die Patientenakten von Gregory Goyle, Eleanor Monaghan und seit kurzem auch Ginevra Molly Potter befanden. Dr. Fueller, der seit der Festnahme von Robert Hopkins eng mit dem Zaubereiministerium zusammenarbeitete und unter anderem Muggel betreute, die mit der Magischen Welt in Berührung gekommen waren, hatte Kingsley bei seiner Idee unterstützt. Nur so war es möglich, das Vertrauen von Geoffreys zurückzuerlangen – und das war wegen des dritten Punktes so wichtig.

Der letzte Schritt war oftmals auch der schwierigste. Kingsley hatte nur bedingt Einfluss darauf, dass seine Idee von einer Verbindungsperson zwischen den Geheimdiensten der Muggel und der Zaubererwelt tatsächlich an den Premierminister herangetragen werden würde. Wäre Arthur nicht auch ein guter Freund, wäre Kingsley an dieser Stelle gescheitert, doch der Zaubereiminister hatte ihn nicht enttäuscht. Bei einem der beinahe schon wöchentlichen Termine der beiden Minister schlug Arthur nicht nur die Idee vor, sondern auch gleich den ehemaligen MI5-Geheimdienstler Geoffreys, der für diese Rolle bestens geeignet wäre.

Es war gar nicht so lange her, da hatte Geoffreys ihm während eines Boxkampfes berichtet, dass das MI5 ihn zurückhaben wollte. Alle drei Schritte hatte Kingsley mit viel Geduld erfolgreich nehmen können. Da Dr. Fueller dem Muggel seine psychische Gesundheit bescheinigte, sollte nun die Eingewöhnungsphase an die Magie folgen.

Kingsley klingelte an der Tür von Geoffreys. Geöffnet wurde ihm von Joel, der ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter machte.

„Du kannst später mal mit ins Ministerium kommen“, sagte Kingsley, der zu ahnen schien, warum Joel missgestimmt war.
„Wann ist später?“
Aus dem Hintergrund hörte man Geoffreys Stimme sagen: „Lass ihn in Ruhe, Junge. Wenn er sagt, du kannst später mal mit, dann heißt das genau das: später.“
Joel schnaufte und ging von der Tür weg, damit Kingsley eintreten konnte. „Im September läuft Hellboy an! Was muss ich tun, wenn ich mit Harry mal ins Kino will?“, wollte der junge Muggel wissen. „Einen Antrag mit dreifachem Durchschlag ausfüllen und einreichen?“
Ganz Unrecht hatte Joel nicht, dachte Kingsley. „Willst du dich mit ihm treffen? Ich kann ihm …“
„Wie umständlich“, nuschelte Joel, bevor er mit betrübter Miene ins Wohnzimmer schlenderte.
Geoffreys zog sich sein Jackett über. „Bin sofort fertig. Muss ich irgendwas mitnehmen? Meinen Ausweis?“
„Nein, Sie bekommen sowieso einen von uns.“
„Ah“, machte Geoffreys erleuchtet, bevor er Kingsley mit kräftigem Handschlag und freundlichem Schulterklopfen persönlich grüßte. „Dann bin ich fertig.“ Er drehte seinen Kopf in Richtung Wohnzimmer. „Ich bin in etwa …“
„Geh doch endlich! Sonst schleiche ich euch hinterher.“
„Wir sollten wirklich gehen“, Geoffreys grinste, „sonst macht er die Drohung wahr.“

Ihr Weg führte sie ins Zentrum von London. Geoffreys dachte sich nichts dabei, als Kingsley eine Straße einschlug, die zu einer heruntergekommenen Gegend führte. Erst als Kingsley eine defekte Telefonzelle betrat, griff er in die Innentasche seines Jacketts und zückte sein mobiles Telefon.

„Hier“, bot er an.
Kingsley stutzte im ersten Moment, bevor ihm einleuchtete, was sein Freund meinte. „Ach, das ist eines dieser tragbaren Kommunikationsmittel.“
„Man nennt es auch Handy. Wen wollen Sie anrufen?“ Lässig klappte er die Muggeltechnik auf. „Soll ich für Sie wählen?“
„Nein, kommen Sie rein.“ Der breite Auror hielt dem ebenfalls mit Muskeln bepackten Geheimdienstler die Tür der Telefonzelle auf.
„Da passen wir doch nie im Leben gemeinsam rein.“

Mit Ach und Krach hatten sich die beiden breiten Herren in die defekte Telefonzelle gepresst.

„Die ist kaputt“, bemerkte Geoffreys ganz richtig.
„Sehen Sie zu.“

Kingsley nahm den Hörer in die Hand und tippte die Nummer 62443, ohne vorher Geld einzuwerfen. Den Hörer hielt er Geoffreys ans Ohr, der darin eine Frauenstimme vernahm, die für ihn recht seltsame Belehrungen von sich gab. Kaum war der Gesprächspartner verstummt, bewegte sich die Zelle.

„Keine Angst, jetzt geht es nach unten ins Ministerium“, erklärte Kingsley bedächtig.
„Nach unten? Das Gebäude liegt unterhalb der Stadt?“
„Sie werden es gleich sehen.“

Einige Meter lang sah man durch die Fensterscheiben lediglich Erde. Einen Augenblick später landete die Telefonzelle im gut besuchten Eingangsbereich des Zaubereiministeriums, und Kingsley öffnete die Tür.

Geoffreys kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Schon allein der Weg ins das Gebäude war seiner Meinung nach bemerkenswert. Wer würde auf so eine Idee kommen?

„Bleiben Sie dich bei mir, sonst verlaufen Sie sich noch und glauben Sie mir“, Kingsley lächelte milde, „selbst ich könnte mich hier noch verlaufen.“

Rechts und links von Geoffreys traten Hexen und Zauberer in oder aus Kamine. Andere erschienen aus dem Nichts, machten dabei ein knallendes Geräusch. Manche schauten ihn genauso verdutzt an wie er sie, was an der Kleidung liegen konnte.

„Folgen Sie mir. Ich mache Sie zunächst mit Minister Weasley bekannt. Danach erhalten Sie Ihre Karte. Die wird einige Extras haben, damit wir ohne Telefon Kontakt aufnehmen können.“

Geoffreys war hellauf begeistert. Was er heute sehen durfte, war ihm den Verlust einiger Erinnerungen durchaus wert.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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Rest von Kapitel 227

Im Büro des Ministers wurde Geoffreys herzlich empfangen.

„Ich bin Arthur Weasley. Freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen.“ Arthur schüttelte dem Muggel die Hand, zeigte danach auf dessen Kleidung. „Das steht Ihnen! Ich mag Muggelkleidung. Die ist so leger und trotzdem elegant.“

Arthur war aufgeregt, deswegen konnte er nicht aufhören zu reden. Geoffreys grüßte höflich zurück. Ihm blieb nichts anderes übrig als den Mund zu halten und sich einige Details anzuhören. Zum Reden kam er nicht. Er hörte zu, wie der Minister von der engen Zusammenarbeit zwischen Muggeln und Magiern schwärmte, die es so offenbar noch nie gegeben hatte. Erst jetzt wurde sich der Geheimdienstler darüber bewusst, dass er selbst etwas Besonderes darstellte und das machte ihn stolz.

„Mr. Geoffreys, ich denke, Sie werden sich hier gut einleben. Mr. Shacklebolt wird Sie sicherlich noch etwas herumführen.“
Kingsley nickte. „Wir besuchen jetzt Mrs. Malfoy. Sie ist die stellvertretende Leiterin der Abteilung für magische Strafverfolgung. Sie gibt Ihnen den speziellen Ausweis.“

Arthur führte die beiden zur Tür hinaus. Auf dem Flur erhaschte Geoffreys immer wieder einen Blick auf das, was die Angestellten mit ihren Zauberstäben anrichten konnten. Aber auch die fliegenden Memos weckten sein Interesse. Diese Welt war voller Wunder.

Weiter weg vom Trubel des Ministeriums, in seinem riesigen Haus – Dracos Haus – war Lucius hingegen der Ansicht, dass seine Welt von Langeweile bestimmt wurde.

Allein der Gedanke daran, dass Charles gerade ein Schläfchen hielt, machte ihn dösig. Nach einem Buch war Lucius nicht zumute. Noch viel weniger Interesse hatte er daran, den Garten zu pflegen, der es bitter nötig hätte. Seine Frau besuchte die Schwester, die Schwiegertochter war bei der Arbeit und Draco im Büro. Um nicht auf der Couch einzuschlafen, schlenderte Lucius durch das Haus. Mehrmals am Tag – und zwar immer, wenn er die Eingangshalle durchquerte – wurde er daran erinnert, was anders war. Der Marmorboden war weiß, nicht mehr schwarz mit den lavaartigen Streifen, die wie Risse in einer vulkanischen Landschaft aussahen. Der helle Boden war weniger beindruckend, schon gar nicht furchterregend. Er war anders. Genauso anders, wie sein Leben, und als er so darüber nachdachte, kam er erneut zu dem Schluss, dass dieses Leben langweilig war.

Nicht einmal mit seinem Sohn konnte er reden, weil der mit Kunden sprach. Draco verrichtete die Arbeit, die Lucius schon in jungen Jahren auf die Beine gestellt hatte. Kontakte knüpfen, in Verbindung bleiben, Menschen abhängig machen – meist finanziell – und zu guter Letzt Informationen austauschen. Sein Sohnemann hielt es mit der Diskretion allerdings besonders streng. Es wurden keine pikanten Informationen an den Höchstbietenden verkauft. Das hatte immer am meisten Geld eingebracht und zudem Vergnügen bereitet.

Lucius seufzte. Während er die Treppe nach oben ging, schnipste er mit seinem Zauberstab den Staub vom Geländer und reinigte mit einem Wutschen den Teppich. Haushaltszauber waren noch ermüdender.

Gerade oben angelangt hörte er, wie sich die Tür zum Büro öffnete. Draco führte den Kunden hinaus, der nach Potter gekommen war. Ein einfacher Mann, geradezu ärmlich gekleidet, mit abstehenden Ohren und schlaksigem Äußeren. In Lucius’ Augen kein fähiger Zauberer.

„Ich habe Ihnen gesagt“, hörte Lucius seinen Sohn gereizt sagen, „dass ich es versuchen werde. Das muss reichen. Wenn ich Sie nun zum Kamin begleiten darf?“ Jetzt wurde Lucius bemerkt. „Oh, guten Tag, Vater.“

Lucius nickte seinem Sohn zu, auch dem Kunden, obwohl der keinerlei Aufmerksamkeit verdient hatte. Als Draco den Herrn nach unten begleitete, ging Lucius in sein altes Büro. Die gemütliche Atmosphäre durch die warmen Farben und die großzügige Raumverteilung weckte Erinnerungen, die seinem Herzen kleine Stiche versetzten. In diesem Büro saß er schon vor über zwanzig Jahren – mit seinem kleinen Sohn auf dem Schoß, der nach allem griff, was auf dem Schreibtisch nicht niet- und nagelfest war, wie beispielsweise das Bild, das dort stand. Lucius ging um den Schreibtisch herum und erwartete ein Hochzeitsfoto von Draco und Susan, doch was er sah, rammte den unsichtbaren Dolch, der bisher nur gestichelt hatte, mit einem Male zielsicher ins Herz. Es war das Bild seiner eigenen Hochzeitsreise. Lucius nahm es in die Hand. Seine Gedanken waren damit beschäftigt, gleichermaßen der Vergangenheit nachzutrauern und sich zu fragen, warum Draco das Bild nicht längst ausgetauscht hatte.

„Oh“, hörte Lucius seinen Sohn überrascht sagen. „Wolltest du etwas von mir?“
Das Bild stellte Lucius wieder auf den Tisch, bevor er kurz darauf zeigte. „Warum keines von dir?“
Draco zuckte mit den Schultern und näherte sich gleich darauf seinem Vater. „Ich finde es schön.“
„Mmmh“, stimmte Lucius zu. Er wollte weg von den Erinnerungen. „Und? Wie laufen die Geschäfte?“
„Im Moment bin ich genervt. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.“

Severus hatte es ihm empfohlen – mehr als einmal –, sich in die Geschäfte seines Sohnes einzubringen. Womöglich war das der passende Zeitpunkt. Er müsste es wenigstens probieren, wenn er nicht an Langeweile sterben wollte. Mittlerweile war Lucius der Überzeugung, diese Todesursache würde es geben, nur wäre sie noch nicht bekannt.

„Darf ich dir behilflich sein?“ Falsch, dachte Lucius. Er durfte seinem Sohn keine Wahl lassen und fügte gleich hinzu: „Um was geht es?“
„Das St. Mungos ist für die Entlassung eines Squibs verantwortlich, weil der während des Dienstes Alkohol getrunken haben soll. Jetzt will der Squib auf Wiedereinstellung klagen.“
„Ach“, winkte Lucius ab. „Den kriegen wir schon klein. Du musst nur die Nachteile auflisten, die die Beschäftigung einer nicht-magische Person in einer so etablierten und wichtigen Einrichtung mit sich bringt. Glaube mir, das sind viele. Der Squib wird keine Chance auf Wiedereinstellung haben und du bist fein raus aus der Sache.“
Draco räusperte sich. „Da gibt es nur einen winzigen Haken, Vater.“
Lucius hob interessiert die Augenbrauen. „Und der wäre?“
„Ich vertrete den Squib.“
„Oh!“ Diesmal war Lucius überrascht. Er überlegte kurz und winkte die Sache mit einer Hand ab, als wäre das nur halb so wild. „Nun, dann müssen wir eben kreativ umdisponieren. Zeig mir mal die Unterlagen.“ Von Draco erhielt er eine Mappe mit der Kopie des Kündigungsschreibens. „Ah, Professor Puddle.“ Lucius’ Gesichtsmuskeln sorgten für ein fieses Grinsen. „Wusstest du, dass er während des Krieges Schmiergelder vom Ministerium angenommen hat?“
„Äh …?“
„Und genau das ist der Rückfahrtschein für Mr. …“, er überflog das Schreiben, „Shunpike.“ Ein Blatt fiel aus der Mappe. „Was ist das? Eine weitere Kündigung?“ Der Stempel war ihm vertraut. „Die Poststelle? Sag mal, Draco, ist Mr. Shunpike tatsächlich dem Alkohol zugetan?“
„Ich befürchte ja.“
„Das könnte Schwierigkeiten bereiten. Anderseits“, er machte einen Schritt auf seinen Sohn zu, „hat Professor Puddel so einen Gewohnheitstrinker in seinem Arbeitsumfeld verdient. Gibt mir Feder und Papier.“
Draco hielt beide Hände in die Höhe. „Ich arbeite nicht nach deinen Methoden, Vater. Du kannst den Heiler nicht einfach erpressen?“
„Nun male nicht den Teufel an die Wand“, beruhigte Lucius ihn. „Ich werde ihn nur an etwas erinnern.“
„Oh Merlin“, murmelte Draco, bedeckte dabei seine Augen mit einer Hand.
„Mit einem einzigen Satz bringe ich ihn dazu, den Herrn wieder einzustellen. Wir können gern eine Wette abschließen, wenn du möchtest.“
„Du wirst mich noch in Schwierigkeiten bringen.“
Lucius war das erste Mal seit langem wieder enthusiastisch. „Ach, wo denkst du hin? Es kommt nur darauf an, wie man seine Worte wählt. Niemand wird etwas herauslesen können, außer natürlich Puddle selbst. Man muss ganz geschickt eine bestimmte Assoziation wecken. Wenn er die mit dem Namen Malfoy in Zusammenhang bringt – und das wird er allein schon wegen des Briefkopfes –, wird er klein beigeben.“

Draco atmete einmal tief durch. Den Fall Shunpike hatte er längst abgeschrieben. Der Mann war nach der dritten Abmahnung entlassen worden, weil man ihn mit einer Flasche erwischte.

„Hat man denn gesehen, dass er getrunken hat?“, wollte Lucius wissen.
„Eine zerschmetterte Flasche Whisky lag auf dem Boden. Was braucht man mehr an Beweisen?“
„Dann wurde er nur aufgrund eines Umstandes entlassen, der lediglich auf die große Wahrscheinlichkeit der vorgeworfenen Tat schließen lässt?“ Weil Draco nickte, wurde Lucius deutlicher. „Die hatten keine Beweise, nur ein Indiz. Womöglich gehörte die Flasche ihm gar nicht.“
„Sie gehörte ihm. Er hat’s mir gesagt.“
„Hat er es auch den Heilern gegenüber gestanden?“
„Nein.“
„Na bitte, damit kann ich doch wenigstens arbeiten!“

Lucius rückte Dracos Stuhl an den Tisch und begann damit, sich auf einem Blatt Papier Notizen zu machen. So aufgeweckt hatte Draco seinen Vater in letzter Zeit nicht erlebt – und er wollte nichts tun, dass diese neu geweckte Freude beeinträchtigen würde.

Der Besuch bei ihrer Schwester Andromeda und deren Mann Ted war eine schöne Abwechslung gewesen. Narzissa mochte ihr Leben, selbst wenn sie manchmal durch bestimmte Dinge daran erinnert wurde, dass es einmal anders verlaufen war. Sie war sich klar darüber, dass sie ihr altes Wesen niemals komplett abschütteln könnte. Das musste sie auch gar nicht. Die Vergangenheit war nur ein Teil von ihr, der ihr bruchstückhaft und oberflächlich bekannt war. Und alles, was diese vergangene Zeit ausmachte – Furcht, Unruhe, Trauer und Enttäuschung – lag wie ein schwerer, grauer Stein tief unten im Meer des Lebens. Sie könnte seine Existenz nie ignorieren, würde und wollte niemals geliebte Menschen wie Regulus und Bellatrix vergessen. Der Unterschied zwischen damals und heute war jedoch deutlich, denn die Gegenwart war nicht grau, sondern bunt und schuf die Möglichkeit, die Zukunft zu ändern, damit der Blick zurück nicht mehr nur düster sein würde.

Solange sie sich eingestehen konnte, wer sie einst war, stand ihr nichts im Weg, ihr Leben zu genießen. Sie wünschte sich aus tiefstem Herzen, dass Lucius das ebenfalls erkennen würde. Es war ihr größter Wunsch, mit ihm gemeinsam dieses neue Leben zu führen.

Im grünen Salon fand sie ihren Gatten nicht, auch nicht in der Küche, weshalb sie die Treppe hinaufging. Oben im ersten Stock hörte sie Dracos Stimme aus dem Büro kommen. Zu ihrem Erstaunen vernahm sie auch die ihres Mannes. Bisher hatte er sich aus den geschäftlichen Belangen herausgehalten. Leise öffnete Narzissa die Tür einen Spalt. Auf dem Boden sah sie Charles sitzen, für den man Plüschtiere und Bauklötze ins Büro gebracht hatte. Ihr Enkel bemerkte sie und grinste sie zahnlos an, winkte ihr heftig zu und widmete sich wieder seinem Spiel. Ihre beiden Männer waren in einer Unterhaltung vertieft, die keinesfalls hitzig verlief. Durch die Ernsthaftigkeit der beiden war zu erkennen, dass es sich um etwas Wichtiges handelte.

„Dann hättest du nichts dagegen?“, fragte Lucius. Narzissa lauschte ungesehen, obwohl das nie zu ihren Eigenarten gehört hatte.
„Warum sollte ich etwas dagegen haben?“, fragte Draco zurück. „Sie gehört zur Familie.“
„Ich muss fragen, weil es dein Haus ist.“
„Vater!“ Draco zügelte sich wieder. „Es ist eine Formalität, weiter nichts. Das Haus gehört dir genauso wie Mutter oder Susan. Und alle zusammen machen wir das Haus Malfoy aus.“ Einen Moment lang schwiegen beide, bevor Draco anfügte: „Sicher kann Großmutter hier wohnen, wenn sie es möchte. Ich bin nur etwas überrascht. Du hast mir nie gesagt, was mit ihr passiert ist.“
„Weil ich es selbst nicht wusste, Junge.“
„Was sagt Mutter dazu?“
„Mit deiner Mutter habe ich ausführlich über dieses Thema gesprochen. Sie ist meiner Meinung. Es kommt nur noch darauf an, was deine Frau dazu sagt.“
„Susan wird nichts dagegen haben.“
Ein Schnaufen war zu hören. „Ich möchte nicht riskieren, die Luft noch mehr zu verpesten als sie …“
„Hier ist nichts verpestet. Warum empfindest du das nur so? Susan ist nicht oft Zuhause, höchstens am Wochenende. Ihr würdet besser miteinander auskommen, wenn du sie nicht ständig ignorieren würdest.“
„Das tue ich gar nicht!“, versuchte sich Lucius zu verteidigen, aber gegen Dracos Beispiele kam er nicht an.
„Du sprichst Susan nicht an, zu keiner Gelegenheit, nicht einmal, wenn du beim Frühstück fragst, ob jemand noch eine Tasse Kaffee möchte.“
„Das ist ja lächerl…“
„Und“, unterbrach Draco, „du sprichst sie meistens noch mit Mrs. Malfoy an. Kommst du dir dabei nicht komisch vor?“ Bevor sein Vater etwas sagen konnte, lockerte er das Gespräch wieder auf, indem er scherzte: „Vielleicht sollten wir euch beide einfach mal in einen Raum sperren, für ein paar Tage. Dann müsst ihr euch miteinander befassen.“
„Genau da sprichst du einen wichtigen Punkt an, mein Sohn. Deine Frau meidet mich nämlich genauso wie ich sie.“
„Weil sie nicht weiß, wie du reagieren würdest, wenn sie eine Unterhaltung beginnen sollte.“
„Na, dann haben wir ja etwas gemeinsam.“
„Ich lege dir ans Herz, sie selbst zu fragen“, schlug Draco vor. „Susan gehört genauso zur Familie wie Großmutter.“
„Ich …“ Lucius stockte. „Ich werde erst einmal das Panagiotis Genesungsheim aufsuchen. Wer weiß … Vielleicht will sie nichts mit mir zu tun haben.“

An dieser Stelle entschied Narzissa, ihre Anwesenheit kundzutun. Sie klopfte und trat gleich darauf ohne Aufforderung hinein.

„Meine Liebe“, grüßte ihr Mann, „wie war es bei deiner Schwester?“
„Ganz wundervoll. Ich würde mich freuen, wenn du mich das nächste Mal begleiten würdest.“
„Ich werde sehen“, redete er sich heraus. „Ich sprach mit Draco gerade über meine Mutter. Bevor wir eine Entscheidung fällen, werde sich sie erst aufsuchen.“

Bei dem Gedanken schnürte sich seine Kehle zu. Diese Unsicherheit war ihm fremd. Die Angst, auf Ablehnung zu stoßen, war sehr groß. Wenn Lucius seinen eigenen Lebenslauf objektiv betrachten müsste, waren durchaus einige Punkte dabei, die ihn in ein schlechtes Licht rückten. Sehr viele sogar, verbesserte er in Gedanken.

„Darf ich dir Gesellschaft leisten, wenn du …?“
„Nein“, unterbrach er abrupt, „das möchte ich allein hinter mich bringen.“
„Hast du schon einen Termin ausgemacht?“, fragte seine Frau.
Lucius schüttelte den Kopf. „Marie sagte, man könnte während der Besuchszeit unangemeldet erscheinen.“

Damit wollte er erreichen, dass seine Mutter sich nicht auf ein Wiedersehen vorbereiten konnte, sich womöglich sogar Dinge zurechtlegte, die sie ihm an den Kopf werfen konnte. Zudem hielt er sich eine Hintertür offen, falls er sich der belastenden Situation kurzfristig entziehen wollte. Den nächsten Tag hatte er sich für einen Besuch vorgenommen.

Abends im Bett, während Narzissa bereits schlief, gingen ihm einige Dinge durch den Kopf, die er von Marie erfahren hatte. Es war keinesfalls der Verstand, den seine Mutter eingebüßt hatte, obwohl sein Vater ihm das weismachen wollte.

Aufgrund des Verlustes ihrer Magie hatte sie einen Nervenzusammenbruch erlitten. Ihre magischen Fähigkeiten waren nicht besser als die eines Erstklässlers, aber Abélia Estelle Malfoy war nicht vollends ohne Magie.

Die Gedanken an seine Mutter ließen ihn nicht los. Er wollte sie sehen und er wollte mit ihr reden. Als sein Vater sie hatte einweisen lassen, war Lucius gerade mal acht Jahre alt. Die Erinnerungen, die er an sie hatte, waren allesamt wunderschön. Sie musste ein Engel gewesen sein, denn nicht ein einziges Mal hatte sie ihn geohrfeigt, ihn nie bösartig ausgeschimpft und ihn auch nicht in irgendeiner Art und Weise für eine Missetat bestraft. Stattdessen hatte sie ihn abgöttisch und bedingungslos geliebt. Lucius spürte, dass es seine Pflicht war, sie aufzusuchen – egal wie viel Angst er vor dem hatte, was er finden würde.

Schwester Marie war so freundlich gewesen, ihm die Adresse des Panagiotis Genesungsheims zu geben, in welchem seine Mutter jetzt lebte. Einige Angestellte des Heims wären Squibs, hatte sie gesagt. Schon früher fragte sich Lucius immer, was Squibs mit sich und ihrem wertlosen Leben anzufangen gedachten, aber hier hatte er eine Antwort: Sie arbeiteten – und zwar auf Muggelart.

Die Nacht war unruhig. Sein Unterbewusstsein war vom Horror Vacui befallen und versuchte, die Leere des schlummernden Geistes mit Sinn und Unsinn zu füllen. Ästhetische Traumgebilde wechselten sich mit grotesken Abscheulichkeiten ab. Letztere wurden von Abraxas Malfoy verkörpert, der seinen Sohn mit Schimpfwörtern bedachte, die zu hören ihn mehr schmerzte als sie selbst gegen andere auszusprechen.

Trotz der wilden Nacht war Lucius am Morgen ausgeruht.

Das Frühstück verlief angespannt. Wie so oft war die fröhlichste Person am Tisch Charles. Der Junge unterhielt alle anderen mit seinem unverständlichen Brabbeln. Susan war wie immer freundlich und aufmerksam. Als Lucius zur weit entfernt stehenden Marmelade greifen wollte, schob sie das Glas zu ihm hinüber. Sie wagte, ihm ein wohlwollendes Lächeln zu schenken, welches bei seiner strengen Miene sofort verblasste. Den Moment wollte er dennoch nutzen. In der familiären Runde sollte es zu keiner Auseinandersetzung kommen.

„Mrs. Malfoy?“ Nicht nur sie blickte ihn neugierig an. „Susan“, revidierte er als Zeichen seines Entgegenkommens. „Vielleicht hat Draco Ihnen schon mitgeteilt, dass man meine Mutter gefunden hat.“
Als sie nickte, wedelten die langen roten Haare gefährlich nahe über ihrem Teller hin und her. „Ja, hat er. Ich habe absolut nichts dagegen, wenn sie hier einziehen sollte.“
Ihre Antwort erstaunte ihn. Sie hatte ihm sogar erspart, eine Frage zu formulieren. „Das ist sehr freundlich.“ Was sollte er sonst sagen, fragte er sich.
„Vielleicht“, begann Susan, „sollten wir nochmal versuchen, eine Haushaltshilfe zu finden. Für den Fall, dass Ihre Mutter Pflege benötigt.“
„Sofern ich unterrichtet bin, soll sie sich selbst versorgen können.“
„Das ist schön zu hören, Mr. Malfoy.“

Eine unangenehme Stille legte sich über den Tisch. Lucius wusste, dass man ihm die Möglichkeit ließ, ihr im Austausch ein Angebot zu machen. Wenn es alle glücklich machte …

„Sie dürfen mich mit Vornamen ansprechen.“

Da, es war gesagt. Und es schien tatsächlich alle zu erfreuen. Jeder strahlte. Sie sollten sich nur nicht daran gewöhnen, dachte er. Jeden Tag eine gute Tat war nicht sein Motto, würde es auch nie werden.

Nachdem Susan den Weg zur Arbeit angetreten hatte, Draco seinen ersten Kunden empfing und Narzissa sich gut gelaunt in die Gartenarbeit stürzte, wählte Lucius seine Kleidung für den heutigen Besuch im Genesungsheim.

Er war zu stolz, um auf seine prachtvolle Garderobe zu verzichten. Lucius zog mit seiner feinen Bekleidung und dem edlen Spazierstock die Aufmerksamkeit der Passanten auf sich, als er aus einer unbelebten Seitenstraße, in die er eben appariert war, heraustrat. Majestätisch anmutend schritt er erhobenen Hauptes an dem hölzernen Palisadenzaun entlang, bis er zum Eingang des Heimes gelangte. Dort stand ein kleines Häuschen, bei dessen Pförtner man sich offenbar ankündigen musste.

„Guten Tag, der Herr. Ich möchte jemandem einen Besuch abstatten“, sagte Lucius. Die arrogante Tonlage brachte den Mann mit Schiebermütze dazu, mit einer einzigen Mimik dem Besucher seine Verachtung mitzuteilen.
„Und wen möchten Sie bitte besuchen?“, fragte der Pförtner gelangweilt.
„Mrs. Malfoy, Mrs. Abélia Estelle Malfoy“, erwiderte Lucius. Nun war es der Pförtner, der verächtlich eine Augenbraue in die Höhe zog und kurz darauf die Tasten einer für Lucius völlig fremdartigen Maschine bearbeitete.
„Mrs. Malfoy bewohnt das Zimmer 213, Station 4.3 im Westflügel“, entgegnete der Pförtner monoton.
Lucius hatte sich alles gemerkt, fragte jedoch: „Wie bitte gelange ich am schnellsten dorthin?“
„Gar nicht, wenn Sie Ihren Zauberstab nicht vorher abgeben.“
„Ich höre wohl nicht Recht?“ Lucius lachte erhaben. „Ich soll ohne …?“
„Ja“, unterbrach der Mann ernst. „Treten Sie ein und nutzen Sie eines der Schließfächer. Sie bekommen Ihren Stab nach dem Aufenthalt bei uns zurück.“
„Aber mein Stab ist Teil meines Gehstocks.“
„Sie sehen nicht aus, als würden Sie einen Gehstock benötigen, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten.“
Lucius schnaufte. „Nein, die gestatte ich Ihnen nicht! Mein Spazierstock ist kein billiger Ziegenhainer aus Kornelkirschholz. Es handelt sich hierbei“, er hob seinen Stock, „um ein kostspieliges Accessoire mit Schlangenkopf aus echtem Silber.“ Er wollte nicht extra erwähnen, dass dieser zusätzlich mit Rubinen besetzt war und darüber hinaus aus dem hochwertigen Holz eines Baumes gefertigt war, dessen Namen dieser Pförtner sicherlich nicht einmal auszusprechen vermochte.
Der Mann mit Schiebermütze ließ sich nicht beirren: „Das sind die Regel, Mister. Aber ich kann auch deutlicher werden: Zauberstäbe sind drinnen nicht erlaubt! Entweder geben Sie ihn ab oder Sie kommen nicht rein – die Entscheidung liegt ganz bei Ihnen.“

Ohne Stock setzte Lucius seinen Weg fort. Mit Hilfe einiger Schwestern fand er auch bald die richtige Station. Mit einem Male, jetzt wo er am Ziel war, schlug sein Herz wie wild. Es war ihm nicht mehr möglich, distanziert und besonnen zu bleiben, wo er doch jeden Augenblick seiner Mutter gegenüberstehen würde.

„Kann ich Ihnen helfen, Mr. …?“, fragte eine hagere Schwester mit schmalen Lippen und hohen Wangenknochen, die einen Kopf größer war als er selbst.
Nachdem Lucius den Kloß im Hals hinuntergeschluckt hatte, antwortete er mit fester Stimme: „Ich bin hier, um Mrs. Malfoy einen Besuch abzustatten.“
Die Frau lächelte. „Es ist schön, dass Mrs. Malfoy jetzt häufiger Besuch bekommt. Die eine Dame, die hier ab und an …“
„Ja“, fuhr Lucius ihr über den Mund. „Sie meinen Miss Amabilis. Ich kenne die Dame. Eine gute Bekannte.“
„Mrs. Malfoy wird sich sicher freuen! Wer, wenn ich fragen darf, sind Sie?“, wollte die Schwester neugierig wissen. Noch bevor er antworten konnte, hatte sie ihn von oben bis unten gemustert. Ihre Stirn runzelte sich, als sie nachfragte: „Sind Sie etwa mit ihr verwandt?“

Lucius nannte der Schwester weder seinen Namen noch sein Begehren. Ein Nicken sollte als Antwort genügen. Er rechnete schon mit Schwierigkeiten, doch entgegen seiner Befürchtung zeigte sie ihm den Weg.

Die hochgewachsene Frau öffnete eine nur angelehnte Zimmertür. Lucius folgte. Er bemerkte als Erstes ein ordentlich gemachtes Bett, über das eine dunkelrote Decke geworfen worden war. An dem einzigen Tisch im Raum saß eine Frau mit dem Rücken zur Tür, die sich mit Stricken die Zeit vertrieb.

„Mrs. Malfoy? Sie haben Besuch“, sagte die Schwester lächelnd, und diese Freundlichkeit schlug sich in der Stimme nieder.
„Besuch?“, fragte die Frau mit leicht gebrochener Stimme zurück, aus der man jedoch eine Menge Freude heraushörte.
„Ja, Besuch, Mrs. Malfoy! Ich hole Ihnen beiden etwas Kuchen und Kaffee, wenn’s Recht ist?“, fragte die Schwester, die nebenbei die Tischdecke auf dem Tisch glatt zog. Die ältere Dame nickte zustimmend. Bevor die Schwester das Zimmer verließ, sagte sie an Lucius gerichtet: „Setzen Sie sich doch, ich bin gleich zurück.“

Nur zögerlich steuerte Lucius den Tisch an. Die ältere Dame, deren schneeweißes, hochgestecktes Haar er verzückt von hinten betrachtete, legte ihr Strickzeug zur Seite und versuchte aufzustehen, um ihren Gast willkommen zu heißen. Es kostete sie sichtbar Mühe, weshalb er einschritt.

„Bemühen Sie sich nicht. Behalten Sie bitte Platz, meine Teuerste.“

Sie hielt einen Moment inne, nachdem sie seine Stimme vernommen hatte. Kurz darauf sank sie zurück in ihren Stuhl. Lucius näherte sich und nahm neben ihr Platz. Als er ihr das erste Mal ins Gesicht blickte, bemerkte er sofort, dass jegliche Farbe aus ihren Augen verschwunden war, die in seiner Erinnerung stets hellblau gestrahlt hatten. Seine Mutter war blind. Obwohl ihn Marie vorgewarnt hatte, war er von der sichtbaren Veränderung getroffen.

Seine Mutter erstarrte für einen Augenblick. Ihre Nasenflügel bebten, als sie mehrmals tief Luft holte.

Nachdem sie sich aus ihrer Starre gelöst hatte, sagte sie freundlich, aber schleppend: „Ich bin etwas überrascht. Ich bekomme nicht häufig Besuch, müssen Sie wissen. Meist kommen Bekannte, die ebenfalls hier leben oder einige von den Kindern.“ Hier stutzte Lucius und er fragte sich, welche Kinder sie meinen könnte. „Wie kann ich Ihnen helfen, mein Herr? Sind Sie vom Amt?“, wollte seine Mutter wissen.

Seine Augen fixierten das knautschige Gesicht. Durch die verwelkte Schönheit hindurch erkannte er Zug für Zug seine Mutter wieder, so wie er sie in Erinnerung hatte. In Gedanken straffte er ihr Gesicht, tönte ihre graue Haut vornehm blass und schminkte sie so, wie er sie aus der Vergangenheit kannte. Immer wieder spielten sich verblasste Szenen in seinem Kopf ab, die jetzt, als er ihr wahrhaftig gegenübersaß, an Farbe und Intensität gewannen: Seine Mutter, wie sie ihm den schnellsten Besen spendierte, damit er mit seinen Freunden Swivenhodge spielen konnte; wie sie ihm erlaubte, im Koboldstein-Club Mitglied werden zu dürfen, obwohl er noch so jung war oder wie sie ihm zum Geburtstag einen stummen Fwooper mit farbenprächtigem Gefieder schenkte, obwohl sie selbst gegen diese magischen Vögel allergisch war. Am schönsten waren die Erinnerungen an den Sprachunterricht, den sie ihm samstags und sonntags erteilt hatte. Im Sommer hatten sie im Garten unter Bäumen gesessen, während sie es sich in der kalten Jahreszeit im warmen Wintergarten gemütlich gemacht hatten, um ihm das Erlernen einer der schönsten Sprachen der Welt durch eine schöne Umgebung zu erleichtern.

Sein Atem stockte, als ihm bewusst wurde, dass er tatsächlich hier bei ihr saß – bei seiner Mutter, die er auf Befehl seines Vaters hin einfach vergessen hatte.

Lucius konnte nichts auf ihre Fragen erwidern, denn die dürre Schwester kam mit einem Tablett in der Hand herein und verteilte Kaffee und Kuchen. Nachdem serviert worden war, hielt die Schwester sich noch immer im Zimmer auf und zupfte hier und da an der Bettdecke oder an den Gardinen herum, was Lucius nicht sehr geduldig verfolgte.

„Ich mag Obstkuchen“, sagte seine Mutter mit fröhlicher Stimme, bevor sie einen kleinen Bissen von der aromatischen Erdbeertorte zu sich nahm.
Während die Schwester im Raum war, wollte Lucius nicht reden, so dass er, von ihrer Anwesenheit bereits sehr verärgert, eindringlich bat: „Wäre es wohl möglich, uns einen Moment allein zu gönnen?“

Die Schwester betrachtete ihn misstrauisch, bevor sie nickte und den Raum verließ. Die Zimmertür schloss sie nicht.

Ohne dem Kuchen Beachtung zu schenken sagte Lucius mit unsicherer Stimme: „Mrs. Malfoy, ich weiß nicht recht, wie ich Ihnen begreiflich machen soll, wer ich bin. Ich …“

Sein Blick fiel auf die offene Tür, die ihn so sehr störte, dass er sich kurz entschuldigte, um sie zu schließen. Kaum hatte er sich gesetzt, wurde die Tür wieder geöffnet. Die dürre Schwester kam abermals herein, um eine Frage mit vorgeschobener Dringlichkeit zu stellen. Lucius war erbost über dieses lästige Verhalten.

Er bat die Schwester vor die Tür, um mit ihr zu reden. Die Tür schloss er wohlweislich, bevor er wütend zischelte: „Ist es denn zu viel verlangt, um ein wenig Ruhe zu bitten, während ich bei Mrs. Malfoy bin?“
Die Schwester schenkte ihm einen verachtenden Blick und erwiderte bösartig: „Ich weiß jetzt genau, wer Sie sind, und ich weiß, was Sie auf Ihrem linken Unterarm tragen! Glauben Sie ja nicht, dass ich das Leben einer Patientin aufs Spiel setze, nur weil ihr ’ach so lang verschollener Sohn sich endlich dazu herablä…“
„Sie wissen überhaupt nichts!“ Seine Lautstärke zügelte er zwar, doch sein Zorn war nicht zu übersehen. Die sonst so blassen Wangen waren bereits mit einem roten Teint versehen. „Ich rate Ihnen …“ Lucius kam nicht dazu, eine Drohung auszusprechen.
Die Schwester, einen Kopf größer als er selbst, nahm ihn plötzlich am Schlafittchen und drückte ihn gegen die Wand. „Wir wissen sehr wohl, was Sie und ihresgleichen von Squibs halten. Ich werde nicht zulassen, dass Sie Ihrer Mutter irgendetwas antun, Mr. Malfoy.“

Die Worte der Schwester verletzten ihn. Dass sie dachte, er wäre zu so etwas fähig, machte ihm erst deutlich, wie andere Menschen – Fremde – ihn einschätzten. Das Verständnis für ihre Annahme kam für Lucius völlig unerwartet. Es war immerhin sein eigener Vater gewesen, der sie verbannt hatte, nur weil die Magie sich ihr verweigerte. Wie der Vater, so der Sohn. Die Redewendung hat sich niemand aus purer Freude ausgedacht, denn viele Kinder gerieten nach den Eltern, übernahmen deren Verhaltensweise und häufig die Ansichten. Aufgrund dessen konnte er ihre Befürchtungen verstehen, auch wenn er sich ungerecht behandelt fühlte. Resignierend nickte Lucius der Schwester zu, die daraufhin sofort von ihm abließ.

Bevor sich die Schwester jedoch ihrer Arbeit widmete, sagte sie im Befehlston: „Die Tür bleibt auf!“ So eine Unhöflichkeit hätte er sich normalerweise nicht gefallen lassen und doch gab er nach, nickte abermals, bevor er zurück ins Zimmer seiner Mutter ging. Die Tür ließ er angelehnt.

„Ich hoffe, es ist alles in Ordnung?“, fragte seine Mutter.
„Alles bestens“, log er.
„Oh, setzen Sie sich doch bitte und kosten Sie den Kuchen“, sagte seine Mutter verzückt.

Gefühle wallten auf und das nur wegen der Worte der Schwester. Lucius malte sich aus, was geschehen wäre, hätte seine Mutter erst während des zweiten Krieges ihre Magie verloren. Als Gefolgsmann von Voldemort wäre es seine Pflicht gewesen, sich dieser Schmach zu entledigen, doch Lucius hätte diesen Umstand eher verborgen und sie in Sicherheit gebracht. Zu Severus womöglich. Um seinen Jungen hatte der Freund sich vorbildlich gekümmert. Die Familie stand höher als alles andere, hörte er in Gedanken Narzissa sagen.

Mehr und mehr wurde ihm klar, dass seine Mutter ein Squib geworden war. Das war der einzige Grund, weshalb er sein Leben lang auf ihre Nähe zu verzichten hatte. Befreundete Familien, das wusste er, hatten das gleiche Schicksal durchgemacht. Stellte sich beim Nachwuchs heraus, dass es sich um einen Squib handelte, war man auf der Stelle das Gespött der höheren Gesellschaft. Man wurde verachtet und verlacht. Wenn es Draco getroffen hätte …

Lucius konnte nicht mehr denken. Er fand keinen Weg, der älteren Dame zu verstehen zu geben, dass er ihr Sohn war. Er hatte Angst vor ihrer Reaktion. Sie hätte jedes Recht dazu, ihm Vorhaltungen zu machen, ihm übel zu nehmen, dass er nie zuvor nach ihr gesucht hatte. Wie würde er an ihrer Stelle reagieren? In Gedanken ging er sämtliche Möglichkeiten durch, doch so sehr sich auch anstrengte, die Situation einzuschätzen, er kam zu keinem Ergebnis. Unter Umständen musste er sogar damit rechnen, hinausgeworfen zu werden, sollte er seine Identität preisgeben. Dann lieber einen Moment in ihrer Nähe bleiben, sich vergewissern, dass es ihr gut ging, bevor sie ihm an den Kopf warf, was für eine Enttäuschung er für sie war.

Still aß Lucius seinen Kuchen, während er der Stimme seiner Mutter lauschte, die sich kaum verändert hatte. Sie schwärmte von den Kindern des nahe gelegenen Horts, deren fröhliches Giggeln stets ihr Herz erwärmte. Die Kinder, so erzählte sie, würden ihr ab und an Bilder bringen, die sie für sie gemalt hätten. Als er sich im Zimmer umsah, fiel sein Blick auf einige Kinderzeichnungen, die seine Mutter an den Wänden hatte aufhängen lassen. Das sonst recht trostlos eingerichtete Zimmer war mit ihnen viel farbenfroher gestaltet.

„Ich kann zwar nur hell und dunkel wahrnehmen, aber die Kinder erzählen mir immer ganz genau, was auf den Bildern zu sehen ist“, sagte seine Mutter mit einem verträumten Lächeln auf den Lippen, bevor sie einen Schluck Kaffee zu sich nahm. Lucius fühlte sich derweil daran erinnert, wie er damals sein Büro im Ministerium mit Dracos Erstlingswerken verschönt hatte. Mit tiefer Wehmut in der Stimme gestand sie ihm leise: „Wissen Sie, ich habe auch einen Sohn.“

Das jahrelange Vergessenmüssen hatte den Schmerz, den Ausdruck des Verrats an der eigenen Mutter, stets gering gehalten. In diesem Augenblick, wie ein plötzlich aufkommender Sturm, entfaltete sich die Schuld in seiner Brust mit schmerzhafter Wucht, zerriss dabei jegliche Selbsttäuschung – und Selbstbetäubung. Sein Gewissen forderte unverfälschte Gefühle. Unverhofft schossen ihm Tränen in die Augen, liefen über die Wangen hinunter. Bei jedem Atemzug bebte sein Körper. Mit zitternder Hand legte Lucius die Kuchengabel auf den Teller und griff zu seinem Taschentuch. So geräuschlos wie nur möglich wollte er seine Wangen trocknen, doch ihr Gehör schien ausgezeichnet zu sein.

Wenn Kinder traurig waren, trösteten die Mütter, so auch seine. „Oh, bitte nicht weinen.“

Ihre Gutmütigkeit ließen seine Tränen nicht versiegen. Stattdessen wurde er zu seinem Leidwesen von Schluchzern geschüttelt. Es wäre ein Leichtes, sich herauszureden, lag es doch in der Natur der Menschen, die eigene Schuld nicht sehen zu wollen. Alles auf seinen Vater abzuwälzen wäre eine bequeme Alternative, aber sich selbst zu entkommen, der Anklage durch das eigene Gewissen, war unmöglich.

Seine Mutter tastete mit einer runzligen Hand auf dem Tisch umher, bis sie seinen Unterarm spürte und einmal liebevoll darüberstreichelte. „Ich habe immer gewusst, dass deine Wege dich eines Tages zu mir führen werden, Lucius.“

Der Schreck über die plötzliche Enthüllung seiner Identität hielt nur kurz an. Er schloss die Augen und spürte die beinahe himmlische Behaglichkeit, die den Schmerz und die Angst verdrängte. Die erste Hürde war genommen. So gern hätte er gefragt, woher sie wusste, dass er es war, doch er traute seinem instabilen Befinden nicht, besonders nicht seiner Stimme. Stellvertretend für Worte legte er eine Hand auf ihre.

„Ich war mir erst nicht sicher.“ Mit beiden Händen umschloss sie die seine. „Vielleicht war es nur eine vage Ahnung“, sie tätschelte seine Hand, „oder deine Stimme. Aber ich halte es für denkbar, dass eine Mutter niemals den Duft ihres eigenen Kindes vergisst.“

Vorsichtig legte er seinen Arm um ihre Schulter und drückte sie an sich, als wären sie nie getrennt gewesen. Er war erleichtert, als er die Erwiderung seiner Geste spürte. Es gab keine Hürden mehr, hatte nie welche gegeben. Befreit von allen unbegründeten Ängsten atmete er tief durch, als er die Hand an seinem Kopf spürte. Und er bemerkte, dass seine Mutter genauso vertraut nach Veilchen duftete wie früher.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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228 Der erste September




Bewegungslos stand Severus im Türrahmen zum Badezimmer und schaute dabei zu, wie Hermine, die nur im Nachthemd bekleidet war, sich die Zähne putzte. Er selbst war schon vollständig angekleidet.

