Harry Potter und die Schatten der Vergangenheit - BEENDET

Hier könnt ihr eure Fanfictions und Gedichte zu Harry und seiner Welt vorstellen.

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Muggelchen
EuleEule
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Beitrag von Muggelchen »

Rest von Kapitel 217

Auf einer der vielen Terrassen betrachtete Alastor das vor ihm schwebende Glas mit großer Skepsis. Albus, der gerade ein Schwätzchen mit seinem alten Freund gehalten hatte, hielt seines bereits in der Hand.

„Möchtest du es nicht nehmen?“, fragte Albus mit ruhiger Stimme.
„Ich will erst hören, was der Junge zu sagen hat.“ So lauschten beide der Stimme des Bräutigams.

„Wir haben eine Menge Verluste hinnehmen müssen.“ Ein Erinnerungsfetzen an Amos Diggory ging ihm durch den Kopf, wie der vor langer Zeit um seinen Sohn trauern mussten. „Wir haben uns gewehrt.“ Die Presse. Umbridge und Fudge. Aufruhr in der Schule. „Wir haben uns verbündet und gekämpft!“ Dumbledores Armee, der Phönixorden. Zusammenhalt für die gleiche Sache. Harry ließ seinen Blick über die ernsten Mienen seiner Freunde schweifen, die ihm an den Lippen hingen. „Viele mussten büßen.“ Zwölf Jahre Askaban für Sirius und sechs weitere Jahre in einer Welt zwischen Leben und Tod gefangen. „Jeder auf seine Weise.“ Harry schaute zum Tisch und bemerkte, dass Severus ihm in die Augen sah, weil er sich angesprochen fühlte. Severus, der nur eine einzige Möglichkeit gesehen hatte, Voldemort über viele Jahre erfolgreich täuschen zu können und fast alles von sich gab, um diese wichtige Rolle im Krieg ohne Unterbrechung spielen zu können. „Ich will die Stimmung dieses großartigen Tages nicht trüben und deshalb möchte ich mit Ihnen anstoßen. Erheben wir unsere Gläser gegen die verlorenen Jahre.“ Für die, die ihn sehen konnte, hob er das Glas, um still zuzuprosten. Den anderen Gästen sagte er, wann es Zeit war, einen Schluck zu trinken. Den Zauberstab noch immer an den Hals haltend sagte Harry mit einer schwer zu deutenden Betonung: „Zum Wohl!“ Das letzte Wort hatte er mit Bedacht gesprochen, fast unmerklich in die Länge gezogen, was bei einem einsilbigen Wort schon eine Meisterleistung war.

Von überallher hörte man das Geräusch klirrender Gläser, als die Gäste mit ihrem Gegenüber anstießen. Die meisten tranken bereits.

Nur eine Dame starrte auf ihr Glas, hatte noch nicht einmal daran genippt. Sie schien wie versteinert.

„Hermine?“ Mit scheuem Blick schaute sie zu Severus, der ihr mit ruhiger Stimme riet: „Trink.“ Ihr Innerstes sträubte sich dagegen. Wieder besah sie sich ihr Glas, in dem lebhaft feine Bläschen aufstiegen. Plötzlich tauchte in ihrem Blickfeld ein weiteres Glas auf, das mit ihrem anstieß. Severus nahm, von allen ungesehen, unter dem Tisch ihre Hand. „Zum Wohl!“ Sie seufzte und fragte sich, ob das richtig wäre. Ihre Gedanken schien er zu erahnen, denn er brachte es auf den Punkt: „Das ist ein Geschenk von deinem besten Freund.“

Severus trank ohne Bedenken. Jeder trank es, bemerkte sie, als sie sich umschaute. Sie wäre die Einzige, die dieses Präsent verschmähen würde. Sie beobachtete, wie Severus das leere Glas auf den Tisch stellte.

„Es schmeckt außergewöhnlich gut.“ Mehr kam von ihm nicht.
Vielleicht war es ein alter Herdentrieb, der seit etlichen Millionen von Jahren tief in den Genen der Menschen schlummerte, der Hermine trotz des kleinen Zwiespalts dazu veranlasste, das Glas zu den Lippen zu führen und es auf ex zu trinken. Sie schmeckte Himbeere heraus. „Und wenn es ein Fehler war?“, fragte sie resignierend.
„Dann war es der beste deines Lebens.“ Sein Gesicht strahlte eine seltene Zufriedenheit aus.

Auf der Terrasse griff Alastor zu seinem Glas, doch er trank es nicht, sondern goss den Inhalt in einen Blumenkübel. Das leere Glas stellte er auf der Balustrade ab, bevor er in die Innentasche seines Umhangs griff und einen Flachmann herausholte. Albus lachte. Die Vorsicht konnte man dem Ex-Auror nicht austreiben. Am heutigen Tag hatte Alastor nur gegessen und getrunken, was er in seiner Kleidung mit sich führte.

„Vielleicht, alter Freund“, Albus tat es ihm gleich und goss den Drink weg, „ist deine Idee die bessere.“
Alastor grinste schief und nahm einen Schluck, reichte den Flachmann danach an Albus weiter, dem er über alle Maßen vertraute. „Auch einen Schluck?“
„Gern.“ Albus setzte an und ließ seine Zunge vom scharfen Whiskey betäuben. Danach atmete er mit offenem Mund aus. „Ein wirklich gutes Tröpfchen.