„Ich dachte, du wolltest bei dem Bewerbungsgespräch dabei sein?“, erinnerte er sie.
Mit dem Mund voller Zahnpasta erwiderte sie: „Wir haben doch noch zehn …“ Bei dem Wort zehn formte sich eine Blase an ihrem Mund, die größer wurde und zerplatzte.
„Das geschieht dir Recht“, kommentierte Severus den Vorfall gelassen. „Ich bin schon unten, falls – was ich hoffe – der Herr zu den Menschen gehört, die zu wichtigen Angelegenheiten gern pünktlich erscheinen.“

Es regnete in Strömen. Das trommelnde Geräusch war seit heute früh um vier nicht leiser geworden. Gerade mal hatte Severus die letzte Stufe der Treppe überwunden, da hörte er es an der Vordertür klopfen. Der Bewerber war früh dran, was in Severus’ Augen vorbildlich war. Er betrat den Verkaufsraum und sah eine Gestalt mit dem Rücken zur Glastür, die sich die Kapuze des Umhangs über den Kopf geworfen hatte, um sich vor dem Wetter zu schützen. Severus öffnete die Tür. Sofort drang das laute Geräusch des Regens uneingeschränkt an seine Ohren. Die Person hatte die Tür offenbar nicht gehört, so dass Severus auf andere Weise auf sich aufmerksam machen wollte.

„Mr. Lyon?“, sagte er laut.

Der Kopf des Mannes fuhr erschreckt herum. Severus konnte einen Teil des Gesichts unter der Kapuze ausmachen. Kriegsopfer und Kriegsopfer waren offenbar zwei verschiedene paar Schuhe. Diesem Mann fehlte ein Teil der Oberlippe. Durch diese Verletzung wirkte es so, als würde Mr. Lyon wie ein bissiger Hund die Zähne fletschen.

„Mr. Snape?“, lispelte der Mann und hielt ihm die Hand entgegen, die er ergriff.
„Ja, Sie sind Mr. Lyon?“
„Korrekt.“ Mr. Lyon zeigte unbestimmt hinter sich. „Darf ich eintreten? Das Wetter …“
Severus hatte schon viel in seinem Leben gesehen, unter anderem Bill Weasley nach dem Angriff von Fenrir Greyback, aber Mr. Lyons Erscheinung verschlug ihm im ersten Moment die Sprache, bevor er sich fasste. „Sicher, kommen Sie herein.“

Der Bewerber trat ein. Trotz eines regenabweisenden Impervius-Zaubers war der Umhang von Mr. Lyon feucht. Er zog sich die Kapuze vom Kopf. Seine rechte Gesichtshälfte sah völlig normal aus: gesunde, ebenmäßige Haut, volle Lippen. Die andere Seite war es, die vermutlich während eines Kampfes in Mitleidenschaft gezogen wurde. Die Haut um das Auge herum sah wie geschmolzen aus. Der obere Teil der linken Gesichtshälfte war rötlich. Feine Streifen zogen sich bis hinunter zum Hals. Eine Mischung aus Verbrennung und Verätzung. Ein Fluch musste das angerichtet haben. Trotz dieser Verletzung war Mr. Lyon einen Tick gutaussehender als Alastor Moody, was Severus’ Meinung nach nicht schwer war.

„Ich weiß, ich bin zu früh“, sagte Lyon und wandte Severus unbewusst die ansehnliche Gesichtshälfte zu. „Ich hoffe, ich störe nicht.“
„Keinesfalls! Wenn Sie mir bitte folgen möchten? Im Flur können Sie Ihren Umhang ablegen.“

Die Küche war für ein Bewerbungsgespräch viel zu gemütlich. Andererseits schien die ruhige Umgebung Mr. Lyon sehr angenehm zu sein. Severus vermutete, dass der Mann ernsthafte Befürchtungen hatte, gar keine Anstellung mehr zu finden, was er daraus schloss, dass Mr. Lyon ihm alles Recht machen wollte. Er war überaus zuvorkommend, hatte immer ein paar nette Worte übrig. Dennoch war es nicht zu übersehen, wie angespannt er war. Die Hand, mit der Mr. Lyon seine Unterlagen an Severus reichte, zitterte. Am Handrücken des Bewerbers befand sich ebenfalls eine rötliche Verfärbung der Haut. Mit dieser Hand, dachte Severus, musste Mr. Lyon sein Gesicht geschützt haben, als man ihn mit einem Fluch attackierte. Natürlich war er nicht neugierig, wie, wann und warum es zu der außergewöhnlichen Verletzung gekommen war. Er würde ihn nicht fragen. Solche Informationen waren nicht wichtig. Woher also kam sein plötzliches Interesse am Schicksal fremder Leute, fragte sich Severus. Die Antwort lag womöglich in seiner Heilung. Bevor er sich seiner Seele beraubt hatte, waren ihm andere Menschen nicht durchweg gleichgültig. Ohne jedes romantische Interesse an der Mitschülerin hatte er damals Linda geholfen, die im Eis des Sees eingebrochen war. Selbst das bevorstehende Attentat auf die Potters und die Möglichkeit, dass die Longbottoms mit der Prophezeiung gemeint sein könnten, hatte ihn nicht kalt gelassen.

Severus entschloss sich dazu, Mr. Lyon nicht auf die sichtbare Verletzung anzusprechen. Stattdessen ging er die Unterlagen durch.

„Sie haben bei Professor Slughorn gelernt“, entnahm er der beigefügten Referenz, die vor über dreißig Jahren geschrieben wurde.
„Ja, er war damals auf seinem Gebiet der Beste.“
Severus nickte, während er die anderen Papiere durchging. „Sie haben sogar Ihren Meister in Kräuterkunde?“
„Beides hat mich als Jugendlicher interessiert, weil diese beiden Fachrichtungen so eng miteinander verknüpft sind.“
„Das ist wahr“, murmelte Severus, und es hätte Vorteile. Im Lebenslauf suchte er nach dem Alter des Bewerbers. Mr. Lyon war 52 Jahre jung. Es waren die anderen Kopien, die Severus’ Interesse an dem Mann weckten. Ihm fielen Stempel und Briefköpfe von Institutionen auf, die in der Zaubererwelt bekannt und angesehen waren. „Sie haben sich regelmäßig fortgebildet, wie ich sehe.“
Mr. Lyon nickte. „Man rostet schnell ein, wenn man nicht auf dem Laufenden bleibt. Die ganzen neuen Entdeckungen …“
„Und Sie sind Mitglied der Körperschaft der Tränkemeister.“ Hier blickte Severus auf. „Waren Sie auf dem letzten Treffen?“ An das Gesicht hätte sich Severus erinnert.
„Ja.“
„So? Ich habe Sie nicht gesehen.“
Mr. Lyon druckste nicht herum und sagte die Wahrheit: „Ich habe mit einem Personatus-Zauber mein Gesicht verborgen und mit einem Abduco zusätzlich davon abgelenkt.“ Mr. Lyon lächelte, ließ es aber gleich wieder bleiben, weil er zu wissen schien, dass er damit noch grotesker aussah. „Ich habe Sie gesehen, und auch den Vortrag Ihrer Partnerin gehört. Sie haben mir damals eine Visitenkarte in die Hand gedrückt.“
Wem nicht, dachte Severus. „Warum heute kein Maskierungszauber?“
„Ich sah keinen Grund.“

Die Tür zur Küche ging auf. Als Hermine eintrat, lächelte sie. Höflich stand Mr. Lyon auf und wandte sich ihr zu. Hermine strauchelte bei dem Anblick eine Sekunde lang, reichte ihm jedoch die Hand und stellte sich ihm vor. Ihr fachmännischer Blick musterte die Verletzung des Augenlides, des oberen Bereichs der Wange und der zerrissenen Oberlippe.

„Ein Spinnenfeuer?“, fragte sie unverblümt.
Mr. Lyon war sichtlich erstaunt. „Woher …?“
„Ich habe das auch mal ge...“ Rechtzeitig fiel ihr ein, wie sie den Satz anders beenden konnte, denn solche Wunden wurde man nicht mehr los, wenn man sie – was selten genug vorkam – tatsächlich überlebte. „Ich hab das auch mal gesehen.“ Nicht gehabt, sonst würde es Fragen aufwerfen. „Wie ist das passiert?“

Severus stöhnte leise. In wenigen Sekunden hatte Hermine aus einem distanzierten Bewerbungsgespräch ein nettes Plauderstündchen gemacht.

„Todesser“, war die knappe Antwort von Mr. Lyon.

Dieser eine Begriff stand für vieles. Er war ein Synonym für Verlust, für Schmerzen, für Kampf und für Brutalität. Severus zog eine Augenbraue in die Höhe. Es wäre besser, Mr. Lyon auf einen Umstand aufmerksam zu machen, bevor er mit dem Gespräch fortfuhr.

„Sie wissen sicherlich aus den Medien, dass auch ich einmal …“
„Sicher weiß ich das“, unterbrach Mr. Lyon und zog etwas Flaches, Bedrucktes aus seiner Hemdtasche. „Ich lese immer auch die Rückseite der Schokofroschkarten.“ Er drehte entsprechende Karte mit Severus’ Bild darauf um. „Ich bin also bestens über Sie informiert“, scherzte Lyon. Die unverletzte Wange formte ein Grübchen, als Mr. Lyon lächelte. „Es muss ja einen Grund geben, warum Sie eine Apotheke führen, anstatt in Askaban zu sitzen.“
„Wissen Sie, wer es getan hat?“, fragte Hermine.
„Ein Mann namens Macnair. Soweit ich unterrichtet bin, ist der im Gefängnis gestorben.“ Die Schokofroschkarte, die Lyon offenbar sammelte, steckte er zurück in die Brusttasche.
„Da das geklärt ist“, begann Severus, „möchte ich Sie bitten, einen Felix Felicis zu brauen, damit ich mich von Ihrem Können überzeugen kann.“
„Ist der nicht zu einfach?“, fragte Mr. Lyon.
„Nicht, wenn ich Ihnen nur eine halbe Stunde Zeit gebe.“
„Oh, verstehe. Arbeit unter Zeitdruck.“ Lyon rieb sich die Hände. „Ich bin bereit.“

Hermine wartete nicht im Labor. Sie vertrieb sich anderweitig die Zeit, während Severus den Bewerber prüfte.

Schnell, sicher und vor allem korrekt braute Mr. Lyon in nur 28 Minuten einen Felix Felicis. Die goldenen Tropfen des Trankes flogen hoch in die Luft und landeten zielsicher wieder im Kessel. Severus hatte jeden Handgriff genau beobachtet. Lyon wirkte nicht ein einziges Mal unsicher.

Sein zufriedenes Urteil über den fertigen Trank teilte Severus nicht mit. Stattdessen wollte er wissen: „Kennen Sie sich mit Dracheneischalen aus?“
„Nicht nur mit den Schalen, auch mit dem Dotter verschiedenster Drachenarten.“
„Wie steht es mit Außergewöhnlichem? Kennen und brauen Sie nicht alltägliche Tränke?“
„Wie zum Beispiel …?“
„Sagen wir“, Severus zuckte mit den Schultern, „den Adlerauge?“
„Kenne ich, habe ich sogar einmal gebraut, als ich in China einen Kurs belegt habe.“

Es gab nur eine Möglichkeit herauszufinden, ob Mr. Lyon auch im schwarzmagischen Bereich tätig geworden war.

„Wie sieht es aus mit dem Cogamor?“ Ein übler Liebestrank, der totale Unterwürfigkeit zur Folge hatte. „Schlafes Bruder? Der Ewige See? Haben Sie jemals mit dem Gespenstischen Steinregen gearbeitet?“

Mr. Lyon blieb einen Augenblick lang vollkommen still. Nur seine Augen bewegten sich und musterten die Gesichtszüge seines potenziellen Arbeitgebers, um herauszufinden, wie die Antwort zu dessen Zufriedenheit ausfallen musste. Er fand nichts und traf die Entscheidung, weiterhin ehrlich zu bleiben.

„Alle Tränke sind mir bekannt, auch die Kapseln des Steinregens kenne ich.“ Mr.Lyon zog es vor, zusätzlich seine Meinung zum Thema kundzutun. „Es gibt eine Menge übler Tränke, mit denen man viel Unheil anrichten kann. Ich bin nicht bereit, ausnahmslos alles zu brauen, wenn ich das nicht mit meinem Gewissen vereinbaren kann.“
Mit der Aussage war Severus zufrieden. „Füllen Sie den Felix ab und folgen Sie mir in die Küche.“

Hermine wartete dort bereits mit frisch gebrühtem Kaffee. Sofern sie nicht noch Kuchen auftischte, würde Severus nichts sagen.

Als sie die beiden Männer bemerkte, fragte sie: „Na, wie ist es gelaufen?“
Weil sie Mr. Lyon anblickte, wagte er zu vermuten: „Ganz gut, würde ich meinen.“ Unsicher blickte er zu Severus, um eine Meinung zu hören.
Gerade öffnete dieser den Mund, da warf Hermine ein: „Ich habe etwas Kuchen hier.“

Dem geöffneten Mund entwich ein leiser Seufzer, jedoch laut genug, dass Mr. Lyon es hören konnte. Der Gast verkniff sich ein Lächeln.

„Sie mögen doch Kuchen?“, fragte Hermine.
Lyon nickte. „Durchaus, ich werde heute auch genug bekommen. Meine Nichte feiert nämlich Geburtstag.“
„Oh, dann möchten wir Sie nicht aufhalten.“
An den Gastgeber gewandt fragte der Bewerber: „Wann darf ich mit einer Antwort rechnen?“ Unsicher fügte er hinzu: „Oder habe ich es vermasselt?“
Es war Lyon anzusehen, dass er nicht mit einer Zusage rechnete. Severus blieb gelassen, während er etwas in einer Mappe suchte. „Sofern während des Brauens keine Teile Ihres Gesichts in den Kessel fallen“, Lyon ballte die Hände zu Fäusten und Hermine wusste ebenfalls nicht, was sie von Severus’ Worten halten sollte, „können Sie regulär am 1. September hier anfangen.“
Mr. Lyon blinzelte einige Male. Seine Fäuste lockerten sich wieder. „Am 1. September?“
„Das passt Ihnen hoffentlich?“, fragte Severus mit regungsloser Miene nach. „Wir erwarten Sie pünktlich um halb acht. Allerdings würden wir es zu schätzen wissen, wenn Sie am Freitag, den 27. August bereits einträfen. Am 31. haben wir Vollmond. Die Apotheke wird das gesamte Wochenende für die Werwölfe geöffnet haben. Die vier Tage würden wir Ihnen als Überstunden anrechnen.“ Endlich hatte Severus das gefunden, was er gesucht hatte. Einen vorbereiteten Vertrag, den er Mr. Lyon reichte. „Lesen Sie sich alles in Ruhe durch. Wenn Sie am Freitag hier erscheinen, können wir das mit den Unterschriften erledigen.“

Durch die Blume gab Severus damit zu verstehen, dass er von dem neuen Angestellten die Überstunden erwartete und nicht etwa als Option anbot.

Verdutzt griff Lyon nach dem Vertrag und überflog das erste Blatt, doch er hatte keinen Kopf dafür, den Inhalt zu verstehen. Er war noch immer überwältigt, dass er ab dem nächsten Monat eine Anstellung haben würde.

„Ach, Mr. Lyon?“
„Ja, Professor Snape?“
„Befinden sich in Ihrem Bekanntenkreis womöglich andere Zaubertränkemeister, die ebenfalls auf der Suche nach einer Anstellung sind?“
Lyon dachte nach. Zu seinen Freunden zählten sieben Tränkemeister. „Ein Freund hört Ende September im Mungos auf. Die Tätigkeit dort findet er ermüdend. Und meine Nichte ist Ende dieses Monats mit ihrer Ausbildung fertig. Die Prüfung vorm Ministerium hat sie bereits bestanden.“
„Beide können sich hier vorstellen, falls Interesse besteht.“ Weil Mr. Lyon abzuwägen schien, ob er sich damit womöglich selbst Konkurrenz schaffte, wies Severus darauf hin: „Meine Unterschrift ist auf Ihrem Vertrag bereits vorhanden. Es fehlt nur noch die von Miss Granger.“
„Gebt mir Tintenfass und Feder und ich erledige das gleich“, versicherte Hermine lächelnd. Auch sie setzte ihre Unterschrift unter den Vertrag. „Wir sollten Ihnen noch sagen“, begann Hermine, „dass wir ab dem 1. September einen Auszubildenden beschäftigen. Das wäre zunächst das Team: Sie, Mr. Foster, Professor Snape und ich. Im Verkauf ist Miss Greengrass tätig.“
Mr. Lyon nickte. „Hört sich übersichtlich an.“
„Das wird es vorerst auch bleiben.“ Severus nahm den von Hermine unterschriebenen Vertrag und reichte ihn an Mr. Lyon mit den Worten weiter: „Können wir am Freitag mit Ihnen rechnen?“
„Selbstverständlich.“

Nachdem Mr. Lyon gegangen war, griff Severus zu dem Kuchen, den Hermine besorgt hatte. Offenbar war ihr in Erinnerung geblieben, dass er Nougattorte mochte.

„Was macht Mr. Lyon für einen Eindruck auf dich?“, wollte er wissen.
Hermine plapperte gleich drauf los. „Rein vom menschlichen her finde ich ihn sehr sympathisch, allein schon, weil ich mit ihm etwas gemeinsam habe.“ Weil Severus die Stirn runzelte, erklärte sie: „Das Spinnenfeuer. Ich weiß, wie höllisch das wehtut. Und er ist auch noch im Gesicht getroffen worden. Ich frage mich, wie er das abwehren konnte. Er ist auf jeden Fall sehr umgänglich. Ich habe zwar seine Fähigkeiten nicht getestet, das warst du, aber ich vertraue deinem Urteil blind.“
„Dann werden wir Freitag sehen, wie er sich mit dem Wolfsbanntrank macht. Ich werde ab morgen übrigens einige Apotheken aufsuchen“, warnte Severus sie vor. „Ich werde zur Mittagszeit außerhalb speisen.“
„Was hast du vor?“
„Ich werde die Lizenzen für das Vanillearoma im Wolfsbanntrank an den Mann bringen.“
Hermine nickte. „Was nehmen wir dafür?“
„Einmalig drei Sickel. Allerdings werde ich allen das Angebot unterbreiten, die zusätzliche Zutat für geringen Aufschlag auf den Einkaufspreis bei uns zu erwerben. Ich glaube nicht, dass viele der Zauberer und Hexen wissen, wie sie sonst an Aromastoffe aus der Muggelwelt gelangen könnten.“
„Meinst du nicht, dass die meisten froh sind, keinen Wolfbanntrank mehr brauen zu müssen?“
Selbstsicher schüttelte Severus den Kopf. „Das hat mit Kundenbindung zu tun, Hermine. Niemand wird es sich erlauben können, einen bestimmten Kreis von Kunden zu verlieren. Werwölfe sind außerhalb des Vollmonds ganz normale Kunden, auf die man nicht verzichten sollte.“

Wie geplant stellte Severus die ganze Woche über persönlich die Lizenzen für die interessierten Apotheken und freiberuflichen Tränkemeister aus. Er war gut darin, Leuten Honig ums Maul zu schmieren, wenn er etwas von ihnen wollte. Diese Fähigkeit hatte er sich von Lucius angenommen, der schon in der Schule genau wusste, wie er mit Mitschülern und sogar mit dem Lehrpersonal umgehen musste, um seine Ziele zu erreichen. Keiner der Apotheker war glücklich gewesen, einen festen Kundenstamm zu verlieren. Das Angebot der Granger-Apotheke schien mehr als nur fair.

Von Montag bis Donnerstag hatte Severus alle in der Nähe liegenden Anlaufstellen für den Wolfbanntrank aufgesucht und für die Lizenz begeistern können, selbst die Apotheke in der Muggelwelt, die von Squibs geführt wurde.

Am Freitag war es soweit.

Mr. Lyon fand sich überpünktlich in der Apotheke ein und kam in den Genuss einer frisch gebrühten Tasse Kaffee. Bevor er jedoch den ersten Schluck nahm, reichte er den unterschriebenen Vertrag zurück.

Severus nahm Notiz von der Unterschrift, händigte Mr. Lyon die Kopie aus und sagte kurz und knapp: „Willkommen an Bord.“
„Mein Bekannter aus dem Mungos und meine Nichte hätte großes Interesse an einem Vorstellungsgespräch, Professor Snape. Soll ich Ihnen die Adressen geben?“
Severus stellte als Gegenfrage: „Könnten Sie auch einen Termin übermitteln? Das würde sicherlich schneller gehen.“
„Sicher“, stimmte Mr. Lyon zu. „Meine Nichte würde, wie schon erwähnt, nächsten Monat zur Verfügung stehen. Mein Bekannter ab Oktober.“

Unerwartet musste Hermine an die Zeit denken, in der sie bei Snape ihren Vertrag unterzeichnet hatte. Vor gut zwanzig Monaten lernte sie das erste Mal den Mann kennen, der sich hinter Severus Snape verbarg. Anfangs rauften sie sich wegen Harrys Problem zusammen, später wurde sie seine Schülerin. Ihr Vertrag war ab Oktober letzten Jahres gültig gewesen, obwohl sie schon Monate vorher mit ihm gearbeitet hatte. Im Februar dieses Jahres hatte sie vorm Ministerium ihre Prüfung erfolgreich absolviert. Die Zeit verging wie im Flug.

„Hermine?“ Severus Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Sie blickte ihn fragend an, so dass er wiederholte: „Tee oder Kaffee?“
„Ich … Kaffee!“

Ihre Antwort erstaunte ihn, da sie normalerweise Tee trank. Allerdings begann heute die nervenaufreibende Arbeit, den Wolfsbanntrank zu brauen. Die ersten Kunden standen um neun Uhr vor der Ladentür und begehrten Einlass. Vorausschauend hatte Severus Informationsblätter auf der Theke ausgelegt, in denen auf die anderen Apotheken aufmerksam gemacht wurde. Einige der Werwölfe überlegten es sich anders und trugen sich nicht in der Liste der Granger-Apotheke ein, sondern suchten einen der anderen Anbieter auf. Dennoch war der Ansturm gerade noch zu bändigen.

Daphne hatte alle Hände voll zu tun, und Mr. Lyon schuftete im Labor zusammen mit Severus und Hermine wie ein Pferd.

Die ersten Tränke in den wiederverwendbaren Bechern mit Deckel waren bereit, in den Verkaufsraum getragen zu werden.

„Hermine, hilfst du mir?“ Severus nahm eines der Tabletts und fragte Mr. Lyon gar nicht erst, ob der sich vor unzähligen Kunden zeigen wollte.
Mit dem anderen Tablett in der Hand ging Hermine vor. „Warte, ich öffnet die Tür.“

Die Bezeichnung rammelvoll traf die Situation im Verkaufsraum sehr genau. Daphne vierteilte sich, um die Anliegen der normalen Kunden und der Werwölfe gleichzeitig zu vollster Zufriedenheit zu erledigen. Kaum hatte man Severus und Hermine bemerkt, rückte eine Gruppe Kunden heran, die heute schon den ersten Trank einnehmen wollten. Jeder hielt seinen Pass in der Hand.

„Unterschreibst du?“, flüsterte Severus.
„Den ersten Schwung können wir gemeinsam machen, dann geht es schneller.“

Severus war ungeduldig. Der nächste Kessel müsste aufgesetzt werden. Würde er Hermine jetzt nicht mit den Unterschriften helfen, würde sie heute gar nicht mehr ins Labor zurückkehren. Es lief wie folgt ab: Ein Werwolf zeigte seinen Pass und bekam daraufhin einen Trank. Der Tränkemeister musste warten, bis der Trank vollständig geleert worden war und das dauerte bei einigen. Erst danach durfte der Tränkemeister seine Unterschrift geben.

Ein kleiner Junge, der schon einmal von seiner Mutter begleitet worden war, guckte über die Theke zu Severus hinauf. Als er Augenkontakt hergestellt hatte, hielt er seinen Pass in die Höhe und sagte laut, um den Geräuschpegel aller anderen Kunden zu übertrumpfen: „Einen Vanilleshake, bitte!“ Die Mutter hatte ihm beigebracht, selbstständig nach dem Trank zu fragen und lächelte zufrieden.
Severus hob eine Augenbraue und fragte mit ernster Stimme zurück: „Mit oder ohne Sahnehäubchen?“

Der Junge war mit der Frage überfordert und versteckte sich scheu hinter den Beinen der Mutter. Mit einem der Tränke verließ Severus die Theke und ging auf den Jungen zu, der den Becher mit beiden Händen abnahm. Severus drehte den Verschluss ab, und der Junge trank.

Kurz vor Feierabend kam Remus vorbei, um ebenfalls den ersten Trank einzunehmen. Severus war derjenige, der die letzten Tränkepässe unterzeichnete.

„Ihr kommt am 1. September?“, wollte Remus wissen, nachdem er seinen Pass wieder eingesteckt hatte.
Severus nickte. „Sicher, aber wir können nicht lange bleiben, da es mitten in der Woche …“
„Oh, kein Problem. Die Feier soll gar nicht so lange dauern. Ich muss am nächsten Tag auch früh raus und den Kindern etwas beibringen.“ Remus’ Blick fiel auf die Informationsbroschüren. Eine nahm er in die Hand. „Ah, ihr teilt das Patent.“
„Es wurde zu viel Arbeit, selbst wenn wir zu dritt sind.“
Remus wurde neugierig. „Zu dritt?“
„Das letzte Mal half Popovich aus. Jetzt haben wir einen Herrn namens Lyon, der uns im Labor unterstützt.“
„Nur für den Wolfsbanntrank?“
„Nein, wir haben ihn unter Vertrag genommen. Außerdem habe ich ab nächsten Monat einen Lehrling.“
Remus war mehr als nur erstaunt, da Severus niemand war, der sich gern mit anderen Menschen umgab. „Tatsache?“
„Du kennst ihn sogar. Mr. Foster.“
Hier stutzte Remus. „Gordian Foster?“
„Korrekt!“
„Mit seinen Noten kein Wunder. Es gefällt mir zu wissen, wo der Junge nach der Schule untergekommen ist. Von einigen Schülern hört man nie wieder etwas.“

Am Montag, den 30. August, wanden sich alle Menschen, die an dem Fluch litten, unter größten Schmerzen, bis die Verwandlung abgeschlossen war.

In seiner Wolfsgestalt fiepte der kleine Junge erschöpft, woraufhin seine Mutter ihm die Ohren kraulte. Auf der Decke, die sie ihm bis zur Schnauze hinaufzog, befanden sich keine Monde, sondern Sonnen. Moony hechelte, und Tonks wünschte nicht zum ersten Mal, dass irgendjemand etwas erfinden würde, damit den Betroffenen die Schmerzen dieser Metamorphose genommen werden würde. Fogg hingegen bekam wie immer von Stringer einen großen Napf mit Hähnchenkeulen, Wildbraten und was die Küche im Gehängten sonst noch zu bieten hatte. Nicht jeder Werwolf bekam so großen Appetit wie Fogg. Fenrir Greyback, dem man den Wolfsbanntrank drei Tage hintereinander per Zwangsernährung eintrichtern musste, weil er sich gegen die Einnahme gewehrt hatte, spielte in seiner Zelle in Askaban völlig verrückt. Er kam nicht damit klar, in seiner Wolfsgestalt noch immer den menschlichen Verstand zu beherbergen. Seine Pritsche nahm er komplett auseinander, aber an den eisernen Gittern, die ihn von der Freiheit trennten, biss er sich im wahrsten Sinne des Wortes die Zähne aus.

In der Vollmondnacht fand auch Lucius keinen Schlaf. Magenschmerzen hielten ihn wach und sorgten dafür, dass er sich in der Nähe der Toilette aufhielt.

Auch am Dienstag, den 31. August, kniffen die Eingeweide. Der Grund dafür war eine stärkere Produktion von Magensäure, die wiederum Lucius’ Magenschleimhäute reizte. Die Bauchschmerzen rührten jedoch vom Kopf her, sie waren stressbedingt. Die Redewendung, dass einem etwas auf den Magen schlug, war keineswegs erdacht. Morgen schon würde er Hogwarts besuchen. Das allein war kein Grund für seine Leiden. Der Gedanke an Dumbledore machte ihm zu schaffen. Schon in der Schule konnte Lucius den Direktor nicht ausstehen. Der alte Zauberer schien durch einen hindurchzusehen, direkt in das Innerste zu blicken. Unbehaglich war gar kein Ausdruck für das, was Lucius empfand. Mit Sticheleien müsste er sich im Zaum halten, denn Dumbledore schoss gern auf gleiche Art und Weise zurück.

Am Morgen des 1. September fasste Lucius den Entschluss, die Winkelgasse aufzusuchen. Sein Ziel war die Granger-Apotheke. Bis heute verstand er nicht, warum sein alter Freund nicht auf eine Namensänderung des Geschäfts bestand, wo es ihm doch zur Hälfte gehörte.

Die kleine Klingel über der Tür kündigte den Kunden an. Daphne blickte auf und nickte Lucius freundlich zu.

„Kann ich Ihnen behilflich sein?“
Lucius trat an die Theke heran und betrachtete die Dame. Mit einem Male überkam ihn das Gefühl, er würde sie kennen. Er kniff die Augen leicht zusammen und legte den Kopf schräg. „Waren Sie nicht mit meinem Sohn in einer Klasse?“ Von Severus wusste er lediglich, dass eine Verkäuferin eingestellt war. Sein Gehirn hatte erfolgreich mit den Erinnerungen abgleichen können, so dass er sich die Frage selbst beantworten konnte. „Miss Greengrass, nicht wahr?“ Höflich hielt er ihr die Hand entgegen, die sie ergriff, aber ihr Gesichtsausdruck blieb kühl. Auch sie hatte ihn erkannt.
„Mr. Malfoy.“
„Ganz Recht!“
Er holte gerade Luft, um über Belangloses zu plaudern, da schnitt sie ihm das Wort ab: „Wie darf ich Ihnen helfen?“
Bei ihrer distanzierten Art verging ihm die Lust auf einen Plausch unter Reinblütern. „Ich suche etwas gegen Magenschmerzen.“
„Etwas Bestimmtes?“, fragte sie nach. „Waren Sie bei einem Heiler oder handelt es sich um …?“

In diesem Moment trat Severus in den Verkaufsraum. Die Überraschung hielt sich für Lucius in Grenzen, denn sein Freund arbeitete nun einmal hier. Severus hingegen war im ersten Moment sprachlos.

„Lucius, guten Tag.“ Severus schaute zu Daphne. „Ich kümmere mich um den Herrn.“ Die Angestellte schien erleichtert, holte einmal tief Luft und nickte. Severus klappte an einer Stelle die Theke auf, damit er sich seinem Freund nähern konnte. „Lucius, was führt dich her?“
„Mein Magen“, nörgelte der alte Freund wie ein quengelndes Kind. Um die Qual zu unterstreichen legte er eine flache Hand auf den Bauch. „Er rebelliert!“
„Hast du etwas Scharfes gegessen?“
Lucius schüttelte den Kopf. „Es liegt nicht am Essen. Mir ist seit einigen Tagen einfach nicht wohl.“
„Musst du aufstoßen?“
Empört wies Lucius seinen Freund zurecht: „Was soll diese Fragerei?“
Auf den Einwand ging Severus überhaupt nicht ein. „Hast du Stress?“
„Möglich …“, murmelte Lucius.

Seine Mutter. Die beinahe täglichen Besuche bei ihr erfreuten ihn, aber sie zerrten auch an seinen Nerven, nicht zuletzt wegen der dürren Schwester, die ihn immerzu im Auge behielt. Als Erstes hatte Lucius seine Frau mitgenommen, um sie der Mutter vorzustellen. Einen Tag später war Draco sein Begleiter. Mit wachsendem Neid stellte Lucius fest, dass sein Sohn und seine Mutter vertrauter und gelassener miteinander umgingen als es ihm vergönnt war. Vielleicht lag das nur an der Familie Malfoy. Man hatte sich zu mögen. Selbst im Nachhinein würde Lucius es nicht wagen, schlecht über seinen Vater zu sprechen. Eine Person hielt Lucius seiner Mutter noch vor: Susan. Sie würde bis spät abends arbeiten, hatte er ihr erzählt. Gelogen war es nicht, aber eine oder zwei Freistunden hätte sie sich durchaus nehmen können. Der Enkel, Lucius’ ganzer Stolz, hatte schon bei der ersten Begegnung mit der lang vermissten Urgroßmutter eine so inniges Verhältnis aufgebaut, dass seine Mutter – über ihre aktuellen Ansichten war er nicht im Bilde – auch mit einem Halbblut in der Familie auskommen würde.

Das war der Stress, den Lucius sich selbst machte, denn es lag ihm daran, alle formellen Dinge so schnell wie möglich zu erledigen, damit seine Mutter das Heim verlassen und bei ihrer Familie unterkommen dürfte. Auf andere Ereignisse, die seine Nerven strapazierten, hatte Lucius überhaupt keinen Einfluss. Der Werwolf. Die Nichte seiner Frau heiratete heute Abend einen Werwolf. Allein bei der Bezeichnung dieser Bestien drehte sich ihm der Magen um. Der Mann mochte freundlich sein, aber was war mit der Bestie in ihm? Das Ministerium hatte diese Kreaturen nicht ohne Grund als Tierwesen der höchsten Gefährlichkeitsklasse eingestuft. Jeder, der sich vorurteilsfrei gab und großzügig über dieses Manko hinwegsehen wollte, war ein Narr. Ganz besonders Dumbledore – und der brachte das Fass zum Überlaufen oder in Lucius’ Fall die Magensäure zum Kochen.

Plötzlich geschah etwas, was Lucius in Gesellschaft immer tunlichst vermieden hatte. Er musste aufstoßen.

Angewidert verzog Severus das Gesicht. „Ach du meine Güte“, sagte er leise, „am besten gebe ich dir etwas Säurebindendes. Oder besser noch etwas, das die Produktion der Magensäure reduziert.“

Lucius war sich sicher, dass auch Severus den strengen Geruch bemerkt haben musste, der die Speiseröhre hinaufgekrochen kam. Wahrscheinlich stank es genauso beißend wie es schmeckte. Er war so peinlich berührt, dass er lediglich nicken konnte. Er beobachtete, wie Severus zielsicher durch die überschaubaren Gänge ging, Halt machte und etwas in die Hand nahm. Nach einem kurzen Blick zu Lucius entschied sich Severus für einen weiteren Trank.

Als sein Freund sich wieder zu ihm gesellte, zeigte Lucius auf sein Brustbein und sagte leise, damit die Angestellte es nicht hören würde: „Ich habe hier so einen dumpfen Druck. Nicht dass es das Herz ist.“
„Unfug, das kommt vom Magen“, beteuerte Severus, der es nicht für möglich hielt, nach der Einnahme des Elixiers des Lebens schlimmere Beschwerden zu bekommen als Sodbrennen. „Bist du morgens heiser?“
„Jetzt, wo du es erwähnst …“ Lucius nickte. „Woran mag das liegen?“
„An der Magensäure, die bei der horizontalen Lagerung des Körpers in die Speiseröhre zurückfließt. Nimm das hier“, Severus hielt eine braune Flasche in die Höhe, „dreimal täglich. Und das hier“, er zeigte die durchsichtige Flasche, „bei akutem Unwohlsein.“
„Wie viel schulde ich dir?“
„Das macht Miss Greengrass.“
„Mmmh“, summte Lucius zustimmend.
„Wenn es nächste Woche nicht besser ist, gehst du zu einem Heiler!“
„Jawoll!“, scherzte Lucius, doch Severus’ Miene rührte sich nicht.
„Ich meine es ernst. Wenn du etwas verschleppst, werde ich es nicht mehr behandeln können. Ich frage mich, was das verursacht, wenn es nicht am Essen liegt.“

Nicht nur die eigene Mutter und die bevorstehende Vermählung mit einem Werwolf, der somit auch in die Familie Malfoy einheiratete, machten ihm zu schaffen. Die Aussicht auf ein unangenehmes Gespräch mit …

„Dumbledore“, hörte Lucius seinen Freund plötzlich sagen, als hätte der seine Gedanken gelesen. Severus nickte verständnisvoll. „Du weißt, dass ich heute Abend auch dort sein werde?“
„Ja, und das ist, wenn ich das mal so offen sagen darf, der einzige Lichtblick. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es unterhaltsam wird.“
„Von Harry weiß ich, dass sie das Kind mitnehmen. Du kannst deinen Enkel …“
„Den müssen wir sowieso mitbringen. Wir haben keinen Elf, der sich um ihn kümmern könnte.“
„Dann sehen wir uns heute Abend“, sagte Severus mit einem Kopfnicken. „Ach, und eh ich’s vergesse: Keinen Alkohol.“
„Hast du Angst, ich könnte mich nicht benehmen?“, fragte Lucius beleidigt nach.
„Nein, nicht deswegen.“ Severus deutete auf die beiden Mittel in Lucius Händen. „Die Tränke vertragen sich nicht mit Alkohol.“
Severus ging zurück hinter die Theke und sagte zu Daphne: „Machen Sie dem Herrn einen Freundschaftspreis.“

Zurück im Labor stellte er sich an den Tisch und betrachtete den Inhalt eines Kessels. Der Wermut war schon zu einem Sud zerkocht. Danach blickte er auf das Holzbrett, auf dem junge Hände alle Mühe hatten, eine Schlafbohne zu schneiden.

„Zerdrücken Sie sie mit der Klinge, Mr. Foster.“
„Aber in der Schule …“
„Wir sind hier nicht in der Schule. Zerdrücken Sie die Schlafbohne. Den Vorteil werden Sie schon noch bemerken.“

Mr. Lyon und Hermine schauten ab und an von ihrem eigenen Schneidebrett oder Kessel auf und blickten hinüber zu Severus und seinem Schüler. Severus selbst braute nebenher Tränke, die nicht ständig seiner Aufmerksamkeit bedurften. So konnte er sich Gordian besser widmen.

„Haben Sie schon die Affodillwurzel geschnitten?“ Gordian zeigte auf ein Brett, dass er von sich weggeschoben hatte. „Ah“, machte Severus zufrieden, als er neben der feingehackten Affodillwurzel auch die geschnittene Baldrianwurzel bemerkte. „Der Sud ist bereit, Mr. Foster. Dann beginnen Sie mit dem Hinzufügen der Zutaten und achten Sie auf die Rührbewegungen.“

Den Trank der lebenden Toten hatte Gordian im Nu fehlerfrei gebraut. Severus war zufrieden.

Gegen Mittag lugte Daphne ins Labor hinein. „Ich habe abgeschlossen.“ Mittagspause. Das bedeutete nicht, dass man sofort alles stehen und liegen lassen durfte. Zuerst wurde das zu Ende gebraut, was man begonnen hatte.
„Mr. Foster, wie haben Sie sich vorgestellt, die Mittagspause zu verbringen?“ Weil Gordian nicht antwortete, lag es Severus’ Meinung nach auf der Hand, dass er sich keine Gedanken darüber gemacht hatte. „Sie können mit uns in der Küche essen.“
„Das ist nett von Ihnen, Sir. Soll ich etwas kochen?“
Severus hob eine Augenbraue. „Können Sie denn kochen?“
„Ich hab es von meiner Großmutter gelernt.“
„Dann gehen Sie doch schon in die Küche und zaubern etwas für fünf Personen.“

Gordian hatte aus wenigen Lebensmitteln ein schmackhaftes Mittagessen zubereitet, sodass Severus ihm anbot, gegen einen Obolus jeden Tag für die kleine Belegschaft zu kochen. Das sparte einerseits die Kosten für ein auswärtiges Mittagessen und war andererseits verträglicher als das, was Hermine zustande brachte.

Am Abend warf sich Hermine in Schale. Severus hingegen wechselte lediglich von einem schwarz ins andere.

„Wir werden viel zu früh da sein“, nörgelte Severus.
Hinter der angelehnten Schlafzimmertür vernahm er ihre Stimme. „Ich möchte die Erstklässler sehen. Remus hat gesagt, Dumbledore hätte nichts dagegen, wenn wir als Gäste am Lehrertisch sitzen.“ Sie hörte ein lang gezogenes Stöhnen. „Es kann dir doch egal sein“, beschwichtigte sie ihn. „Du bist dort nicht mehr Lehrer.“
„Das ist auch bess…“

Mitten im Satz hielt er inne, weil sie aus dem Schlafzimmer heraustrat. Das Kleid hatte ihm glatt die Sprache verschlagen. Er räusperte sich.

„Muss das hier oben so“, er wedelte mit einer Hand vor seiner Brust herum, „offen sein?“
Skeptisch blickte Hermine an sich herab und fand nichts, was sie bemängeln könnte. „Wo?“, wollte sie genauer wissen.
„Man kann alles sehen.“
„Was sehen?“
„Das Dekolleté!“
Hermine hob und senkte die Schultern. „Das darf man sehen.“ Um ihr Erscheinungsbild zu überprüfen, stellte sie sich vor einen Spiegel. Es sah ihrer Meinung nach alles bestens aus. „Sieht doch gut aus“, redete sie sich selbst ein, denn Severus’ Einwand hatte sie unsicher gemacht.
„Wenn du meinst.“

Sie nahmen den Kamin und trafen überpünktlich bei Harry und Ginny ein. Der Phönix begrüßte sie mit einer gezwitscherten Tonreihenfolge, bevor er sich wieder dem Fressnapf widmete.

„Hermine, Severus“, grüßte Harry, der mit seinen Händen am Hals herumfummelte, weil er sich eine Fliege binden wollte. „Gut, dass ihr da seid. Kennt sich einer von euch mit dem Binden einer Fliege aus?“
„Wie steht es mit deiner Frau?“, fragte Severus. „Sie hat sechs Brüder. Da müsste sie eigentlich …“
Ginny unterbrach ihn. „Keiner von denen hat jemals eine Fliege getragen.“ An Harry gerichtet sagte sie: „Warum keine Krawatte?“
„Weil die nicht zu dem Anzug passt“, knurrte Harry gemeingefährlich. Er blickte Hermine an. „Bitte, du kannst das bestimmt, oder?“
„Bedaure, Harry. Ich habe noch nie eine Fliege gebunden.“
Harry wirkte verzweifelt. „Gibt es dafür denn keinen Zauber?“
„Bestimmt gibt es einen“, versicherte Hermine, „aber den kenne ich nicht.“
Severus schüttelte den Kopf. „Das kann alles nicht wahr sein.“

Schnurstracks ging er auf Harry zu und schlug dessen Hände weg, damit er die Fliege ergreifen konnte. Einen Moment schaute er irritiert drein, bevor er die Fliege losließ und Harry zu dem kleinen Spiegel neben der Eingangstür schubste. Severus stellte sich hinter Harry und band ihm die Fliege, den konzentrierten Blick auf das Spiegelbild gerichtet. Aufmerksam versuchte Harry, sich die Vorgehensweise zu merken, aber als Severus ein Ende der Fliege im Zickzack faltete, kam er schon nicht mehr mit.

„Voilà!“
„Danke, Severus.“

Gleichzeitig drehten sich die beiden zu den Frauen um, nur um festzustellen, dass Ginny und Hermine jeweils das Dekolleté der anderen betrachteten.

„Ist das zu weit ausgeschnitten?“, fragte Hermine unsicher.
„Nein, finde ich nicht. Und bei mir?“
„Nein, auch nicht.“

Severus flüsterte, sodass nur Harry es hören konnte: „Man kann alles sehen.“
„Ja“, stimmte Harry zu, „aber sie hört ja nicht auf mich.“

Als man fertig war, ging man zusammen hinaus auf den Flur. Von einem Fenster aus sah man Licht auf dem See.

„Die Erstklässler kommen“, verkündete Harry. „Dann werden die anderen Schüler schon hier sein.“

Er hatte richtig vermutet. Die Eingangshalle war voller Schüler, die sich nach den langen Sommerferien begrüßten und sich über ihre Abenteuer unterhielten.

„Professor Snape“, sagte plötzlich eine Schülerin hinter ihm. Er drehte sich um und blickte in das Gesicht von Meredith Beerbaum. „Guten Abend, Sir. Ich wollte mich nur erkundigen, wie Gordian sich an seinem ersten Tag gemacht hat.“
„Es gab nichts zu bemängeln“, erwiderte er knapp.
„Das ist schön zu hören. Dann viel Spaß, Sir.“

In der Großen Halle hatten einige Schüler Platz genommen. Harry und die anderen wurden nett gegrüßt, wenn man sie überhaupt bemerkte. Vorn konnte man sehen, dass der Lehrertisch um zwei Tische verlängert wurde. Die beiden zusätzlichen Tische waren schräg angebracht, nicht U-förmig, sondern von den Flügeln her wie ein umgedrehtes V angeordnet, so dass man genau sehen konnte, wer Lehrer und wer Gast war.

„Sieh mal, Andromeda ist auch schon da“, sagte Harry und deutete mit dem Kopf in Richtung Hinterausgang der Großen Halle. Durch eine Tür kamen die Familie Tonks, auch Remus und Nymphadora. Ihr Hochzeitskleid war schlicht, aber nichtsdestotrotz wunderschön anzusehen. Sirius hielt die Tür auf und ließ alle eintreten.

Nacheinander trudelten die Lehrer ein. Durch die Platzkarten wussten Hermine, Harry, Ginny und Severus, wo sie sitzen sollten. Sie verhielten sich so ruhig wie möglich, nur Nicholas, der auf Harrys Schoß saß, sah keinen Grund zur Ruhe. So viele Menschen auf einmal musste er lauthals besingen. Als endlich alle Schüler eingetroffen waren, ging Minerva nach draußen, um die Erstklässler hereinzuholen.

Wie immer waren viele Kinder dabei, die von der Großen Halle und den vielen Menschen eingeschüchtert waren und ängstlich dreinblickten. Andere wiederum schienen von Geschwistern und Eltern genau zu wissen, was sie erwartete und strahlten daher über das ganze Gesicht. Bevor den Kindern der Sprechende Hut aufgesetzt werden würde, durfte der sein Begrüßungslied singen:

Ei der Daus! Ist’s schon so weit?
Vorbei ist ein Jahr Schulweisheit.
Ein neues beginnt ab sofort
in Hogwarts, hier an diesem Ort.

Die Häuser waren einst verkracht,
Rivalitäten wurden vermacht.
Dies Erbe habt ihr ausgeschlagen,
habt euch am Ende gut vertragen.

Egal in welches Haus ihr kommt,
einen Freund findet ihr prompt,
denn unabhängig von den Noten
wird Freundschaft häufig angeboten.

Die Vergangenheit hat’s gezeigt,
ihr seid der Zukunft zugeneigt.
Lasst euch die Gegenwart nicht entgehen,
nur sie enthält die größten Höhen.

Mut, List, Treue oder Eifer,
das alles macht einen jeden reifer.
Zu lernen ist – ganz ohne Frage –
eure wichtigste Aufgabe.

Begrüßt sie nun, die Neulinge,
seid nett zu ihnen und guter Dinge.
Helft dort, wo man nur helfen kann,
zur Not spielt ihr den Mittelsmann.

Nach und nach wurde den Schülern der Sprechende Hut aufgesetzt, damit sie an den Tischen ihrer Häuser Platz nehmen konnten. Mit Freude, die er nach außen hin natürlich nicht zeigte, stellte Severus fest, dass sein Haus in diesem Jahr besser besucht war als im letzten.

Bevor Albus das Festmahl begann, gab er zunächst einige Veränderungen bekannt. Er deutete auf Severus.

„Einigen von euch wird im letzten Schuljahr die Information nicht entgangen sein, dass Professor Severus Snape sich aus dem Lehreramt zurückgezogen hat. An seiner Stelle“, Albus deutete auf den neuen Lehrer, „wird Professor Georgi Popovich das Fach Zaubertränke übernehmen.“ Einige Schüler applaudierten, aber nicht zu heftig, damit ihr ehemaliger Lehrer nicht glaubte, man würde sich über den Wechsel freuen. „Weil mit Professor Snapes Abschied die Slytherins ohne Hauslehrer dastehen, übernimmt diese Aufgabe ab heute Professor Aurora Sinistra, eure Lehrerin für Astronomie.“ Professor Sinistra wurde von ihrem Haus mit stürmischem Applaus begrüßt. Viele der ehemaligen Schüler wussten nicht einmal, dass diese Lehrerin damals im Hause Slytherin war. Zu ihnen zählten auch Harry, Ginny und Hermine. „Da Professor Harry Potter“, Albus nickte Harry zu, „sich ebenfalls aus den schulischen Angelegenheiten zurückgezogen hat, darf ich an seiner Stelle Professor Remus John Lupin begrüßen, der euch fortan als Lehrer durch das Fach Verteidigung gegen die Dunklen Künste führen wird.“ Wieder applaudierten die Schüler, diesmal etwas großzügiger. „Und weil Professor Lupin sich nicht noch zusätzlich um die Pflege magischer Geschöpfe kümmern kann, darf ich ganz herzlich einen Lehrer begrüßen, der schon damals dieses Fach unterrichtete: Professor Rubeus Hagrid.“

Die Schüler waren nicht mehr zu bremsen. Den größten Applaus an diesem Abend erhielt Hagrid. Die Kinder aus dem Vorjahr kannten ihn als Wildhüter und Hüter der Schlüssel von Hogwarts. Mit seinem großen Herz für Kinder war er ihnen natürlich nicht entgangen. Wie sollte man auch einen Halbriesen übersehen können? Selbst Harry klatschte, obwohl dieser Umstand sich in keinster Weise auf sein Leben auswirken würde.

Als der Direktor seine Rede beendet hatte, klatschte er zweimal in die Hände. Auf den Tischen erschien das üppige Essen, das die Elfen in der Küche hergerichtet hatten. In der Mitte der Bühne, auf der die Lehrertische standen, materialisierte sich eine riesige Torte auf einem Beistelltisch, der für das Gewicht zu schwach schien. Das Holz knarrte unter der Last des fünfstöckigen Backwerks.

Der Direktor erhob sich von seinem Stuhl und blickte neben der Torte vorbei auf die Schüler, während er sagte: „Das war nicht geplant. Es scheint mir so, als wäre das ein Geschenk der Hauselfen, denn ihr müsst wissen, dass Professor Lupin heute früh im Ministerium geheiratet hat.“

Diesmal klatschten die Schüler nicht nur, sie verstärkten ihren Applaus noch mit den Füßen, indem sie heftig trampelten. Einige pfiffen, andere jubelten dem Brautpaar zu.

Harry war verwirrt. „Sie haben heute früh schon geheiratet?“
„Offensichtlich ja“, sagte Hermine. „Und jetzt wird gefeiert. Ist doch in Ordnung.“

Die Hochzeitstorte war so groß, dass selbst jeder Schüler ein Stück abbekommen würde. Remus und Tonks wurden nach vorn gebeten, um sie anzuschneiden. Gerade rechtzeitig trafen die Malfoys samt Kleinkind ein. Sie nahmen die Hintertür, die direkt zu den Lehrertischen führte. Weil alle Augen auf das Brautpaar gerichtet waren, bemerkte niemand, dass sich Lucius samt Familie neben Severus setzte.

„Die Schüler sind ja noch alle da“, flüsterte Lucius, dem dies unangenehm war.
„Eine Idee der Elfen“, erklärte Severus. „Die Schüler werden sicherlich verschwinden, nachdem sie ein Stück Torte bekommen haben.“

Lucius nickte, bevor er sich langsam umschaute. Gegenüber saßen die Blacks und Tonks, die ihre Augen auf Remus und dessen Braut gerichtet hatten. Am Lehrertisch, wie überraschend, saßen die Lehrer.

„Der dort“, Lucius nickte zu Popovich, „ist der dein Nachfolger?“
„Ja, du kennst ihn vielleicht. Er war in meinem Jahrgang. Georgi Popovich, Ravenclaw.“
„War er nicht in dieser Arbeitsgruppe, die Slughorn ins Leben gerufen hatte?“
„Ganz recht.“
„Ja, dann kenne ich ihn. Etwas mopsig geworden, nicht wahr?“
„Nicht jeder kann im Alter sein Gewicht so halten wie du oder ich.“

Lucius schaute sich die anderen Personen an und stand mit einem Male in Blickkontakt mit Albus Dumbledore, der ihm auch noch zunickte. Höflich wie Lucius war erwiderte er den nonverbalen Gruß. Wenn Dumbledore ihn jetzt schon im Visier hatte, würde er um ein Gespräch mit dem alten Mann nicht herumkommen. Lucius stieß leise auf, doch Severus und Narzissa hörten es.

„Möchtest du von deinem Trank nehmen?“, fragte die Gattin fürsorglich und holte bereits das Fläschchen heraus, das Lucius erst heute früh bei Severus erworben hatte.
„Ja, das wäre nett.“

Als Lucius seine zwanzig Tropfen auf den Teelöffel tröpfeln ließ, kam Remus an ihren Tisch.

„Schön, dass ihr kommen konntet“, sagte er in die Runde. „Was für Torte möchtet ihr?“ Remus drehte sich um und zeigte zur Hochzeitstorte. „Ganz oben haben wir Erdbeere, darunter Marzipan, dann Nuss, Schokolade und ganz unten Nougat.“
Gelassen fragte Severus: „Muss ich mich von oben nach unten durchessen, um an Nougat zu gelangen?“
„Natürlich nicht. Also Nougat. Nachher, wenn die Schüler in ihren Gemeinschaftsräumen sind, wird es etwas gemütlicher.“

Die Hauselfen halfen, den Kuchen an die Schüler zu verteilen. Lucius hatte sich Charles auf den Schoß gesetzt, damit er mit ihm zusammen essen konnte. Harry machte das Gleiche mit Nicholas. Als die Jungen sich gegenseitig bemerkten, winkten sie sich zu und grinsten dabei bis über beide Ohren.

„Übrigens …“, läutete Lucius eine Unterhaltung mit Severus ein. „Ich habe meine Mutter besucht. Mehrmals sogar.“
„Wie ist es gelaufen?“, erkundigte Severus sich.
„Ganz wunderbar. Zu meinem Erstaunen hatte sie nicht einmal etwas gegen meine Schwiegertochter einzuwenden.“
Severus stutzte. „Warum sollte sie auch? Sie wurde in ihrem Leben sicherlich häufig von Halbblütern oder Squibs versorgt.“
„Da hast du auch wieder Recht.“ Einen Moment lang zögerte Lucius, bis er schließlich zugab: „Sie ist erblindet.“ Er hatte leise gesprochen, aber Severus hatte es gehört. „Das Gleiche, was mir widerfahren ist. Es liegt an den Genen, weißt du?“ Severus hörte die Reue aus Lucius’ Worten. „Im Gegensatz zu mir ist sie zu alt für eine Behandlung. Sie wird nie wieder sehen können.“
„Das ist bedauerlich, Lucius. Ich bin mir sicher, dass sie dennoch ein erfülltes Leben haben wird.“
„Hast du im Mungos die kostenlose Untersuchung in Anspruch genommen?“
Severus verneinte. „Ich habe nichts zu befürchten.“
„Ah, verstehe. Dein Vater ist ein Muggel. Du hast Glück, Severus. Wirklich viel Glück. Wenn ich so darüber nachdenke …“ Gedankenverloren schüttelte Lucius den Kopf. „Darwin ging es ganz ähnlich wie einigen Reinblütern. Er ehelichte seine Cousine. Drei seiner Kinder starben, andere waren unfruchtbar – und der Mann hat etwas von Vererbung verstanden.“

Severus nickte. Die reinblütigen Familien hatten sich, ähnlich wie einige Königsfamilien der Muggel, stets untereinander verheiratet. Über diesen Nachteil war sich Lucius endlich klargeworden. Er nahm eine kleine Hand von Charles in seine. Der Junge war rundum gesund, würde niemals unter einer vererbbaren Krankheit leiden müssen.

„Meine Mutter wird demnächst bei uns einziehen“, gestand Lucius. „Sie hat sich mit Draco auf Anhieb verstanden, auch mit Narzissa. Mit Charles sowieso, nicht wahr, mein Kleiner?“ Er wippte mit seinen Oberschenkeln auf und ab, woraufhin sein Enkel anfing, fröhlich zu glucksen. „Vielleicht wird uns dann ein Hauself genehmigt. Zumindest aber suche ich eine Dame, die im Haushalt helfen kann. Wie sieht es eigentlich mit deinem Vater aus, Severus?“
„Wie soll es mit ihm aussehen? Er ist in einem Heim, ich bin hier. Da gibt es nicht mehr zu wissen.“
„Du solltest Kontakt mit ihm aufnehmen.“
„Ich werde mich hüten.“
Hermine lauschte, tat jedoch so, als würde sie Harry zuhören. Lucius hörte nicht auf zu fragen: „Weißt du überhaupt, wie es ihm geht?“
„Es interessiert mich nicht die Bohne!“, sagte Severus mittlerweile sehr aufgebracht.
„Das sollte es aber, Severus. Weißt du, was mich nach all den Jahren endlich nicht mehr quält, seit ich meine Mutter besucht habe?“
„Du wirst es mir sicher gleich verraten, obwohl ich es nicht hören möchte.“
„Sei nicht so abweisend“, mahnte Lucius. „Ich spreche von etwas, das dir sicherlich ebenfalls zu schaffen macht. Ein schlechtes Gewissen.“
„Mein schlechtes Gewissen kommt bestimmt nicht davon, dass ich einen alten Trunkenbold nicht besuche. Ich habe ganz andere Sorgen, mit denen ich fertigwerden muss.“
Lucius nickte. „Ich verstehe, was du meinst, aber dennoch: Es würde dir gut tun.“
„Schließ nicht von dir auf andere. Im Gegensatz zu dir weiß ich, warum mein werter Herr Vater im Heim vor sich dahinvegetiert – ich hoffe jedenfalls, dass er vegetiert, denn etwas anderes hat er nicht verd…“
„Wie kannst du nur so reden?“, unterbrach Lucius. „So würde ich nicht einmal von meinem Vater sprechen, obwohl der auch kein Heiliger war, wie du weißt.“
Severus hatte genug. Vor Wut zuckte bereits sein linkes Augenlid. „Ich rede so von ihm“, zischte er durch die Zähne, „weil eine der bewusstesten Erinnerungen, die ich an meinen Vater habe, daraus besteht, wie ich mit einem Mob hinter ihm herlaufe, um seine Kotze aufzuwischen, deswegen interessiert er mich einen Dreck!“
„Severus!“, mahnte diesmal Hermine wegen der unangemessenen Wortwahl. „Man schaut schon zu uns hinüber.“
„Dann lass sie gaffen!“

Um sich zu vergewissern, wen Hermine meinte, blickte sich Severus um. Wenige Schüler schauten zum Lehrertisch hinauf. Wenn sein Adlerblick auf sie fiel, sahen sie schnell weg. Am Lehrertisch war es Remus, der zu ihm schaute, nicht verärgert, sondern besorgt. Und auch Albus bedachte ihn mit einem väterlich verständnisvollen Blick, mit dem er gleichzeitig zur Ordnung rief. Severus schluckte all seine Wut hinunter und widmete sich seinem Stück Torte. Lucius unterließ es, seinen Freund nochmals auf den Vater anzusprechen, denn das Thema stellte ganz offensichtlich einen wunden Punkt dar.

Nachdem die Schüler die Große Halle verlassen hatten, veränderte Albus per Zauberspruch die Anordnung der Tische. Eine runde Tafel entstand. Endlich waren auch die fehlenden Gäste gekommen: Arthur, Molly und Kingsley. Die Feier fand, wie Remus es versprochen hatte, im kleinen Rahmen statt. Es blieben nicht alle Lehrer, nur Minerva, Filius, Pomona und Georgi, mit dem sich Remus bestens verstand. Kingsley stand gerade beim Brautpaar und unterhielt sich mit beiden.

„Ich gehe mal rüber“, warnte Hermine vor, „und überreiche ihnen unser Geschenk.“
„Was schenken wir denn?“ Darüber hatte sich Severus überhaupt keine Gedanken gemacht.
„Geld.“ Weil Severus die Nase rümpfte, weil er die Idee für gewöhnlich hielt, fügte sie hinzu: „Beide sind erwachsen, haben längst ihren eigenen Haushalt. Was kann man da sonst zur Hochzeit schenken?“
„Ja, du hast Recht.“
„Du gratulierst nachher selbst, oder?“
„Sicher.“

Hermine hatte Glück, dass sie gleich nach Kingsley mit dem Brautpaar sprechen konnte, denn langsam bildete sich eine Schlange von Gratulanten hinter ihr.

„Wir wünschen alles Gute zur Hochzeit, viel Glück im Leben, reichlich Kindersegen und eine Menge Geld und Zufriedenheit“, sagte Hermine strahlend, bevor sie Tonks um den Hals fiel. Als sie Remus umarmte und ihm einen Kuss auf die Wange gab, flüsterte sie: „Ich freue mich so für euch.“
„Danke, Hermine. Vielen Dank.“

Schon wurde Hermine von einer weinenden Molly versehentlich zur Seite gedrängt, so dass sie Kingsley fast auf den Fuß trat, ihn zumindest aber anrempelte.

„Entschuldige bitte.“
„Macht doch nichts, Hermine.“
Das Gespräch zwischen Lucius und Severus hatte sie auf einen Gedanken gebracht und vielleicht könnte Kingsley dabei helfen. „Darf ich mit dir kurz mal unter vier Augen sprechen?“
Zwar war Kingsley sichtlich erstaunt, dennoch deutete er ihr, dass sie ihm folgen sollte. Sie standen etwas abseits von den anderen, direkt neben dem Hintereingang. „Wie kann ich dir helfen?“
„Kannst du dir erklären, warum man einen Muggel in eine Einrichtung steckt, die vom Zaubereiministerium unterhalten wird?“
„Werde bitte etwas genauer. Ansonsten kann ich dir nur versichern, dass so etwas üblicherweise nicht stattfindet.“
„Es geht um Severus’ Vater. Er wurde von einem Muggelpflegeheim nach Dii Penates verlegt.“
„Ah“, machte Kingsley. „Das war Scrimgeours Idee. Er dachte, wenn Severus seinen Vater aufsuchen würde, dass er ihn auf diese Weise dingfest machen könnte.“
„Das Ministerium hat Tobias Snape als Köder benutzt?“
„Ja, allerdings wusste niemand, dass die beiden seit Jahren nicht mehr miteinander gesprochen haben. Trotzdem war eine winzige Chance vorhanden, den flüchtigen Todesser eventuell in die Finger zu bekommen.“
„Und nach dem Krieg hat sich nichts geändert?“
„Wenn du damit meinst, dass Mr. Snape zurück in ein anderes Heim muss? Nein, muss er nicht. Als Vater eines Zauberers hat er das Recht auf magische Hilfe.“
„Weißt du, wie es ihm geht?“
„Nein, das war nie mein Gebiet. Ich hab nur aus Akten davon erfahren, weil Scrimgeour unbedingt zwei Auroren von mir haben wollte, die sich tag ein, tag aus in Dii Penates aufhalten. Ich war nie dort, habe den alten Snape nie gesehen. Außerdem habe ich nicht geglaubt, dass Severus vom neuen Aufenthaltsort seines Vaters überhaupt wusste, denn die Eulen kamen immer zurück.“
„Ja, der Brief ist neulich erst angekommen. Er lagerte jahrelang beim Postamt zwischen.“
„Scrimgeour war damals etwas hilflos. Er wollte unbedingt handeln und Erfolge erzielen, aber das war nicht so leicht, deshalb kamen ihm solche Ideen in den Sinn, selbst wenn die Chancen gering waren. So konnte er wenigstens behaupten, dass er etwas unternahm.“
„Weißt du vielleicht aus den Akten, ob Severus’ Vater einen Vormund hat oder ob er selbst noch geschäftstüchtig ist?“
Kingsley schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, so tief war ich nie in der Materie drin. Severus kann Kontakt zum Heim aufnehmen, wenn er mehr erfahren möchte.“
„Ich befürchte, er möchte gar nichts erfahren“, murmelte Hermine.

Einige Plätze weiter suchte Nicholas Kontakt zu Charles, der noch immer bei Lucius auf dem Schoß saß. Der rotblonde Junge räkelte sich, damit sein Großvater ihn hinunterlassen würde.

„Ist ja gut. Geh schon spielen“, sagte Lucius, setzte den Jungen ab und gab ihm noch einen liebevollen Klaps auf den gewindelten Po. „Meine Mutter hat ihn sofort ins Herz geschlossen.“
Severus stöhnte. „Fang nicht wieder mit dem Thema an, sonst setze ich mich woanders hin.“
„Neben Black ist gerade ein Platz frei. Nur zu, Severus“, stichelte Lucius.

Severus stand tatsächlich auf, aber nicht, um neben Sirius Platz zu nehmen, sondern um sich für die Gratulationen anzustellen. Zwei Stühle neben Lucius waren frei und auf dem dritten saß …

„Mr. Potter.“
„Mr. Malfoy“, grüßte Harry im gleichen, monotonen Tonfall zurück. „Vielen Dank übrigens für die Karte.“
„Für was bitte?“
„Die Ansichtskarte aus Mauritius.“
„Ah, nichts zu danken.“

Eine unangenehme Stille kehrte ein. Verlegen schauten Harry und Lucius umher. Zu Lucius Entsetzen näherte sich ihm Albus Dumbledore. Sein Magen begann zu brodeln. Vielleicht, mit etwas Glück, würde er so viel Magensäure produzieren, dass er diese wie Gift ausspeien konnte, um seinen Feind auf Abstand zu halten. Leider wirkte das Mittel, das er in der Apotheke gekauft hatte, sehr gut.

„Lucius“, grüßte der Direktor, als wären sie alte Freunde. Man hatte sich zu einer Zeit, in der Lucius noch im Schulbeirat tätig war, durchaus mit Vornamen angesprochen.
„Professor Dumbledore, wie nett Sie wiederzusehen“, log Lucius mit einem falschen Lächeln auf den Lippen. Sein Albtraum wurde wahr. Er musste sich mit Dumbledore unterhalten.
„Wie ich sehe“, Albus deutete zu Charles, „kann Ihr Enkel schon ein paar Schritte allein gehen.“
„Ja, aber wenn möglich, dann lässt er sich lieber herumtragen.“
„Ich hoffe, ich werde in einigen Jahren erfahren, in welches Haus der Junge kommt. Bei den Eltern“, Dumbledore blickte zu Susan und Draco, „wahrlich eine schwierige Überlegung.“
„Möglicherweise kommt er nach Durmstrang“, wollte Lucius dagegenhalten, doch sein Sohn fiel ihm in den Rücken.
„Nein“, widersprach Draco, „er kommt nach Hogwarts.“ Er wandte sich an den Direktor. „Susan und ich haben auch schon überlegt. Wir tippen auf Ravenclaw.“
„Ravenclaw wäre eine gute Wahl.“ Der Direktor sah einen Augenblick dabei zu, wie Charles und Nicholas zusammen spielten, bevor er mutmaßte: „Womöglich kommen die beiden sogar ins gleiche Haus? Eine Freundschaft wie diese kann den Sprechenden Hut durchaus beeinflussen.“

Solange Dumbledore nur oberflächliches Gerede von sich gab, würde ein Kopfnicken genügen, dachte Lucius. So schlimm war es am Ende nicht. Ein paar freundliche Worte wechseln, dem Brautpaar gratulieren und sich hinter dem Enkel verstecken. So brachte Lucius diesen Abend, der ihm im Vorfeld eine Menge Nerven gekostet hatte, mit beinahe spielerischer Leichtigkeit über die Bühne.

Der erste September verlief auch für zwei andere Personen trotz übelster Befürchtungen sehr ruhig, vor allem aber erfolgreich. Niemand hatte damit gerechnet, dass das Ministerium den eingereichten Antrag von Fogg sofort bearbeiten würde. Selbst Sid war davon positiv überrascht. Mr. Fogg hatte nicht nur in allen Punkten Recht erhalten. Man beteuerte ihm sogar schriftlich, dass er nach den neuen Gesetzen sein Eigentum am ersten September zurückerhalten würde.

So standen sie hier, Fogg, Stringer und Duvall, und schauten aus der Distanz dabei zu, wie die Damen und Herren der Magischen Polizeibrigade Foggs Ehefrau samt Schwiegereltern aus seinem Haus begleiteten.

„Mr. Fogg?“ Sid Duvall hatte sämtliche vom Ministerium beglaubigten Papiere dabei, die ihm die Befugnis gab, die in diesem Haus wohnende Familie Fogg auf die Straße zu setzen.
„Ja, Mr. Duvall?“
„Sie können schon in ihr Haus hineingehen, wenn Sie möchten. Die Polizeibrigade wird nur noch dafür sorgen, dass ihre Verwandten keine Gegenstände entwenden.“
„Nein, ich bleibe erst einmal hier. Dabei ist mir wohler.“
„Wie Sie meinen.“

Duvall marschierte mit seinen Unterlagen zum Einsatzleiter, um mit dem etwas zu bereden.

Stringer stand neben seinem Freund Fogg und beobachtete die Frau mittleren Alters, die ihre Tränen nicht zurückhalten konnte. „Ist das da deine Frau?“
„Nicht mehr lange. Die Scheidungspapiere habe ich vor ein paar Tagen unterzeichnet und ihr zugeschickt.“
„Muss ein scheiß Gefühl sein, einfach so vor dem Nichts zu stehen“, sagte Stringer und fügte sofort hinzu, „jetzt wissen sie endlich, was sie dir angetan haben.“
„Leider etwas spät.“

Zu Foggs Frau gesellten sich die Schwiegereltern und ein weiterer Herr.

„Ach, sieh mal einer an“, zischte Fogg gereizt. „Der Hausheiler der Familie. Ich hätte wissen müssen, dass sie was mit dem anfängt. Somit steht der Scheidung zumindest nichts mehr im Weg. Dieses hochnäsige, kleine Lud…“
„Willst du sie mal richtig schockieren?“
„Gern, aber wie?“
„Schaut sie her?“

Stringer vergewisserte sich, dass Foggs noch-Ehefrau gerade in ihre Richtung blickte, bevor er den Kopf seines Freundes mit beiden Händen stillhielt und ihm einen Kuss auf den Mund gab. Davon völlig überrascht reagierte Fogg überhaupt nicht, bis auf seine Augen, die mit einem Male weit aufgerissen waren. Stringer schaute gleich darauf nochmals zu Foggs Gemahlin.

„Ha, sieh mal! Sie ist ohnmächtig geworden“, freute Stringer sich. Dann schlug er Fogg auf die Schulter. „Komm, zeig mir dein Haus.“ Neugierig ging Stringer vor, während Fogg sich zunächst aus der Fassungslosigkeit lösen musste.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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Muggelchen
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„Ich habe jetzt schon in mehreren Verhörberichten den Ortsnamen Peninver gelesen“, grübelte Geoffreys laut vor sich hin.

Als Verbindungsmann zwischen den Geheimdiensten der Muggel und der Magischen Welt gehörte es zu seinen Aufgaben, sämtliche Akten zu wälzen. Gerade hatte er die Akten von Gregory Goyle und Pansy Parkinson gelesen, jetzt hielt er Blaise Zabinis Aussage in der Hand. Auf diese Weise konnte er sich mit Ausdrücken und Umständen vertraut machen, die ihm völlig fremd waren. Apparation, Desillusionszauber, Flüche, Tränke, Todesser. Trockene Theorie.

„Angeblich soll es in Peninver einen Gutshof gegeben haben, der während des Krieges als Zufluchtsort genutzt wurde“, erklärte Kingsley.
„Von den Bösen?“
„Nein, von den Guten.“

Nur in der Theorie konnte man Gut und Böse prima voneinander unterscheiden. Kingsley hatte Geoffreys erklärt, dass es einige Personen gab, die nur aus Angst mit den Todessern und somit auch mit Voldemort kooperiert haben. Diejenigen, die schon zu oft von den finsteren Gestalten aufgesucht worden waren, trauten sich nicht, noch häufiger nein zu sagen. Einige ließen alles stehen und liegen, bevor sie das Weite suchten. Manch einer hatte sogar das eigene Ableben vorgetäuscht, nur um nicht mehr mit Todessern reden zu müssen. Andere wiederum bissen die Zähne zusammen und taten alles, was man von ihnen verlangte, nur um nicht sterben zu müssen.

„Waren Sie mal in Peninver und haben das überprüft, Shacklebolt?“
Kingsley nickte. „Ich habe mich mit einer Kollegin dort umgesehen. Ist ein überschaubares Örtchen. Wir wussten allerdings nicht, ob wir richtig waren. Gefunden haben wir jedenfalls nichts.“
„Gehen wir hin?“ Weil Kingsleys Augenbrauen den Haaransatz grüßen wollten, fügte Geoffrey noch hinzu: „Wäre doch ein perfekter Einstieg für mich. Ich lerne die Seit-an-Seit-Apparation kennen, wir beide arbeiten das erste Mal im Team und eine wirkliche Gefahr für uns besteht nicht.“
„Ich weiß nicht.“ Mit einer Hand rieb sich Kingsley den Nacken. „Wenn dort ein Gutshaus stehen soll, dann ist es vom Fidelius geschützt.“
„Was genau bedeutet Fidelius?“ Geoffreys war sehr interessiert an der anderen Welt.
„Das bedeutet, dass niemand das Haus sehen kann, wenn er nicht von einer bestimmten Person eingeweiht wurde. So eine Person nennt man Geheimniswahrer.“
„Aha.“ Geoffreys verstand, merkte sich alle Einzelheiten. „Wissen Sie, was mich wundert?“
„Was?“
Geoffreys Stirn legte sich in Falten. „Wenn man das Haus nur sehen kann, wenn man eingeweiht wurde, wie kann es dann ein Zufluchtsort für Kriegsflüchtlinge sein? Die sind doch alle nicht eingeweiht.“
„Gut aufgepasst!“, lobte Kingsley seinen Kollegen.
„Also“, begann Geoffreys mit seiner Theorie, „entweder war die Information über den Gutshof eine Falle von Voldemort und seinen Schergen oder“, er blickte Kingsley in die Augen, „man trifft auf den Geheimniswahrer, wenn man sich lange genug in der Gegend aufhält. Oder können die einen aus einem unsichtbaren Haus heraus nicht sehen?“
„Doch, doch!“ Kingsley nickte heftig. „Die können eine Person beobachten. Ich erinnere mich daran, dass ein Herr, der Peninver aufsuchen wollte, genau das sagte. Er meinte, der Geheimniswahrer würde aus dem Haus kommen, wenn der einen sieht.“
„Es tut ja nicht weh, dort nach dem Rechten zu sehen. Was ist denn eigentlich mit dem Jungen, von dem Sie mir erzählten? Der Junge, der unsichtbare Dinge sieht.“
„Er sieht sie nicht immer. Und der Junge ist niemand anderes als Harry.“
Den kannte Geoffreys bereits. „Na, dann fragen wir ihn doch einfach, ob er uns begleitet.“
„Er kann das nicht immer. Es passiert nach Lust und Laune.“
Geoffreys zuckte mit den Schultern. „Selbst wenn er das Haus nicht sehen kann, wäre es von Vorteil, ihn dabeizuhaben. Gehen Sie einfach mal davon aus, das Gutshaus gibt es wirklich und die Leute sehen nicht nur uns beide – und ganz unter uns: ich würde uns auch nicht sofort ansprechen wollen“, Kingsley musste lachen. „Also, die Leute sehen neben den zwei Schränken auch den bekannten Harry Potter … Der ist doch bekannt, oder? Sie sagten, jeder kennt ihn.“
„Davon kann man ausgehen. Harry hat einen hohen Bekanntheitsgrad.“
„Na bitte! Selbst wenn er das unsichtbare Haus nicht sehen kann, ist er ein Pluspunkt für uns, wenn man ihn sehen kann. Ihm vertraut man, weil man ihn kennt.“

Von der Idee war Kingsley angetan. Jeder Mensch, der damals Zeitung gelesen hatte, wusste, dass Harry später Auror werden wollte. Die Information war zwar nach dem Krieg nicht mehr aktuell, aber es wäre möglich, dass die Menschen in dem Versteck nicht mehr an Zeitungen herankamen. Womöglich hatten sie vom Ende des Krieges noch nichts vernommen. Peninver war ein kleiner Ort, im wahrsten Sinne des Wortes überschaubar, und lag direkt am Meer. Der nächstgelegene, größere Ort hieß Campbeltown und war höchstens für seinen guten Single Malt Whisky bekannt. Der Ort verfügte sogar über einen Flughafen, aber der Flugverkehr fand nur nach und von Glasgow statt. In dieser abgelegenen Ecke Schottlands lebten offiziell keine Zauberer, somit gab es keinen Tagespropheten. Ein idealer Platz für jemanden, der sich vor Voldemort und den Todessern verstecken wollte.

In seinen Räumen in Hogwarts ahnte Harry noch nichts von der bevorstehenden Anfrage des Aurors. Zusammen mit Ginny packte er die Sachen, damit sie demnächst Hogwarts verlassen und in ihr Haus am See ziehen konnten. Wobbel war untröstlich, weil er nicht helfen durfte. Harry hatte es verboten, denn Ginny und er nutzten die Gelegenheit, um sich von Unrat zu trennen.

„Harry?“ Ginny wedelte mit einem Heft. „Brauchst du deine alten Schulsachen noch?“
„Nicht wegwerfen.“
„Aber die brauchst du überhaupt nicht mehr.“
„Ich möchte sie behalten! Ich werfe ja auch nicht deine Quidditchauszeichung weg.“
„Die habe ich auch erst dieses Jahr erhalten“, meckerte sie, bevor sie aufs Heft schaute und vorlas, „Zaubertränke, 1. Schuljahr. Harry, bitte …“
„Behalten! Keine Widerrede!“
Ginny seufzte, gab aber nach. Sie kam zu einem Stapel Briefe. Als Absender stand der Name Dursley drauf. „Was ist mit den Briefen von deinen Verwandten?“
Harry benötigte nur einen Blick, um zu erkennen, dass es sich um die bösartigen Geschenke handelte, die er zu Weihnachten oder zum Geburtstag bekommen hatte. „Können alle weg.“
„Willst du sie nicht noch einmal durchgehen?“
„Nein, das muss ich nicht.“ Und er wollte auch nicht. „Sie können weg. Alle.“

Es knisterte. Ginny war am nächsten dran und steckte den Kopf in den Kamin. Es dauerte nicht lang, bis sie zu Harry schaute.

„Ist für dich. Kingsley möchte mit dir sprechen.“
„Er kann herkommen, wenn er möchte.“

Über den Kamin gab Ginny die Erlaubnis, die Wohnräume in Hogwarts aufzusuchen. Diesmal dauerte es länger, bis etwas passierte. Harry erschrak, als nicht nur Kingsley, sondern auch ein anderer Mann aus dem Kamin trat – und dieser andere Mann strauchelte und fiel zu Boden. Mit einem Satz war Harry bei ihm und half ihm auf.

„War das erste Mal, oder?“, fragte Harry mit einem Lächeln, als er Geoffreys die Asche von der Kleidung klopfte.
„War die Landung so auffällig?“, scherzte Geoffreys über sein eigenes Missgeschick.
„Bei mir sah das die ersten Mal auch so aus.“
Ginny verbesserte ihren Ehemann: „Es sieht manchmal heute noch so aus.“
Damit hatte sie Harry zum Lachen gebracht, denn es stimmte. „Das Flohen liegt mir nicht besonders. Ich appariere lieber oder nehme den Besen. Aber erst einmal einen guten Tag, Mr. Geoffreys.“ Harry schaute zu Kingsley und nickte ihm höflich zu. „Was kann ich für euch tun?“ Kingsley blickte sich um und wollte gerade anmerken, dass er wohl stören würde, als Harry ihm zuvorkam. „Entschuldigt bitte die Unordnung. Ginny und ich räumen ein wenig auf, bevor wir umziehen. Ich möchte nicht auch all das mitnehmen, was auf dem Müll landen darf.“
„Kein Problem“, sagte Geoffreys und kam gleich darauf zur Sache. „Sagt Ihnen der Ort Peninver etwas?“
Harry überlegte. „Vom Hörensagen. Ist das im Krieg nicht angeblich ein Unterschlupf gewesen?“
„Stimmt, das wurde uns von einigen Personen so berichtet“, stimmte Kingsley zu. „Was wir nur nicht wissen, ist, ob es den Gutshof wirklich gibt. Er soll unter Fidelius stehen.“
Geoffreys nickte. „Und der Geheimniswahrer soll herauskommen und einen einweihen, wenn man sich lange genug dort aufhält.“
Mit gespitzten Lippen hatte Harry aufmerksam zugehört, bevor er seine Meinung kundtat: „Was habe ich damit zu tun? Versteht mich nicht falsch, aber wenn es darum geht, dass ich getarnte Äffchen sehen kann“, Geoffreys runzelte die Stirn, „dann muss ich enttäuschen. Ich kann das nicht kontrollieren.“
„Es geht uns um etwas anderes“, warf Kingsley ein. „Wenn es dort Menschen geben sollte, die völlig von der Welt abgeschnitten in diesem Haus leben, dann wäre es …“
Ginny war so frei, den Rest des Satzes zu übernehmen, denn sie sagte: „Von Vorteil, wenn sie Harry Potter sehen.“
„Ganz Recht“, stimmte Geoffreys zu.
„Ihr glaubt wirklich, dass es Leute gibt, die gar nichts von dem Sieg über Voldemort mitbekommen haben?“, wollte Harry wissen.
„Es ist durchaus möglich“, bestätigte Kingsley. „Wie du weißt, haben wir Mr. Zabini nebst Familie erst nach Kriegsende gefunden. Sie wussten von nichts.“

Harry nickte. Es leuchtete ein, dass Angst die Menschen dazu treiben konnte, übervorsichtig zu handeln. Sie beraubten sich ihrer eigenen Freiheit, indem sie ihr vermeintlich sicheres Versteck nicht verließen.

„Gefrühstückt habe ich schon“, sagte Harry. „Von mir aus kann es losgehen.“
Mit Harrys sofortiger Bereitschaft hatten die beiden Männer nicht gerechnet. Kingsley blickte zu Geofferys hinüber, der lediglich nickte, sodass er zu Harry sagte: „Wir sollten kurz vorher einige Sachen durchgehen.“
„Setzen wir uns doch“, bot Harry an.

Als sie sich der Sitzgruppe näherten, kam Harrys Sohn ins Blickfeld und mit ihm Wobbel, der mit Nicholas auf dem Boden sitzend spielte. Geoffreys blieb wie angewurzelt stehen. Da jeder sich normal verhielt, schien von dieser Kreatur keine Gefahr auszugehen. Dennoch lief es Geoffreys heiß und kalt den Rücken hinunter.

Kingsley bemerkte Geoffreys Starre und erklärte: „Ein Hauself. Sehr freundliche Wesen. Er gehört Harry.“ In diesem Moment schaute Wobbel hoch, weil man über ihn sprach. Sein Blick traf den von Geoffreys.
„Guten Tag, Sir“, sagte der Elf.
Geoffreys schluckte hörbar, riss sich aber zusammen. „Ebenfalls einen schönen guten Tag.“
Wobbel stand auf und kam auf die Gäste zu. „Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Haben Sie schon gefrühstückt?“
„Ein Tee wäre nett“, sagte Kingsley, blickte dann zu Geoffreys, der sich gerade setzte.
Die Augen seines Kollegen waren starr auf den Elf gerichtet. „Einen Kaffee? Bitte?“, sagte Geoffreys unsicher.
„War das eine Frage?“, scherzte der Elf.

Gleich darauf schnippte Wobbel mit seinen Fingern und ein Tablett mit zwei Kannen und zwei Tassen erschien, dazu auch ein Milchkännchen und eine Zuckerdose. Geoffreys kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.

„Mit einem Fingerschnippen?“, fragte er verdutzt nach. „Kann das jeder Zauberer?“
Harry schüttelte den Kopf. „Nur Elfen und Kobolde, soweit ich weiß.“
„Fantastisch! Das ist einfach nur fantastisch“, schwärmte Geoffreys. Als er sich wieder gefangen hatte, wandte er sich an Harry. „Ich soll übrigens schön von Joel grüßen. Er lässt ausrichten, er würde gern mit dir ins Kino gehen.“ Geoffreys schaute zu Ginny, die gerade neben Harry Platz nahm. „Natürlich sind Sie auch eingeladen.“
„Wir müssen uns unbedingt etwas einfallen lassen, wie wir Kontakt aufnehmen können.“ Nachdenklich starrte Harry in die Gegend, als ihm etwas einfiel. Seine Frage richtet er an Kingsley, der sich gerade Tee einschenkte. „Ob ich ihm wohl so einen verzauberten Spiegel geben darf? So einen, den Sirius mir mal geschenkt hat, damit ich immer mit ihm sprechen kann. Ob das erlaubt ist?“
„Ich denke schon, werde aber noch einmal in den Regeln nachschauen.“
„Prima.“
Kingsley nahm seine Tasse in die Hand und pustete einmal, bevor er zurück zum Thema kam: „Peninver liegt im Westen Schottlands, auf der Halbinsel Kintyre. Etwa 240 Kilometer von hier aus.“
„Tatsächlich nur 240 Kilometer?“, fragte Geoffreys verwundert. „Wo sind wir denn hier?“
„In der Nähe von Loch Rannoch.“
„Wir sind durch den Kamin von London bis hierher …?“ Er schüttelte irritiert, aber dennoch amüsiert den Kopf. „Das ist ja mal was. Dann haben wir die gröbste Strecke bereits hinter uns.“
Ginny meldete sich zu Wort. „Könnte es gefährlich werden?“
Diese Frage musste Kingsley mit Bedacht beantworten. „Ich kann nicht versprechen, dass es nicht gefährlich werden könnte. Ein Restrisiko ist immer vorhanden. Sollten sich dort wirklich verängstigte Menschen aufhalten, könnte ein falsches Wort oder eine falsche Geste eine Auseinandersetzung herbeiführen. Allerdings hat Harry seinen Stab dabei und er geht nicht gerade unbeholfen damit um, genauso wie meine Wenigkeit.“ Ginny schien nur wenig besänftigt zu sein, sodass Kingsley anfügte: „Ganz ehrlich: Ich glaube nicht, dass wir etwas finden, geschweige denn, dass es gefährlich werden wird. Vielleicht kann Harry etwas sehen, vielleicht nicht. Es wird nicht länger als ein oder zwei Stündchen dauern. Ich war mit Tonks schon einmal in dem Dorf. Die Umgebung hat man sehr schnell überblickt.“

Am Ende sah Harry keine Gefahr, mit Kingsley und Geoffreys nach Peninver zu apparieren. Vor den Toren Hogwarts’ warnte Harry den Muggel vor.

„Das Apparieren kann beim ersten Mal sehr unangenehm werden. Es fühlt sich an, als würde der Körper einem enormen Druck ausgesetzt sein“, erklärte Harry vorsorglich, denn er erinnerte sich noch an sein erstes Mal. „Es ist, als würde man sich durch eine zu enge Öffnung quetschen.“
Geoffreys nickte. „Danke für die Vorwarnung.“

Kingsley war so frei, die Seit-an-Seit-Apparation mit Geoffreys durchzuführen. Harry apparierte allein. Die Strecke war recht kurz. Das Plop-Geräusch war leise. Kingsley als Auror und Harry als Gegner Voldemorts beherrschten die stille Apparation genauso gut wie Dumbledore.

Wenige Minuten später fanden sie sich auf einem Hügel wieder. Geoffreys beugte sich nach vorn, atmete heftig und hielt sich den Magen.

„Geht’s?“, fragte Harry mitfühlend.
„Ja, danke. Die frische Luft tut gut.“ Geoffreys atmete einige Male tief durch. „Schon besser.“

Vom Hügel herab blickte Harry auf Peninver. An einer Straße entlang waren einige Häuser angesiedelt. Auffällig war eine Art nebeneinander angereihter Bungalows.

„Niedlich“, war Harrys erster Kommentar. „War es das? Das ist Peninver?“ Kingsley nickte, woraufhin Harry wissen wollte. „Wie viele Einwohner gibt es hier?“
„Nicht mehr als ein paar Hundert.“
„Gehen wir erst einmal ins Dorf und sehen uns um. Vielleicht gibt es etwas Auffälliges“, schlug Harry vor. „Und nicht vergessen, Kingsley: Das sind Muggel.“

Im Nu hatte Kingsley aus seinem Umhang eine Jeans und ein Shirt plus Jacke gezaubert. Harry hatte aus einem Stein in der Nähe einen Rucksack gezaubert, damit sie wie Touristen aussehen würden.

Das Dorf war bald erreicht. Die Bungalows, das konnte Harry nun auf einem Schild lesen, wurden an Touristen vermietet. Viel gab es hier nicht zu sehen, keine größeren Geschäfte, keine Schulen.

„Die haben nicht mal ein Krankenhaus“, merkte Harry an.
Geoffreys erklärte: „Der nächst größere Ort verfügt über Schulen, ein Krankenhaus, Supermärkte, Tankstellen, ein Postamt, Feuerwehr und Polizeistation. Campbeltown.“
„Und wie viele Einwohner gibt es dort?“
Geoffreys wägte ab. „An die 5.000, glaube ich.“
Als sie an einer Bushaltestelle vorbeikamen, studierte Harry den Fahrplan, wofür er nicht lange benötigte. „Täglich halten hier nur fünf Busse wochentags, der Erste um 8:30 Uhr, der Letzte um 17:45 Uhr. Samstags sind es nur vier und sonntags gar keiner. Mann, hier würde ich vor Langeweile eingehen.“
„Seht mal!“, Geoffreys nickte in eine Richtung. „Da hinten ist ein Wirtshaus.“
„Ein Highlight“, scherzte Harry. „Wir können dort etwas trinken und uns umhorchen.“

Die drei Männer gingen die Straße entlang und schauten sich derweil die Gegend an. Die Seeluft war sehr angenehm. Das Meer war so nahe, man konnte es nicht nur sehen, sondern auch hören. Kingsley zupfte ständig an seiner Jacke herum. Solche Kleidung war er nicht gewohnt. Harry sah im Vorbeigehen ein Schild, auf dem Pony-Trekking angeboten wurde. Das wäre etwas für Nicholas, dachte er lächelnd.

Im Wirtshaus war für die frühe Uhrzeit – es war vormittags um elf – eine ganze Menge los. Kein Wunder, dachte Harry, denn etwas anderes, um sich die Zeit zu vertreiben, hatten die Bewohner hier nicht.

„Guten Tach“, grüßte der Wirt freundlich. Sämtliche Augenpaare ruhten auf den drei Männern, die gerade zur Tür hereingekommen waren. „Herzlich willkommen auf unserem kleinen, aber feinen Landstrich. Sind Sie Gäste vom Sands Holiday Park?“ So ein Schild hatte Harry draußen gesehen. Ein Familienbetrieb, der immerhin mit vier Sternen ausgezeichnet worden war.
Ein Mann mit roter Nase, der direkt an der Tür saß, antwortete anstelle der Gäste mit einem seltsamen Akzent: „Ney, heute kommen keyne von unseren Gästen.“
Bevor noch mehr Fragen gestellt wurden, erklärte Harry: „Wir sind nur auf der Durchreise.“
„Watt denn, etwa zu Fuß?“, fragte der Wirt. „Kommen Sie aus Campbeltown?“ Harry nickte. „Dann würde ich an Ihrer Stelle gleich wieder zurücklaufen. Wenn Sie hier nämlich weiter nach Norden gehen, kommt eine ganze Weile gar nichts, dann kommt immer noch nichts und wenn die Füße schon längst Blasen schlagen, ist weit und breit immer noch nichts zu sehen. Irgendwann später kommt ein Ort namens Saddell, aber der ist noch kleiner als Peninver.“
Harry frage sich ernsthaft, ob das überhaupt möglich war. „Danke für den Tipp. Dann stärken wir uns mal für den Rückweg.“
„Sicher, sicher.“ Der Wirt kam auf die drei zu uns schaute sich um. Alle Tische waren belegt. „Komm schon, Barney“, sagte der Wirt zu einem Gast, dem er den Teller vor der Nase wegnahm. „Du kannst an der Theke essen. Mach mal Platz für die richtigen Gäste.“ Ohne Murren folgte Barney seinem Teller, den der Wirt auf besagter Theke abstellte. An Kingsley, Geoffreys und Harry gewandt sagte der Wirt: „Setzen Sie sich bitte. Was darf ich Ihnen zu trinken bringen?“

Man bestellte eine Kleinigkeit. Der Wirt war redselig und das nutzte Kingsley aus.

„Gibt es hier einen Gutshof?“, wollte der Auror wissen. Der Wirt hielt mit seinen Bewegungen inne, als wäre er eingefroren, und sein Blick war für einen Moment ganz glasig. Die Starre war schnell wieder vorbei, aber Kingsley hatte sie vernommen.
„Nein, von einem Gutshof weiß ich nichts. Wir haben leider auch keine Sehenswürdigkeiten in der Nähe, die ich Ihnen empfehlen könnte. Wir können nur mit dem schönen Meeresblick prahlen.“
Neugierig fragte Harry: „Haben Sie denn oft Gäste?“
„Touristen, meinen Sie? Ja, die meisten bleiben aber nicht lange hier. Wir hatten mal einen Künstler hier“, erzählte er stolz. „Das Bild dort“, mit einem Finger zeigte er zur Wand, „hat er mir geschenkt. Sonst passiert hier aber nicht viel, bis auf …“
Jetzt war Kingsleys Neugierde geweckt. „Bis auf …?“, wiederholte er, damit der Wirt fortfahren würde.
„Manchmal tauchen Leute aus dem Nichts hier auf. Sie sind seltsam gekleidet.“
„Was meinen Sie mit seltsam?“, fragte Harry nach.
„So wie Zorro“, erwiderte der Wirt, „mit einem schwarzen Umhang. Einer trug mal einen komischen Hut, einen spitzen.“
„Sie wissen nicht, woher die gekommen sind oder wohin sie wollten?“
Der Wirt schüttelte den Kopf. „Ich habe nie ein Auto gesehen. Ist schon komisch.“
Neugierig fragte Kingsley: „Wann war das letzte Mal einer von denen hier?“
„Vor zwei Monaten, als es so heiß war. Wasser wollte er haben. Ich habe ihm einen Kasten Sprudel verkauft. Hat mich übers Ohr gehauen, der Typ.“
„Inwiefern?“, hakte Geoffreys nach.
„Bezahlt hat er mit Gold, jedenfalls dachte ich, dass es Gold wäre.“
„Mit Gold?“, wiederholte Geoffreys ungläubig.
„Wenn ich es Ihnen doch sage! Warten Sie, ich zeig’s Ihnen.“

Der Wirt verschwand hinter dem Tresen. Zurück kam er mit drei Münzen, die er den drei Gästen vor die Nase legte. Es waren Galleonen. Drei Galleonen im Wert von fast fünfzehn Pfund.

„Die Bank in Campbeltown wusste nichts damit anzufangen.“
Galleonen waren goldfarben, aber sie bestanden nicht aus Gold, sonst wären die Münzen selbst wertvoller als der Wert, für den sie standen.
„Sie haben Recht, das ist kein Gold“, sagte Harry zu dem Wirt.
„Ach, ich wusste doch, dass es nur Spielgeld ist“, schimpfte der Wirt.
„Der Druck der Münzen ist trotzdem schön“, sagte Harry und zwinkerte Kingsley unauffällig zu. „Ich würde sie Ihnen abkaufen. Sind Sie mit 15 Pfund zufrieden?“
„Zufrieden? Ich fühle mich schlecht dabei, wenn Sie mir so viel Geld für nichts geben. Ich schenke Ihnen die Dinger.“

Der Wirt gab noch den Hinweis, ins Gemeindezentrum zu gehen, wenn sie etwas über den Ort Peninver erfahren möchten. Nach einem netten Gespräch machten sich Harry, Geoffreys und Kingsley auf den Weg. Es waren nur wenige Meter bis zum Gemeindezentrum.

Während Kingsley mit der Dame am Empfang sprach, die froh darüber zu sein schien, dass sie Touristen weiterhelfen konnte, schaute sich Harry die vielen Prospekte und Zeitschriften, die Postkarten und Bilder an. Unter dem Schutz von Glas bemerkte er an der Wand eine Karte. Er ging näher heran, um sie betrachten zu können. Es war eine alte Karte von Peninver, mit eingezeichneten Grundstücken und Häusern, die heute teilweise nicht mehr so existierten. Die meisten Häuser konnte er bereits zuordnen, obwohl er noch nicht lange hier war, aber ein Grundstück machte ihn neugierig. Da war ein großes Anwesen zu sehen, bestehend aus einem riesigen Haus, einem Stall und einem Haus für Bedienstete. Darunter stand in schnörkeliger Schrift Gutshof Peninver.

Überrascht über seinen Fund holte Harry tief Luft. Damit hatte er Kingsley auf sich aufmerksam gemacht. Harry drehte sich zu der Dame um.

„Sagen Sie, dieser Gutshof hier“, er tippte auf das Glas, „seit wann gibt es den nicht mehr?“

Die Dame schien extrem verwirrt, als sie sich zu erinnern versuchte. Sie bekam einen glasigen Blick, den Kingsley und Harry zu deuten wussten: Muggelabwehrzauber. Die gesteigerte Form des normalen Abwehrzaubers, der Muggel am Weitergehen hinderte, weil sie vermeintlich etwas Wichtiges vergessen hatten, wirkte sich insofern aus, dass die Muggel sich an bestimmte Personen, Situationen oder in diesem Fall an Orte nicht einmal mehr erinnern konnten.

Sie blinzelte einige Male. „Ich weiß nicht, das muss schon ewig her sein.“

Ewig bedeutete nichts anderes, als dass jeder Muggel, der auf dem Gutshof nach dem Rechten sehen wollte, durch den Abwehrzauber auch die Erinnerung an die Gebäude verloren hatte. Dank der Karte wussten Kingsley, Geoffreys und Harry nun, wo sie zu suchen hatten. Alles deutete darauf hin, dass hier tatsächlich ein Zufluchtsort existierte und das vor zwei Monaten ein Zauberer in Peninver Wasser gekauft hatte.

„Wieso haben die Wasser gekauft?“, flüsterte Harry leise, als sie vor dem Gemeindezentrum standen.
Kingsley zuckte mit den Schultern. „Ich kann es mir nur so erklären, dass sie nicht zaubern. Du weißt, dass während der Besetzung des Ministeriums durch die Todesser jeder Zauberer und jede Hexe mit Leichtigkeit zu orten war. Zabini, Goyle und Parkinson haben laut Aussage auf ihrer Reise nicht mehr gezaubert, sondern durchweg wie Muggel gelebt.“
„Klar!“ Jetzt fiel es Harry wieder ein. Deshalb kein Aguamenti, denn selbst die kleinen Zaubersprüche konnten verraten, wo sich eine magische Person aufhielt.
„Bevor wir in die Nähe des Gutshauses gehen“, Kingsley schlug Geoffreys auf die Schulter, „müssen wir Ihnen einen Schutzzauber verpassen, sonst ergeht es Ihnen genauso wie der Dame im Gemeindezentrum. Der Abwehrzauber verwirrt Sie und am Ende wissen Sie nicht einmal mehr, was unsere Aufgabe ist.“
„Sagen Sie mir nur, ob es wehtun wird.“
Kingsley lachte, schüttelte den Kopf. „Kein bisschen.“

Als die drei querfeldein marschierten, im wahrsten Sinne des Wortes durch die Büsche liefen und von niemanden mehr gesehen werden konnten, richtete Kingsley seinen Stab auf Geoffreys und sprach leise einen Zauberspruch, damit jeglicher Muggelabwehrzauber an ihm abprallen würde.

Mit einem Finger deutete Harry die Richtung. „Laut der Karte müssen wir da lang. In etwa 250 Metern sollte das Gutshaus kommen.“
„Von hier sieht man noch gar nichts, obwohl man es sehen müsste“, stellte Kingsley fest. „Harry, kannst du etwas erkennen?“
„Nein, nur Wiesen und Feld, mehr nicht.“
Geoffreys war zuversichtlich. „Gehen wir.“

Das Land war unbestellt und von einer wilden Wiese eingenommen. Ab und an ragte ein Baum aus dem Boden, aber überwiegend liefen die drei über verschiedene Gräser und Blumen. Nachdem sie 250 Meter hinter sich gelassen hatten, war noch immer weit und breit nichts zu sehen, nur ein alter Baum.

„Es müsste hier sein“, sagte Harry, der sich die Karte aus dem Gemeindezentrum ins Gedächtnis rief.
„Warten wir einfach“, schlug Geoffreys vor. „So wie man es den anderen gesagt hat. Warten, bis jemand kommt und einen hineinlässt.“

Harry versetzte sich in die Menschen hinein, die sich hier womöglich vor dem Krieg versteckt hielten. Er kannte die Angst, die Vorsicht, die Skepsis gegenüber allem und jedem.

„Wenn ich in dem Gutshof wäre“, begann Harry, „würde ich uns mindestens eine Stunde beobachten.“
„Warum eine Stunde?“, wollte Kingsley wissen.
„Der Vielsafttrank verliert nach einer Stunde seine Wirkung. Die meisten Charming- und Zerrzauber halten auch nicht länger.“
Kingsley nickte. „Dann warten wir eben.“
„Was sind Charming- und Zerrzauber?“, fragte Geoffreys, der es sich auf einem großen Findling gemütlich machte, wenn man es sich auf Stein überhaupt gemütlich machen konnte.
Harry war so frei zu antworten. „Beide Zauber verändern das Aussehen. Der Charming-Zauber macht einen zusätzlich zum gehübschten Aussehen auch noch attraktiv. Der Zerrzauber verzerrt nur das Aussehen und macht einen unkenntlich, aber weder schöner noch hässlicher.“
„Und was ist ein Vielsafttrank?“
Geoffreys schien ein gutes Gedächtnis zu haben, weil er die Worte richtig in Kopf behielt, dachte Harry. „Das ist ein sehr ekelhaft schmeckender Trank, der wie Schlamm aussieht und einem das äußere Erscheinungsbild einer zuvor bestimmten Person gibt. Man braucht einen Monat, um ihn zu brauen, aber das Schwierigste ist wohl, die wichtigste Zutat zu bekommen: ein Haar oder etwas anderes von der Person, in die man sich verwandeln will.“
Mit großen Augen hatte Geoffreys zugehört. „So ein Trank birgt eine Menge Gefahren in sich, finde ich. Mit einem Vielsafttrank kann man viele üble Dinge anstellen.“
Kingsley nickte. „Deswegen darf er nur mit Genehmigung des Ministeriums gebraut werden.“
„Wie funktioniert eigentlich so ein Zauberstab?“ Geoffreys wollte die Zeit nutzen, um etwas mehr über die magische Welt zu erfahren.
„Das, ähm …“, begann Kingsley unsicher.
Harry konnte die Fragen ebenfalls nicht beantworten. „Ich glaube, das weiß keiner so genau. Mr.Ollivander – der stellt solche Stäbe her, müssen Sie wissen – sagte einmal zu mir, der Zauberstab würde sich den Zauberer auswählen. Ich weiß nicht, ob das der Wahrheit entspricht oder ob er mir meinen ersten Tag in der Zaubererwelt so mystisch wie nur möglich gestalten wollte.“ Wegen der Erinnerung an den Kauf seines Zauberstabes musste Harry lächeln. „Die Stäbe sind nicht immer identisch. Es gibt verschiedene Holzarten, die verwendet werden und auch verschiedene Kerne, die im Stab eingearbeitet sind. Meiner hat eine Phönixfeder.“
„Was denn, es gibt Phönixe tatsächlich?“, staunte Geoffreys.
„Ich kenne nur einen“, beteuerte Harry. „Er gehört dem Direktor von Hogwarts.“
„Hat er, wie in der Mythologie, eine Lebensspanne von 1000 Jahren?“
Harry schürzte die Lippen und schüttelte den Kopf. „Ich habe ihn zweimal brennen sehen. Es ist wohl nicht genau vorherbestimmt, wann er brennt.“
„Aber er steigt neugeboren aus seiner Asche empor?“
„Richtig“, bestätigte Harry.
„Wahnsinn! Und dieser Elf vorhin? Der, von dem Shacklebolt meinte, er würde Ihnen gehören. Ich habe mir Elfen immer anders vorstellt. Irgendwie hübscher und zierlicher. Was machen Elfen so?“
„Sie helfen den Zauberern und Hexen. Nicht jeder bekommt einen Elf, aber man kann einen beim Ministerium beantragen“, erzählte Harry. „Ich habe Wobbel …“

Ein lautes Geräusch ertönte und mit einem Male stand Wobbel auf der grünen Wiese bei Harry – und Geoffreys fiel vor lauter Schreck vom Stein, als er von ihm aufspringen wollte.

„Harry!“, mahnte Kingsley erschreckt.
„Ach du meine Güte, Wobbel, das war nur …“ Der Schreck saß tief. „Geh wieder! Es war ein Versehen, dass ich dich gerufen habe.“
Wobbel schaute sich um. „Warum gehen Sie nicht hinein?“
„Wobbel, verschwinde!“

Mit einem Knall, diesmal nicht sehr laut, verschwand Wobbel wieder. Geoffrey fasste sich ans Herz. Selbst Harry erschreckte sich jedesmal, wenn der Elf unvorhergesehen aus dem Nichts auftauchte. Kingsley blickte sich um. Weit und breit niemand zu sehen.

„Du kannst von Glück sagen, dass kein Muggel hier herumläuft.“ Kingsleys bedächtige Stimme konnte auch Rügen verteilen. Beschämt schaute Harry zu Boden, plötzlich blickte er wieder auf.
„Wob… Mein Elf hat gefragt, warum wir nicht hineingehen.“ Er schüttelte den Kopf und hob die Schultern. „Wo hinein?“
„Eine gute Frage, über die wir jetzt nicht philosophieren werden, damit du ihn nicht noch einmal versehentlich rufst.“
„Tut mir leid, aber es ist ja nichts passiert. Es hätte schlimmer kommen können. Stell dir vor, wir hätten noch in dem Wirtshaus gesessen.“
„Themenwechsel, Harry.“
„Ist ja gut“, murmelte Harry peinlich berührt. Er schaute nach oben. „Sieht nach Regen aus.“
Kingsley und Geoffreys schauten in dem Augenblick nach oben, als die ersten Tropfen fielen. „Na wunderbar.“ Kingsley versuchte, seine Muggeljacke zu schließen, aber mit einem Reißverschluss war er ganz und gar nicht vertraut. „Stellen wir uns am besten unter einen Baum.“
Der erste Blitz war zu sehen, dann hörte man ein Grollen. Geoffreys riet von der Idee ab: „Bei einem Gewitter sollte man sich nicht unter einen Baum stellen.“
„Dann blasen wir die Aktion ab.“
Von Kingsleys Idee hielt Harry nichts. Jetzt waren sie schon eine halbe Stunde hier, da konnten sie nochmals dreißig Minuten ranhängen. „Ich könnte aus meinem Rucksack ein Zelt herbeizaubern.“
„Aber bitte unauffällig.“

Mit viel Rücksicht darauf, dass ihn niemand mit einem Stab hantieren sah, zauberte Harry ein Zelt in den Rucksack, den er zu Anfang ihrer Reise aus einem Stein geformt hatte. Dieses Zelt zog er aus dem Rucksack heraus, samt Zubehör. Geoffreys war fit darin, Zelte aufzustellen. Er gab Anweisungen und packte selbst am meisten mit an. Das Zelt war klein, aber drei Leute konnten sich darin auf jeden Fall vor dem Regen schützen. In wenigen Minuten und mit etwas Magie stand es.

Drinnen war es durch den Regen, der auf das Zeltdach trommelte, so laut, dass man nichts anderes mehr wahrnehmen könnte.

In London regnete es nicht. Die Winkelgasse war trocken, der Tag sonnig und doch war irgendwas anders, dachte Daphne, die sich momentan der Buchführung widmete. Die Arbeit hatte sie so eingenommen, dass sie die Zeit völlig vergessen hatte. Es war jetzt gegen zehn. Sie blickte auf. Der Verkaufsraum war leer. Heute war noch kein Kunde gekommen. Normalerweise war die Winkelgasse ab September weniger gut besucht, weil die Ferien vorbei waren. Daphne schaute zur Seite aus dem Schaufenster hinaus und sah, dass der Ladenbesitzer gegenüber auf der Straße stand und in eine bestimmte Richtung schaute. Irritiert ging Daphne zur gläsernen Eingangstür und trat hinaus. Erst schaute sie nach links. Die Zwillinge vom Scherzartikalladen standen ebenfalls vor ihrer Ladentür, weiter hinten sah sie andere Ladeninhaber, die alle in die gleiche Richtung schauten. Neugierig tat sie es ihnen gleich und drehte sich um. Weiter hinten sah man eine Menschenansammlung.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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Rest von Kapitel 229

Im Labor warf Severus wütend seinen Holzlöffel in den Kessel. Hermine beobachtete ihn, bis es ihr zu viel wurde und sie fragen musste.

„Was ist los?“
„Merkst du das nicht? Es ist kurz nach zehn Uhr und wir beide sind allein im Labor.“ Severus presste die Lippen zusammen, bevor er zeterte: „Sollen wir Mr. Lyon und Mr. Foster gleich kündigen oder ihnen erst eine Standpauke halten?“
„Es wird einen guten Grund geben, warum beide“, das Wort hatte sie extra betont, „zu spät kommen. Ist doch seltsam, findest du nicht?“
„Und wo bleibt Miss Greengrass mit den ersten Bestellungen?“
„Geh doch zu ihr und frag sie!“

Severus stellte die Flamme unter seinem Kessel klein und verließ das Labor. Hermine seufzte. Manchmal war er unausstehlich, und wenn er missgelaunt war, bekam sie es als Erste zu spüren. Als er nach zwei Minuten immer noch nicht zurückgekommen war – es dauerte in der Regel nie länger, die Liste abzuholen –, wurde Hermine neugierig. Auch sie stellte die Flamme unter ihrem Kessel klein.

Im Verkaufsraum selbst fand sie niemanden vor, was mehr als ungewöhnlich war. Stattdessen standen Daphne und Severus draußen auf der kleinen Treppe vor der Apotheke. Durchs Schaufenster hindurch bemerkte sie, dass die beiden nicht die Einzigen waren, die von irgendetwas fasziniert waren. Die Klingel über der Tür kündigte Hermines Erscheinen an, als sie nach draußen ging.

„Was ist denn hier los?“, fragte sie, doch sie erntete von Daphne nur ein Schulterzucken und von Severus ein ‚Keine Ahnung!‘. Quer gegenüber standen Fred und George, einer von ihnen mit vor der Brust verschränkten Armen. Niemand hier schien in der letzten Stunde Kunden gehabt zu haben.

Man hörte aufgebrachte Rufe. Hermine schaute in die Richtung, in die alle starrten. Ein Menschenauflauf, wobei Hermine sich nicht sicher war, ob es sich durchweg um Menschen handelte. Plötzlich löste sich jemand aus der Traube. Humpelnd kam die Person näher.

„Das ist Gordian!“, bemerkte Daphne ganz richtig. Der junge Mann konnte mit dem linken Fuß nicht richtig auftreten. Es dauerte ein paar Minuten, bis er die Apotheke erreicht hatte.
Anstatt begrüßt zu werden, warf ihm Severus sofort ein paar unnette Worte entgegen: „Sie sind über eine Stunde zu spät, Mr. Foster.“
„Ich bin froh, da überhaupt lebend rausgekommen zu sein, Sir.“ Als Gordian stand, winkelte er das linke Bein an.
„Was ist da vorn los?“, fragte Daphne.
„Ein Aufstand. Unzählige Kobolde und Elfen haben den Laden von Ollivander aufgesucht. Sie wollen Zauberstäbe kaufen. Sogar ein Zentaur war dabei! Der ist mir bei dem Gewimmel auch noch auf den Fuß getreten.“
Severus runzelte die Stirn. „Die wollen Stäbe kaufen?“
„Ja, aber einige Menschen haben wohl etwas dagegen und haben angefangen, die Kobolde zu beschimpfen. Jetzt sind Leute von der Magischen Polizeibrigade da und sperren alles ab. Ich musste flehen und betteln, dass sie mich durchlassen. Ich hab gesagt, sonst verliere ich noch meinen Job. Das hat sie im ersten Moment nicht interessiert. Als ich aber gesagt habe, Professor Snape würde mir die Ohren langziehen, da haben sie mich durchgelassen. Man kennt sie offenbar ganz gut, Sir“, wagte Gordian zu scherzen. In Wirklichkeit hatten die Polizisten ihn durchgelassen, weil der junge Mann verletzt war.
Hermine winkte Gordian heran. „Komm erst einmal rein. Ich schaue mir deinen Fuß an.“
„Ich habe übrigens Mr. Lyon gesehen. Er konnte nicht durch, Sir. Er trieb mit der Masse. Die Polizeibrigade hat über die gesamte Winkelgasse einen Apparierschutz gelegt. Niemand kann herkommen, niemand kann weg“, sagte Gordian noch, bevor er Hermines Angebot annahm und die Stufen nach oben humpelte.

Severus und Daphne blieben draußen und beobachteten den Tumult. Irgendwo hörte man etwas zu Bruch gehen. Ein gelber Fluch schoss gen Himmel. Severus tippte auf einen Pugilis, ein Zauber, der heftig auf den Gegner einschlug wie die Fäuste eines Boxers. Dieser Fluch war offenbar abgewehrt worden, sodass er nach oben ins Nichts flog. Von gegenüber kamen die Zwillinge.

„Snape“, grüßte Fred mit einem Kopfnicken. „Eine Ahnung, was da los ist?“

Andere Ladenbesitzer gesellten sich ebenfalls zu Severus und Daphne. Sie hatten beobachtet, wie der junge Mann humpelnd aus der Masse gekommen war und erhofften sich Antworten. Florean grüßte ebenfalls freundlich. Eine der Verkäuferinnen von Madam Malkins - Anzüge für alle Gelegenheiten, nicht Madam Malkins persönlich, kam ebenfalls sowie einer der Besitzer von Flourish und Blotts und die Dame aus dem Secondhandshop.

„Weiß jemand, was das alles zu bedeuten hat?“, wollte Rachel aus dem Secondhandshop wissen. Sie schaute zu Daphne, die sich aufgefordert fühlte zu antworten.
„Es gibt wohl einen Aufstand, weil einige nicht möchten, dass Kobolde Zauberstäbe kaufen.“
Die Dame aus Malkins Bekleidungsgeschäft rümpfte die Nase. „Seit wann dürfen die das denn?“
Severus war so frei zu antworten. „Das neue Gesetz gestattet es ihnen. Es wurde gestern gültig.“
„Das ist ja unerhört“, sagte die Verkäuferin. „Zu meiner Zeit hätte es sowas nicht gegeben.“
„Aber es ist doch Ihre Zeit, Madam“, konterte Severus.
„Ich find’s gut, dass die Stäbe kaufen können“, sagte Florean nebenher.
Rachel sah das anders. „So eine Gesetzesänderung müsste man verbieten! Kann man das nicht rückgängig machen?“
Severus warf ihr einen finsteren Blick zu. „Unter diesen Umständen plädiere ich dafür, die Gesetzesänderung von vor 100 Jahren, die es Frauen erstmalig erlaubte, selbstständig ein Geschäft führen zu dürfen, ebenfalls rückgängig zu machen.“
„Das ist ja …“ Rachel kehrte Severus den Rücken zu und ging in ihr Geschäft zurück. Die Dame von Malkins tat es ihr gleich.
„Gut gekontert“, lobte Daphne ihn leise.

Zusammen – was für Außenstehende ziemlich dämlich aussehen musste – starrte man in die Richtung, in die der Aufruhr stattfand. Entweder wurde der Mob wurde immer größer oder …

„Die kommen immer näher“, erkannte Florean ganz korrekt.
„Wir sollten …“

Severus kam nicht dazu, einen Vorschlag zu machen, denn ein lauter Knall, gefolgt vom Geräusch splitternden Glases, ließ alle zusammenfahren. Kurz darauf sah man schwarzen Rauch und dann Flammen.

„Ist das mein …?“ Mr. Flourish drängte sich an Florean vorbei, um besser sehen zu können. „Das ist mein Laden!“
„Bleiben Sie hier, Flourish!“ Severus’ Ratschlag blieb ungehört, denn der Herr rannte bereits auf den aufgebrachten Pöbel zu, der seinen Laden auseinandernehmen wollte. An die anderen gewandt sagte Severus: „Es ist besser, jeder geht in sein Geschäft und lässt die Rollläden hinunter.“
Die anderen Geschäftsinhaber nickten. Plötzlich hallte eine männliche Stimme durch die Winkelgasse. Per Sonorus sagte einer von der Magischen Polizeibrigade: „Gehen Sie in Ihre Häuser und sichern Sie Türen und Fenster.“

Mr. Flourish war es nicht gelungen, durch die Menge aufgebrachter Zauberer, Hexen und Kobolde hindurch seinen Buchladen aufzusuchen. Er eilte zurück zur Apotheke. Severus hielt ihm die Tür auf, um ihm Schutz zu gewähren. Danach versiegelte er Türen und Fenster mit einem starken Schutzzauber.

„Puh“, machte Mr. Flourish und fasste sich dabei an die Brust, in der sein Herz vor Aufregung ganz schnell schlug. „Ich habe noch gesehen, dass meine Angestellten das Feuer gelöscht haben. Trotzdem: die Scheibe ist hinüber. Nicht mal mehr mit einem Reparo zu richten.“
„Machen Sie sich keine Gedanken um eine Scheibe“, sagte Severus. „Seien Sie froh, dass Ihnen nichts passiert ist.“
Hermine, die vor Gordian kniete und ihm gerade eine Salbe auf den Fuß auftrug, drehte sich zu Severus um. „Was ist denn jetzt los? Ich habe den Sonorus gehört.“
„Ich würde vermuten“, begann Severus, „dass die Magische Polizeibrigade die Masse nicht unter Kontrolle hat, sonst würde sich der Aufstand nicht so ausdehnen.“ Er beäugte den Fuß seines Schülers. „Wie sieht es aus?“, erkundigte er sich bei Hermine.
„Nichts gebrochen, aber eine schlimme Quetschung. Der Fuß wird morgen trotz Salbe dick und blau sein.“
„Professor Snape!“ Daphne zeigte aufgeregt nach draußen. „Da ist Mr. Lyon!“

Nicht nur Mr. Lyon war von der Apotheke aus zu sehen, sondern auch eine Horde Zauberer mit gezückten Stäben, die ihn und andere Unschuldige im Gedränge einfach mit sich zogen. Wenn er es schaffen sollte, in die Nähe der Apotheke zu kommen, könnte Severus die Tür für einen winzigen Augenblick öffnen und ihn hineinlassen.

Die Gesichter mancher Hexen und Zauberer waren vor Wut zu einer fürchterlichen Fratze entstellt. Sie bleckten die Zähne, stießen Beleidigungen hervor und feuerten Flüche mit ihren Stäben ab. Mr. Lyon befand sich mittendrin, den eigenen Stab fest mit einer Hand umfasst. An den Farben und Formen seiner Zaubersprüche konnte man erkennen, dass er lediglich Schutzzauber für sich sprach. Mr. Lyon wurde aus dem Sichtfeld gedrängt. Severus konnte ihn nicht mehr sehen.

Einige Minuten später hörte man ein Klopfen.

„Das kommt von der Hintertür“, sagte Hermine und wollte bereits aufstehen, da ging Severus bereits hinaus auf den Flur. Mit gezücktem Stab öffnete er die Tür.
„Mr. Lyon, kommen Sie herein.“
„Ist das Ihr Kniesel?“ Mr. Lyon hatte Fellini auf dem Arm. Der Knieselkater war durch den Lärm völlig verschreckt.
„Gehört zu uns“, bestätigte Severus, bevor er auch die Hintertür mit einem Zauber sicherte.
„Die haben mich an die Wand gedrückt. Ich bin über die Mauer geklettert und landete im Hinterhof Ihres Nachbarn.“
„Sind Sie verletzt?“
Mr. Lyon schüttelte den Kopf. „Nur ein paar Kratzer, nicht Ernstes. Ich habe Mr. Foster vorhin gesehen. Ist er …?“
„Wird gerade von Miss Granger verarztet.“

Im Verkaufsraum standen alle am Schaufenster und beobachteten aus nächster Nähe, wie der Pöbel den Herren und Damen der Magischen Polizeibrigade zusetzte. Nur vereinzelt waren Kobolde zu sehen, die sich gegen Angriffe der Menschen schützten.

„Als Voldemort Angst und Schrecken verbreitet hat“, alle drehte sich zu Severus um, „haben alle zusammengehalten: Kobolde, Elfen, Zauberer.“ Er schüttelte den Kopf. „Jetzt wo er tot ist, haben wir nichts Besseres zu tun, als uns gegeneinander aufzuwiegeln.“
Mr. Flourish bemerkte Mr. Lyon und sagte mitfühlend: „Bei Merlin, Ihr Gesicht! Was haben die Ihnen nur angetan?“
„Das, ähm“, stotterte Lyon, „das war schon vorher so.“
„Oh“, machte Mr. Flourish als Ausdruck seiner peinlichen Betroffenheit. Er drehte sich wieder herum, schaute aus dem Fenster und hoffte, der unangenehme Moment würde so schnell wie möglich vergehen.

Gordians Fuß war verbunden. Hermine half ihm aufzustehen. Schmerzen hatte er Dank der Salbe keine mehr.

„Professor Snape?“ Severus drehte sich zu Gordian um. „Ich bin voll einsatzfähig. Wir können loslegen.“
Mr. Lyon schloss sich an. „Ich auch.“
„Oh mein Gott!“ Hermine zeigte auf die Straße. „Ist das etwa Luna?“

Luna kämpfte sich auf die Stufen der Apotheke, doch sie wollte nicht hinein. Die leichte Erhöhung nutzte sie, um Fotos mit ihrer Kamera schießen zu können. Fünf, sechs Male blitzte es, bevor ein lilafarbener Fluch sie traf und Luna auf der Treppe, mit dem Rücken an die Glastür gelehnt, zusammensackte. Ein aufgebrachter Zauberer löste sich aus dem Tumult der Straße und näherte sich ihr. Bei ihr angelangt ergriff er die Kamera und schleuderte sie mit aller Wucht neben die Treppe. Gerade drehte er sich um, da musste er sich selbst vor einem Fluch in Acht nehmen. Mit einem Hechtsprung tauchte er wieder in der Masse unter.

„Wir müssen Luna reinholen!“ Hermine bestand darauf, auch wenn es gefährlich war, die Tür zu öffnen. Ein Fluch könnte hereingeflogen kommen und alles in Schutt und Asche legen – oder noch viel schlimmer.
Severus stand bereits an der Tür und zückte seinen Stab. „Bei drei öffne ich die Tür und Sie, Mr. Lyon und Mr. Flourish, ziehen die Dame herein.“
„In Ordnung.“

Severus behielt die Winkelgasse im Auge. Die Unruhen waren nur zwei Meter von der Tür entfernt. Würde die Apotheke nicht über drei Stufen verfügen, würden die Menschenmassen sich an die Schaufenster pressen, wie es drüben bei Madam Malkins der Fall war. Die Zauberer und Hexen, die von der Magischen Polizeibrigade mehr oder weniger in Schacht gehalten wurden, hatten die Bewusstlose bisher nicht beachtet. Den Mann, der die Kamera zerstört hatte, konnte man in der Masse nicht ausmachen. Severus begann zu zählen. Bei drei riss er die Tür auf. Er sprach einen Schutzzauber, während Flourish und Lyon die ehemalige Ravenclaw hereinzogen. Per Hand ging es schneller als mit einem Mobilcorpus. Luna war in Sicherheit, die Tür wieder geschlossen und mit Schutzzaubern versehen. Severus richtete den Stab auf Luna.

„Finite!“ Der Zauberspruch aus Severus’ Stab traf Luna in den Bauch. Gleich drauf räkelte sie sich, gähnte sogar, aber ihre Augen blieben geschlossen.
„Ich habe Kopfschmerzen“, sagte sie leise. Mit einer Hand tastete sie umher. „Meine Kamera?“
„Liegt draußen“, erklärte Severus.
„Ich habe ein paar tolle Bilder geschossen“, erst jetzt öffnete sie die Augen, „von dem ersten Kobold, der bei Ollivander einen Zauberstab gekauft hat. Das wird ein schöner Artikel werden.“
„Und den Aufstand hast du auch fotografiert“, merkte Hermine an.
Luna verzog das Gesicht. „Der zweite Artikel wird nicht so schön werden.“ Von Lyon ließ sie sich aufhelfen. Sie fasste sich an die Stirn. „Kopfschmerzen.“
„Ich geb dir was“, versprach Hermine.

Man hörte die Rufe von draußen. Die Stimme, die über den Sonorus für Ruhe sorgen wollte und die Beschimpfungen der Menschen, die in ihrem Denken eingeschränkt waren und es auch bleiben wollten. Die Kobolde hatten sich in die Bank zurückgezogen, auch Elfen waren nicht mehr zu sehen. Mensch gegen Mensch.

Weit weg von dem Tumult, von dem man sicherlich am nächsten Tag in allen Zeitungen lesen konnte, saßen Harry, Kingsley und Geoffreys in ihrem Zelt. Harry hielt sich die Ohren zu.

„Wenn es nicht bald aufhört zu regnen, dann bekomme ich noch Kopfschmerzen“, sagte der Jüngste der Herren. Harry seufzte, ließ die Hände wieder in den Schoß fallen. Der Regen trommelte laut gegen das Zelt.
„Und wie hießen die drei Unverzeihlichen?“ Geoffreys blieb lernwillig und wiederholte: „Das war Avada Kedavra, der Todesfluch?“
„Richtig“, stimmte Kingsley zu.
„Dann noch Imperius-Fluch, der einer Person den eigenen Willen aufdrängt.“ Kingsley nickte. „Und der Cruciatus, der andere auf üble Weise quält.“

Allein bei der Nennung der Flüche musste Harry an einige Momente aus seinem Leben zurückdenken. Der falsche Moody, Cedrics Tod, Nevilles Eltern.

„… Handfeuerwaffe.“
Als Harry dieses Wort hörte, fragte er nach. „Was haben Sie eben gesagt?“
Geoffreys wiederholte. „Ich sagte, ich führe eine Handfeuerwaffe mit mir.“
„Darf ich die mal sehen?“
„Sicher.“ Aus seinem unter der Jacke versteckten Halfter zog Geoffreys den Revolver hervor. Er entnahm das Magazin, vergewisserte sich, dass keine Patrone mehr im Lauf steckte und reichte sie Harry.
„Mann, die ist ja richtig schwer.“
„Es gibt auch leichtere, aber die gehört zur Standardausrüstung des MI5.“
Harry musterte die schwarze Waffe, legte sie in die Hand, drehte sie und gab sie letztendlich wieder zurück. „Mussten Sie mal jemanden erschießen?“
Geoffreys zögerte, bevor er zaghaft nickte. „Wenn man zweihundert Menschleben retten kann, wenn man nur eines auslischt …“ Er sprach nicht weiter. Entweder war es ihm unangenehm, darüber gesprochen zu haben oder er nahm die Angelegenheit nicht einfach hin. In dieser Hinsicht hatten sie etwas gemeinsam.
„Ich verstehe“, sagte Harry mit ruhiger Stimme, „mir geht es genauso. Ich musste töten, um andere zu retten.“

Viel zu selten hatte er über die unschönen Momente des Krieges gesprochen. Wichtig war nur, als Sieger hervorgegangen zu sein. Niemand würde ihn, den Retter zweier Welten, für den Tod von einigen Todessern zur Verantwortung ziehen. Niemand würde hinterfragen, warum auch Unschuldige sterben mussten. Manchmal konnte man sich nicht anders gegen den Feind wehren, auch wenn der durch einen Imperius dazu gezwungen wurde, Harry und seine Freunde anzugreifen. Man konnte schwer unterscheiden, wer aus eigenem Antrieb den Stab gegen einen richtete und wer dazu genötigt wurde.

Als irgendetwas kräftig an das Zelt schlug, fuhren alle drei aufgeschreckt herum. Kingsley zog seinen Stab und verbarg ihn hinter seinem Rücken, bevor er Geoffreys dazu aufforderte, den Reißverschluss zu öffnen. Der Kopf des Wirtes lugte herein.

„Sie dürfen hier nicht einfach zelten, ohne zu fragen.“
„Wen müssen wir denn fragen?“, wollte Kingsley wissen.
„Mich“, erwiderte der Wirt schmunzelnd.
„Dürfen wir hier zelten?“
„Klar.“ Der Wirte lachte, hielt kurz darauf eine Thermokanne ins Zelt. „Heißer Tee. Meine Frau dachte, dass es bei dem Regen recht kalt werden wird.“
Geoffreys nahm die Kanne entgegen. „Vielen Dank.“
„Das Angebot steht noch, Sie nach Campbeltown zu fahren. In etwa zwei Stunden fährt mein Neffe dort hin. Kommen Sie einfach in den Pub, wenn Sie mitfahren möchten.“

Nachdem der Wirt gegangen war, teilten sich die drei die Kanne Tee. Harry hätte ablehnen sollen. Seine Blase war jetzt bereits zum Bersten voll. Dennoch hatte er nichts gegen einen heißen Tee einzuwenden, um gegen die klamme Luft anzugehen. Zwanzig Minuten später meldete sich die Blase.

„Ich bin mal eben draußen.“
„Wohin soll es denn gegen, Harry?“, wollte Kingsley wissen.
„Ich muss nur mal … Na ja, ich muss eben mal.“
„Pass auf dich auf, ja.“
„Was soll in der kurzen Zeit schon passieren?“

Bei einem Gewitter sollte man sich zwar nicht unter einen Baum stellen, aber niemand behauptete, man dürfte bei so einem Wetter nicht gegen einen urinieren. Das Wirtshaus war zu weit weg. Harry würde es nicht halten können. Die zehn Meter bis zum nächsten Baum schaffte er gerade noch. Er schaute sich um. Niemand war weit und breit zu sehen, sodass Harry sich ungeniert den Reißverschluss der Hose öffnen konnte.

Der Regen war so stark, dass er sich danach problemlos mit den großen Tropfen die Hände waschen konnte. Als er sich umdrehte, bekam er einen heftigen Schreck. Ein Mann stand vor ihm. Der Kragen des Regenmantels war hochgeschlagen und die wasserfeste Mütze tief ins Gesicht gezogen. Mit beiden Händen umfasste er einen Hirtenstab, an den er sich lehnte.

„Guten Tag“, grüßte der Herr. „Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“
„Meine Güte, wo kommen Sie denn her? Wer sind Sie?“ Harry wischte sich übers Gesicht, denn er trug keine Mütze und die Haare wurden langsam aber sicher richtig nass und lenkten den Regen direkt in seine Augen.
„Ich bin nur ein Schafhirt.“
Skeptisch blickte sich Harry um. „Und wo sind die Schafe?“

Beinahe wie abgesprochen kam in genau diesem Moment ein einziges Schaf um den Baum herum und stellte sich treu neben den Hirten. Das Schaf war seltsam. Es sah zwar aus wie ein Schaf, aber es blickte Harry direkt in die Augen. Ein Animagus, ging es Harry durch den Kopf.

„Wo ist der Rest der Herde?“, wollte Harry wissen.
Der alte Mann lächelte. „In Sicherheit.“

Das Spielchen mit den Andeutungen beherrschte Harry auch. Trotzdem wünschte er sich Kingsley herbei. Der Auror müsste eigentlich längst nach dem Rechten sehen, weil Harry viel zu lange weg blieb.

Harry deutete auf das Accessoire des Schäfers. „Ich hab auch einen Stab, wissen Sie? Nur ist meiner aus Stechpalme.“
Ein Mundwinkel des Hirten wanderte nach oben. „Was führt Sie hierher?“
„Ich habe gehört, in Peninver …“ Wäre es Sicher? Gäbe es keine Überfälle? Befand sich ein Zufluchtsort? Was konnte er sagen? „…wäre es sehr ruhig.“ Wann kam Kingsley endlich, fragte sich Harry.
„Es ist schon lange niemand mehr hergekommen.“
Harry nickte. „Mag daran liegen, dass es seit einiger Zeit überall sehr ruhig geworden ist.“
„Tatsächlich?“ Das Schaf und der Hirt hatten für einen Moment Blickkontakt. Jetzt war sich Harry sicher, dass das kein Tier war.

Ein greller Blitz ließ den Hirt und das Schaf nach oben schauen. In diesem Moment sah Harry über die Schulter des Mannes hinweg die Umrisse eines unsichtbaren Hauses, das vom Regen deutlich gezeichnet wurde. Anfangs noch sehr blass materialisierte sich das Gebäude unter Harrys wachsamen Blick, bis er es genau sehen konnte, den Gutshof und die umliegenden Gebäude. Harry hatte das Gefühl, dass er es nur sehen konnte, weil er nach dem Erscheinen des Mannes mit seinem seltsamen Schaf davon ausging, dass es hier tatsächlich eine Zuflucht gab, die unter dem Fidelius lag. Möglicherweise könnte er in Zukunft seine Gabe beherrschen. Er musste nur fest daran glauben. Das klang einfacher als es war.

„Wie lange haben Sie schon keine Zeitung mehr gelesen?“, wollte Harry wissen.
Der Mann zuckte mit den Schultern. „Einige Jahre werden es schon sein.“

In diesem Moment kam endlich Kingsley, gefolgt von Geoffreys. Der Hirt drehte sich um, wippte von einem Fuß auf den anderen. Er war nervös.

„Keine Sorge“, beruhigte Harry ihn, „das sind Freunde.“
„Zwischen Freund und Feind kann man schwer unterscheiden“, gab der Hirt zu bedenken.
„Nicht mehr, Sir.“
Kingsley war noch nicht nahe bei ihnen, da rief er: „Alles in Ordnung, Harry?“ Bei dem Namen blickte der Hirte Harry nochmals an, als fühlte er seine Vermutung endgültig bestätigt.
„Ja, alles bestens“, erwiderte Harry.

Durch den Regen hingen ihm die nassen Haare vor den Augen. Mit einer Hand strich Harry den Pony nach hinten und legte somit die Stirn frei. Der Schäfer kniff skeptisch die Augen zusammen. Plötzlich ging alles so schnell. Aus dem Hirtenstab zog der Schäfer seinen Zauberstab und richtete ihn gegen Harry. Kingsley war schneller und machte den Mann mit einem Petrificus Totalus unbeweglich. Das Schaf verwandelte sich in weniger als eine Sekunde in eine Frau mittleren Alters, die ihren Stab auf Kingsley richtete.

„Expelliarmus, Incarcerus!“, rief Kingsley hintereinander und schon war die Dame entwaffnet und magisch gefesselt. Auch den versteinerten Herrn fesselte er zunächst mit einem Incarcerus, bevor er die Bewegungslosigkeit wieder aufhob. „Warum haben Sie angegriffen?“, fragte Kingsley ganz ruhig.
Zähne fletschend schaute der Schäfer zu Harry. „Das ist nicht Harry Potter! Die Narbe fehlt. Ihr müsst euch schon etwas Besseres einfallen lassen, um uns zu schnappen, ihr Schweine!“
„Hallo, hallo!“, sagte Geoffreys. „Immer ruhig Blut. Wir sind nicht hier, um irgendjemandem etwas anzutun.“
Harry versuchte sich zu rechtfertigen. „Das mit der Narbe kann ich erklären. Die hat sich mit all den Todessern zusammen verflüchtigt.“
„Warum sollte ich Ihnen das glauben?“
„Sie hätten ab und an doch einmal Zeitung lesen sollen, Sir“, sagte Harry ein wenig wütend. Noch nie musste er irgendjemandem beteuern, dass er wirklich Harry Potter war.
Das erste Mal sprach die Frau. Ihre Worte richtete sie an Kingsley. „Wer sind Sie?“
„Kingsley Shacklebolt, Leiter des Aurorenbüros.“ Er blickte neben sich. „Das ist Mr. Geoffreys, gehört zu meinem Team.“ Kingsley nickte zu Harry. „Und Harry Potter, auch echt ohne Narbe.“ Harry musste grinsen. „Und mit wem habe ich die Ehre?“
„Claire MacLaren.“
„Gib denen nicht unsere Namen!“, zeterte der Schäfer.

Kingsley entfernte die magischen Fesseln bei der Frau, griff dann in seine Innentasche und zog seinen Ausweis heraus, den er ihr gab. Sie musterte den Ausweis. Mit ihrem eigenen Stab tippte sie ihn an. Ein hellblauer Schein umhüllte den Ausweis.

„Der Ausweis ist echt“, sagte sie zum Schäfer.
„Das Ministerium könnte unterwandert sein“, gab er zu bedenken.
Kingsley nahm den Ausweis zurück und sagte währenddessen: „Es ist natürlich Ihre Angelegenheit, weiterhin in einem versteckten Gutshof zu wohnen. Meine Pflicht ist es jedoch, Ihnen die Botschaft zu übermitteln, dass der Krieg vorbei ist.“
„Woher wissen Sie überhaupt von uns?“, wollte der Mann wissen, der noch immer nicht seinen Namen herausrückte. Dennoch war Kingsley so frei, die Fesseln auch bei ihm zu entfernen.
„Einige Personen haben uns davon berichtet, dass das Gerücht umging, in Peninver gäbe es einen sicheren Ort für alle Kriegsflüchtlinge. Die Todesser erfuhren ebenfalls davon, deswegen war der Weg hierher sehr gefährlich.“
„Deswegen kam niemand mehr“, sagte Claire zum Schäfer.
Kingsley wollte das Vertrauen des Mannes gewinnen. „Derjenige, der auf die Idee gekommen ist, einige Menschen vor Voldemort“, Claire und der Schäfer fuhren bei dem Namen zusammen, „zu schützen hat einen Merlin erster Klasse verdient.“
„Ach, wirklich?“, fragte der Schäfer interessiert nach.
„Natürlich! Der Ort hier ist so sicher, dass weder Todesser noch Auroren ihn schnell finden konnten. Ich habe nicht einmal damit gerechnet, hier jemanden anzutreffen.“

Claire schaute dem alten Mann in die Augen, blickte dann scheu zu Harry.

„Warum haben Sie keine Narbe mehr?“, wollte sie in Erfahrung bringen.
„Mein Stab auf dem dunklen Mal war schuld daran. Voldemort hat so immer seine Leute gerufen, aber mein Stab hat alle überzeugten Todesser verbrannt.“
Claire nickte nachdenklich. „Wer ist Zaubereiminister?“
„Arthur Weasley“, erwiderte Harry.
„War der nicht früher im Büro gegen den Missbrauch von Muggelartefakten beschäftigt?“
„Genau der!“, stimmte Harry zu.

Der alte Mann schien noch immer misstrauisch. Vielleicht, dachte Harry, lag das am Alter, denn die wesentlich jüngere Claire war offenbar überzeugt worden. Sie blickte den Schäfer an.

„Wir sollten wenigstens den anderen Bescheid geben“, sagte Claire. „Damit jeder für sich selbst entscheiden kann.“
Der Schäfer schüttelte den Kopf, bevor er sich an Harry wandte und fragte: „Von wem genau haben Sie von uns erfahren? Ich will Namen hören!“
Harry blickte zu Kingsley, der mit einem Nicken die Erlaubnis gab, die Namen zu nennen: „Gregory Goyle.“ Der Schäfer verzog keine Miene. „Pansy Parkinson.“ Noch immer regte sich nichts im Gesicht des alten Mannes. „Blaise Zabini.“ Jetzt wanderten seine Augenbrauen in die Höhe. Er schaute zu Claire, die ebenfalls erstaunt war, diesen Namen zu hören.

Während die Kontaktaufnahme in Peninver ruhig vonstatten ging, herrschte in der Winkelgasse noch immer der Ausnahmezustand.

Mit Kunden war heute nicht zu rechnen. Diesen Umstand nutzte Severus voll aus. Er drückte Gordian ein dickes Buch in die Hand und sagte: „Suchen Sie sich einen Trank aus.“

Hermine kannte den Wälzer. Auch sie durfte sich während ihrer Ausbildung einen Trank aus dem Buch Die Kraft von Lóng – ostasiatische Tränke für die Sinne aussuchen. Gordian würde heute zum ersten Mal mit einem Drachenei als Zutat arbeiten. Der junge Mann schien von der Vielfältigkeit der Tränke überwältigt.

Mr. Lyon und Hermine brauten einige gängige Tränke im Voraus. Erst vorhin hörten sie über einen Sonorus den Hinweis der Magischen Polizeibrigade, dass sämtliche Flohnetzverbindungen gekappt wurden. Solang die Winkelgasse nicht freigegeben war, war ein Nachhausekommen für Gordian und Mr. Lyon sowieso nicht möglich. Daphne brachte derweil die Buchhaltung auf Vordermann und hielt ein Schwätzchen mit Mr. Flourish, der hier wie ein Gestrandeter festsaß und es nicht wagte, einen Fuß vor die Tür zu setzen. Die Polizei hatte alles gesperrt, damit ihnen keiner der gewalttätigen Demonstranten entwischen konnte. Luna hatte ihre Kamera gerettet. Der Film war unbeschädigt, was man von dem aufgesetzten Blitz nicht behaupten konnte. Sie hatte bereits begonnen, einen Artikel zu verfassen.

An der Tür zum Labor klopfte es. Daphne lugte herein.

„Hermine, kannst du mal bitte kommen? Wir haben einen Verletzten.“
Davon irritiert ließ Hermine alles stehen und liegen. Als sie an Gordian vorbeikam, flüsterte sie: „Nimm den Adlerauge.“
Kaum hatte Hermine das Labor verlassen, sagte Gordian: „Ich habe mich für den Adlerauge entschieden.“
Severus kam herum und schaute auf das Buch in den Händen seines Schülers. „Warum ist es dann bei einem potenzsteigernden Trank aufgeschlagen?“
„Ähm …“ Gordian schaute auf die aufgeschlagene Seite und wurde rot im Gesicht. „Moment, ich hatte doch eben …“
„Seite 235, Mr. Foster. Miss Granger hätte Ihnen auch gleich die Seitenzahl nennen sollen.“

Hermine war derweil im Verkaufsraum und verarztete eine Frau, die von zwei Polizisten begleitet worden war. Sie war eine der unschuldigen Passanten, die zufällig in den Aufruhr geraten war. Die Frau war in dem Gedränge gefallen und hatte sich den Kopf aufgeschlagen.

„Wann haben Sie die Winkelgasse wieder im Griff?“, fragte Hermine die beiden Polizisten.
„Wir haben sie doch im Griff.“ Ein Blick nach draußen zeigte, dass noch immer einige Demonstranten mit ihren Stäben bewaffnet waren und mit Flüchen um sich warfen. Einer der Polizisten kommentierte das und sagte: „Nach und nach führen wir die Demonstrierenden per Portschlüssel ab. Das kann noch ein wenig dauern. Entwischen wird uns jedenfalls keiner.“
Die Frau, deren Stirn Hermine gerade verarztete, klang sehr wütend. „Sie haben einfach alle zusammengepfercht, selbst diejenigen, die hier nur einkaufen wollten!“
„Eine Beschwerde können Sie gern beim Ministerium einreichen.“
„Und ob ich das tun werde!“
Die Polizisten sahen sich kurz gegenseitig an und fragten dann Hermine: „Dürfte die Dame wohl hier bei Ihnen warten?“
„Sicher.“

Bis zum Abend hatte die Magische Polizeibrigade alle Hände voll zu tun. Weil die Winkelgasse gesperrt war, ebenso alle Flohnetzwerke blockiert waren, lag es an Gordian, für acht Personen Mittagessen sowie Abendessen zuzubereiten. Mr. Flourish, Luna und die Dame mit der Kopfverletzung bedankten sich vielmals für die nette Behandlung.

Mit ihren beiden Artikeln war Luna im Groben schon fertig, es folgte nur noch der literarische Feinschliff. Nach Feierabend las Hermine beide Artikel und befand sie für gut. Sie fragte sich nur, welcher der Artikel es auf die erste Seite bringen würde. Der über den Verkauf eines Zauberstabes an den ersten Kobold oder der über den Aufstand aus dem gleichen Grund.

Am nächsten Morgen war Hermine überrascht darüber, dass keiner von Lunas Artikeln die erste Seite zierte. Die Schlagzeile lautete 142 vermisste Hexen und Zauberer gefunden. Damals während des Krieges hatten einige Zeitungen regelmäßig eine Liste mit gefallenen Kämpfern herausgebracht. Die Liste im aktuellen Tagesprophet ähnelte den damaligen sehr. Es waren Namen, viele Namen, einfach untereinander geschrieben, doch diesmal bedeutete es nicht, dass diese Menschen gestorben waren. Heute las Hermine die Liste nicht mit heftig pochendem Herzen und dem Gefühl, gleich in Tränen ausbrechen zu müssen. Diesmal freute sie sich, denn wenigstens ein Name sagte ihr etwas.

„Warum grinst du so vor dich hin?“, wollte Severus während des Frühstücks wissen.

Auch jemand anderes, der früh auf den Beinen war, las die Liste aufmerksam. Gregorys Hände zitterten, seine Atmung ging stockend. Die Eier in der Pfanne waren längst schwarz, so wenig achtete er auf das Frühstück, dass er für Blaise, Pansy, Berenice und sich machen wollte. Das Haus und das gesamte Vermögen von Mr. und Mrs. Goyle war vom Ministerium noch immer nicht freigegeben worden. Die Besitztümer aller Todesser und deren Familien wurden gründlich durchsucht und geprüft oder auch einfach nur vergessen. Wären Pansy und Blaise nicht so freundlich, ihn auf unbestimmte Zeit bei ihnen wohnen zu lassen, säße Gregory auf der Straße.

Seine Augen flimmerten, als er die kleine Schrift las, Namen für Namen in Gedanken aussprach – und da, ganz unten, stand der Name einer Frau.

In Windeseile war Gregory in den ersten Stock geprescht, um Blaise und Pansy zu wecken. Das aufgebrachte Klopfen an ihrer Tür wurde sofort beantwortet.

„Was ist denn los, Greg?“ Pansy war angekleidet und gerade dabei, Berenice für den Tag anzuziehen.
„Blaise?“, rief Gregory über Pansys Schulter hinweg. „Komm her, das musst du dir ansehen!“
Ein Morgenmensch war Blaise nicht, aber wach war er. „Was ist denn los?“, murmelte er ein wenig verstimmt.
Gregory stürmte ins Zimmer. Einige Blätter der Zeitung verteilten sich auf dem Boden, aber die Seiten waren unwichtig. Wichtig waren die mit der Namensliste. „Sieh hier!“ Mit einem Finger deutete Gregory auf das Ende der alphabetisch sortierten Liste. „Das ist bestimmt …“
„Meine Mutter!“ Blaise las den Namen wieder und wieder, dann noch einmal.

Keine Mrs. Parkinson, keine Mrs. Goyle. Die beiden blieben weiterhin verschollen, aber wenigstens hatte einer von den dreien Glück. Blaise zitterte am ganzen Leib, aber er stählte sich innerlich, um den zur Liste gehörenden Artikel zu lesen:

In Peninver, an der Ostküste von Kintyre, konnte ein ungleiches Team, bestehend aus einem Auror und einem Muggel-Geheimdienstler, bei ihrem ersten gemeinsamen Einsatz einen vollen Erfolg verzeichnen. Mr. Shacklebolt und Mr. Geoffreys suchten Kontakt zu einem Geheimniswahrer, der angeblich einen in Peninver liegenden Gutshof zu einer Zufluchtsstätte für Kriegsflüchtlinge umgestaltet hatte. Während des Krieges gingen viele solcher Gerüchte umher. Einige von ihnen waren von Todessern selbst in die Welt gesetzt worden, um Hoffnungen zu zerstören, aber Peninver gab es tatsächlich. In über fünf Jahren fanden sich 142 verängstigte Männer, Frauen und Kinder der Magischen Welt dort ein. Unserem Reporter war es leider nicht möglich, mit einer der geretteten Personen direkt zu sprechen. Aus einem Gespräch mit dem Auror hörte er jedoch heraus, dass vier Menschen während ihrer Zeit im Gutshof an einer normalen Todesursache gestorben sein sollen. Vorerst wurden alle Geretteten ins St.-Mungo-Hospital für Magische Krankheiten und Verletzungen gebracht. Das Aurorenbüro stellte eine Liste mit den Namen aller Überlebenden zusammen, die wir gern zu drucken bereit sind. Am Ort des Geschehens fand sich übrigens kein Geringerer an als Harry Potter. Auf die Fragen unseres Reporters antwortete er wiederholt mit den Worten „Ich habe damit überhaupt nichts zu tun. Ich bin durch Zufall hier.“ Wir nehmen es mit einem Schmunzeln zur Kenntnis.

Mehr erfahren Sie, liebe Leser, in der morgigen Ausgabe.

Ihr Team vom Tagesprophet
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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230 Die lieben Verwandten




„Ich schwöre dir“, sagte Harry zu Ginny und nickte dabei heftig, „ich habe nichts getan! Ich habe nur mit einem Schäfer geredet.“ Eine ihrer Augenbrauen wanderte nach oben. „Und mit seinem Schaf.“ Die zweite Augenbraue leistete der ersten Gesellschaft.
„Du hast Luna die Schlagzeile vermasselt“, hielt Ginny dagegen. „Egal wo du auftauchst, allein dein Name ist schon die erste Seite wert.“
„Kingsley und Geoffreys haben immerhin 142 Menschen gerettet“, verteidigte er sich. „Das ist auch die erste Seite wert. Warum interessiert dich das überhaupt? Bekommst du eine Provision von Luna?“
Ginny stopfte Nicholas das Hemd in die Latzhose. „Ich habe nur wieder einmal festgestellt, Harry, dass dein Name Futter für die ausgehungerte Presse ist. Du hättest in der Winkelgasse auf einer Bananenschale ausrutschen können und ich wette mir dir, die Zeitungen hätten über deinen profanen Unfall berichtet und nicht über den Aufstand.“
„Das ist doch aber nicht meine Schuld.“ Harry schmollte. „Außerdem hat sich ja herausgestellt, dass der Aufstand organisiert war und zwar von so ein paar Hohlköpfen, die unter anderem dagegen sind, dass Frauen Quidditch spielen dürfen.“
Ginny schnaufte wegen der Bemerkung. „Weißt du, was Mama macht?“
„Was?“
„Sie schneidet jeden Zeitungsartikel aus, der über dich berichtet. Ich frage mich nur, ob wir die Alben irgendwann mal geschenkt bekommen.“
„Ehrlich? Das macht sie?“ Er konnte sich nicht vorstellen, dass Molly mit einer Schere bewaffnet die Zeitungen malträtierte und Arthur wie in einem klischeehaften Film durch ein Loch im Tagesprophet starrte, weil er die Ausgabe leider erst nach ihr in die Finger bekommen hatte.
„Ist doch für unsere Kinder interessant, meinst du nicht?“ Sie wartete keine Antwort ab. „Bist du fertig?“
„Schon seit einer halben Stunde“, beteuerte Harry.
„Dann kann es ja losgehen.“

Mit einer Tasche, die einige Dinge für Nicholas beinhaltete und einem Blumenstrauß flohten Harry und Ginny erst einmal zum Tropfenden Kessel. Von dort aus apparierten sie in eine Kleinstadt, die in der Nähe von London lag.

Als sie angekommen waren, von den Blicken neugieriger Muggel geschützt, schaute sich Ginny um.

„Das ist also Little Whinging“, stellte sie verwundert fest. „Ich hab es mir belebter vorgestellt.“
„Belebter? Nein, hier klappt man um zehn Uhr abends die Bürgersteige hoch.“ Nicholas fand die Reise so aufregend, dass er in seiner Brabbelsprache viel zu erzählen begann. Harry nahm ihn auf den Arm. „Hier lang.“

Auf ihrem Weg sahen sie ein Plakat, das Werbung für die Firma Grunnings machte, der Firma, die Harrys Onkel Vernon leitete. Sie stellte Bohrmaschinen her. Ginny nahm das Plakat zur Kenntnis. Sie kamen an einem Geschäft für Haustierbedarf vorbei.

„Hier holt Mrs. Figg immer ihr Knie-“, er stoppte sich, weil gerade ein älterer Herr aus dem Geschäft kam. „Ihr Katzenfutter, meine ich. Manchmal hat sie mich mitgenommen, wenn sie auf mich aufgepasst hat.“ Nicholas sah den Hund, den der Mann an der Leine hatte und sagte dazu „Wauwau“.

Nach etlichen Reihenhäusern, die in Ginnys Augen alle gleich aussahen, bogen sie in den Ligusterweg ein. Harry wurde plötzlich langsamer. Im ersten Moment glaubte Ginny, der Grund dafür wäre der Junge in Harrys Arm. Es handelte sich jedoch um einen inneren Kampf, den Harry unbewusst ausführte. Das Haus seiner Verwandten hatte er lange nicht besucht. Der Ligusterweg brachte all die Erinnerungen seiner Jugend zurück, die er als Schüler jedes Mal aufs Neue in Hogwarts einfach nur vergessen wollte.

„Da ist es“, sagte Harry leise.
„Wo? Da?“ Ginny nickte in eine Richtung, woraufhin Harry nickte.
„Gehst du vor?“

Ginny tat ihm den Gefallen, dachte sie doch, Harry könnte mit Nicholas im Arm nicht die Türklingel bedienen.

Man konnte frischen Kaffee durch die Ritzen der alle zwei Jahre neu gestrichenen Haustür riechen. Ein Wasserkessel pfiff, wahrscheinlich für den Tee. Irgendwo in der Nachbarschaft bellte ein Hund. Die Klopeks hatten immer einen Hund, erinnerte sich Harry. Wahrscheinlich handelte es sich um Arco Nummer drei oder vier, eine Terrierhündin. Arco eins und zwei starben an Krebs und bei einem Autounfall. Ginny klingelte, und Harry schluckte mehrmals, als wäre das Loch in seiner Kehle zu klein, sodass nicht einmal Speichel hinunterrinnen konnte, so zugeschnürt kam sie ihm vor. Das Pfeifen verstummte. Man konnte drinnen eine Tür hören. Das Geräusch kannte Harry noch. Es war die Küchentür. Er konnte die Zeit abschätzen, wie lange Tante Petunia über den frisch gesaugten, aufgeräumten Flur benötigen würde, bis sie die Tür öffnet. In dem Moment, in dem Harry dachte, jetzt wäre es soweit, öffnete sich tatsächlich die Haustür. Tante Petunia stand vor ihnen. Ihr freundliches Lächeln war jenes, welches sie sogar für den Postboten übrig hatte – und für jeden beliebigen Fremden, der an ihre Tür klopfte. Sie trocknete sich die Hände an einem blütenweißen Küchentuch, blickte dabei erst Harry in die Augen, dann Nicholas. Jetzt kroch ihr distanziert freundliches Lächeln hinauf bis zu den Augen und wurde echt.

„Harry, Ginevra, schön dass ihr da seid.“ Der Junge in Harrys Arm wurde extra nett begrüßt. „Und der kleine Spatz!“ Petunia strich ihm über die Pausbacken. „Für dich habe ich eine Kleinigkeit. Kommt erst einmal herein.“

Ginny wusste nicht, wohin mit dem Blumenstrauß. Noch nie war sie in die Verlegenheit gekommen, einer Gastgeberin so ein Geschenk zu überreichen. Also hob sie einfach die Hand, in der sie ihn hielt und fummelte das Papier drumherum ab. Es war ein bunter Strauß mit verschiedenen Blumen. Petunien waren darunter, auch rotweiße Lilien. Beim Floristen hatte Harry auf diese ungewohnte Mischung bestanden. Seine Tante würde die symbolische Vereinigung sicherlich bemerken.

„Mrs. Dursley“, Ginny reichte der Tante ihres Mannes den Strauß.
„Nicht doch Mrs. Dursley. Petunia“, verbesserte sie und nahm den Strauß entgegen. „Ach, das wäre doch nicht …“ Ihre Augen huschten über die Blumen. Lilien. Petunien. Sie hatte verstanden. Ihr Lächeln wurde sanfter, ein wenig melancholisch. Petunia blinzelte zweimal und wandte ihren Blick von den Blumen ab. „Kommt doch bitte in die Küche.“

Petunia wies den Weg. Ginny folgte und Harry mit dem Jungen auf dem Arm bildete das Schlusslicht. Sein Schritt wurde langsamer, als er an der Besenkammer vorbeikam. Das Schloss war neu. Er hatte sich damals jedes einzelne ganz genau angesehen, um zu überlegen, ob er es im Notfall irgendwie von innen öffnen könnte. Diesmal war es kein Schiebeschloss, sondern nur ein kleiner Haken, der die Tür unter der Treppe verschlossen hielt. Es duftete nach Putzmitteln, stellte Harry fest. Damit sich niemand wundern würde, warum er so lange benötigte, setzte er Nicholas auf dem Boden ab. Eine kleine Hand hielt er fest. Im Gehen berührte Nicholas die Wand. Seine Verwandten hatten alle drei, vier Jahre den Flur tapezieren lassen, doch die Tapete hatte immer das gleiche Muster. Seine Tante hätte am liebsten nach jedem rauchenden Besuch frisch tapeziert, aber das war Onkel Vernon zu teuer gewesen. Über die kleine Schwelle zwischen Flur und Küche wäre Nicholas beinahe gestolpert.

„Vorsichtig, kleiner Mann“, sagte Petunia freundlich. Nicholas strahlte und riss sich von Harry los, um zu Ginny zu laufen, die bereits am großen Tisch in der Küche stand. „Nehmt doch bitte Platz, wo ihr möchtet.“ Petunia hängte das weiße Handtuch an den dafür vorgesehenen Haken. Sie kümmerte sich um das Teewasser. Derweil betrachtete Harry den gedeckten Tisch. Alles war perfekt. Er kannte die Art seiner Tante, für Gäste zu dekorieren. Das Porzellan-Set war ihm ebenfalls bekannt. Nachdem Gäste gegangen waren, hatte er es häufig abwaschen müssen, aber immer ganz vorsichtig. Es war wertvoll. Davon gegessen hatte er noch nie. Heute war das eine Premiere.

„Die Blumenvase ist aber hübsch“, hörte Harry plötzlich Ginny sagen.

Er überblickte die Situation. Seine Tante hatte für den mitgebrachten Strauß eine der vielen Vasen aus dem Schrank geholt. Für jede Art von Sträußen hatte sie ein passendes Gefäß: langhalsig oder dickbäuchig mit großer oder kleiner Öffnung. Insgesamt mindestens zehn Stück.

„Oh, vielen Dank“, sagte Petunia geschmeichelt. „Die habe ich vor zwei Jahren auf einem Weihnachtsmarkt gekauft.“ Sie drehte besagtes Objekt in ihrer Hand und betrachtete kurz das Muster, bevor sie Wasser hineinfüllte. „Sieht gar nicht weihnachtlich aus. Ist für jede Gelegenheit gut geeignet.“

Harry war mehr als dankbar für Ginnys angestrebten Smalltalk, obwohl oberflächliche Gespräche auch ihr nicht besonders sehr lagen.

Seine Tante war nervös. Sie knetete ihre Hände, rieb sie ineinander, als würde sie noch immer das weiße Küchentuch in ihnen halten. „Möchtet ihr Tee oder Kaffee?“ Man einigte sich auf Kaffee. „Für den kleinen Spatz habe ich Tee. Was mag er?“ Petunia blickte zu Harry, dann zu Ginny, bevor sie zur Wahl stellte: „Kamillentee, Fencheltee, Früchtetee?“
Es würde Harry nicht wundern, wenn seine Tante all dieses Teesorten erst heute vorsorglich gekauft hatte, nur um genügend anbieten zu können. „Kamillentee mag er gern“, beteuerte Harry. „Wir haben auch seine Flasche dabei.“
„Ach ja?“ Petunia griff zu einem Gegenstand, der bisher ungeachtet auf der Arbeitsfläche stand. Es war eine Nuckelflasche. Mit beiden Händen umfasste Petunia sie, als sie leise sagte: „Das ist deine alte.“ Harry schluckte. Er hatte keine Erinnerung daran, aber zu ahnen, dass seine Tante ihm damals Tee in eine Flasche gefüllt hatte, ließ die Frau mit einem Male weniger gefühlskalt erscheinen. „Eigentlich ist sie noch von deiner Mutter. Ich meine, sie hat sie …“ Jetzt musste seine Tante schlucken. „Sie hat sie gekauft. Wenn du möchtest …“ Sie hielt ihm die Flasche entgegen, die er aus einem puren Reflex heraus nahm. „Du kannst sie mitnehmen.“
„Darf ich helfen?“, fragte Ginny mit einem Mal. Diesmal schien sogar Tante Petunia froh über Ginnys ablenkende Worte zu sein.

Drei verschiedene Kuchensorten hatte Tante Petunia gebacken. Auf dem Tisch war kein Platz, um alle zu präsentieren, also blieben die Tortenplatten auf der Arbeitsfläche der Küche stehen. Harry hatte Nicholas auf den Schoß genommen, um abwechselnd sich selbst und ihm etwas Schokoladenkuchen zu gönnen. Während des Essens sprach man nicht, hatte Harry damals eingebläut bekommen. Dudley hatte sich immer daran gehalten, denn sein Cousin war morgens, mittags und abends normalerweise während des Essens vom Fernseher abgelenkt.

„Wann genau ist Nicholas eigentlich geboren?“, fragte seine Tante. Während sie auf die Antwort wartete, pustete sie zaghaft in ihre Kaffeetasse.
„Am 28. August letzten Jahres“, wagte Harry zu erwidern, nachdem er den Happen Torte geschluckt hatte.
Petunia strahlte. „Dann ist der Kleine ja schon ein Jahr alt. Spricht er schon ein bisschen?“
„Er ahmt viel nach“, bejahte Ginny freundlich lächelnd. „Einige Sachen versteht er schon, aber noch nicht viel.“
Seine Tante nickte, schien einen Moment an etwas zu denken, was ihr abwesender Blick verriet, bevor sie sagte: „Harry war immer ein sehr stilles Kind gewesen.“

Nach ihren Worten war Petunia unsicher und fragte sich, ob es angemessen war, so eine Anmerkung zu machen. Mit zittriger Hand führte sie ihre Kaffeetasse zum Mund und hoffte, die Stille würde vorüberziehen, denn Harry war schlichtweg sprachlos. Bisher hatte er von seiner Tante nie etwas über sich als Kind erfahren. Als Nicholas anfing zu quengeln, ließ Harry ihn hinunter. Mittlerweile mit festem Schritt stampfte der junge Mann zu Ginny hinüber. Petunia hingegen verschaffte sich einen Überblick über den Tisch.

„Harry, wie wäre es noch mit etwas Kaffee?“, fragte seine Tante.

Harry nickte, stand in Windeseile auf und griff zur Kaffeekanne. In dem Moment, als er ihr einschenken wollte, wurde er sich über das Versehen bewusst. Seine Tante war ebenfalls peinlich berührt. Sie wollte ihn bewirten. Die Gewohnheit von früher hatte Harry jedoch unerwartet anders handeln lassen.

„Das ist doch in Ordnung, wenn ich …“, begann er, bevor er sich räusperte. „Du hast dir schon so viel Mühe gegeben.“ Ungenau deutet er auf den Kuchen, dann auf die Tischdekoration.
„Sicher ist das in Ordnung.“ Seine Tante hielt ihm die Kaffeetasse hin. Harry bemerkte, dass ihre Hand zitterte.
„Ginny, du auch noch?“
Während er ihr einschenkte, begann Ginny zu plaudern. „Ihr Mann ist auf Geschäftsreise?“
„Ja“, sagte Petunia leise. „Ja.“ Ein Echo ihrerseits. Sie schien an dem Gedanken festzuhalten, dass Harry sie damals immer bedient hatte, denn mit dem Blick folgte sie jedem seiner Handgriffe.
„Und Harrys Cousin?“ Weil eine Antwort ausfiel, hakte Ginny nach. „Dudley?“
Beim Namen ihres Sohnes fuhr Petunias Kopf herum. „Dudley ist dieses Wochenende mit seinem Trainer unterwegs. Promotion.“ Langsam taute Petunia wieder auf. „Mein Junge möchte bekannter werden.“ Sie lächelte, als sie stolz erzählte: „Mit fünfzehn war er schon südwestenglischer Boxchampion im Juniorenschwergewicht.“
„Tatsächlich!“

Harry machte sich eine gedankliche Notiz, dass er Ginny für den Rest seines Lebens dankbar sein wollte, weil sie eine Normalität in diese Küche brachte, die er bis dato nie erlebt hatte.

„Harry erzählte“, jetzt bemühte sich Ginny, ihn in das Gespräch einzubeziehen, „dass sein Onkel Direktor von Grunnings ist.“
„Ja, das ist richtig. Mein Mann geht zwar bald in den Ruhestand, aber zuvor möchte er, dass bei der Übergabe alles reibungslos läuft. Er hätte es gern gesehen, wenn sein Junge ihn ablöst, aber Dudley …“ Petunia lächelte, schüttelte dabei verträumt den Kopf. „Er hat andere Träume.“
Leute verprügeln und dafür Geld bekommen, dachte Harry, bevor er laut sagte: „Wissen Dudley und Vernon von …“ Er deutete auf Ginny und sich.
„Nein.“ Es war so leise, dass man es beinahe nicht vernommen hätte. „Möchtet ihr noch ein Stück Kuchen?“, fragte seine Tante in normaler Lautstärke. Harry verneinte wortlos. Er hatte sich das erste Stück schon hinuntergequält – und dabei hatte er sich das sogar mit Nicholas geteilt. „Dann räume ich mal schnell ab. Ihr könnt gern schon ins Wohnzimmer gehen.“
„Komm, Nicholas.“ Harry streckte ihm seine Hand entgegen, doch der Junge verzog das Gesicht. Er wollte nicht zu Harry, wo er gerade jetzt die vielen, bunten Kühlschrankmagneten entdeckt hat, die sich wunderbar hin und her schieben und neu anordnen ließen.
Petunia räumte die Teller zusammen. „Ach, lass ihn ruhig hier, ich passe schon auf.“

Im Wohnzimmer gab es für Harry eine Verschnaufpause. Durchatmen. Das war das Erste, was er im Wohnzimmer machte. Augen zu und tief durchatmen.

„Harry, entspann dich“, empfahl Ginny, bevor sie sich den vielen Bildern widmete. Dudley, Dudley, Dudley – so weit das Auge reichte. Sie unterließ es zu fragen, warum kein einziges Bild von Harry hier hing oder stand. Dudley war schon ein Prachtexemplar, dachte sie. Einmal hatte Harry ihr erzählt, wie Hagrid seinem Cousin einen Ringelschwanz angezaubert hatte. Ab und an war ein Familienfoto mit allen dreien zu sehen. Petunia hatte Glück, dass sie so dürr war, sonst hätte sie mit den beiden kräftigen Herren an ihrer Seite gar nicht mehr aufs Bild gepasst.

Die herrschende Ordnung im Wohnzimmer war von niemandem, den Harry kannte, zu überbieten. In einem Zeitungsständer neben der Couch befanden sich nur die brandaktuellen Ausgaben der Zeitschriften, die man in diesem Haus las. Ältere Exemplare wurden regelmäßig aussortiert. In dem imposanten Holzschrank standen hinter dem Glas der Vitrine verschiedene Römergläser, meist von Tante Magda zu verschiedenen Anlässen geschenkt. Harry konnte sich nicht daran erinnern, dass diese Gläser jemals benutzt wurden. Es handelte sich um Sammelobjekte. Auf dem frisch polierten Holztisch – man konnte noch den Duft des Poliermittels wahrnehmen – stand ein Schälchen mit Süßigkeiten. Selbst die schienen systematisch angeordnet zu sein, so dass man sich nicht traute zuzugreifen, um die Ordnung nicht zu zerstören. Ginny hatte sich bereits auf das Sofa gesetzt, nur Harry zögerte. Dort zu sitzen war damals für ihn tabu gewesen.

Vom Flur hörte man Petunias freundlich klingenden, hohe Stimme: „Komm mit, Nicholas. Ich hab ein Geschenk für dich.“

Die angelehnte Tür öffnete sich, als Petunia mit dem Jungen an der Hand das Wohnzimmer betrat. Sie konnte nett zu Kindern sein, dachte Harry mit etwas Wehmut. Zu Dudley war sie immer liebevoll gewesen.

Petunia ließ die kleine Hand los und ging hinüber zu einem Sideboard, aus dem sie ein in Geschenkpapier verpacktes Paket holte. Es hatte die Größe von Hedwigs Käfig. Auf dem vor etwa drei Tagen feucht gereinigten Teppich – selbst das konnte Harry noch riechen – stellte sie das Geschenk ab und versuchte, Nicholas zu sich zu locken. Der zierte sich. Er war hier noch nie gewesen, kannte die Frau nur vom Sehen.

„Na komm“, sagte Harry und hielt ihm die Hand entgegen, die der Junge ergriff.
„Das ist doch in Ordnung, wenn ich ihm ein Geschenk mache?“, wollte seine Tante wissen. „Nachträglich zum Geburtstag“, fügte sie hinzu.
„Klar“, sagte er zu seiner Tante. An Nicholas gewandt sagte er: „Schau mal, das ist für dich.“ Harry tippte auf das Geschenk. Mit großen Augen blickte ihn Nicholas an, bevor er zurückhaltend an der Schleife zog.

Seine Tante half dem Jungen, das Paket zu öffnen. Das erste Mal verspürte Harry ein Gefühl, das man am besten mit Neid beschreiben konnte. Er wollte Nicholas das Geschenk gönnen, war jedoch gleichzeitig in hohem Maße auf ihn eifersüchtig.

Das zerrissene Papier wurde sofort von Petunia entsorgt. Nicht der kleinste Schnipsel blieb auf dem Teppich liegen. Jetzt konnte man einen Blick auf das Geschenk werfen. Es war ein Bagger für Kleinkinder. Er war gelb und rot, mit großen Rädern an der Seite. Man konnte sogar darauf sitzen, stellte Harry fest.

„Boah“, rief Nicholas begeistert. Der Umgang mit Onkel Ron färbte ab. Zumindest war der Junge vorerst beschäftigt. Beim Spielen blieb er sehr ruhig, probierte zufällig alle möglichen Funktionen aus, denn man konnte sogar den Schaufelarm bewegen, wenn man eine kleine Kurbel betätigte.

Gerade wollte Petunia sich auf einen Sessel setzten, da überlegte sie es sich und machte zunächst das Radio an. Nur leise, als Untermalung und vielleicht zu dem Zweck, mögliche stille Momente wie vorhin in der Küche zu überspielen. Endlich setzte sie sich. Natürlich überschlug sie ihre Beine nicht. Das hatte sie noch nie getan, es schickte sich einfach nicht. Ihre Knie waren fest zusammengepresst, die Unterschenkel fielen leicht zur Seite. Auf den Oberschenkeln lagen ihre gefalteten Hände. Es war nicht zu übersehen, dass Petunia angespannt war. Momentan war selbst ihr Lächeln wieder erzwungen. Sie stellte Blickkontakt mit Ginny her.

„Gehen Sie einem Beruf nach, Ginevra?“ Mit einer Hand strich sich Petunia den Rock auf den Schenkeln gerade, obwohl er perfekt saß.
Ginny schüttelte den Kopf, lächelte dabei. „Noch nicht, aber ich strebe eine …“, nicht Quidditch-Karriere sagen, dachte sie, „eine Sportkarriere an. Ich warte nur noch auf das Okay von der medizinischen Untersuchung.“
„Sport?“ Petunia lächelte breit „Ganz wie mein Dudley.“ Nur kurz schaute Petunia zu Nicholas hinüber und wünschte sich die gleiche Gelassenheit, die der Junge an den Tag legte. An Harry gerichtet fragte sie: „Und du bist Lehrer? Dieser Mr. Slughorn erzählte mir, dass du in“, sie schluckte, „Hogwarts unterrichtest.“ Es war gesagt. Sie hatte den Namen der Zaubererschule über die Lippen bekommen, ohne dabei ein Gesicht zu ziehen. „Was genau unterrichtest du dort?“
Harry fragte sich, ob das ihr Ernst war. Seine Tante Petunia interessierte sich für das Fach, das er in Hogwarts unterrichtet hatte? „Ich war Lehrer für Verteidigung gegen die Dunklen Künste.“ Der Adamsapfel in dem langen Hals seiner Tante fuhr Fahrstuhl – hoch und runter.
„Verteidigung“, wiederholte sie. „Mr. Slughorn hat erzählt, was du geleistet hast.“

Was hat Slughorn erzählt, grübelte Harry. Über seine Rolle im Krieg, über den Sieg über Voldemort? Oder hat Slughorn nur von Hogwarts erzählt?

„Möchtet ihr noch etwas trinken? Ich kann noch einen Tee machen oder“, schon war Petunia aufgestanden, „ich habe auch Saft im Haus. Ich hole etwas zu trinken.“ Und weg war sie.

Harry und Ginny blickten sich kurz fragend an. Offenbar war er nicht der Einzige, der wegen des Besuchs aufgeregt war.

„Es ist hier schön eingerichtet.“
„Du musst nicht wegen mir Smalltalk …“
Ginny unterbrach ihn. „Nein, ich meine das wirklich so. Mir gefällt die Einrichtung. Es wirkt gemütlich, richtig heimelig.“

Harry versuchte, das Wohnzimmer distanziert zu betrachten, doch er scheiterte. Überall sah er Gegenstände, die er noch von früher kannte, und mit denen er überwiegend schlechte Erinnerungen verband, wie mit der Musikanlage. Ein Mitschüler aus der Grundschule hatte ihm mal eine Hörspiel-CD mit dem Titel Das Piratenschiff ausgeliehen. Onkel Vernon hatte ihm nie erlaubt, die CD abzuspielen. Ungehört musste er sie dem Mitschüler zurückgeben. In dem großen Schrank mit den Römergläsern war unten hinter zwei Schiebetüren der Fernseher versteckt, wusste Harry. Nur wenn seine Verwandten außer Haus waren, hatte Harry heimlich Fernsehen geschaut – und zwar das, was er sehen wollte. Ansonsten lag die Kanalauswahl ausschließlich bei Dudley.

Mit einem Tablett in den Händen kam Tante Petunia zurück ins Wohnzimmer. Unter einem Arm hatte sie etwas geklemmt, das man nicht genau erkennen konnte. Ginny war so frei und nahm ihr das Tablett mit den drei Gläsern, der gefüllten Nuckelflasche und verschiedenen Säften ab. Den untergeklemmten Gegenstand legte Petunia zunächst auf ihren Sessel ab, damit sie die Gäste bewirten konnte.

„Kürbissaft?“ Harry hätte sich beinahe verschluckt, so schnell sprach er das Unglaubliche aus.
„Ja“, bestätigte Petunia. „Ich habe Mrs. Figg gefragt, was man so“, sie formulierte ihre Antwort langsam und vorsichtig aus, „in der Magischen Welt trinkt. Sie hat mir freundlicherweise eine Flasche mitgebracht. Möchtest du?“

Harry bejahte. Während Ginny die Gläser auf dem Tisch verteilte, danach Nicholas seine Flasche übergab, beobachtete Harry, wie seine Tante die Flasche Kürbissaft in die Hand nahm. Sie ging vorsichtig damit um, schien offenbar jeden Augenblick mit einem erschreckenden Fluch zu rechnen, der aus dem Flaschenhals geschossen kommen könnte. Das Öffnen verlief zu ihrer Erleichterung ganz ohne Zwischenfällt. Die Flüssigkeit beäugte sie neugierig, als sie Harry etwas einschenkte.

„Hast du das mal gekostet?“, fragte Harry.
„Nein, ich …“
„Versuch es mal. Könnte dir schmecken.“ Harry erinnerte sich daran, dass sie keine gesüßten Getränke mochte. „Ist ganz ohne Zucker, sehr erfrischend.“
„Vielleicht einen winzigen Schluck“, gab sie nach und schenkte sich selbst zwei Finger breit ein. Petunia nahm das Glas in die Hand und musterte den Inhalt, bevor sie die Augen schloss und einen kleinen Schluck nahm. Erstaunt öffnete sie ihre Augen wieder. „Das schmeckt gut“, gab sie zu.

Sie leerte das Glas und schenkte sich nochmals etwas ein. Das erste Mal in ihrem Leben war sie frei von Angst, als sie etwas zu sich nahm, das der Zaubererwelt entsprang. Als sich Petunia auf ihren Sessel setzen wollte, musste sie erst das Album – jetzt erst erkannte Harry den Gegenstand als solchen – in die Hand nehmen. Nur einen kurzen Moment zögerte seine Tante, bevor sie ihm das Album überreichte.

„Das ist ein Fotoalbum deiner Großeltern“, erklärte sie. Harry nahm es und hörte zu, als seine Tante anfügte: „Ich habe es vor einiger Zeit auf dem Dachboden gefunden, als ich aufgeräumt habe.“ Ginny war von Nicholas zurückgekommen und nahm wieder neben Harry Platz. Seine Tante gab sich einen Ruck und setzte sich auf den letzten freien Platz der Couch, so dass Harry zwischen den beiden Frauen saß. Er öffnete den schweren, muffig riechenden Deckel. Das schwarzweiße Bild zweier älterer Menschen begrüßte ihn. „Meine Eltern“, erörterte Petunia. „Sie sind leider viel zu früh gestorben und haben weder Dudleys noch deine Geburt miterlebt.“ Ginny sagte kein Wort, beugte sich aber zu Harry, um sich die Bilder anzusehen. Für ihn waren es fremde Menschen, die auf merkwürdige Art und Weise Ähnlichkeit mit ihm und seiner Mutter hatten. Lily war offenbar nach dem Vater gekommen, Petunia nach der Mutter. Harry blätterte eine Seite weiter. Wohnungen, Menschen und Orte, die er nie gesehen hatte. „Da haben wir mal eine Zeit lang gewohnt. Du weißt sicher, wo das Geschäft für Haustierbedarf ist.“ Weil Harry nickte, tippte Petunia auf ein Bild. „Das ist die Ecke. Im zweiten Stock haben wir gewohnt. Das Haus wurde später abgerissen und neu errichtet. Seitdem ist das Geschäft unten drin.“

Was Harry in den Händen hielt, war ein Stück Familiengeschichte, selbst wenn er seine Großeltern nie kennengelernt hatte. Wenigstens konnte er mal sehen, wer seine Vorfahren waren. Beide waren ganz offensichtlich Muggel. Harry hatte es kommen sehen. In der Mitte des Fotoalbums erschienen die ersten Fotos von zwei Babys, die von den strahlenden Eltern im Arm gehalten wurden.

„Das ist“, Petunia räusperte sich. Den Namen hatte sie für sehr lange Zeit nicht mehr ausgesprochen. „Das ist Lily.“ Im Arm der Mutter schlummerte das Baby, von dem man bei reinem Betrachten nicht sagen konnte, ob es ein Mädchen war oder ein Junge. Auf der nächsten Seite waren sie wenige Jahre älter. Eines der abgelichteten Kinder hatte hellere Haare.
„Das bist du“, erkannte Harry ganz richtig, als er auf das Mädchen zeigte, die einen großen Teddybären auf den Schultern trug.

Auf einer der nächsten Seiten war bereits der Fortschritt der Technik zu sehen: die ersten Farbfotos. Die roten Haare seiner Mutter waren das erste Mal gut zu sehen. Die Schwestern spielten einträchtig mit einem Puppenhaus und schienen das fotografierende Elternteil gar nicht zu bemerken, so vertieft waren sie in ihrem gemeinsamen Spiel. Die nächste Seite zeigte eine Geburtstagsfeier.

„Das war Lilys Geburtstag. Ich glaube, der neunte.“ Petunia nahm das Bild heraus und drehte es um. Auf der Rückseite war mit Kugelschreiber ein Datum vermerkt. „Deine Großmutter hat immer alles ganz genau beschriftet. Ja, es war der neunte Geburtstag.“ Das Bild brachte sie wieder an seinen Platz. „Lily hatte sogar diesen Jungen eingeladen. Severus.“ Harry zog beide Augenbrauen in die Höhe. „Er konnte nicht kommen. Ich glaube, es war irgendetwas mit seinem Vater.“ Auf der nächsten Seite tippe Petunia auf ein Bild. „Die Eisenbahn habe ich auf dem Dachboden und sie funktioniert noch!“ Auf dem Bild hockten beide Mädchen auf dem Boden. Petunia bediente den Trafo einer Modelleisenbahn und Lily stellte eine Plastikfigur auf den Miniaturbahnhof. „Ich würde sie gern Nicholas schenken, wenn er älter ist. Habt ihr dafür Platz in Hogwarts?“
„Wir ziehen um“, sagte Harry.
„Du bist dort aber noch Lehrer oder?“
„Nein, ich war es über ein Jahr lang. Ginny und ich haben ein Haus gekauft. Wenn wir uns eingerichtet haben, kannst du uns gern mal besuchen. Wir stecken gerade noch im Umzug.“
„Mmmh“, summte Petunia zustimmend. „Wenn du nicht mehr Lehrer bist, was arbeitest du dann?“
„Ich mache mich selbstständig“, antwortete Harry stolz.
„Das ist schön! Und was hast du vor?“
„Ich eröffne einen Kindergarten.“ Plötzlich war es ein Leichtes für Harry, ohne jegliche Hemmungen zu sprechen. Er strahlte breit, als er von seinen Plänen erzählte. „Ein Kindergarten, für kleine Zauberer und Hexen, aber nicht nur. Ich möchte diesen Platz für alle offenhalten, auch für Squibs und Muggel. Besonders für die Geschwister von magischen Kindern, damit es kein Drama gibt, wenn …“ Jetzt stoppte sich Harry, weil er bemerkte, dass die Lippen seiner Tante bebten. „Na ja, für alle Kinder eben“, erklärte er das Thema vorsichtig für beendet.
Petunia kniff die Lippen zusammen, versuchte jedoch gleichzeitig zu lächeln, was natürlich misslang. „Wenn ihr mich kurz entschuldigen würdet?“

Das Beben in Petunias Stimme war deutlich zu vernehmen. Sie verließ das Wohnzimmer. Harry blickte ihr einen Moment lang nach, bevor er durchatmete und wieder auf die Fotos in seinem Schoß schaute. Auf der nächsten Seite, noch immer Lilys neunter Geburtstag, standen die Schwestern vor einem Berg Geschenkpaketen, eng umschlungen, Wange an Wange, so sehr lächelnd, dass man wegen der sichtbaren Zahnlücke zwischen Lilys Schneidezähnen schmunzeln musste. Zu dem Zeitpunkt war noch alles gut.

„Frag doch mal, ob du ihr helfen kannst“, empfahl Ginny, als sie plötzlich von einem lauten Geräusch abgelenkt wurden. Nicholas war mit dem Bagger an den Schrank gefahren. Den hellen Kratzer in dem dunklen Holz konnte man sogar vom Sofa aus sehen. „Ich mach das“, beruhigte Ginny ihn und zückte den Zauberstab, bevor sie sich um die Beschädigung kümmerte. „Geh du in die Küche.“

Harry wollte nicht gehen, aber es war richtig, seine Hilfe anzubieten. Der Teppich dämpfte seine Schritte. Im Flur hörte man ihn gar nicht mehr. Wieder stand er vor der Besenkammer, die ihn magisch anzuziehen schien. Später hatte er zwar Dudleys zweites Zimmer bekommen, aber diese Kammer war etwas ganz Besonderes. Manchmal träumte er von ihr, fühlte sich darin entweder sicher oder wollte aus ihr ausbrechen. In seinen Träumen sah sie oft ganz anders aus. Einmal hatte die Kammer eine zweite Tür, durch die er in den Gemeinschaftsraum der Gryffindors gelangte. Neugierig hob Harry den Haken aus dem metallenen Loch. Die Tür, nun nicht mehr verschlossen, öffnete sich ohne weiteres Zutun. Drinnen, wie geahnt, standen Putzmittel. Selbst die Kammer war in bestem Zustand, war sauer und ohne Staub oder Spinnweben. Ein Wischmob und ein Besen lehnten an der Wand. Unten standen drei Eimer, alle ineinandergestellt. Ein angebrochener Topf weißer Farbe war im Regal zu sehen. Daneben die gereinigten Pinsel. Als Harry ausgezogen war, hatte er alles, was ihm gehörte, mitgenommen. Von ihm selbst war nichts mehr in dieser Besenkammer, bis auf die Erinnerungen an das Alleinsein, an Ungerechtigkeiten, an Tränen …

„Harry?“
Harry war über seine Tante genauso erschrocken wie sie über ihn. „Tut mir leid. Ich …“ Er schloss die Tür wieder mit dem Haken. „Ich schätze, ich war nur neugierig.“

Als er sie anschaute, bemerkte er als Erstes das Tablett in ihrer Hand, dann eine kleine Veränderung in ihren Augen, doch bevor er näher ausmachen konnte, was sie so anders wirken ließ, nickte sie nur und ging zurück in die Küche. In die Kammer geschaut zu haben war ihm verziehen worden. Harry stählte sich innerlich dafür, seiner Tante das Tablett abzunehmen, das sie offenbar gerade ins Wohnzimmer bringen wollte. Als er die Tür zur Küche öffnete, hörte er ein ganz leises Schluchzen. Sie trocknete mit dem Handtuch, das sie vorhin noch für ihre Hände gebraucht hatte, diesmal die Tränen.

„Tante Petunia?“

Allein bei der Nennung ihres Namens schwang die Frage nach ihrem Wohlbefinden mit. Sie drehte sich um. Die Wangen waren trocken, doch die Augen feuchter als sonst. Sie nickte einmal ruckartig. Abgehackt atmete sie ein. Seine Tante hatte er selten weinen sehen. Meist war es, weil sie sich um Dudley sorgte oder einmal sogar, als sie wichtige Gäste erwartete und irgendetwas in der Küche nicht so ablief, wie sie es sich erhoffte. Als perfekte Hausfrau hatte sie für Harry und Ginny ein paar Häppchen gemacht, die sie im Wohnzimmer auf den Tisch stellen wollte. Harry näherte sich der Arbeitsplatte, an der seine Tante stand.

„Soll ich das reinbringen?“, fragte er mit betroffener Stimme nach. Seine Tante schluckte, holte nochmals Luft und nickte. Sie brachte es nicht fertig, ihm in die Augen zu sehen. Harry nahm das Tablett, aber er machte nur einen Schritt zurück, bevor er etwas tat, was er sonst nur bei seinen Freunden, sogar bei Severus getan hatte, denn er fragte: „Ist alles in Ordnung?“
„Ja“, hauchte sie, als sie ausatmete. „Ich …“ Sie zog die Nase hoch. „Ich finde schön, was du vorhast. Es wäre wunderbar gewesen, wenn jemand schon früher auf die Idee gekommen wäre.“ Dem gequälten Lächeln folgte eine Träne, die Petunia mit einer Hand versteckte und damit überspielte, als wollte sie ihr Haar richten. „Bring das schon rein, ja? Ich komme gleich nach.“

Tante Petunia benötigte noch einen Augenblick für sich selbst und den wollte Harry ihr geben. Als er wieder an der Besenkammer vorbeikam, was das Thema für ihn abgeschlossen. Es war nicht mehr seine. Sie war nur ein Teil seiner Kindheit. Er lebte in der Gegenwart, nicht in der Vergangenheit. Und seine Zukunft saß nicht in der Besenkammer, sondern im Wohnzimmer.

Während sich die Stimmung im Wohnzimmer der Dursleys nach und nach lockerte, verschlechterte sie sich in der Apotheke in der Winkelgasse.

Nachdem Severus sich heute Morgen um die Posteulen gekümmert hatte, dabei herumzeterte, dass es mit dem Federvieh so nicht weitergehen könnte, brachte ihn ein Brief in Rage. Eine Waldohreule überreichte ihm ein Schreiben von der Einrichtung, in der sein Vater stationiert war: Dii Penates. Schon das Frühstück hatte er nicht mit Hermine zusammen eingenommen, weil er ihr vorhielt, sie würde sich in seine Belange einmischen. Sie konnte dagegenhalten, so viel sie wollte. Er glaubte ihr nicht, dass sie keinen Finger krumm gemacht hatte.

Gegen Mittag war die Stimmung nicht gemütlicher geworden. Gordian saß am Labortisch und schrieb eine kleine Abhandlung über den letzten Trank, den er gebraut hatte. Hermine musste damals keine schriftliche Arbeit über den Adlerauge verfassen. Sie war von Severus nebenher mündlich abgefragt worden, aber der hatte wenig Zeit dazu, das mit Gordian ebenfalls so zu handhaben. Die Apotheke hatte den Vertrag mit dem Zoo unterschrieben. Dank Mr. Lyon würden sie es schaffen, 28 Liebestränke für verschiedene Tierarten zu brauen, darüber hinaus elf potenzsteigernde Mittel. Hermine und Mr. Lyon machten kaum etwas anderes, nur Severus musste hier und da in Akten nachblättern und Termine in ihrem dafür vorgesehenen Buch eintragen, damit kein Trank vergessen wurde. Nebenbei kümmerte er sich um die zum Glück eher wenigen Bestellungen der normalen Kunden. Severus war der Einzige, der Unruhe verbreitete. Ständig war er auf den Beinen, sah etwas nach, schrieb etwas auf. Seine schlechte Laune war nicht zu übersehen. Entweder knurrte er irgendwelche Termine an, die in seinen Augen zu knapp bemessen waren oder er verfluchte Schriftstücke, wie zum Beispiel jenes, das er gerade in der Hand hielt.

„Mr. Lyon!“
„Ja, Sir?“
Severus überflog ein Schreiben vom Zoo. „Der Trank für die Schildkröte muss dringend eine Spermien bildende Wirkung haben. Nach den Unterlagen des Veterinärs bringt es sonst überhaupt nichts, das Tier auf das Weibchen loszulassen.“
„Ich bin mit dem Trank schon längst fertig.“
Wieder grummelte Severus etwas vor sich hin, bevor er die Order gab: „Brauen Sie ihn separat! Dann gibt es eben einen Extra-Trank für das Panzervieh.“

Mit ihrem Trank war Hermine gerade fertig. Sie hatte ihn abgefüllt und wollte in dem Terminbuch ihr Zeichen eintragen, da traf sie auf Severus, der ebenfalls etwas ins Buch eintragen wollte. Als er sie anblickte, kniff er die Augen zusammen. Er war noch immer wütend.

„Möchtest du erst ran?“, fragte sie höflich.

Ohne dass er etwas erwiderte, verließ er das Labor, um anderen Dingen nachzugehen. Mit einem Seufzer blätterte Hermine in dem Terminbuch und markierte den nächsten Trank für sich. Er war für Pandabären gedacht. Das hieß, sie musste vorher einige Bücher wälzen, bevor sie den Trank brauen konnte. Entsprechende Bücher befanden sich bereits im Labor. So setzte sie sich neben Gordian und begann, das Inhaltsverzeichnis zu durchstöbern.

„Habt ihr euch gestritten?“, kam es plötzlich von der Seite. Hermines Kopf fuhr herum, sodass sie Blickkontakt mit Gordian herstellen konnte, aber sie erwiderte nichts. Private Themen waren im Labor tabu.
„Gordian“, Mr. Lyon schnalzte mit der Zunge, „nicht doch mit der Tür ins Haus fallen.“
„Es tut mir leid, dass die Stimmung heute so gedämpft ausfällt“, sagte Hermine, die sich nun sicher war, dass ihre persönlichen Differenzen für jeden ersichtlich waren.
„Können wir irgendwie helfen?“, bot Gordian freundlich an.
„Nein …“
Diesmal fiel Mr. Lyon mit der Tür ins Haus, denn er fragte geradeheraus: „Um was geht es denn?“
„Darüber möchte ich nicht …“ Doch, sie wollte mir irgendjemandem darüber sprechen, denn Severus hörte ihr ja nicht zu. „Es geht um einen Brief mit eventuell unangenehmem Inhalt. Er ist der Meinung, ich hätte irgendwelche Hebel in Bewegung gesetzt, dabei habe ich damit überhaupt nichts zu tun. Ich habe mit den Leuten nicht gesprochen, ihnen nicht geschrieben …“
In diesem Moment kam Severus wieder zur Tür herein und hörte ihre Unterhaltung. „Mr. Foster, sind Sie mit dem Essay fertig?“
„Ich …“ Er hatte ihn beim Schwatzen erwischt. „Eigentlich war ich schon vor einer halben Stunde fertig, Sir. Sie sagten aber, mindestens vierzig Zentimeter Pergament. Ich bin gerade dabei, das Ganze mit Füllwörtern zu strecken, denn das Wesentliche habe ich längst …“

Mit flinken Fingern riss Severus ihm das Pergament vor der Nase weg. Ohne einen Blick drauf zu werfen legte er es auf einen Stapel, den er später bearbeiten würde. Severus nahm ein Buch in die Hand, schlug eine Seite auf und legte es aufgeschlagen vor Gordian.

„Lesen Sie das Rezept, die Braumethode und beginnen Sie, Mr. Foster. Ich erwarte, dass Sie vor Feierabend fertig sind. Ansonsten dürfen Sie gern länger bleiben.“
„Ja, Professor Snape.“ Gordians Blick huschte über den Titel. „Veritaserum, Sir?“
„Wie wunderbar! Lesen können Sie zumindest schon einmal.“
Gordian verzog das Gesicht und begann zu lesen, bevor er nochmals aufblickte und seinen Tränkemeister fragte: „Sir, wird der Trank später auch getestet?“ Er hatte nichts dagegen einzuwenden, solche Tränke wie den Adlerauge auszuprobieren, aber Veritaserum könnte peinlich werden.
„Sicher wird der getestet. Vielleicht schon heute Abend.“ Severus schaute Hermine mit böse funkelnden Augen an. „An Miss Granger.“
„Vielleicht sollten Sie Gordian ein Euphorie-Elixier brauen lassen“, wagte Mr. Lyon einzuwerfen, „den Sie heute Abend selbst einnehmen könnten, Professor Snape.“ Den gleichen, finsteren Blick, den er erst Hermine gegönnt hatte, widmete er nun Mr. Lyon. Severus ging auf den Mann zu, der nicht zurückwich und weiterhin seelenruhig den Trank in seinem Kessel rührte.
Als Severus direkt vor Mr. Lyon stand, sagte er mit leiser Fistelstimme: „Mit solchen Frechheiten sollten Sie sich zurückhalten. Sie befinden sich noch in der Probezeit.“
Hermine trat helfend ein: „Den Vertrag mit Mr. Lyon habe auch ich unterschrieben und ich muss auch die zweite Unterschrift leisten, wenn er gefeuert wird.“

Severus ignorierte die anderen und ging seinen eigenen Anliegen nach. Im Terminplaner hatte er einige eben bestellte Tränke eingetragen, die Daphne von Kunden entgegengenommen hatte. Als er mit einem der Tränke für den Zoo beginnen wollte, sah er, dass Gordian noch immer in dem Buch las.

„Wollen Sie das Rezept gleich auswendig lernen, Mr. Foster?“ Erschrocken blickte Gordian auf, sodass Severus anfügte: „Beginnen Sie endlich mit dem Brauen!“

Mr. Lyon machte heute keine Überstunden, was an der Stimmung im Labor lag. Gordian hatte das Veritaserum perfekt gebraut und machte sich ebenfalls pünktlich auf den Heimweg. Severus füllte das frische Gebräu ab, versiegelte es und machte ein Päckchen für das Ministerium fertig, die diesen Trank bestellt hatten. Gleich danach notierte er sich in einem Buch, was Gordian heute geleistet hatte.

Gegen neun Uhr saß Hermine im Wohnzimmer, streichelte ihren Kniesel und las gleichzeitig einen Roman. Als Severus hereinkam, widmete er ihr keinen einzigen Blick. Auch er griff zu einem Buch aus dem Regal und setzte sich Hermine gegenüber. Ohne etwas zu sagen saßen die beiden eine Weile im Wohnzimmer. Severus konnte sich nicht konzentrieren. Der Brief hatte ihn heute Morgen völlig aus der Fassung gebracht. Für ihn war klar, dass Hermine irgendetwas damit zu tun haben musste. Weil er unfähig war, sich auf das Buch zu konzentrieren, klappte er es wieder zu und stellte es wortlos es zurück ins Regal. Bevor er jedoch das Zimmer verlassen konnte, wollte Hermine die Sache geklärt haben.

„Severus, sagst du mir wenigstens, was in dem Brief steht?“
Wie angewurzelt blieb er an der Tür stehen, die Hand an der Klinke. „Tu nicht so!“
„Ich sagte bereits, ich habe keine Ahnung, was die von dir wollen.“

Auf den Hacken drehte sich Severus zu ihr. Er presste die Lippen zusammen, damit ihm keine Beleidigungen entweichen konnten. Sie hörte in schnaufen. Aus der Innentasche seines Gehrocks zog er den Brief samt Umschlag und warf ihn auf den Couchtisch. Kommentarlos verließ er das Zimmer.

Fellini stellte die Vorderbeine auf den Tisch und machte sich lang, um an dem neuen Objekt zu schnuppern. Hermine legte ihr Buch beiseite und nahm den Brief in die Hand. Zuerst sah sie sich den Umschlag an. Der Poststempel von der Eulerei war neu. Bei dem Brief handelte es sich also nicht um eine Nachsendung wie bei jenem Brief, der wegen Nichtzustellung jahrelang im Amt zwischenlagerte. Die Adresse war die der Apotheke, der Absender das Heim Dii Penates. Die Damen und Herren dort kannten also Severus’ neue Anschrift. Sie atmete tief durch und entnahm den Brief, stellte sich dabei vor, wie Severus sich gefühlt haben musste, als er ihn das erste Mal las. Das Logo der Einrichtung war oben auf dem Briefkopf zu sehen. Der Brief selbst war mit einer Feder geschrieben. Leise las sie den Inhalt:

„Sehr geehrter Professor Snape,

es freut uns zu hören, dass Sie nach den wirren Zeiten des Krieges die Ruhe und Muße finden, sich bei uns nach Ihrem Vater zu erkundigen.“

Hermine machte eine Pause. Sie kam nicht drumherum, über diese Aussage zu stutzen. Severus wäre der Letzte, der sich wegen Tobias Snape erkundigen würde. Vielleicht würde sie dem Brief noch einige Informationen entnehmen können, also las sie weiter:

„Wir würden es sehr begrüßen, wenn Sie sich am 22. Oktober in unserem Haus einfinden würden, um mit der zuständigen Sachbearbeiterin ein Gespräch zu führen. Während des Verbleibs Ihres Vaters Tobias Snape sind innerhalb der letzten Jahre einige klärungsbedürftige Ereignisse eingetroffen.“

Klärungsbedürftige Ereignisse? Hermine wusste damit nichts anzufangen. Der Brief sagte nichts aus, nur dass die Dame von Dii Penates mit Severus über dessen Vater sprechen möchte. Der Brief war kurz. Am Ende stand nur:

„Mrs. Commisatio würde Sie gern zu o.g. Termin um 12.30 Uhr im Erdgeschoss, Raum 108, erwarten. Bitte bringen Sie Ihren Zauberstab zwecks Identifikation mit.

Mit freundlichen Grüßen
Leila Smythe
- Magistra der Heilkunde -“
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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Rest von Kapitel 230

Hermine verstand den Brief zwar, konnte sich aber nicht erklären, wie es dazu kam. Es wäre ihr nicht entgangen, hätte Severus dieser Einrichtung eine Eule geschickt. Außerdem wäre er wegen deren Antwort wohl kaum so außer sich, sollte er sich selbst erkundigt haben. Nein, etwas anderes musste der Anlass gewesen sein. Hatte sich etwa jemand als Severus ausgegeben? Und wenn ja, wer und warum? Nein, dachte sie, das konnte nicht sein. Kaum jemand wusste, dass Severus’ Vater überhaupt noch lebte. Ob Lucius …? Nein, auch dieser Gedanke schien abwegig. Lucius Malfoy würde sich nicht in Severus’ Belange einmischen, außer seinem Freund vielleicht gut zuzureden. Hermine hatte nicht mit Ginny darüber gesprochen, nicht mit Harry, nicht mit Remus. Wer …?

„Oh mein Gott!“ Erschrocken hielt sie sich eine Hand vor den Mund. Kingsley? Die Antwort lag nahe. Ihn hatte sie während der Hochzeit von Remus und Tonks gefragt, warum ein Muggel in eine Einrichtung der Magischen Gesellschaft verlegt worden war. Kingsley war über den alten Mr. Snape zwar informiert, war aber nicht sonderlich mit dieser Angelegenheit vertraut. Dennoch konnte er Hermine erzählen, dass der damalige Minister Scrimgeour für die Verlegung verantwortlich war. Tobias Snape agierte damals als Köder für Severus. Vielleicht, dachte Hermine, nur möglicherweise …

„Kingsley!“, sagte sie laut und klang dabei auch ein wenig echauffiert.

Was Hermine nicht ahnen konnte: Severus hatte zwar das Wohnzimmer verlassen, stand jedoch weiterhin an der angelehnten Tür und beobachtete sie. Alte Gewohnheiten konnte man nur schwer ablegen. Er hörte sie den Namen sagen und fragte sich, was Kingsley Shacklebolt wohl mit Dii Penates zu tun haben könnte. Als Severus bemerkte, dass Hermine sich von der Couch erhob, ging er vorsichtshalber einen Schritt zurück. Durch den Türspalt sah er, dass sie an den Kamin herantrat. Sie rief Kingsley an. Leider hörte er nur ihre Stimme, nicht die des Angerufenen, denn die war zu dumpf.

„Hallo Kingsley, entschuldige bitte die späte Störung.“ Nach einer kurzen Pause sagte sie: „Sag mal, kann es sein, dass du dich wegen der Frage, die ich neulich hatte, an Dii Penates gewandt hast?“

Die Antwort hörte Severus nicht, aber jetzt wurde ihm wenigstens der Zusammenhang klar. Er ahnte, dass Kingsley ihre Frage bejahte, denn er hörte sie seufzen.

„Na klasse“, sagte sie nicht sehr erfreut, „danke für die Auskunft, Kingsley. Guten Abend noch.“

Diesen Moment nutzte Severus, um seine Anwesenheit kundzutun. Er betrat das Wohnzimmer in dem Augenblick, als Hermine vom Boden aufstand.

„Was hat Kingsley mit der Sache zu tun?“
Hermine hob beide Augenbrauen. „Hast du gelauscht?“
Ein Mundwinkel zuckte aufwärts. „Ich habe es zufällig mitgehört.“
„Zufällig“, erwiderte Hermine ungläubig. „Was Kingsley damit zu tun hat, möchtest du wissen?“ Sie ging zurück zur Couch und griff zum Brief. „Neulich habe ich ihn gefragt, warum jemand aus einem Muggelpflegeheim in eine Einrichtung der Magischen Welt verlegt wird. Ich habe ihm gesagt, es ginge um deinen Vater.“ Noch erwiderte Severus nichts, was bedeutete, dass er mehr hören wollte. „Das Ministerium fragt automatisch innerhalb eines bestimmten Turnus nach den Patienten, für deren Kosten sie aufkommen. Offenbar hat sich Kingsley nach meiner Frage dazu motiviert gefühlt, selbst in dem Heim nachzufragen. Er hat denen die Adresse der Apotheke genannt. Dii Penates wird seine Anfrage missverstanden haben. Sie haben wohl geglaubt, du hättest dich bei Kingsley erkundigt, der daraufhin …“
„Kannst du solche Erklärungen auch mal kurzhalten?“
„Nicht wenn ich dir damit unter die Nase reiben kann, dass du mich zu Unrecht beschuldigt hast.“
„Habe ich nicht“, widersprach Severus. „Du hast immerhin mit Kingsley über meinen Vater gesprochen.“
„Das ist so auch nicht ganz richtig. Ich habe meine Frage anfangs allgemein gehalten, aber da sagte er, dass Muggel nicht in unsere Heime kommen. Ich musste deutlicher werden und habe nur deshalb deinen Vater genannt.“
„Ah“, machte Severus unbeeindruckt. „Und was meinst du, soll ich jetzt machen?“ Severus deutete mit einer Hand zum Brief. „Denen zurückschreiben, dass Sie mich nicht mehr belästigen sollen und ich den nächsten Brief erst nach dem Verscheiden meines Vaters erwarte?“
„Meinst du nicht, das ist etwas hart?“
„Nein, das ist noch die sanfte Tour. Die harte Tour wäre es, sollte ich meinen Vater besuchen. Der würde nämlich etwas zu hören bekommen …“
Hermine hielt eine Hand die Höhe, sodass er aufhörte zu reden. „Du musst deinen Vater überhaupt nicht besuchen. Hier drin“, sie nahm den Brief in die Hand, „steht nur, dass eine Sachbearbeiterin mit dir sprechen möchte. Du musst dich nicht mit ihm auseinandersetzen. Nur mit“, Hermine las den Namen ab, „Mrs. Commisatio. Am 22. Oktober um 12.30 Uhr in Zimmer 108. Das ist ein Freitag, Severus. Von der Uhrzeit her passt der Termin wunderbar in unsere Mittagspause. Ich möchte dich gern begleiten.“
„Ich werde aber nicht hingehen!“, machte er ihr klar.
„Soll ich allein hin? Du musst mir nur eine schriftliche Bestätigung geben, dass ich in deinem Namen …“
„Nein!“
„Wenn das mein Vater wäre …“
„Dein Vater“, unterbrach er barsch, „ist aus einem völlig anderen Holz geschnitzt. Den würde sogar ich besuchen.“
„Wie viele Jahre liegen dazwischen?“ Auf Hermines Frage hatte er keine Antwort, denn er wusste nicht, auf was sie hinaus wollte. „Wie viele Jahre lang hast du deinen Vater ausgeblendet, als würde er gar nicht existieren? Und was hat sich in all den Jahren in deinem Leben verändert? Wer hat sich alles geändert?“ Ihm fielen auf Anhieb Harry und Remus ein, die seiner Meinung nach heute völlig andere Menschen waren als früher. Als hätte sie seine Gedanken gelesen sagte sie: „Meinst du wirklich, alle anderen wären plötzlich neue Menschen? Oder kann es sein, dass du derjenige bist, der anders geworden ist? Vielleicht sogar von beidem etwas. Wer weiß das schon?“
„Wenn du mich überreden möchtest …“
Wieder wagte sie es, ihn zu unterbrechen: „Ich habe lange aufgegeben, dich zu irgendetwas überreden zu wollen. Das funktioniert nicht und darüber bin ich mir im Klaren. Was ich nur hoffe, ist, dass du dir mal Gedanken machst. Denk drüber nach. Denk einfach nur drüber nach. Mehr möchte ich gar nicht. Ich hoffe innig, dass der Heiltrank, dessen Rezept wir in mühevoller Kleinarbeit berechnet haben, auch tatsächlich alles in dir wiederherstellen konnte.“

Das traf ihn tief. Ihre Anspielung auf das erkaltete Empfinden durch den Ewigen See und dass es möglicherweise noch immer Stellen in seinem Innern gab, die so eisig wie der bevorstehenden Winter geblieben sind. In Bezug auf seinen Vater schien sie Recht zu haben. Gedanken an den Mann ließen ihn kalt. Möglicherweise war ein Körnchen Wahrheit an dem, was Hermine sagte. Es war viel Zeit vergangen. Severus war kein Teenager mehr, der mit der Pflege seines Vaters überfordert war. Die Ärzte und Schwestern im Muggelpflegeheim hatten seinem Vater sicherlich die Vorliebe für übermäßigen Genuss von Alkohol ausgetrieben. Severus konnte sich nur an wenige Momente seiner Kindheit erinnern, in denen Tobias Snape nüchtern war. So einen Moment gab es gleich nach der Beerdigung seiner Mutter. Das hielt leider nur wenige Monate an. Mehr und mehr lebten sich die beiden auseinander. Als Severus seinen Abschluss in Hogwarts gemacht hatte und den Todessern beitrat, konnte und wollte er seinen Vater nicht mit in die Zaubererwelt nehmen. Es war darüber hinaus keine gute Idee, Tobias Snape sich selbst zu überlassen. Es war leicht gewesen, als bemitleidenswerter 17jähriger den volltrunkenen Vater einzuweisen, bevor sich Severus vollends in die Magische Welt zurückzog. Hermine hatte gefragt, wie viele Jahre dazwischen lagen. Waren es 26 oder schon 27? Severus’ Leben hatte gezeigt, was in viel kürzeren Zeitspannen für Veränderungen eintreten konnten.

Als er unerwartet eine Hand an seinem Unterarm spürte, blickte er hinunter zu Hermine, die auf der Couch saß und ihn zu sich zog.

„Du denkst nach, oder?“, fragte sie scheinheilig. Nachdem er neben ihr Platz genommen hatte, fügte sie hinzu: „Vielleicht benötigen die für irgendetwas nur eine Unterschrift von dir.“
„Ja“, stimmte er zu, „vielleicht ist das notwendig, damit sie die lebenserhaltenden Maschinen abstellen dürfen.“
Im ersten Moment war ihr nicht bewusst, dass es sich um einen seiner finsteren Scherze handelte, doch dann musste sie grinsen. „Du bist böse.“
„Es ist noch Zeit bis zum 22. Oktober. Ich werde es mir überlegen.“ Damit sollte sie beruhigt sein, dachte Severus.
„Ich würde dich gern begleiten.“
„Ich möchte diese Sache gern ohne dich …“
„Mich interessiert das Dii Penates. Habe im Mungos viel darüber gehört. Vielleicht kann ich dort ein paar von unseren Visitenkarten an den Mann bringen, während du mit Mrs. Soundso einen Plausch hältst?“
„Ich halte nie einen Plausch“, grummelte er resignierend.
Hermine tätschelte seinen Unterarm, während sie sagte: „Ich habe mich ein wenig über das Heim erkundigt. Es sind eine Menge Muggel untergebracht. Ich könnte meine Eltern später auch dort … Na ja, ich meine, wenn sie eines Tages Pflege benötigen sollten und ich nicht persönlich für sie sorgen kann, dann könnte ich dort auch einen Platz für sie beantragen.“
„Meine Mutter hat mir erzählt“, Hermine blieb ganz still, weil Severus selten etwas von früher erzählte, „dass sie ihre Eltern zwei Jahre bei sich Zuhause pflegte, bevor sie starben. Das war noch vor ihrer Hochzeit, aber sie kannte meinen Vater bereits.“
„Was hatten deine Großeltern?“
„Das hat sie nie genau gesagt. Vielleicht dachte sie, ich wäre zu jung für das Thema. Ich kannte meine Großeltern nicht, weder mütterlicherseits noch die Eltern von meinem Vater. Ich hatte keine Onkel und Tanten, demzufolge keine Cousins und Cousinen – nichts dergleichen.“
„Die Familie meiner Mutter ist übersichtlich“, warf Hermine ein, „aber die von meinem Vater … Ich glaube, ich kenne nicht einmal alle. Die sind auf der ganzen Welt verstreut. Ein Cousin von ihm wohnt in Neuseeland, eine Cousine in Kanada und ein Neffe arbeitet in der britischen Botschaft in Südafrika. Alle schreiben spätestens zu Weihnachten eine Karte. Und wo wir gerade bei Weihnachten sind“, Hermine holte tief Luft, „am Heiligabend sind wir bei meinen Eltern eingeladen, am ersten Weihnachtsfeiertag bei den Weasleys und am zweiten …“
„Wir haben Oktober“, rief er ihr ins Gedächtnis, „und du verplanst schon Weihnachten.“
Unbeirrt führte sie ihren Satz zu Ende: „Am zweiten Weihnachtsfeiertag hat uns Remus eingeladen, aber das überschneidet sich mit der Einladung von Harry. Jetzt überlegen wir, ob wir das zusammenlegen, uns also mit Remus und Tonks, vielleicht auch“, sie wurde leiser, „mit Sirius“, jetzt sprach sie wieder in normaler Lautstärke, „im neuen Haus von Harry und Ginny zusammenfinden.“
„Habe ich da auch ein Wörtchen mitzureden?“
„Nein“, sagte sie prompt und verkniff sich ein Grinsen. „Ich bin froh, dass ich das alles unter einen Hut kriege. Du machst mir meine Planung nicht kaputt.“
Severus stöhnte, schüttelte danach resignierend den Kopf. „Ich kann es gar nicht erwarten, bis dieses Fest vorüber ist.“
„Ja, und ich weiß auch, warum: Weil danach nämlich gleich dein Geburtstag kommt und …“
„Ich feiere nicht!“ Damit wollte er ihr den Wind aus den Segeln nehmen, doch er scheiterte damit.
„Das sehen eine paar Individuen aber anders.“
„Ich mag keine Überraschungsfeiern, damit das klar ist!“

Hermine rutsche auf der Couch herum, damit sie Severus besser sehen konnte. Mit einer Hand begann sie, seine Weste zu öffnen, was er mit einer hochgezogenen Augenbraue zur Kenntnis nahm. Jetzt versuchte sie es mit weiblicher Verführungstaktik, dachte er. Jeder Knopf wurde durch sein Loch geschoben, während Hermine weiterredete, als würde nichts geschehen.

„Ich kann nicht dafür geradestehen, was andere planen“, wollte sie ihm weismachen. Die Weste war geöffnet, nur war das Hemd darunter an der Reihe. „Wir könnten einer möglichen Überraschungsfeier entgehen, indem wir zum Beispiel zusammen verreisen.“ Drei Knöpfe des weißen Hemdes waren in Bauchhöhe geöffnet. Ein vierter folgte. „Wir könnten nach und nach meine vorhin genannten Verwandten besuchen.“
„Nein, dann lieber Urlaub in einer Berghütte in Tibet.“
„Gern!“

Fünf Knöpfe seines weißen Hemdes waren geöffnet. Ohne großes Drumherum schob Hermine ihre Hand durch das Loch, sodass sie bis zum Handgelenk verschwand. Mit einem Mal presste sie ihre Handfläche auf seinen Bauch.

„Ah!“, schrie Severus auf, griff nach ihrem Handgelenk. „Oh, Gott!“ Er hörte Hermine kichern, als er versuchte, ihre Hand vom Körper zu reißen, ohne das Hemd dabei zu beschädigen. „Du hättest auch einfach sagen können ‚Severus, ich glaube es ist an der Zeit, dass wir die Wohnung wieder beheizen.‘ Deine Hände sind Eisblöcke!“
„Ja, und damit kann man gut Leute ärgern.“

Es hieß, Ärger enthielte für jeden die Chance, die Grenzen der eigenen Toleranz zu erkennen. Die besagte Toleranzgrenze war bei Severus mittlerweile erweitert, bei Lucius hingegen kaum vorhanden. Wenn etwas nicht nach seinen Wünschen ablief, war Duldsamkeit ein Fremdwort für ihn. Das bekam auch der Pförtner vom Panagiotis Genesungsheim am nächsten Tag zu spüren.

„Ich sagte doch, dass die Besuchszeit …“
Lucius zischte den Mann wie eine Schlange an, damit der den Mund halten würde. „Und ich habe Ihnen mehrmals gesagt, dass ich nicht als Besucher hier bin, sondern als Helfer, denn meine Mutter hat den heutigen Tag und die jetzige Uhrzeit für ihren Auszug aus diesem Heim vorgesehen. Nun lassen Sie mich endlich durch, sonst …“
„Aber außerhalb der Besuchszeit …“

Der mit einem silbernen Schlangenkopf verzierte Gehstock landete mit solcher Wucht auf dem Tisch, dass es sogar ein Blatt in dem Buch zerriss, in welchem der Pförtner sämtliche Besucher eintrug. Noch hatte Lucius seinen Zauberstab nicht in eines der dafür vorgesehenen Schließfächer untergebracht. Es juckte ihn in den Fingern, diesem Squib auf magische Weise die Leviten zu lesen.

„Ich lasse Ihnen sogar eine Wahl“, zischte Lucius durch zusammengebissene Zähne. „Entweder lassen Sie mich passieren oder Sie melden mich unverzüglich dem Direktor, damit ich mein Anliegen“, er verzog die Nase, „mit einem kompetenten Ansprechpartner regeln kann.“
Der Pförtner fühlte sich persönlich angegriffen. „Ich bin kompetent!“
„Verzeihen Sie, wenn ich da widersprechen muss. Wären Sie kompetent, hätten Sie längst eine Lösung für das Problem gefunden.“
Der alte Mann ließ die Gesichtsmuskeln an seinen Kiefern spielen, weil er mehrmals die Zähne zusammenbiss, während er nach einer Lösung suchte. „Von mir aus! Geben Sie Ihren Zauberstab ab und gehen Sie rein. Die Schwestern werden sich schon noch um Sie kümmern.“
„Ist das eine Drohung?“, fragte Lucius höflich nach. „Denn wenn ja, werde ich dafür sorgen, dass Sie Ihren Job hier verlieren werden.“ Mit gerümpfter Nase schaute er sich im Pförtnerhäuschen um. „Ich denke nicht, dass Sie jemandem fehlen würden.“
„Ha!“, machte der Pförtner plötzlich. „Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind? Entschuldigen Sie bitte vielmals mein gewissenhaftes Arbeiten, Eure Durchlaucht – oder sollte ich besser sagen, Eure Durchtrieben?“
„Was fällt Ihnen …?“

Es war ein Reflex, der Lucius seinen Zauberstab aus dem Gehstock ziehen ließ. Als er den Pförtner mit ausgestrecktem Arm bedrohte, dessen vor Angst ganz weit aufgerissene Augen sah, fühlte er sich wieder so wie damals: stark, unbezwingbar, überlegen – vor allem aber wertvoller als dieser Dreck, der es wagte, ihm den Weg zu versperren. Ganz unerwartet kam Lucius zu der Erkenntnis, dass ihm diese Pose nicht mehr stand. Im Gegenteil. Sollte jetzt ein Reporter vom Tagesprophet ein Foto schießen, würde einiges in seinem Leben auf der Stelle zerbrechen wie teures Porzellan, nach dem man mit Steinen warf, darunter auch sein eigenes Ansehen, das sich, wenn auch nur zaghaft, ein wenig gebessert hatte. Sein Arm sank. Aus dem Handgelenk holte er aus und für einen Moment wirbelte der Zauberstab in der Luft herum, bevor Lucius ihn am falschen Ende fing – der Schlangenkopf deutete nun zum Pförtner, der nichts zu sagen imstande war. Wortlos schritt Lucius zu den Fächern hinüber und legte seinen Stab und den Gehstock hinein, verschloss die Tür und entnahm die Ziffer für das Fach, um seinen Gegenstände später wieder abzuholen. Mit gelangweilter Miene blickte er den Pförtner an. Da der Mann versteinert schien, ergriff Lucius das Wort.

„Da ich nun meinen Stab vorschriftsmäßig in das dafür vorgesehene Fach gelegt habe …“ Lucius hob den Kopf, damit er arrogant von oben herab auf den Mann blicken konnte. „Dürfte ich nun wohl freundlicherweise passieren?“

Der Pförtner schluckte hörbar kräftig, traute dem Frieden offenbar nicht so ganz. Mit einer Hand deutete er zur Tür. Lucius nickte und ließ den sprachlosen Mann hinter sich. Zum Glück, dachte er, würde er diesen Pförtner nie wieder in seinem Leben zu Gesicht bekommen.

Die Station, auf der seine Mutter ihr Zimmer hatte, war schnell aufgesucht. Im Gang war schon eine Menge los. Viele Menschen standen herum, einige von ihnen hatten ein Glas in der Hand. Aus dem Zimmer seiner Mutter drang Musik durch die offene Tür.

„Darf ich mal bitte vorbei?“ Die Damen und Herren machten Lucius Platz, so dass er sich dem Zimmer nähern konnte. Drinnen war es allerdings brechend voll. Lucius wandte sich ein eine ältere Dame im Morgenrock: „Entschuldigen Sie bitte, ich suche …“
„Lucius, bist du das?“, hörte man eine Stimme in der Menge.
„Mutter?“ Der Blick zum Tisch wurde frei. Seine Mutter saß dort und trank, wie es aussah, ein Glas Champagner.
„Meine Freunde haben eine Abschiedsfeier für mich organisiert. Ist das nicht nett?“

Lucius schaute sich genauer um. Einige ältere Herren waren nur mit einem Schlafanzug bekleidet, bei einem war das Kleidungsstück hinten sogar offen, stellte er mit gerümpfter Nase fest. Andere trugen ihren Morgenrock und wirkten mit ihren ungekämmten Haaren so, als wären sie tatsächlich erst aufgestanden, dabei war es schon Mittag.

„Wirklich nett von deinen Freunden“, kam ihm gequält über die Lippen. „Mutter, ich dachte, du wolltest pünktlich …“ Irgendjemand hielt ihm in dem Gedränge eine Flöte mit Champagner unter die Nase. Er griff nicht zu, wandte sich stattdessen wieder an seine Mutter. „Du bist nicht einmal angekleidet.“
„Das hat doch noch Zeit. Jetzt werde ich mich bestimmt nicht vor all den Menschen umziehen. Setz dich doch.“ Gut gesagt, dachte Lucius, wo doch jeder Stuhl belegt war. „Möchtest du nicht auch einen Schluck zur Feier des Tages?“
Eine tattrige Frau mit grauem, zerfleddertem Haarknoten fragte irritiert: „Was wird überhaupt gefeiert?“
Seine Mutter erkannte alle an der Stimme. „Ich gehe heute nachhause, Gerda. Mein Sohn holt mich ab.“ Sie legte eine Hand auf Lucius Arm. „Ich bin gespannt, was mein Mann sagen wird. Wir haben uns solange nicht mehr gesehen.“

Lucius benötigte einige Augenblicke, in denen er die Worte seiner Mutter in Gedanken wiederholte, und er begriff, dass es einen sehr wichtigen Punkt gab, den er seiner Mutter noch beibringen musste.

„Warum so still, Lucius?“
Er atmete einmal tief durch und sagte sehr ruhig: „Es gibt etwas, das ich dir sagen sollte, bevor wir aufbrechen.“

Die blinden Augen seiner Mutter starrten bewegungslos in die Leere. Einen Moment lang schien sie zu nachzudenken, bevor sie die Gäste ihrer Abschiedsfeier darum bat, sie allein zu lassen. Nach und nach gingen die alten Menschen, die Freunde, bis nur noch ihr Sohn bei ihr war.

„Er will gar nicht, dass ich zurückkomme, nicht wahr?“ Die Lippen seiner Mutter bebten, und er konnte die Enttäuschung in ihrer Stimme ausmachen.
„Nein, so ist das nicht.“
Bevor er ihr die Umstände erklären konnte, schilderte sie die Situation so, wie sie sie für wahr hielt: „Deswegen hat er mich hier nicht besucht. Deswegen habt ihr nicht über ihn gesprochen.“ Sie ließ den Kopf sinken. „Ich war viel zu hasenfüßig, nach ihm zu fragen.“
„Mutter, bitte, lass es mich erklären.“
Sie schüttelte heftig den Kopf. „Nein, ich möchte nicht mit ihm in einem Haus wohnen, wenn er noch immer so wenig von mir hält wie damals.“
„Er ist tot.“ Kurz und schmerzhaft war Lucius’ Meinung nach der beste Weg.
„Wie bitte?“
„Das versuchte ich dir zu erklären. Vater ist schon lange tot, schon sehr, sehr lange. Seit zwanzig Jahren. Ich dachte, du wüsstest das.“
„Seit …“ Fassungslos schüttelte sie den Kopf. „Seit zwanzig Jahren?“ In ihren Erinnerungen war er lebendig. Noch immer.
„Er starb an Drachenpocken, Mutter. In seinem Alter hat er die Krankheit nicht überwinden können.“

Das glaubte man zumindest, auch wenn Lucius mehr und mehr ahnte, dass sein Vater an einer scheußlichen Erbkrankheit zugrunde ging, denn auch er war noch im Krankenbett erblindet, bevor er einige Wochen später starb. Ohne Kontakt zur Familie konnte seine Mutter lediglich die Neuigkeiten erfahren, die in Tageszeitungen abgedruckt wurden. So hatte sie von seiner Inhaftierung in Askaban erfahren – von der ersten und der zweiten –, später auch von der Hochzeit ihres Enkels, Draco. Von ihrem Mann jedoch wusste sie gar nichts.

„In Malfoy Manor“, Lucius ergriff ihre Hand, die zitternd auf dem Tisch lag, „wartet deine Familie auf dich. Deine Schwiegertochter und dein Enkel samt Frau und Urenkel.“
Ihre Mundwinkel bildeten ein sanftes Lächeln, als sie an Charles dachte, den sie bereits kennengelernt hatte. „Ich dachte, er hätte mir wenigstens vergeben.“
„Du meinst Vater?“ Weil seine Mutter nickte, riss er sich zusammen und erklärte: „Es gab nie etwas, das man dir vergeben musste. Komm“, er stand auf und zog seine Mutter mit sich, „zieh dich an. Ich werde eine Schwester bitten, dir zu helfen.“

Der Schreck bei seiner Mutter saß tief, das bemerkte Lucius an ihrer plötzlichen Zerstreutheit. Er war jedoch froh darüber, dass sie mit ihm nachhause kommen wollte. Hätte sein Vater noch gelebt, wäre es undenkbar, sie wieder in der Familie begrüßen zu dürfen.

Die Entlassungspapiere unterschrieb sie mit ihrem vollen Namen: Abélia Estelle Malfoy. Es dauerte einen Moment, bis sich auch alle Schwestern von ihr verabschiedet hatten. Einige versprachen, Kontakt zu ihr zu halten. Mr. Panagiotis persönlich hatte sich eingefunden, um der Langzeitpatientin auf Wiedersehen zu sagen. Das trieb Abélia sogar Tränen in die Augen. Unangenehm wurde es nur kurz beim Pförtner, den seine Mutter tatsächlich mit Vornamen ansprach. So schnell es möglich war, nahm Lucius seinen Gehstock und Zauberstab, um danach mit seiner Mutter vorsichtig zu apparieren. Magie war sie nicht mehr gewohnt, aber sie erinnerte sich natürlich daran, dass sie früher selbst dazu in der Lage war. Sie vermisste die Magie, doch die letzten Jahrzehnte hatten ihr gezeigt, dass es auch gut ohne ging.

In Malfoy Manor war die Begrüßung sehr herzlich. Abélia schilderte, wie sie das Herrenhaus in Erinnerung hatte. Sie war überrascht, als sie erfuhr, dass einiges geändert worden war.

„Der Boden in der Eingangshalle“, begann Draco, „ist nicht mehr dunkel, Großmutter. Zu meiner Hochzeit habe ich mit etwas Hilfe das Haus umgestaltet. Es ist heller und wärmer, überall.“
„Ich kann es mir kaum vorstellen“, seufzte sie. „Es war immer so düster hier. Dein Großvater sagte, es würde den Gästen Respekt einflössen.“
Lucius nahm die Hand seiner Mutter und legte sie um seinen Arm. „Komm, ich bringe dich erst einmal auf dein Zimmer. Es ist dein altes Schlafzimmer.“ Damals waren aus einer alten Tradition heraus die Schlafzimmer der Eltern getrennt, was nicht nur bei den Malfoys der Fall war. „Wir haben es nie benutzt, aber es ist natürlich alles in bestem Zustand.“

Auf dem Weg nach oben ging Lucius langsam. Seine Mutter hielt sich zusätzlich am hölzernen Geländer fest. In ihrem Zimmer vergrößerte er ihre Koffer. Den Inhalt ließ er mit einem Schwung seines Stabes in die Schränke und Kommoden fliegen.

„Ich werde erst einmal in Ruhe meine Sachen auspacken.“
„Das habe ich eben getan, Mutter.“
„Oh“, machte sie etwas enttäuscht. „Ich hoffe, ich finde später auch alles wieder.“
Daran hatte Lucius gar nicht gedacht. „Ich kann es rückgängig …“
„Nein, nein, schon gut.“ Sie seufzte. „Ich glaube, der Alkohol steigt mir zu Kopf. Ich hätte nichts auf nüchternen Magen trinken dürfen.“
„Narzissa und“, Lucius strengte sich an, den Namen über seine Lippen kommen zu lassen, „Susan bereiten das Mittagessen vor. Möchtest du dich etwas frisch machen? Ich würde dich in einer halben Stunde hinunterbegleiten.“
„Das Badezimmer …?“
„Alles noch wie gehabt, Mutter.“
„Gut!“ Erleichtert atmete sie aus. Malfoy Manor, ihr damaliges Zuhause, kam ihr wie neu vor.
„Du wirst dich schnell wieder einleben“, redete Lucius ihr gut zu. „Ich werde demnächst einen Hauself beantragen.“
„Was ist aus dem Letzten geworden?“
„Das, ähm, ist eine lange Geschichte.“ Sofort lenkte er vom Thema ab. „Wenn du irgendetwas brauchst, dann sag uns Bescheid.“
„In den letzten Jahrzehnten sind meine Ansprüche sehr gesunken, Lucius. Ich werde niemandem zur Last fallen.“
„Das tust du nicht. Du bist hier herzlich willkommen.“
Sie nickte langsam. „Darüber bin ich sehr froh. Früher wurde ich behandelt, als hätte ich die Pest, musst du wissen.“ Lucius konnte sich das gar nicht vorstellen. So lauschte er seiner Mutter, als sie sich an damals erinnerte. „Als wäre das, was ich habe, ansteckend. Sie haben mich ans Bett gefesselt, und wenn ich nichts essen wollte, haben sie aus mir eine Stopfgans gemacht.“ Zwangsernährung.

Die Erinnerungen waren so frisch, weil Abélia kürzlich erst alles mit Schwester Marie besprochen hatte. Chronologisch erinnerte sie sich an die Demütigung der Entmündigung, an die Einweisung gegen ihren Willen, die Torturen der vielen Untersuchungen und die Aufgabe jeglicher Selbstbestimmung über Geist und Körper, die die Entmündigung mich sich gebracht hatte. Abélia spürte eine Hand an ihrem Rücken. Sie lächelte. In ihren alten Tagen würde sie das Leben noch einmal in vollen Zügen genießen können. Es war nur schade, dachte sie, dass sie anstatt ihrer Familie nur deren Schatten wahrnehmen konnte. Der Kleinste von ihnen war ihr bereits besonders an Herz gewachsen, und ihren Sohn müsste sie erst einmal kennenlernen, denn der Achtjährige von damals war er schon lange nicht mehr. Durch Zeitungen hatte sie von seiner Ehe mit Narzissa Black erfahren. Dracos Geburtsanzeige hatte sie damals sogar noch mit eigenen Augen sehen können, bevor die Reinblütigkeit ihren Preis forderte.

Eine Doppelseite im Tagesprophet war für private Anzeigen jeder Art vorgesehen. Es gehörte zum guten Ton, beispielsweise eine Hochzeit anzukündigen. Todesanzeigen von Verwandten trafen ebenfalls bei der Anzeigenbearbeitung des magischen Verlags ein sowie Geburtsanzeigen.

Eileen und Tobias Snape zählten damals, genau wie die Malfoys, zu den Personen, die ihre Hochzeit per Zeitungsanzeige bekanntgaben. Auch über die Geburt des Sohnes sollte die Zaubererwelt Monate später informiert werden. Das war ein Anzeichen dafür, dass Eileen Snape, geborene Prince, zu ihrer Entscheidung stand, einen Muggel geehelicht zu haben. Jeder durfte es wissen. Nach Severus’ eigener Aussage hatte er keine Verwandten, die ihm bekannt waren. Aus den eigenen Reihen gab es für seine Mutter also nichts zu befürchten. Lediglich die Engstirnigen würden sie für ihre Wahl verachten. Ihr war es egal gewesen. Entweder war ihre Ehe ein absichtlicher Schlag ins Gesicht der Reinblüter oder aber – und das war wahrscheinlicher – liebte sie ihren Mann von ganzem Herzen. Severus hingegen hatte gelernt, seinen Vater nicht sonderlich zu mögen.

Am Freitag, den 22. Oktober, war Severus wieder einmal schlecht gelaunt, obwohl alles gut lief. Der Bekannte von Mr. Lyon sowie dessen Nichte waren beide bei einem Vorstellungsgespräch gewesen und beide würden im November die Apotheke mit ihrer Kenntnis und ihrem Können unterstützen: Isabelle Lyon und Cyriakus Woodpecker. Aber zuvor, heute, stand das Gespräch mit der Sachbearbeiterin Mrs. Commisatio an. Der Termin war um 12:30 Uhr.

„Musst du wirklich mit?“, blaffte Severus Hermine an.
Die steckte sich gerade ein paar Visitenkarten der Apotheke in den Umhang. „Ich möchte mir die Einrichtung ansehen. Ich verspreche, dass ich nicht ein einziges Mal meinen Mund aufmachen werde.“
„Wird ein wenig dämlich aussehen, wenn du den Leuten mit wilden Gebärden die Visitenkarten in die Hand drückst.“
„Gut, dann anders: Ich kümmere mich nicht um deine Angelegenheiten. Ist das in Ordnung?“

Beide hatten völlig vergessen, dass Ignatius und Gordian anwesend waren. Die beiden hielten wohlweislich den Mund, um die Laune des Chefs nicht selbst abzubekommen. Die beiden tauschten miteinander lediglich Blicke aus. Eine Sache wollte Gordian jedoch geklärt sehen, bevor sein Tränkemeister gehen würde.

„Sir, darf ich eine Frage stellen?“
„Das war bereits eine oder kommt etwa noch eine?“, zischte Severus seinen Lehrling an.
Gordian blieb gelassen. „Ich wollte nur fragen, ob Sie beide in der Mittagspause außerhalb essen oder ob ich für Sie mit kochen soll?“
„Nein, wir speisen außerhalb.“ Severus wandte sich an Hermine. „Bist du endlich fertig?“
„Ja“, bestätigte Hermine und verkniff sich dabei, dass sie nur noch auf ihn wartete.
„Gut, dann sage ich Miss Greengrass Bescheid.“

Hermine folgte ihm nach draußen über den Flur in den Verkaufsraum. Daphne saß hinterm Tresen und bearbeitete mit einer Nagelfeile den Daumennagel. Als Severus das sah, bekam sie eine geballte Ladung angestauter Aggressionen ab.

„Ich bezahle Sie verdammt noch mal nicht dafür, damit Sie sich kosmetisch herrichten!“, meckerte er.
„Nur der eine Nagel, Sir. Den habe ich mir beim Kistenschleppen eingerissen. Sonst bleibe ich nachher noch irgendwo hängen.“ Die Nagelfeile verschwand, und Daphne klappte ohne Umschweife das Buch auf, um ihrer Arbeit nachzugehen – Buchführung.
„Wir sind in etwa gegen 15 Uhr wieder zurück, falls irgendjemand nach uns verlangen sollte“, informierte Severus die Angestellte.
„Ja, Sir. Viel Spaß wünsche ich.“

Es war Hermine zu verdanken, dass Severus wegen der einfachen Floskel Daphne nicht den Hals umdrehte. Am Umhang zog sie ihn zurück in den Flur und schob ihn die Treppe hinauf.

„Willst du das Schreiben mitnehmen?“, wollte Hermine wissen.
„Ich habe mir alle Fakten gemerkt.“
„Könnte doch aber sein, dass jemand es sehen möchte? Ich stecke den Brief vorsichtshalber ein.“

Mürrisch war schon gar kein treffender Ausdruck mehr, dachte Hermine. Severus war, um es mal salopp auszudrücken, geladen. Bei einem Gerät, das elektromagnetische Felder misst, würde die Nadel in Severus’ Nähe momentan höher ausschlagen als mitten in einem Atomkraftwerk. Man sollte ihm nicht zu nahe kommen, dachte sie, denn die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass man eine gewischt bekommen würde. Schon an seiner Miene konnte man erkennen, dass mit ihm nicht gut Kirschen essen war.

Eben jene Miene war ein sicheres Warnzeichen für die ältere Dame an der Rezeption von Dii Penates. Sie blieb höflich, dennoch distanziert und stellte Severus keine unwichtigen Fragen. Lediglich das Schreiben der Leiterin Mrs. Smythe wollte sie sehen, das Hermine zum Glück eingesteckt hatte. Die Dame an der Rezeption – nach der Kleidung zu urteilen eine Hexe –, sah sich das Schreiben an und nickte sich selbst zu.

„Im dritten Stock, Zimmer 222, Mr. Snape.“ Die Frau musterte ihn, als würde sie in Gedanken einen Vergleich ziehen. „Sie können hier rechts den Fahrstuhl benutzen.“
„In dem Schreiben steht Erdgeschoss, Raum 108“, fuhr er die Empfangsdame an.
„Aber Mrs. Smythe möchte Sie sehen, Sir. Sie hat mir extra Bescheid gegeben.“
„Es wäre netter gewesen, mich vorab darüber zu unterrichten.“

Das Schreiben riss er ihr aus der Hand, bevor Severus zu den Fahrstühlen ging. Während sie warteten, schaute sich Hermine um.

„Es ist schön hell hier“, merkte sie an. „Nicht so düster wie manche Abteilungen im Mungos.“ Severus war nicht nach reden zu Mute, also übernahm Hermine diesen Part. „Ist ziemlich wenig los hier im Eingangsbereich.“
Mit öliger Stimme machte er sich über sie lustig, als er sagte: „Mal auf die Uhr gesehen? Es ist Mittagszeit. Was glaubst du wohl, was die Menschen normalerweise um diese Zeit tun?“

Hermine behielt eine Antwort für sich, denn sie wollte ihn nicht noch mehr reizen. Der Fahrstuhl war endlich gekommen und brachte die beiden zwei Stockwerke höher. Zimmer 222 war ausgeschildert und schnell gefunden. Severus hob die geballte Faust und wollte gerade klopfen, da fror er mit erhobener Hand ein.

„Severus?“ Seine Hand ließ er sinken. „Soll ich mit reinkommen?“, bot sie an.
„Ich weiß nicht, ob ich überhaupt hier sein möchte“, gab er leise zu. Am liebsten würde er kehrtmachen. Als er die Hand ein zweites Mal hob, öffnete sich die Tür, bevor er klopfen konnte. Eine Frau mittleren Alters legte sich eine Hand auf die Brust.
„Um Himmels Willen, haben Sie mich erschreckt.“
„Das war nicht meine Absicht“, erwiderte Severus. „Mein Name ist Snape.“
„Smythe“, stellte sie sich vor. „Schön Sie zu sehen.“ Sie schüttelte kurz seine Hand und blickte dann zu Hermine. „Und Sie sind …?“
„Miss Granger.“
Auch Hermine wurde per Handschlag begrüßt. „Dann treten Sie beide doch bitte ein.“
„Nein, danke“, sagte Hermine. „Ich warte lieber draußen.“
Mrs. Smythe nickte, blickte dann zu Severus. „Nach Ihnen, Mr. Snape.“

Im Büro bot die Dame ihm einen Platz an, doch er zog es vor zu stehen.

„Warum bin ich hier?“, fragte er kurz und knapp.
Mrs. Smythe wollte nicht sitzen, während ihr Gast stand. „Es geht um Ihren Vater.“
„Das hätte ich mir denken können“, veralberte er sie. „Warum wollen Sie mich sehen? In dem Schreiben war nur von einer Mrs. Commisatio die Rede. Meine Zeit ist äußerst begrenzt.“ Das sollte ihr vor Augen halten, hoffte er, ihn nicht mit unwichtigen Details zu belästigen.

Auf ihrem Schreibtisch lag das neuste Geschichtsbuch, in welchem auch Severus mit einem Kapitel gewürdigt worden war. Ein Lesezeichen ragte an jeder Stelle heraus, an der sich das Kapitel über ihn sogar befinden müsste.

„Ich wollte Sie nur einmal sehen, Mr. Snape“, gab Mrs. Smythe lächelnd zu.
Absichtlich ließ er seine Gesichtszüge entgleisen. „Sie hätten sich auch ein paar Schokofrösche kaufen können. Eine der ersten Karten trägt mein Bildnis, das Sie ansehen können, wann immer Ihnen danach ist. Wenn Sie mich nun entschuldigen würden?“
Mrs. Smythe war offensichtlich vor den Kopf gestoßen, denn einen Augenblick lang bewegte sich ihr Mund in stillem Protest, bevor sie laut und hörbar gekränkt erwiderte: „Das Ministerium hat die Überwachung Ihres Vaters eingestellt, Mr. Snape. Ich dachte, das sollten Sie wissen.“
„Erzählen Sie mir etwas Neues!“ Weil Mrs. Smythe die Lippen zusammenkniff und nichts mehr sagte, wandte sich Severus der Tür zu. „Dann werde ich jetzt Mrs. Commisatio aufsuchen. Ich kann nur hoffen, dass es sich um etwas Wichtiges handelt.“
„Wir haben Ihren Vater seit vielen Jahren in unserem Haus …“
Er unterbrach gelangweilt. „Kommen Sie auf den Punkt, verflucht nochmal. Zahlt das Ministerium nicht mehr für ihn? Dann schicken Sie mir eine Rechnung!“ Die vielen Beleidigungen, die Mrs. Smythe zum barschen Auftreten ihres Gastes durch den Kopf gingen, konnte man ihr an den Augen ablesen. Severus brachte das, was er in ihrer Mimik sehen konnte, zum Grinsen.
„Auf Wiedersehen, Mr. Snape.“ Mit diesen Worten entließ sie ihn aus seinem Büro.

Draußen wartete Hermine, die in einer Broschüre blätterte. Als Severus auf den Flur trat, steckte Hermine das Informations-Heft in ihren Umhang.

„Das ging aber schnell“, staunte sie.
„Es ging so schnell, wie die Frau gar keinen Grund hatte, mit mir sprechen zu müssen.“ Wütend ging er in Richtung Fahrstuhl und Hermine eilte hinterher.
„Wohin jetzt?“
„Mrs. Commisatio, Erdgeschoss, Zimmer 108.“ Das klingelnde Geräusch des angekommenen Fahrstuhls war zu hören. Die Türen öffneten sich. „Hoffen wir, dass wenigstens die Dame einen Grund hat. Ansonsten hätte ich gut Lust dazu, ihnen eine Rechnung für meinen Arbeitsausfall zu schicken.“

Beide stiegen in den Fahrstuhl ein. Die Empfangsdame schien ebenfalls sehr erstaunt darüber, dass die beiden Besucher so schnell von dem Gespräch mit der Leiterin zurückgekommen waren.

„Ich kann mir nicht im Geringsten vorstellen“, begann Severus, als er ausstieg, „was man sich von meinem Besuch hier verspricht. Meiner Meinung nach kann man alles schriftlich klären.“

Als Hermine an einem weiteren Tisch vorbeikam, auf denen Informationsbroschüren zum Mitnehmen lagen, griff sie kurzerhand in ihre Innentasche und zog einen kleinen Stapel von in etwa zwanzig Visitenkarten heraus. Sie blickte nach rechts, dann nach links und wieder nach rechts, beinahe so, als wollte sie eine Straße überqueren. Als sie sich sicher war, dass niemand zu ihr schaute, machte sie auf dem Tisch direkt in der Mitte etwas Platz und legte die Visitenkarten dort hin.

„Meinst du nicht, man sollte vorher fragen?“
Hermine schüttelte den Kopf. „Sie würden es nicht erlauben. Ich habe gelesen, dass Dii Penates über eigene Zaubertränkemeister verfügt.“
„Ah!“

Um Zimmer 108 zu erreichen, mussten die beiden durch eine Tür und den dahinterliegenden Gang gehen. Unter den Zimmernummern waren Schilder an den Türen befestigt, die den Namen des dort arbeitenden Sachbearbeiters trugen. Mrs. Commisatio, Zimmer 108. Ohne zu zögern klopfte Severus. Man hörte jemanden „Herein!“ rufen. Wie schon zuvor blieb Hermine im Gang und sah sich um, las hier und da etwas und legte Visitenkaten auf einen Tisch im Wartebereich, steckte einige sogar in die Broschüren, so dass der Anschein erweckt wurde, die werbende Beilage hätte seine Richtigkeit.

„Mr. Snape!“, sagte die Dame mit den Lachfältchen an den Augen. Bei ihr fiel es ihm schwer, durchweg mürrisch zu bleiben. Sie stand auf und begrüßte ihren Gast persönlich. „Schön, dass Sie sich die Zeit nehmen konnten, meiner Einladung zu folgen.“ Sie zeigte auf einen gemütlich aussehenden Stuhl. „Nehmen Sie doch bitte Platz. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“
„Nein, danke.“ Diesmal setzte er sich.
Mrs. Commisatio nickte, lächelte dabei freundlich und nahm hinter ihrem Schreibtisch Platz. „Ich habe gelesen, dass Sie die Apotheke von Mrs. Caro übernommen haben.“
„Ja, das ist korrekt.“
„Das ist wunderbar! Es wäre schade gewesen, würde es in der Winkelgasse keinen zuverlässigen und vor allem mehr als nur fähigen Tränkemeister mehr geben.“

Das, was die Frau hier tat, würde Hermine als freundlichen Plausch bezeichnen. Severus hingegen fiel dazu nur eines ein: Mrs. Commisatio schmierte ihm Honig ums Maul. Auf ihre netten Worte erwiderte er nichts. Er kam gleich zum Punkt.

„Sein Sie so freundlich und sagen Sie mir, warum Sie mich vorgeladen haben.“
Mrs. Commisatio schüttelte den Kopf, pflegte dabei ihr Dauerlächeln, das mal breiter, mal subtiler war. „Doch nicht vorgeladen, Mr. Snape. Wir sind hier nicht vor Gericht.“
Das Lächeln würde er schon noch aus ihrem Gesicht entfernen, dachte Severus. „Geht es um die Kosten für den Aufenthalt meines Vaters?“
„Nein, das ist alles geregelt, Mr. Snape.“ Auch sie musterte ihn genau. „Sie sind Ihrem Vater ja wie aus dem Gesicht geschnitten.“
„Das hört sich schmerzhaft an.“
Mrs. Commisatio lachte. „Eine Redewendung der Muggel. Nicht nur Ihr Vater hat hier einige …“
„Um was geht es?“, fiel er ihr ins Wort. Endlich flackerte ihr Lächeln wie eine Kerze, die starkem Wind ausgesetzt war.
Die Sachbearbeiterin griff nach einer Akte, die sie sich bereits zurechtgelegt hatte. „Ich verstehe. Ihre Zeit ist begrenzt“, sagte sie verständnisvoll. Sie blätterte in den Unterlagen. „Um es schnell zu machen: Es geht um eine rechtliche Angelegenheit.“ Mrs. Commisatio erhob sich von ihrem Platz. „Wenn Sie mir bitte folgen würden? Wir müssten zwei Zimmer weiter.“

Im Flur wurde Hermine von Mrs. Commisatio begrüßt, die nicht wusste, dass die beiden zusammengehörten. Hermine beobachtete, wie Severus der Dame folgte, die an Zimmer 110 klopfte. Als die beiden eintraten, war Hermine wieder allein auf dem Flur. Sie stellte sich an eines der Fenster und beobachtete einige Patienten und deren Besucher. Manche trugen Muggelkleidung – Patienten wie auch Besucher. Die Parkanlage war großflächig und sah sehr gepflegt aus. Balsam für die Seele.

In Zimmer 110 stellte Mrs. Commisatio Severus einen Herrn vor.

„Das ist Mr. Pietavo. Er regelt rechtliche Angelegenheiten in unserem Haus.“ Nach der üblichen Begrüßungsprozedur wurde Severus endlich mitgeteilt, worum es ging.
Mr. Pietavo hielt Severus ein Formular des Ministeriums unter die Nase. „Mr. Snape, wenn Sie mit Ihrem Zauberstab bitte bestätigen könnten, dass es sich bei Ihnen um den Sohn von Mr. Tobias Snape handelt?“ Pietavo tippte auf eine bestimmte Stelle. „Einfach einmal die Stabspitze hier …“
„Ich mache das nicht zum ersten Mal!“, fuhr Severus den Mann an.

Schwungvoll und elegant zog Severus seinen Zauberstab, den er, seitdem das dunkle Mal nicht mehr seinen Unterarm verschandelte, wieder im linken Ärmel trug. Severus presste seinen Stab auf die dafür vorgesehene Stelle. Das Stück Papier war magisch mit dem Ministerium verbunden. Wäre er nicht Severus Snape, würde der Stab, der sich seinen Zauberer beim Kauf selbst aussuchte, ein entsprechend falsches Signal abgeben, doch die magische Signatur stimmte.

„Wofür war das gut?“, wollte Severus wissen. Mr. Pietavo schien überaus zufrieden, was Severus misstrauisch werden ließ.
„Das kann ich Ihnen erklären. Ihr Vater will schon seit Jahren seinen letzten Willen schriftlich hinterlegen, wobei ich ihm mit Rat und Tat zur Seite stand. Es gab nur ein winziges Problem.“ Pietavo legte den Kopf schräg. „In der Zauberergesellschaft darf niemand, der beim Ministerium offiziell als vermisst geführt wird, als Begünstigter ernannt werden. Daher nach all den Jahren die eindeutige Klärung Ihrer Identität. Jetzt steht dem Vorhaben glücklicherweise nichts mehr im Wege.“
Severus konnte es kaum fassen. „Und wegen dieser Lappalie musste ich meine Arbeit unterbrechen? Unglaublich!“
„Für Ihren Vater ist es keine Lappalie“, versicherte Pietavo.
„Der Mann hat nichts, das für mich von Interesse sein könnte“, brachte Severus es auf den Punkt.
„Es steht Ihnen frei, das Erbe später auszuschlagen. Sie können ihm jedoch nicht vorschreiben, wie er sein Testament gestalten soll, Mr. Snape“, erklärte Pietavo sehr ruhig, denn er ließ sich durch Severus’ aufbrausendes Verhalten nicht einschüchtern. Womöglich, schoss es Severus durch den Kopf, kam das von dem häufigen Umgang mit Tobias Snape. Das wiederum würde bedeuten, dass Severus nicht nur äußerliche Ähnlichkeiten mit seinem Vater hatte. Und diese Feststellung machte ihn noch wütender.
„Sind jetzt alle zufrieden?“, fragte Severus genervt.
Pietavo nickte. „Ich habe keine Fragen. Vielen Dank, dass Sie gekommen sind. Ein schönes Wochenende wünsche ich Ihnen.“

Mrs. Commisatio begleitete Severus nach draußen. Zum Glück sah die Frau nicht, dass Hermine gerade eine ihrer Visitenkarten an das schwarze Brett pinnte, das im Flur an der Wand hing.

Hermine näherte sich den beiden und stellte sich vor. Mit Mrs. Commisatio kam sie gut zurecht, man war sich auf Anhieb sympathisch. Die drei setzten sich in Bewegung. Mrs. Commisatio nutzte die Gelegenheit für eine Unterhaltung, an der Severus ausnahmsweise mal interessiert war.

„Mr. Snape, Sie als Zaubertränkemeister können mir bestimmt sagen, ob es die Möglichkeit gibt, bestimmte Zaubertränke in Form einer Pille herzustellen.“
Er schlenderte neben ihr her und dachte einen Moment darüber nach. „Bei vielen Tränken wäre es möglich, bei einigen wiederum nicht. Um was genau geht es denn?“

Mrs. Commisatio öffnete die Tür zur Empfangshalle, ging jedoch nicht zum Ausgang, sondern nahm die Glastür gegenüber. Hermine und Severus folgten ihr und lauschte ihren Worten.

„Wir haben einige Patienten aus der Muggelwelt hier, die Medikamente in kapselform gewöhnt sind. Es ist eine psychologische Angelegenheit zu glauben, die Tränke verfügten über keine oder nur wenig positive Wirkung.“
Mrs. Commisatio hielt eine weitere Tür am Ende des Ganges auf. Als Hermine hindurchtrat, sagte sie ein Wort zum Thema. „Es gibt auch in der Muggelwelt einige Patienten, die davon überzeugt sind, dass flüssige Medikamente weniger helfen würden.“
„Ja, so etwas dachte ich mir“, stimmte Mrs. Commisatio zu. „Wir möchten all unseren Bewohnern das Leben so angenehm wie nur möglich gestalten. Das Dii Penates ist in erster Linie eine Einrichtung für betreutes Wohnen. Aber wir behalten auch diejenigen, die mit dem Alter gebrechlich und pflegebedürftig geworden sind. Wir haben zwar eigene Tränkemeister, aber die haben einfach keine Zeit, um über eine Lösung nachzudenken. Mich würde besonders interessieren, ob Stärkungstränke, Aufpäppeltränke oder der Trunk des Friedens so veränderbar sind, dass man sie als Tabletten herstellen könnte.“
Severus nickte. „Einige Versuche wären notwendig, aber unmöglich ist es sicherlich nicht.“ Er fühlte, wie Hermine ihm eine Visitenkarte in die Hand schob. „Sie können uns gern einen Forschungsauftrag erteilen.“ Er überreichte ihr die eben erhaltene Karte. „Wir werden Ihnen einen gerechten Preis machen.“
Mrs. Commisatio nahm die Karte dankend an, warf einen Blick darauf und steckte sie in ihre Brusttasche. „Das ist wunderbar, ganz wunderbar.“

Die Tür, an der die drei zum Stillstand gekommen waren, war nur angelehnt. Mrs. Commisatio klopfte nicht, sondern trat leise herein, während Severus und Hermine vom Flur aus ins Zimmer blickten. Wo sie sich befanden, wussten Hermine und Severus nicht. Sie waren der Frau einfach gefolgt.

Man hörte Mrs. Commisatio laut einen Namen sagen. „Mr. Snape?“
Severus blickte zu ihr: „Ja?“ Zur gleichen Zeit war ein zweites „Ja?“ zu hören.

Severus Herz setzte vor Schreck einen Schlag aus. Jetzt war es soweit, dachte er. Wegzulaufen stellte keine Option dar. Mrs. Commisatio hatte ihn ohne Vorwarnung zum Zimmer seines Vaters begleitet. Er schaute Hermine in die weit aufgerissenen Augen, die ihm zu sagen schienen „Du musst dort nicht reingehen.“ Doch, er musste, stellte er für sich selbst fest. Severus nahm all seinen Mut zusammen, atmete einmal tief durch und ging ins Zimmer.

In einem der beiden belegten Betten lag ein alter Mann mit kurzen, grauen Haaren, dunkelbraunen Augen und unverwechselbarer Hakennase. Eine Hälfte des faltigen Gesichts war offenbar durch einen Schlaganfall unfähig, die erstaunte Mimik der anderen Gesichtshälfte nachzuahmen. Severus erkannte ihn sofort wieder. Sein Vater blinzelte einige Male, als würde er seinen Augen nicht trauen, doch immer, wenn sie sich wieder öffneten, sah er das gleiche Bild.

„Meine Güte!“, sagte Tobias Snape mit rauer Stimme. Nach einer kurzen Pause lachte der alte Mann, zog nebenbei die Bettdecke ein bisschen höher. „Ich hab in meinem Leben ja schon Pferde kotzen sehen, aber du … Hier? Das schlägt dem Fass den Boden aus!“
Mrs. Commisatio wandte sich an Mr. Snape senior: „Ich werde Sie beide dann mal allein lassen.“ An Severus gewandt sagte sie: „Von meiner Seite aus wäre dann alles geklärt. Ich melde mich bei Ihnen wegen der Pillen. Wenn Sie Fragen haben, dann wissen Sie, wo Sie mich finden.“

Severus war nicht dazu in der Lage, irgendetwas zu erwidern. Er schaute Mrs. Commisatio hinterher. Sein Blick traf den von einer besorgt aussehenden Hermine, bevor die Sachbearbeiterin die Tür von außen schloss und ihn mit dem Albtraum seiner Kindheit allein ließ.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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231 Mütter und Väter




Es war keine Absicht von Mrs. Commisatio. Woher hätte sie wissen sollen, dass Severus und Tobias Snape wie Feuer und Wasser waren? Wäre sie über die familiären Verhältnisse informiert gewesen, hätte sie ihren Gast sicher nicht ohne Vorwarnung ans Bett des Vaters begleitet und die beiden allein gelassen.

Tobias betrachtete seinen Sohn von oben bis unten. Eine Ewigkeit schien zu vergehen, vielleicht auch nur Sekunden. Severus konnte nicht mehr denken, nicht mehr handeln. Er stand da wie ein Ölgötze.

„Von was für Pillen hat der Kommissar gefaselt?“, fragte sein Vater plötzlich mit so lauter Stimme, dass Severus wachgerüttelt wurde.
„Was?“ Ihm war nicht klar, von was Vater sein Vater sprach.
„Die Frau eben. Was für Pillen meint sie? Wollt ihr mich am Ende doch noch vergiften?“ Sein Vater schnaufte. Eine Eigenart, die Severus unbewusst von ihm übernommen haben musste. „Reichen eure Tränke dazu nich’ aus? Ich mach schon noch früh genuch die Grätsche, da muss man nich’ nachhelfen.“
Verständnislos schüttelte Severus den Kopf. „Behält man dich wegen deiner Paranoia hier?“
„Was suchst du überhaupt hier?“, blaffte sein Vater ihn an. „Ich hab denen gesagt, dass sie dich nich’ kontaktieren müssen.“ Der Blick seines Vaters wurde mit einem Male milder, als er Severus ein weiteres Mal konzentriert begutachtete. Entgegen der gütigen Mimik sagte Tobias weniger galant: „Siehst ganz schön verbraucht aus.“
„Oh, vielen Dank auch!“ Severus schnaufte, und als er das bemerkte, wollte er sich selbst das Versprechen abnehmen, es nie wieder zu tun. „Hast du in der letzten Zeit mal in den Spiegel geschaut?“, schoss er zurück.
„Ich bin ein alter Sack, ich darf so aussehen“, rechtfertigte sich sein Vater. „Wart mal, bis du in mein Alter kommst.“ Tobias schloss die Augen und rieb sich mit Zeigefinger und Daumen die Nasenwurzel. „Könnten wir damit aufhören? Ich bekomme Kopfschmerzen.“
„Ich habe nicht angefangen.“
„Was tust du hier?“, stellte er seinem Sohn als ehrlich gemeinte Frage.
Severus linkes Augenlid begann zu zucken. Mit beiden Händen ergriff er das metallene Ende des Krankenbettes, rüttelte es einmal kurz und sagte zähnefletschend: „Ich ergötze mich an deinem Leid!“
„Pfft“, machte Tobias gelassen. Sein Sohn hatte schon früher einen äußerst schwarzen Humor an den Tag gelegt. „Wenn du schon hier bist, dann mach dich nützlich. Kannst du mein Kopfende höher machen?“

Es fehlte das Wort Bitte, dachte Severus. Er zögerte so lange, dass sein Vater bereits glaubte, er würde ihm den Gefallen nicht erweisen. Völlig unerwartet näherte sich Severus dem Kopfende und suchte nach dem Hebel. Er fand ihn, zog ihn an und stellte das Kopfende höher. Als es einrastete, hörte man das Geräusch von Papier, das auf den Boden fiel.

„Das ist meins“, sagte sein Vater und deutete unters Bett. „Lag unterm Kopfkissen.“

Severus bückte sich und klaubte drei Zeitschriften zusammen, die sich, als er sich aufrichtete und einen Blick darauf warf, als Pornoheftchen entpuppten. Severus rümpfte beim Anblick einer nackten Dame mit bedrohlich wirkendem Vorbau die Nase.

„Widerlich! Bist ganz schön tief gesunken.“
„Leg sie unter mein Kopfkissen, ja?“
„Wissen die Schwestern davon?“
„Ich darf alles lesen, solange sie es beim Bettenmachen nicht sehen müssen“, beteuerte sein Vater gelassen, dem die Angelegenheit überhaupt nicht unangenehm war.

Unachtsam stopfte Severus die Zeitschriften unter das Kopfkissen seines Vaters und gab sich redlich Mühe, bei diesem Vorgang so viele Seiten wie nur möglich zu zerknittern. Kurz schaute er über seine Schulter zum Zimmernachbarn, der während der ganzen Zeit still in seinem Bett lag und bisher kein Wort verloren hatte. Man hörte ihn atmen. Offenbar schlief der Mann – und er musste einen festen Schlaf haben.

„Nun sag schon“, begann sein Vater, „was hat dich hierher verschlagen?“
„Wenn du es unbedingt wissen musst: Ich sollte herkommen und etwas zu unterzeichnen, damit du dein belangloses Testament machen kannst. Ich habe dir damit einen Gefallen erwiesen.“
„Nein, Jungchen, damit hast du dir einen Gefallen erwiesen“, erwiderte sein Vater gelassen.
„Nichts, was du hast, interessiert mich! Glaubst du, ich bin scharf darauf, ein paar schlüpfrige Heftchen mit verklebten Seiten zu erben?“

Severus ging zwei Schritte bis zum Fenster, dann zwei zurück. Er war nicht wütend, aber sehr aufgeregt. Sein Vater allerdings auch. Dessen Angewohnheit, bei Aufregung die Endungen von Wörtern zu verschlucken, war nach all den Jahren noch immer vorhanden. Am liebsten würde er seinen Vater anschreien, ihm Vorwürfe machen, so wie er es sich in all den Jahren in Gedanken ausgemalt hatte. Womit er nicht gerechnet hatte war das bisschen Respekt, dass er vor dem alten Mann hatte. Nur ein kleines bisschen, doch es reichte, um Severus im Zaum zu halten. Des Weiteren wollte er wegen des ruhigen Zimmergenossen nicht lauter werden.

„Da sind deine alten Schulsachen bei“, begann sein Vater, „ein paar Fotoalben, deine Jugendbücher, ein paar Schränke …“
„Spinner’s End steht schon lange nicht mehr“, unterbrach Severus barsch, weil er seinen Vater senil glaubte.
„Ich weiß.“ Tobias nickte und blickte nachdenklich aus dem Fenster, als er sich an diese Information erinnerte. „Das habe ich mitbekommen. Ich war vorher da und habe ’n paar Sachen eingesackt.“
„Wie bitte?“
„Ist alles in ’nem Lagerhaus“, sagte sein Vater. „Ich hab ’n billiges Lagerhaus gemietet und alles untergebracht. Die Kücheneinrichtung, das Hochzeitskleid deiner Mutter, das Geschirr … Das Silberbesteck hab ich allerdings verscherbelt, als ich dringend Kohle brauchte.“
Severus schüttelte den Kopf. „Wann soll das bitte gewesen sein?“
„Och, vor sechs, sieben Jahren war’s. Ich wollte mal nach dem Rechten sehen. ’s war unbewohnt, völlig verwahrlost. Dachte eigentlich, du würdest dort hausen.“ Sein Sohn blickte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Tobias musste lachen. „Glaubst du allen Ernstes, ich war die ganzen Jahre in einem Pflegeheim?“ Weil sein Sohn nichts erwiderte, lachte Tobias noch lauter. „Das hast du wirklich geglaubt? Ich fasse es nicht!“

Sein Vater wollte gar nicht mehr aufhören zu lachen. Severus hatte genug. Mit voller Wucht stieß er gegen das Bett, so dass das Kopfende an die Wand dahinter prallte. Mit öliger Stimme hielt er seinem Vater zumindest das vor, was ihm am meisten auf dem Herzen lag.

„Du hast die ersten siebzehn Jahre meines Lebens ruiniert! Du bist der Grund, warum ich angefangen habe, euch Muggel zu verachten!“ Er hielt ihm nicht vor, dadurch seine ganze Einstellung geändert und einen falschen Pfad eingeschlagen zu haben. Sein Vater blieb still, ließ sich alles durch den Kopf gehen. Die Ruhe, die der alte Mann innehatte, war Severus unheimlich.
„Jetzt wäre wohl der richtige Moment“, sagte sein Vater gemächlich, „mich dafür zu entschuldigen, oder? Du wirst die Entschuldigung aber nicht annehmen, also versuch ich’s erst gar nicht.“
„Ach, jetzt steckst du mir den Schwarzen Peter zu? Du entschuldigst dich und nun bin ich damit an der Reihe, dir zu verzeihen? Du hast Recht: Ich entschuldige dein Verhalten nicht. Du warst ein verdammter Säufer und hast dich einen Dreck um mich geschert!“ Um noch einen oben draufzusetzen und seinen Vater richtig tief zu verletzten, fügte Severus hinzu: „Und um Mutter!“

Ah, der richtige Nerv war getroffen und lag frei, ihn zu quälen, dachte Severus schadenfroh, als sein Vater versuchte, sich im Bett aufzubäumen. Es misslang. Der Mann konnte sich kaum bewegen. Offenbar war nicht nur eine Gesichtshälfte gelähmt, sondern die gesamte Körperhälfte.

„Du verdammter …“, meckerte sein Vater und griff zum nächstbesten Gegenstand, um ihn nach Severus zu werfen. Es war eine Taschentuchpackung, die Severus an der Brust traf und danach lautlos zu Boden fiel. Der alte Mann atmete heftig, war nun endlich wirklich in Rage und achtete nicht mehr auf die Lautstärke. „Ich hab mir auf dem Bau den Rücken kaputt gemacht, um euch beiden ein Leben zu ermöglichen. Den Arsch hab ich mir für euch aufgerissen!“
„Meine Güte“, Severus schnalzte mit der Zunge, „was kann ich von Glück reden, mir nicht deine Gossensprache angewöhnt zu haben. Ein Mitbringsel vom Baugewerbe, wie ich annehme?“
„Du undankbarer …“
Severus ergriff erneut das Metall am Fußende des Bettes und tat das, was sein Vater zuvor nicht geschafft hatte, denn er bäumte sich auf, um so bedrohlich wie nur möglich zu wirken. „Nenne mir einen Grund, warum ich Dankbarkeit zeigen sollte!“

Hörte man da eine Grille zirpen? Sein Vater hatte nichts zu sagen, ganz wie Severus es sich dachte.

„Ich will das nicht“, sagte sein Vater plötzlich erschöpft. „Ich will nicht streiten. Ich wollte dich nicht sehen. Das endet nur böse mit uns.“

Sein Vater seufzte, und es hörte sich an, als würde die Last der gesamten Welt auf seinen Schultern liegen. Severus blieb im Zimmer, auch wenn die beiden einige Minuten lang nicht miteinander sprachen. Das war früher schon oft so gewesen. Man war zu zweit, aber doch stets allein. Nach einer Weile ergriff sein Vater das Wort. Wut war nicht mehr zu hören.

„Weißt du, wie man sich fühlt, wenn die Leute einen auf der Straße anspucken?“ Weil Severus nicht wusste, auf was sein Vater hinaus wollte, blieb er still und hörte sich den Rest an. „Die haben mich nicht akzeptiert.“ Mit einer Hand zeigte er auf Severus. „Deine Leute, meine ich. Haben mir keine Arbeit gegeben, haben lieber über mich gelacht. Deine Mutter wollte wegen dir unbedingt dort leben, nicht in meiner Welt. Das ging nicht lange gut. Ohne Job kein Geld.“
„Ich weiß noch, dass Mutter manchmal gearbeitet hat“, warf Severus ein.
„Sie sollte aber nicht arbeiten! Ich bin der Mann im Haus gewesen. Ich weiß, heute kümmert man sich einen Scheiß drum, aber damals …“ Sein Vater schüttelte den Kopf.

Severus erinnerte sich an Umzüge. In die Magische Welt, zurück in die Muggelwelt, wieder in die Magische und am Ende in die Muggelwelt, bis er sein Leben selbst in die Hand nahm. Kein Wunder, dass er bei diesem Hin und Her als Kind kaum Freundschaften schließen konnte. Zudem war sein Vater jemand gewesen, den man umgangssprachlich als Quartalssäufer bezeichnete.

„Das ist kein Grund gewesen, regelmäßig zur Flasche zu greifen“, hielt Severus ihm vor.
„Hätte ich damals schon gewusst, dass Ärzte das heilen können …“
„Ach, von wegen. Das sagst du jetzt!“
„Nein, ehrlich. Deine Einweisung hat mir das Leben gerettet! Ich hatte da so ein Ding mit der Leber. Die Therapie hat“, sein Vater überlegte, schien sich aber nicht genau zu erinnern, „mehrere Jahre gedauert. Die Leber hat sich erholt. Hatte auch nie ‘nen Rückfall. Hab später in einer Druckerei geackert.“
Severus war perplex. „Du warst bei einer Druckerei angestellt?“
„Sicher! Ich weiß nicht mehr genau … Waren es fünfzehn Jahre? Habe eine ganze Weile da gearbeitet, bis ich den verdammten Schlaganfall hatte. Bin dann erst wieder ins Paulinehaus gekommen. Die Zauberer haben mich hierher verlegt.“ Tobias schaute seinen Sohn schräg an, kniff dabei die Augen zusammen. „Was hast du Bursche eigentlich ausgefressen, dass das Ministerium dich gesucht hat?“
Severus hob eine Augenbraue und stellte sich die Frage, ob sein Vater sich tatsächlich dafür interessierte. Innerlich verneinte er. „Ist eine lange Geschichte.“
„Na ja“, Tobias seufzte, „geht mich ja auch nichts an.“ Beinahe im gleichen Atemzug fragte er: „Mit was hast du so deine Brötchen verdient?“
„Ich war Lehrer.“
„Ach, Gott … Die armen Kinder!“
„Es hat nie Beschwerden über mich gegeben“, behauptete Severus. Es stimmte sogar. Die Schüler waren zu feige gewesen und die Kollegen hatten nie etwas an ihm auszusetzen – zumindest sehr selten.
„Was hast’n unterrichtet?“
„Zaubertränke.“
„Ah!“, machte sein Vater verständnisvoll. „Deine Mutter …“
„Ja, ich weiß. Es war ihr Steckenpferd.“
„Hast du wohl von ihr geerbt. Ich weiß noch, wie ihr am Wochenende immer im Keller gebraut habt.“

Es überraschte Severus, dass sein Vater davon Kenntnis hatte. Früher hatte Severus geglaubt, er müsste den privaten Zaubertrankunterricht vor seinem Vater geheim halten. Offenbar war das nie notwendig gewesen. Je mehr er sich die damaligen Ereignisse in Erinnerung rief, desto bewusster wurde ihm, dass er immer in den Sommerferien mit seiner Mutter gebraut hatte, während sein Vater Überstunden auf dem Bau machte und auch am Wochenende selten Zuhause war.

„Ich habe nie verstanden“, begann sein Vater, „warum deine Mutter dir so früh einen Stab gekauft hat. Mann, damit hast du mir einige Male einen Schrecken eingejagt. Ich wusste nie, was dabei herauskommt, wenn du mit dem Ding herumfuchtelst.“
„Ich habe nicht … gefuchtelt. Ich habe geübt“, verbesserte Severus.
„Aha“, machte sein Vater hämisch. „Wenn die Kloschüssel mich anrülpst bedeutete das, du hast nur geübt? Verstehe …“

Severus drehte sich zum Fenster, weil er schmunzeln musste. Er hatte die Toilettenschüssel mit acht oder neun Jahren tatsächlich einmal so verhext, dass sie gurgelnde Geräusche von sich gab und rülpste.

„Ich erschrak mich fast zu Tode!“, beschwerte sich sein Vater ein bisschen spät.
Severus drehte sich um und zeterte: „Und deswegen musst du mich mit einem Gürtel bewaffnet durchs ganze Haus jagen?“
„Warum regst du dich so auf? Hab dich doch sowieso nie erwischt. ’s war nur Recht, dir mal tüchtig einzuheizen.“

Das entsprach der Wahrheit, das musste Severus zugeben. Prügel gab es nie, weder von der Mutter noch vom Vater. Trotzdem war es ein beängstigendes Gefühl gewesen, vor einer Strafe zu fliehen. Er wusste noch, dass er damals mehr als nur einmal die Beine in die Hände nehmen musste, weil sein wütend schreiender Vater ihm beängstigend dicht auf den Fersen war. Nach der ersten Hetzjagd hatte Severus seine Mutter gebeten, ihm schon frühzeitig das Apparieren beizubringen.

„Dank deiner Sauforgien hast du eine Menge Mobiliar auf dem Gewissen“, warf Severus ihm vor, denn obwohl es keine Prügel gab, musste der Hausrat sehr unter dem alkoholisierten Mann leiden.

Darauf reagierte sein Vater gar nicht, denn er müsste, wenn er nicht lügen wollte, seinem Sohn zustimmen. Wieder trat ein Moment der Stille ein. Obwohl sie sich so viele Jahre nicht gesehen hatten, wusste Severus nicht, über was er sich mit ihm unterhalten konnte. Er wirkte nicht mehr so furchteinflößend wie früher. Severus ließ seinen Blick wandern. Der Mann im Nebenbett schlief noch immer, hatte sich nicht ein bisschen bewegt. Auf dem Nachttisch seines Vaters standen Unmengen von Döschen und Fläschchen. Offenbar die Medikamente, die er nehmen musste. Einige waren aus der Muggelwelt, andere aus der Magischen Welt. Ohne zu fragen näherte sich Severus dem Tisch und nahm nach und nach die Mittel in die Hand, um zu lesen, um was es sich handelte. Eine Menge Schmerzmittel waren darunter, ebenfalls Herztabletten, welche gegen Bluthochdruck, gegen Diabetes und vieles andere.

„Meine Drogen“, erklärte sein Vater scherzhaft. „Und alles umsonst!“

Als Severus eine Pillendose zurück auf den Tisch stellte, stieß er an einen Bilderrahmen, der neben ein paar steril verpackten Binden lag. Er konnte nur das hintere Teil sehen, nicht das Bild. Mit einer Hand deutete sein Vater drauf.

„Sieh’s dir ruhig an.“

Severus nahm den Rahmen und drehte ihn um. Ein unbewegliches Muggel-Farbbild von den Snapes – von allen dreien. Seine Eltern saßen eng beieinander. Beide lächelten. Zu dem Zeitpunkt war Severus wenige Wochen alt und wurde von seinen Eltern in die Kamera gehalten, damit man auch das schlafende Baby sehen konnte, auf das man so stolz war.

„Da warst du noch niedlich“, sagte sein Vater wenig charmant. Severus ließ sich nicht provozieren, sondern stellte das Bild wieder an seinen Platz. „Hast du Familie?“
„Bis auf den alten Taugenichts, der hier vor mir liegt …“
„Ich mein das ernst, Severus. 26 Jahre sind eine lange Zeit. Sag schon, bist du verheiratet?“
„Nein“, erwiderte Severus ehrlich.
„Such dir ’ne Frau“, gab sein Vater ihm als Ratschlag, „du verpasst sonst was.“ Tobias warf einen sehnsüchtigen Blick auf das Foto. „Als ich aus dem Heim raus war, habe ich eine Frau in der Druckerei kennengelernt. Hab acht Jahre mit ihr zusammengelebt.“
Diesmal seufzte Severus, und zwar laut und theatralisch. „Bitte sag jetzt nicht, dass wir an dem Punkt angelangt sind, an welchem du mir mitteilst, dass ich eine Stiefmutter und ein paar Halbgeschwister habe.“
„Ach, i wo! Wo denkst du hin?“ Sein Vater musste einen Moment lang herzlich lachen. Als das Lachen versiegte, gestand er wehmütig: „Es hat schon wehgetan, ein Kind enttäuscht zu haben. Das sollte sich nicht wiederholen.“

Da war ein seltsames Ziehen in Severus’ Brustbereich. Plötzlich konnte er seinem Vater nicht mehr in die Augen blicken. Severus wandte sich vom Bett ab und ging zum Fenster. Der Blick nach draußen wäre schön gewesen, hätte sich Severus darauf konzentrieren können, doch wie blind stand er da und hörte die Worte seines Vaters in Gedanken wieder und wieder.

„Bin ich dran schuld?“, hörte er seinen Vater fragen.
Severus drehte sich um, zog die Augenbrauen zusammen. „An was?“
„Dass du keine Familie hast. Ich will nicht daran schuld sein.“
Severus biss die Zähne zusammen und atmete tief durch. „Ich bin verlobt“, verriet er dem alten Mann, den das eigentlich gar nicht interessieren sollte.
„Oh, das ist gut!“
„Sie ist hier, wartet vor der Tür.“ Kaum hatte er es ausgesprochen, rügte Severus sich innerlich.
Sein Vater klang auf einmal sehr begeistert. „Mensch, worauf wartest du? Hol das Schneckchen rein! Mach schon!“
„Ich weiß nicht, ob ich ihr einen Sexheft lesenden, mürrischen, alten Griesgram antun möchte.“
„Dafür hat sie doch dich“, erlaubte sich sein Vater zu scherzen, „und so ein Heft kann ich dir ausleihen.“

Severus schnaufte, diesmal aus einer unterdrückten Belustigung heraus. Er stemmte die Fäuste in die Seite und schaute seinen Vater mit zusammengekniffenen Augen an. Gerade wollte er ihm mitteilen, dass er sich in Gegenwart seiner Verlobten zu benehmen hatte, da ging die Tür auf und drei Personen traten ein.

„Oh, Sie haben Besuch, Mr. Snape“, sagte der Herr mit grau meliertem Haar. Er reichte Severus die Hand. „Sacerdonus Cox, der Heiler von Mr. Snape und Sie …?“ Mr. Cox betrachtete Severus’ Gesicht und schlussfolgerte richtig: „Sie sind sein Sohn!“
„Korrekt.“
Sein Vater mischte sich ein. „Er is’n bisschen mundfaul, das müssen Sie ihm verzeihen. War wohl der Schock, dass ich noch lebe.“
Mr. Cox lachte, kannte offenbar die rüde Art seines Vaters zu gut. „Ich finde es schön, dass er Sie besucht“, erwiderte der Heiler. An Severus gewandt sagte er: „Ich muss Sie dennoch bitten zu gehen. AVK im 4. Stadium ist kein schöner Anblick.“
„Was?“ Man hörte Severus nicht, weil eine der Damen begann, mit seinem Vater zu sprechen. Tobias schob die Dame zur Seite, um Severus zu sehen.
„Kommst du nochmal? Du muss mir noch dein Mädchen vorstellen!“
„Ich …“
„Mr. Snape“, sagte Mr. Cox zu Severus, „kommen Sie bitte später wieder. Zu dieser Zeit ist immer Visite. Besuch kommt da sehr ungelegen.“
„Komm am Freitagabend“, rief Tobias ihm hinterher, „so gegen 18 Uhr. Da ist die Fleischbeschau vorbei.“

Ohne seinem Vater zu antworten verließ Severus das Zimmer. Er hatte es hinter sich gebracht. Sie hatten sich leibhaftig gegenübergestanden und beide lebten noch. Irgendjemand sprach mit ihm. Er fühlte etwas an seiner Hand.

„Severus?“
Er blinzelte zweimal. „Hermine?“
„Ja, so ist mein Name“, sagte sie langsam, als würde sie mit jemandem sprechen, der gerade einen Klatscher an den Kopf bekommen hatte. „Stehst du unter Drogen?“
Er hatte sich schnell wieder gefasst. „Nein, das ist nur das normale Resultat von einer Unterhaltung mit meinem Vater.“
„Aha …“, machte sie irritiert. „Geht’s dir gut?“
„Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie es mir gerade geht.“ Er versuchte, seine Gefühle zu analysieren, aber er scheiterte. Die Verfassung seines Körpers war hingegen einfacher zu deuten. Sein Magen knurrte. „Ich habe Hunger, das steht fest.“
„Ja, das habe ich gehört. Und ich kann dir nur beipflichten. Allerdings sind wir schon über der Zeit, Severus. Wir wollten längst zurück sein.“
„Wie spät ist es?“
„Halb vier durch.“
Severus nickte. „Die können ruhig mal ein, zwei Stunden ohne Aufsicht arbeiten. Komm“, er nahm ihre Hand, „wir gehen was essen.“

Die beiden entschieden sich für ein Muggel-Restaurant, obwohl es auch in der Winkelgasse einige ausgezeichnete Gaststätten gab. Die erfreuten sich mittlerweile wieder an etwas Kundschaft. Nach dem Aufruhr, von dem man in allen Zeitungen lesen konnte, waren die Leute vorsichtig geworden. An Ollivanders Geschäft hielten vier gewichtige Herren von der Magischen Polizeibrigade Wache, um Präsenz zu zeigen. Gringotts hatte seine eigenen Sicherheitsbeamte: zwei abgerichtete Trolle, die gut vom Eingangsbereich aus zu sehen waren, sich aber nicht nahe genug an der Tür befanden, um Kunden zu vergraulen.

Mit einigen Unterlagen unterm Arm geklemmt fand sich Draco pünktlich in der Winkelgasse ein. Er traf Harry gerade dabei an, wie er einem Herrn, der ein Schild über dem Laden anbrachte, Anweisungen gab.

„Noch weiter nach rechts“, sagte Harry. „Jetzt ist es gerade!“
„Hallo, Harry“, grüßte Draco, der gleich darauf zum Schild schaute, dann wieder zu seinem Klienten. „Hast dich doch für Kinderladen entschieden, ja? Na, ich hoffe, das stiftet keine Verwirrung.“
Harry schüttelte den Kopf. „Ich denke, die Leute werden sich schnell an das Wort und die Bedeutung gewöhnen. Komm doch rein.“

Er hielt für Draco die Tür auf. Einige kindgerechte Möbel waren eingetroffen, die Harry ihm sofort zeigte. Ein paar Zimmer wurden noch renoviert, aber im Großen und Ganzen sah es schon sehr einladend aus.

„Die Küche ist schon fertig! Möchtest du mal sehen?“
Draco ließ sich herumführen, bevor er sein Anliegen auf den Punkt brachte: „Ich haben für heute drei Bewerber eingeladen.“
„Für heute schon?“
„Ja, dein Büro ist doch schon eingerichtet, oder habe ich zu voreilig gehandelt?“
„Nein, ich bin fertig. Ich weiß nur nicht, ob ich das kann. Bewerbungsgespräche führen, meine ich.“
„Na, dafür ist ja der gute Onkel Draco hier“, sagte er mit einem Schmunzeln. „Ich werde mir die Gespräche anhören und dir gern meine Meinung zu den Kandidaten sagen. Ich kenne sie bereits. Zwei Squibs und ein, ähm ... Der ist ein wenig ... Du wirst schon sehen.“

Gegen 16 Uhr kam die erste Dame. Eine Frau Mitte fünfzig. Wie es sich herausstellte, hatte sie in der Muggelwelt bereits in einem Kindergarten als Köchin gearbeitet, aber weil ihr Arbeitgeber aus gesundheitlichen Gründen schließen musste und aufgrund der momentanen Arbeitsmarktlage nichts zu finden war, entschied sich die Dame nach langer Zeit, es wieder in der Magischen Welt zu versuchen. Harry nahm sie mit Kusshand. Selbst Draco hatte nichts gegen die ganzen Zeugnisse und Referenzen einzuwenden.

Die zweite Dame war etwas jünger, hatte keine Erfahrung in einem Kindergarten gesammelt, war dafür aber seit siebzehn Jahren bei einer Zaubererfamilie als Gouvernante angestellt. Da die Kinder nun alle erwachsen waren und keine Nanny mehr benötigten, trennte man sich schweren Herzens von ihr. Auch sie durfte bald einen Vertrag als Erzieherin bei Harry unterschreiben.

Gelangweilt wartete man auf den dritten Bewerber, von dem Draco vorhin nichts weiter erzählen wollte. Der Mann, der für die Raumpflege verantwortlich sein sollte, kam einfach nicht.

„Ich weiß nicht, Harry. Ich glaube, das wird heute nichts mehr.“
„Geben wir ihm noch zehn Minuten, dann ist er eine Stunde überfällig.“

Draco nickte. In den zehn Minuten tat sich ebenfalls nichts, sodass er sich bei Harry für das Fernbleiben seines Klienten entschuldigte und danach den Heimweg antrat.

Von der Winkelgasse aus schaute sich Harry in Ruhe das neue Schild an, dass er heute anbringen ließ. Er ging sogar einige Schritte zurück, um zu sehen, wie es von Weitem aussah. Aufgrund von Wobbels knappem Fremdsprachenunterricht hatte er seinem Kinderladen den Namen „Vinn“ gegeben, was elfisch war und nicht anderes als „Freund“ bedeutete. Harry nickte sich selbst zu. Er war zufrieden mit dem, was er bisher geschafft hatte. Die Anzeigen waren geschaltet, einige schriftliche Anfragen von interessierten Eltern waren schon eingetroffen und es waren Verträge mit Nahrungsmittellieferanten ausgehandelt, die ihm natürlich nur aufgrund seines Namens einen guten Preis machten. Gleich im nächsten Jahr sollte es losgehen, dann würde er den Kindergarten eröffnen. Nur noch einige Angestellte fehlten.

Harry bemerkte, wie jemand an ihm vorbeiging und die zwei Stufen zum Kinderladen hochstolperte. Der große, schlaksige Mann presste die Nase an die Scheibe und schaute hinein. Als er niemanden sah, betätigte er die Klingel. Normalerweise hätte Harry so eine Situation wie diese einfach nur aus der Ferne beobachtet, doch jetzt konnte er das schlecht, denn er war derjenige, der die Tür von innen öffnen müsste. Harry trat von hinten an den Herrn heran und räusperte sich. Erschrocken fuhr der Mann herum. Das Gesicht hatte Harry schon einmal gesehen. Damals, im Fahrenden Ritter.

Shunpikes Gesichtszüge entgleisten, doch dann legte sich ein fieses Grinsen über seine Lippen. Er reichte Harry die Hand und schüttelte sie, doch sein Gruß klang vorwurfsvoll, als er absichtlich sagte: „Hallo, Neville!“ Harry hörte Enttäuschung heraus.
Mit einer Hand kratzte sich Harry verlegen den Nacken. Damals hatte er Stan einen falschen Namen gegeben. „Hallo! Stan Shunpike, richtig?“
„Erinnerst dich sogar an mich, ja? Darf ich mich bestimmt geehrt fühlen. Ich war wenigstens ehrlich zu dir. Deinen Namen habe ich erst später erfahren. Man musste ja nur eine beliebige Zeitung aufschlagen.“
„Hör mal, das tut mir leid. Ich wusste nicht, wo mir der Kopf steht. Wie würdest du dich fühlen, wenn du glaubst, ein Mörder wäre hinter dir her?“ Stan hob und senkte die Schultern, äußerte sich nicht weiter dazu. „Bist du der Bewerber, den mir Mr. Malfoy geschickt hat?“
„Ja, der bin ich.“ Mit einem Male gab Stan ein hicksendes Geräusch von sich. Es roch nach Feuerwhisky.
„Du bist ein wenig spät dran.“
„Tut mir leid, ich konnte nicht früher. Hab meinen Bruder im Knast besucht.“

Freundlicherweise sagte Harry ihm nicht gleich ab, obwohl solche Informationen bei einem Vorstellungsgespräch ein Tabu darstellten. Er gab ihm eine Chance und bat ihn in sein Büro. Als er an Stan vorbeiging, um ebenfalls Platz zu nehmen, glaubte er abermals, Alkohol zu riechen.

„Sag mal, hast du getrunken?“, fragte Harry offen.
„Steh ich hier unter Anklage?“
„Nein, ich frage nur. Ist nicht gerade von Vorteil, mit Kindern arbeiten zu wollen und dabei eine Fahne zu haben.“
„Hey, ich soll hier nur saubermachen. Ich bin ein Meister mit dem Mob! Sozusagen ein Mob-Meister“, lachte er über seinen eigenen Scherz. „Und wischen kann ich mit Alkohol genauso gut wie ohne. Ein Schluck für den Boden zum Desinfizieren und ein Schluck für mich.“

Das Gehörte ließ sich Harry einen Moment lang durch den Kopf gehen. Draco hatte kein Wort über Stan Shunpike verloren. Er war sogar ins Stottern geraten, als es um ihn ging. Jetzt wusste Harry auch, warum.

„Trinkst du oft?“, wollte Harry wissen, ohne dabei vorwurfsvoll zu klingen.
„Muss ich darauf antworten?“
„Nein, aber wenn die Antwort ja wäre, dann würde ich gern wissen, warum?“
„Was?“
„Warum trinkst du? Du scheinst damit ein ernsthaftes Problem zu haben, wenn du selbst schon zu einem Vorstellungsgespräch zu spät kommst und eine Fahne hast.“

Stan blieb einen Moment lang still und überlegte. Er runzelte die Stirn, kratzte sich am Kinn, atmete tief durch und schüttelte irritiert den Kopf.

„Das hat mich echt noch niemand gefragt“, sagte Stan völlig konfus, weil er nicht wusste, wie er antworten sollte.
„Was hat dich noch nie jemand gefragt?“
„Warum ich ... Na ja ...“

Er wich aus, um nicht zugeben zu müssen, dass er tatsächlich ein Alkoholproblem hatte. Vielleicht sah er in Harrys hilfsbereitem Auftreten eine Fangfrage. Stan wollte auf jeden Fall vermeiden, den Grund zu schildern, weshalb er seine letzten beiden Jobs verlor.

„Ich will gar nicht drängen, Stan.“ Harry hielt kurz inne. „Ich darf dich doch Stan nennen?“
„Klar, so heiße ich doch auch.“
„Gut. Ich möchte dir empfehlen, selbst darüber nachzudenken. Du kannst dir vorstellen, dass ich dich unter diesen Umständen nicht einstellen möchte.“
„Meine Arbeit mache ich gut!“
„Und wenn es irgendwann außer Kontrolle gerät?“

Harry konnte sich gar nicht erklären, woher seine Sicherheit bei dem Gespräch kam. Vielleicht weil er in Stan keine Bedrohung sah. Vielleicht aber auch, weil jeder Mensch seine Probleme mit sich herumtrug. Ginny hatte welche und war deshalb bei Dr. Fueller in Behandlung, genauso wie Gregory Goyle. Selbst Harry hatte ein paar Problemchen, auch wenn er nicht dem Alkohol zugeneigt war. Albträume kamen immer wieder. Nicht mehr so häufig wie damals, als Voldemort sie ihm geschickt hatte, aber dann und wann wachte er schweißgebadet auf.

„Wenn du Hilfe brauchst ...?“, bot Harry an. „Es gibt sicher ein paar Einrichtungen, deren Selbsthilfeprogramme du in Anspruch nehmen kannst.“
„Bekomme ich den Job sonst nicht?“
„Ich befürchte nein.“ Weil Stan enttäuscht aussah, wollte Harry sich erklären. „Du riechst nach Alkohol, Stan. Was sollen die Eltern denken? Oder die Kinder? Die Kollegen? Was soll ich als dein Arbeitgeber sagen?“
„Na, dann war's das wohl.“ Stan stand auf. „Auf Wiedersehen, Neville.“
Harry war nicht beleidigt. „Hey, das heißt doch nicht, dass ...“

Schon hatte Stan das Büro verlassen und war auf dem Weg zum Tropfenden Kessel, wo er sicherlich einen Stopp einlegen würde, um seinen Frust über das fehlgeschlagene Bewerbungsgespräch in Alkohol zu ertränken.

Kurze Zeit später klopfte es an der Glastür zum Laden. Harry rechnete damit, dass Stan es sich anders überlegt hatte und wenigstens die angebotene Hilfe annehmen wollte. Er fasste an seine Brusttasche, in der er unter anderem eine Visitenkarte von der Granger Apotheke mit sich führte, aber auch eine von Ginnys Therapeut. Die könnte er Stan in der Hoffnung geben, dass der junge Mann sich einmal einen Ruck geben würde.

Als Harry den Flur betrat und zur Glastür schaute, staunte er nicht schlecht, als ein Kobold davorstand. Harry öffnete ihm die Tür.

„Guten Tag, Sir“, grüßte er das Wesen freundlich wie jeden anderen auch.
„Tag“, erwiderte der Kobold kurz und knapp. „Komme gerade von Gringotts gegenüber und hab gesehen, dass jemand herausgekommen ist. Geöffnet ist aber noch nicht, oder?“
„Nein, erst im nächsten Jahr.“
„Mmmh“, machte der Kobold mit einem kehligen Laut. „Darf ich’s mir mal ansehen?“
„Sicher!“

Harry hatte Muffensausen. Der Mann könnte von der Bank sein und irgendwas überprüfen. Vielleicht die baulichen Veränderungen, vermutete Harry. Zum Glück hatte er schwarz auf weiß, was er ändern durfte.

Ohne zu fragen ging der Kobold die verschiedenen Räume ab, warf sogar einen Blick in die Küche und am Ende in die Toilette.

Der Kobold fand etwas, das er beanstandete. „Die Becken sind viel zu hoch angebracht, finden Sie nicht?“
„Ich, ähm … Die Urinale meinen Sie? Die sind doch für Kinder gerade richtig.“
„Finde ich nicht“, widersprach der Kobold grimmig. „Sie sollten wenigstens eines tiefer setzen.“

Der Kobold war ganz bestimmt von Gringotts geschickt worden, redete Harry sich selbst ein. Er hoffte innig, die würden ihm keine Schwierigkeiten bereiten, also stimmte er einfach zu. Draco hatte ihn vor möglichen Schikanen gewarnt, obwohl Harry das nicht glauben wollte.

„Gut, ich werde das mit dem Herrn besprechen, der morgen wegen der Waschräume kommt. Er wird’s ändern.“ Aufgrund seiner Aussage nickte der Kobold zufrieden. „Ähm, Sir?“
„Mmmh?“
„Wie viel tiefer? Ich meine, so in etwa. Was schlagen Sie vor?“

Mit einem langen, knorrigen Finger zeigte der Kobold die Höhe, bevor er sich umdrehte und die Toilette verließ. Harry zog schnell seinen Stab und hinterließ eine magische Markierung an den Fliesen.

„Sir?“ Der Kobold war auf einmal verschwunden. Harry schaute sich um. Weder im Kinderschlafsaal noch im Speisesaal war der Mann zu sehen. „Sir?“ Er wird wohl gegangen sein, dachte Harry, als er in die Küche marschierte, um noch einige Dinge zu erledigen. „AH!“, erschreckte sich Harry, weil er plötzlich in den Kobold hineinlief. „Meine Güte, ich dachte, Sie wären gegangen.“
„Nein, ich sehe mir nochmal die Küche an.“
„Ja, das sehe ich“, merkte Harry skeptisch an.
„Die Kinder kochen hier aber nicht selbst, oder?“
„Nein, natürlich nicht. Zwei Köchinnen und ein Küchenjunge sorgen für die Mahlzeiten, die frisch zubereitet werden. Die Kinder kommen hier gar nicht erst rein.“
„Was haben Sie auf dem Speiseplan?“

Der Kobold verzog überhaupt keine Miene. Jedenfalls sah es für Harry so aus. Die Kerle machten immer einen grimmigen Eindruck, selbst wenn sie fröhlich waren. Das lag an den eigentümlich geformten Gesichtszügen, mit denen Mutter Natur diese Wesen bedacht hatte.

„Es wird abgewechselt, Sir. Ich kann es jetzt noch nicht genau sagen, denn dazu benötige ich die ausgefüllten Formulare der Eltern, die ihre Kinder hier anmelden.“ Der Kobold drehte sich zu ihm und blickte ihn finster an, womit er Harry zum Weiterreden motivierte. „Allergien und andere Unverträglichkeiten müssen beachtet werden. Außerdem Lieblingsspeisen und dergleichen. Jeder soll mal auf seine Kosten kommen. Ich denke, man wird sich am Ende sowieso auf Spaghetti einigen. Kinder lieben Spaghetti.“
„Mein Sohn hasst das Zeug. Die Dinger sehen aus wie Würmer“, entgegnete der Kobold trocken.
„Was mag denn Ihr Sohn?“
„Schweinekopfsülze, Blutwurst, Lebergerichte, Rinderzunge, Haggis …“
„Tatsächlich?“, unterbrach Harry. „Das ist das erste Kind, von dem ich höre, dass Haggis mag.“ Und all die anderen aufgezählten Gerichte, vervollständigte Harry den Satz in Gedanken. „Wie schon erwähnt, es kommt auf die Einschätzungen der Eltern ein. Natürlich richten wir uns danach, was die Kinder mögen. Ich dachte daran, dass man täglich zwischen zwei verschiedenen Mahlzeiten wählen kann.“
„Wie läuft das mit der Anmeldung ab?“, fragte der Kobold.
„Das zeige ich Ihnen, ist sehr einfach. Wenn Sie mir folgen möchten?“

Im Büro schaute sich der Kobold die viel zu hohen Sitzgelegenheiten für Besucher an. Harry spielte bereits mit dem Gedanken, diesem Herrn einen der Kinderstühle zu holen, die gerade gekommen waren. Die Größe müsste stimmen. Um nicht unverschämt zu wirken, setzte sich Harry ebenfalls nicht. Aus einem Fach zog er ein mehrseitiges Formular, dass er zusammen mit Dracos Hilfe erstellt hatte und reichte es dem Kobold.

„Können Sie gern mitnehmen und sich in Ruhe ansehen, Sir.“
Eine buschige Augenbraue wanderte nach oben, als der Kobold das Formular annahm. „Darf ich es auch ausgefüllt zurückschicken oder werde ich von vornherein eine Ablehnung erhalten?“
Jetzt erst begriff Harry. „Sie möchten Ihr Kind hier anmelden? Hier bei mir?“ Er hatte mit Squibs gerechnet, mit Muggeln, mit Hexen und Zauberern, aber nicht mit Kobolden.
„Habe ich mich so missverständlich ausgedrückt?“
„Nein, Sir.“ Harry ging ein Licht auf. „Jetzt verstehe ich auch das mit der Toilette.“
„Auf dem Schild draußen steht Kinderladen. Ich ging davon aus, dass alle Kinder gemeint sind, unabhängig von der Spezies“, vermutete der Kobold laut.
„Sie haben Recht, genau so ist das auch. Wir bei Vinn machen keinen Unterschied.“
Der Kobold nickte bewundernd. „Das ist der nächste Punkt, der mich angesprochen hat: die Elfensprache. Oder war das nur ein dummer Zufall, als Sie sich einen Namen ausgesucht haben?“
„Nein, das hat mir mein Freund beigebracht, der ist nämlich ein Elf.“
„Ihr Freund?“, wiederholte der Kobold skeptisch.
„Ja, mein Freund. Mir hat das Wort so gut gefallen …“, begann Harry zu schwärmen.
„Ja, ja“, fuhr ihm der Kobold über den Mund. Er schaute auf seine goldene Taschenuhr. „Ich muss mich verabschieden. Danke für die kleine Führung.“

Innerlich wusste Harry, dass er einen sehr guten Eindruck hinterlassen hatte – er persönlich wie auch sein Kinderladen – und das ließ sein Selbstbewusstsein wachsen. Er fragte sich nur, wann die ersten Journalisten ihm auf der Lauer liegen würden. Vielleicht sollte er Luna die Exklusivrechte verkaufen. Harry schloss seinen Laden und ging zum Tropfenden Kessel, um vor dort nachhause zu flohen. Der Kamin im Kinderladen war noch nicht am Flohnetz angeschlossen.

Als Harry ins Wohnzimmer trat, versteinerte er sofort. Grund dafür war Ginny, die mit zittriger Hand einen Brief hielt und las, während die andere Hand Tränen von ihren leicht geröteten Wangen wischte.

„Ginny? Was ist los?“ Sofort war er bei ihr. Auf dem Schreiben erkannte er das Logo von Eintracht Pfützensee. „Endlich ist er gekommen!“ Der Brief wurde schon lange sehnlichst erwartet. Harry vermutete Freudentränen und war plötzlich nicht mehr besorgt. „Na, wann darfst du anfangen?“
„Das ist eine Absage, Harry“, schniefte sie, doch sie lächelte dabei.
„Eine Absage? Sind die bescheuert?“
„Sie haben geschrieben, sie würden mich sehr gern unter Vertrag nehmen und ich soll mich in eineinhalb Jahren noch einmal vorstellen.“
Ratlos schüttelte Harry den Kopf. „Warum denn das?“
„Ich bin durch den Gesundheitscheck gefallen.“
„Der Gesundheitscheck?“ Eiskalt lief es ihm den Rücken hinunter. „Ginny ...“ Die Sorge war so schnell zurückgekommen, wie sie vorhin verschwunden war. „Hast du was? Bist du krank?“
„Nein.“
Zu weinen und gleichzeitig zu lächeln sah seltsam aus, dachte Harry, aber viel mehr Gedanken machte er sich wegen der Absage. „Wenn du nicht krank bist, du aber durch den Check gefallen bist ...?“
Sie zog die Nase hoch und lächelte ihn milde an. „Ich bin schwanger, Harry.“ Wieder begann sie zu lachen und gleichzeitig liefen neue Tränen über ihre Wangen.
„Wie bitte? Wie ist das möglich?“ Bevor sie glaubte, er hätte einen Aufklärungsunterricht nötig, verbesserte er: „Ich meine, wir haben doch immer aufgepasst und abwechselnd unsere Tränke genommen.“
„Nicht immer, Harry“, musste sie ihm wiedersprechen. Sie schaute noch einmal auf den Brief. „Nach deren Berechnung“, sie zog die Nase hoch, „müssen wir ihn, wenn es ein Junge wird, wohl oder übel Ronald Bilius nennen.“

Es benötigte seine Zeit, bis der Knut gefallen war, aber dann verstand Harry. Trotzdem konnte er es nicht fassen.

„Ist nicht wahr! Das kleine Techtelmechtel auf unserer Hochzeit?“
„Ja, das kleine Techtelmechtel. Oh, Harry ...!“

Sie fiel ihm um den Hals und ließ sich von ihm drücken. Erst jetzt, als er ihr über den Rücken strich und seine grauen Zellen die Neuigkeit verarbeiten, wurde ihm die Gesamtsituation langsam bewusst.

„Du bist schwanger“, wiederholte er. Jetzt wusste er, warum Ginny lachte und gleichzeitig weinte. Er fühlte sich ähnlich übermannt von der Freude, die in ihm aufstieg. „Ich werde Vater!“ Diesmal drückte sie ihn. Er fühlte, wie sie nickte. Harrys Grinsen wurde immer breiter. „Ich!“, sagte er stolz. „Ich werde Papa!“

Am Bein spürte er eine kleine Hand. Er ließ Ginny langsam los und blickte nach unten. Verwirrte Kinderaugen blickten nach oben zu den Eltern. Das Verhalten der beiden war für den Kleinen fremd und beängstigend. Harry nahm ihn auf den Arm.

„Du bekommst ein Geschwisterchen, Nicholas. Endlich jemand, mit dem du jederzeit spielen kannst. Und jemand, auf den du aufpassen darfst, wenn du größer bist.“

Nicholas hörte seinem Vater zwar aufmerksam zu, beobachtete dabei dessen Lippen, aber noch konnte er die Freude nicht teilen. Er wusste nicht, um was es ging. Ginny hatte sich einigermaßen beruhigt. Dennoch konnte man ihr ansehen, dass sie am liebsten sofort zum Kamin eilen wollte, um nacheinander jedem Bescheid zu geben. Ihr entwich ein Seufzer.

„Das wirft komplett meine Pläne durcheinander“, beschwerte sie sich nur halbherzig. „Ich wollte doch Quidditch spielen.“
„Ich würde dir die Arbeit ja gern abnehmen, aber Kinder können wir Männer nicht bekommen. Dafür verspreche ich dir, dass ich dich in eineinhalb Jahren voll und ganz unterstütze. Ich kümmere mich um die beiden und du gewinnst gefälligst jedes Spiel.“ Er zwinkerte ihr zu. „Es passt doch alles wunderbar! Entweder nehme ich die beiden mit in den Kindergarten oder Wobbel ...“
Der Elf erschien auf der Stelle. „Sie haben gerufen, Sir?“
„Nein, aber gut, dass du da bist. Wir haben nämlich eine Neuigkeit mitzuteilen und da du und Shibby ...“
Wobbels Frau erschien auf gleiche Weise wie ihr Gatte. „Mr. Potter hat nach Shibby verlangt?“
„Da der engere Kreis unserer kleinen Familie nun beisammen ist ...“ Er schaute zu Ginny. „Möchtest du?“
Sie nickte, sah dabei überglücklich aus, trotz der feuchten Augen und roten Wangen. Sie ging in die Knie, damit sie mit den Elfen auf Augenhöhe war, bevor sie die frohe Botschaft verkündete. „Harry und ich bekommen ein Baby.“
„Nein, wirklich?“ Wobbel machte ganz große Augen und blickte einmal zu Harry hinüber, der ihm bestätigend zunickte. „Das ist wundervoll, Mrs. Potter. Ganz wundervoll.“ Wobbel schaute zu Shibby hinüber und hielt einen Moment lang Augenkontakt. Beide Elfen freuten sich, denn ein weiteres Kind bedeutete endlich mehr Arbeit.
Ginny setzte sich auf die Couch, atmete tief durch, ein und aus. Ihr Herz raste. „Ich muss das erst einmal verdauen. Das kam doch ein wenig plötzlich“, gestand sie Harry. „Diesmal habe ich überhaupt nichts gemerkt. Keine Übelkeit, kein Ziehen – absolut nichts! Bei Nicholas war das völlig anders.“
„Warte mal“, sagte Harry und setzte sich neben sie. Seine Stirn schlug Falten, als er nachdachte. „Wir haben Ende Juni“, er räusperte sich, „geheiratet. Jetzt haben wir Oktober. Mensch, dann ist das ja gar nicht mehr so lange hin.“
„Stimmt. Ich bin froh, dass wir soweit schon alles geregelt haben. Wir haben eine Bleibe, du eröffnest nächstes Jahr deinen Kinderladen. Eines sage ich dir, Harry: Sobald ich mit dem Stillen aufgehört habe, werde ich nochmal bei Eintracht Pfützensee anklopfen.“
Gut gelaunt nahm Harry ihre Hand und stimmte ihr zu. „Ja, mach das! Ich kümmere mich um die Kinder.“ Man hörte ein lautes Räuspern von Wobbel, sodass Harry sich genötigt fühlte hinzuzufügen: „Wobbel und Shibby werden mich natürlich tatkräftig unterstützen.“
„Trotzdem kommt das so überraschend.“ Ginny nahm nochmals den Brief in die Hand. „Ich werde vorsichtshalber noch einen Test machen lassen. Wer weiß ... Nicht dass die versehentlich mein Blut vertauscht haben. Soll ja alles schon einmal vorgekommen sein.“
„Frag doch Hermine. In der Apotheke führen sie bestimmt auch Schwangerschaftstests durch. Oder ich kauf dir so ein Stäbchen aus der Muggelwelt. Die Tests sind schnell und gut.“
„Soll ich Ma schon was sagen oder damit lieber warten, falls es doch nichts ist?“
„Das kann ich dir nicht vorschreiben. Mach es so, wie du dich dabei am wohlsten fühlst.“
„Dann sagen wir es erst einmal niemandem“, schlug Ginny vor. „Ich möchte einfach nicht, dass ein zweiter Test doch negativ endet und ich mich allen erklären muss. Ach, Harry ...“ Nochmals seufzte sie, doch diesmal klang sie müde. „Ich bin völlig erschlagen.“
„Darf Shibby Mrs. Potter etwas zu essen bringen? Oder einen Tee?“
„Nein, Shibby, aber danke für das Angebot.“

Die Elfen verschwanden wieder und ließen das Ehepaar allein. Nicholas lag auf den Beinen seiner Eltern, der Kopf auf Ginnys Schoß, die Beine bei Harry. So bequem, wie er es hatte, war er schnell eingeschlafen, während seine Eltern sich gemütlich aneinanderkuschelten und jeder für sich die Zukunft weiterträumte. Harrys Blick fiel auf ihren Bauch.

„Man sieht gar nichts.“ Vorsichtig legte er eine Hand auf ihren Bauch, um Nicholas nicht zu wecken.
„Als ich mit ihm schwanger war“, Ginny strich dem Jungen übers schwarze Haar, „hat man erst Mitte des fünften Monats was gesehen. Ich hätte es doch gemerkt, wenn mir in letzter Zeit meine Hosen nicht mehr gepasst hätten, aber das war nicht der Fall. Ich hab wirklich nichts gemerkt.“
„Und deine Tage?“
„Ist nur etwas weniger gewesen, waren kürzer als sonst. Ich dachte, das hängt vielleicht mit dem Stress zusammen, den der Umzug mit sich bringt.“ Auf ihre Ängste, wegen denen sie noch in Behandlung war, kam sie nicht zu sprechen, denn Stress, in welcher Form auch immer, konnte Auswirkungen auf den weiblichen Zyklus haben.
„Ist das normal?“
„Es kann passieren. Bei Percy war’s wohl auch so. Der hat sich lange nicht bemerkbar gemacht. Bei Fred und George hat sie es gemerkt, weil sie Appetit auf Saures bekam. Bei Ron war ihr nach Süßigkeiten.“
„Vielleicht ist er deswegen so ein Süßschnabel geworden?“, scherzte Harry.
Sie lachte leise. „Damit könntest du sogar Recht haben.“

Ihr erstes Kind mit Harry zusammen. Weil Harry längst für Nicholas in die Vaterrolle geschlüpft war, gab es in dieser Hinsicht keinen Unterschied. Sie waren bereits eine richtige, kleine Familie und jetzt bekamen sie Zuwachs. Ginny rieb sich den Bauch.

Ebenfalls den Bauch rieb sich Severus, sogar beinahe zur gleichen Zeit, doch er saß in einem Restaurant. Im Gegensatz zu Ginny erwartete er natürlich keinen Nachwuchs. Das war nicht möglich, obwohl einige zwielichtige Zauberer behaupteten, es gäbe selbst dafür Mittel und Wege, aber das wäre eine andere Geschichte. Severus rieb sich den Bauch, weil er unter Magenschmerzen litt. Das Gespräch mit seinem Vater hatte ihn sehr mitgenommen. Von seinem Cordon Bleu schaffte er weniger als die Hälfte, weil jeder Happen wie ein Stein im Magen lag. Den Salat vertrug er besser.

„Du kannst doch heute freimachen, Severus.“ Galant schnappe sich Hermine das Fleisch von seinem Teller, denn sie hatte im Gegensatz zu ihm noch immer Appetit. „Wird dir keiner übel nehmen.“
„Nein, ich habe meinem Schüler gegenüber Verpflichtungen.“
„Ach, Schnickschnack! Dein Schüler hat in einer Woche mehr gelernt als andere Leute in ihrem ganzen Leben. Es schadete nicht, wenn er einen oder zwei Tage lang alltägliche Dinge braut. Ignatius und ich werden schon auf ihn acht geben.“
Er stutzte. „Ihr sprecht euch mit Vornamen an?“
„Wir duzen uns sogar“, bestätigte sie. „Weißt du, was Ignatius heißt?“
„Es ist lateinisch und bedeutet der Feurige.“
„Richtig, ist doch ein komischer Zufall, oder? Ich meine, wenn du dir in unserem Bekanntenkreis mal die Namen und ihre Bedeutungen genauer ansiehst und dazu das Schicksal der Personen unter die Lupe nim…“
„Willst du damit eine Andeutung auf meinen Namen machen?“
„Nein, überhaupt nicht.“ Sie grinste keck.
„Das mit den Namen ist nur Zufall. Wenn du dir mal bitte Lucius vor Augen halten würdest …“
„Wieso? Was heißt Lucius?“
„Was denn? Ich weiß etwas, das du nicht weißt? Das gefällt mir.“ Den Schmollmund gegenüber betrachtete er nicht zu lange, sonst würde er Lust auf andere Dinge bekommen als auf Tränkebrauen. „Lucius bedeutet der Leuchtende oder der im Licht Glänzende. Passt nicht ganz zu seinem Charakter, oder?“
„Ich hätte eher getippt auf: der mit gespaltener Zunge spricht. Das hätte gepasst.“
„Du tust ihm Unrecht.“
„Nein, ich glaube, ich kann den Mann ganz gut einschätzen. Du kommst nur mit ihm klar, weil ihr euch schon so lange kennt. Aber zurück zu den Namen.“ Wenn Hermine Gefallen an einem Thema fand, war sie nicht zu stoppen. „Nimm doch einfach mal Harry – kommt von Henry, kommt von Heinrich, kommt von Heimerich und bedeutet …?“ Er zuckte mit den Schultern, sodass sie die Antwort gab. „Mächtig!“
„Tobias bedeutet gütig“, konterte er.

Damit glaubte er, ihre Theorie, die Namensgebung hätte Einfluss auf das Schicksal der Kinder, endgültig widerlegt zu haben. Aufgrund seines Gegenbeispiels war er mit seinen Gedanken auf einmal ganz woanders.

Bevor Hermine wieder mit Bedeutungen von Vornamen beginnen würde, fragte er geradeheraus: „Was für ein Gebrechen verbirgt sich hinter AVK?“
Hermine führte gerade einen Happen zum Mund, doch mittendrin fror die Bewegung ein, weil sie nachdachte. Die Antwort war in ihrem Gedächtnis schnell gefunden: „Arterielle Verschlusskrankheit. Warum?“
„Was beinhaltet das vierte Stadium?“
„Warum willst du das …?“ Sein Blick forderte die Antwort und verbat sich Gegenfragen. Hermine presste die Lippen zusammen und ging abermals in sich. „Es kommt drauf an, wo das Problem sitzt. Um was geht es hier? Leidet dein Vater daran?“
„Ich weiß es nicht. Der Heiler könnte auch den Herrn im Nebenbett gemeint haben. Er sagte, AVK im vierten Stadium wäre kein schöner Anblick.“
Ihr Essen schob Hermine von sich. Bei diesem Thema war ihr der Appetit vergangen. „Wenn es an den Beinen auftritt, was am häufigsten vorkommt … Das vierte Stadium ist das letzte, Severus.“ Sie blieb sachlich, aber er hörte das Mitleid in ihrer Stimme, als sie erklärte: „Nekrose. Das Gewebe stirbt ab, verfärbt sich schwarz. Die betroffene Körperstelle verwest.“ Sie atmete einmal tief durch. „Im Volksmund wird es Raucherbein genannt, was nicht heißt, dass jeder Raucher daran erkranken muss oder jeder, der daran erkrankt ist, geraucht hat.“
Severus schluckte kräftig. „Was kann AVK noch mit sich bringen?“
„Auf was möchtest du hinaus, Severus? Rede einfach ganz offen mit mir.“
„Er ist einseitig gelähmt, hatte einen Schlaganfall.“
Hermine nickte. „Das kann davon kommen, ja. Schlaganfall, Herzinfarkt.“
„Auf seinem Tisch habe ich starke Medikamente gegen Bluthochdruck gesehen, und viele Mittel gegen Schmerzen. Offenbar ist er zu allem Übel auch noch Diabetiker.“
„Das passt alles ins gleiche Krankheitsbild.“

Für einen Augenblick verstummte Severus. Er schaffte es nicht, einen klaren Kopf zu bekommen. Seine Gedanken waren schlapp und willenlos. Mit einem momentan so untauglichen Geist war er nicht in der Lage, Tränke zu brauen, bei denen man achtsam vorgehen musste. Hermines Angebot, heute und vielleicht sogar morgen dem Labor fernzubleiben, wurde immer sympathischer.

„Er möchte dich kennenlernen“, sagte Severus völlig unerwartet.
„Mich?“
„Ja, aber ich muss dich warnen. Er ist ein einfacher Mann, benutzt einfache Worte.“ Severus schnaufte amüsiert. „Es sei denn, er flucht. In dieser Hinsicht ist sein Wortschatz äußerst umfangreich.“
„Wie hat er sich denn dir gegenüber verhalten?“
„Wie immer, würde ich sagen. Launisch, ein wenig aggressiv.“ Er verbesserte. „Nein, nicht aggressiv. Zänkisch und provozierend passt viel besser.“
Hermine nickte nachdenklich. „Und wie warst du?“

Die erhobenen Stimmen hatte sie vorhin wahrgenommen. Der Streit war nicht zu überhören, wenn man auch nicht verstehen konnte, um was es ging. Einige Male war es laut geworden. Hermine hatte mit sich kämpfen müssen, nicht hineinzustürmen und für Ruhe zu sorgen.

„Ich gebe es ungern zu“, begann Severus leise, „aber ich war genau wie er.“
Sie kommentierte seine Feststellung nicht. „Wann möchtest du ihn das nächste Mal besuchen?“
„Am Freitag, 18 Uhr.“
Sie zückte ihr Portmonee und winkte einen Kellner heran. Bevor der kam, sagte sie zu Severus: „Ich komme Freitag mit.“
„Wenn er unter die Gürtellinie gehen sollte oder anzüglich wird, ignoriere ihn einfach.“
„Hey, ich schaffe das schon. Du kennst ihn zwar noch nicht, meinen Onkel Eddie, aber ich glaube, in Sachen Peinlichkeit ist der nur schwer zu überbieten.“

Viele Kilometer entfernt von dem Restaurant, in dem Severus und Hermine gemeinsam eine warme Mahlzeit eingenommen hatten, dachte Draco genau das Gleiche wie Hermine, als er Stan Shunpikes Akte durchging. Der Mann war seiner Meinung nach in Sachen Peinlichkeit nicht zu überbieten, aber auch Draco kannte Hermines Onkel nicht.

Das erste Mal nach diesem Sommer hatte Draco den Kamin in seinem Büro angezündet. Die Akte Shunpike legte er weit weg. Zum Glück war der Mann nicht gekommen, dachte Draco. Harry würde sonst sicherlich schlecht von ihm denken oder seine Fähigkeiten als Vermittler infrage stellen. Weg mit der Akte und her mit dem Tagesprophet, zu dem er heute noch gar nicht gekommen war. Die Schlagzeile war uninteressant. Draco kannte nicht mal die Namen der Leute, die dort irgendwelcher Verbrechen angeklagt wurden. Die ersten Seiten waren so schnell durchgeblättert, dass Draco ernsthaft überlegte, das Abonnement zu kündigen und auf eine Alternative zurückzugreifen. Die Morgeneule und die Muggelpost stellten mittlerweile angemessene Konkurrenten für den Tagesprophet dar. Auf Seite sieben fand sich endlich etwas Interessantes. Sogar etwas sehr Interessantes, denn er kannte die Leute auf dem Bild.

„Ist nicht wahr!“, staunte Draco laut. Ein alter Schulkamerad lächelte ihn breit an. Trotz des Bartes war Blaise gut zu erkennen. Neben ihm stand eine Frau, die so bildhübsch war, dass es ihm glatt die Sprache verschlug. Eine ganze Seite widmete man dem Einzelschicksal von Blaise Z., wie er in der Bildunterschrift genannt wurde, der nach dem Krieg endlich wieder mit seiner Mutter zusammengeführt werden konnte. Mrs. Z. war eine der 142 Flüchtlinge gewesen, die von dem neuen Spezialteam des Ministeriums kürzlich gefundenen wurden. Auf dem Foto sah Blaise überglücklich aus, und Draco konnte es ihm nachfühlen. Ohne Umschweife musste er an den Abend denken, an welchem er mit Harry zusammen über die Ländereien von Hogwarts schlenderte und dank der seltsamen Gabe seines neu gefundenen Freundes auf das Versteck seiner Mutter traf. Seine Eltern waren auch für ihn immer das Wichtigste gewesen. Draco freute sich für Blaise und nahm sich vor, ihm nachher einen Brief zu schreiben. Als Draco den Artikel zu Ende gelesen hatte, bemerkte er darunter das Kürzel des Journalisten. Luna hatte diesen Beitrag verfasst. Ihre Wortwahl war sachlicher, treffender und stellenweise rührender als die von Kimmkorn. Nochmals betrachtete Draco das Bild. Als Reflexion in einem Spiegel sah er eine Gestalt, die nur verschwommen zu erkennen war. Draco wusste dennoch, um wen es sich handelte. Gregory Goyle. Er hatte, was seine Eltern betraf, ein unglücklicheres Los gezogen. Der Vater war tot, die Mutter weiterhin vermisst, obwohl es wahrscheinlicher war, dass sie ein Opfer von Hopkins war, denn man hatte ihren Zauberstab bei ihm gefunden. Vielleicht sollte er auch ihm schreiben, überlegte Draco, als es plötzlich an der Tür zum Büro klopfte.

„Herein!“
Sein Vater trat ein. Er hielt Papiere in der Hand. „Draco, ich hoffe, ich störe nicht.“
„Nein, keineswegs. Komm ruhig her und setz dich.“ Es war ihm unangenehm, dass sein Vater sich in dessen ehemaligem Büro wie ein Kunde zu fühlen schien. Draco blickte auf die Papiere. „Kann ich dir bei irgendwas helfen?“
„Jawohl, das kannst du. Wie du weißt, wurde mir bereits zweimal ein Hauself verweigert. Ich möchte, dass entweder du einen beantragst oder dass du dafür sorgst, dass mein Antrag endlich Gehör findet.“
„Da lässt sich bestimmt was machen.“ Mit ein wenig Speichellecken bei Dean Thomas. „Zeig mal her.“

Draco nahm die Papiere und las die bereits von seinem Vater ausgefüllten Felder. Er wollte einen Elf beantragen, der in den üblichen Haushältertätigkeiten geschult war, darüber hinaus Erfahrung mit Kindern hatte, gut kochen konnte und auch in Bezug auf die Pflege älterer Menschen Kenntnisse mitbrachte. Nur eine Sache stimmte nicht.

„Das ist ein altes Formular, Vater. Mit den neuen Gesetzen sind am 1. September neue Formulare herausgekommen.“ Draco legte die Papiere auf seinen Tisch, ging an einen Schrank und holte die neue Variante heraus, die Susan ihm freundlicherweise von der Arbeit mitgebracht hatte. Er reichte sie seinem Vater. Der überflog die ersten Felder und verzog das Gesicht.
„Was soll das heißen?“ Mit einem Zeigefinger fuhr er auf dem Blatt entlang, als er vorlas: „Ich verpflichte mich, meinem Hauself eine Räumlichkeit von mindestens zwölf Quadratmetern zur Verfügung zu stellen, die beheizbar ist, problemlos gelüftet werden kann und eine standardisierte Möblierung enthält.“ Es las das Kleingedruckte. „Eine Fußnote verweist auf Punkt 1 und dort steht: ein sauberes Bett bestehend aus Bettgestell, Matratze, Kopfkissen und Bettdecke; eine funktionstüchtige Kommode mit mindestens …“ Lucius schüttelte perplex den Kopf. „Was ist das für ein Humbug?“
„Das ist die neue Erziehungsmaßnahme für erwachsene Zauberer und Hexen“, umschrieb Draco die penibel aufgezählten Bedingungen, die gefordert wurden, um einen Hauself bewilligt zu bekommen. „Ich hab es mir genau durchgelesen.“ Draco kürzte den Inhalt des Formulars für seinen Vater ab. „Es ist wie bei einer Gouvernante oder eine Haushälterin. Der Hauself bekommt ein möbliertes Zimmer und drei Mahlzeiten am Tag. Die Arbeitszeit darf 18 Stunden täglich nicht überschreiten. Alle zwei Wochen muss ein Ruhetag sowie einmal im Jahr sieben Tage am Stück ein Urlaub genehmigt werden. Bestrafungen jeglicher Art sind verboten. Außerdem wird der Besitzer dazu verpflichtet, dem Elf Arbeitskleidung zur Verfügung zu stellen.“
„Kleidung?“
„Unter anderem aus hygienischen Gründen und zur Prophylaxe von Krankheiten.“
„Die verlangen von einem, dass man einen Hauself hier wohnen lässt, als würde er zur Familie gehören?“
„Vater!“ Draco stützte sich mit den Ellenbogen auf dem Schreibtisch ab und beugte sich nach vorn, damit er gut zu hören war. „Ein Elf ist ein Teil der Familie.“ Draco legte eine kurze Pause ein, damit die Worte ihre Wirkung nicht verfehlten. „Das ist der Sinn dieser neuen Gesetze! Das, was zwischen Mensch und Elf abläuft, könnte man auch als Symbiose bezeichnen. Harry“, bei dem Namen rümpfte sein Vater die Nase, „ist ein Paradebeispiel. Hast du mal miterlebt, wie vorbildlich er mit seinem Elf umgeht? Und das ganz ohne Vorschriften. Er macht es von sich aus. Das Interessante ist aber, dass sein Elf ihm dafür freiwillig etwas zurückgibt.“
„Ach, Unfug!“, sagte sein Vater verständnislos. „Was sollte so ein Elf haben, das für Zauberer unseres Kalibers von Interesse wäre?“
Draco zog beide Augenbrauen in die Höhe. „Harry bekommt Unterricht in stabloser Magie und es ist – wie er mir neulich erzählte – äußerst effektiv.“
„Stablose M…“ Lucius’ Lippen blieben geschlossen.
„Jeder kennt ein paar Zaubersprüche, die er stablos beherrscht, aber niemand kann durchweg mit den Händen zaubern. Das können nur Kobolde und“, Draco legte den Kopf schräg, „Hauselfen. Verstehst du nicht, was sich da für Möglichkeiten auftun? Charles könnte eine Menge lernen, noch bevor ich ihm seinen ersten Stab kaufe.“
„Na ja … Vom Diener zum Lehrer? Ist der Sprung nicht ein wenig gewagt?“
„Wir werden sehen. Aber Harrys Umgang mit seinem Elf zeigt, wie es in allen Haushalten ablaufen könnte. Friedlich, effektiv und vor allem auch produktiv.“ Sein Vater schien nicht sehr überzeugt, weshalb Draco betrübt seufzte und diesmal einfach nur versuchte, seinem Vater den richtigen Umgang mit Elfen zu vermitteln. „Behandle ihn einfach so freundlich wie jeden anderen auch. Vor allem“, Draco wurde leiser, „schlag ihn nicht. Ich will nicht, dass Charles so etwas sieht.“
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
~ Muggelchen.net ~

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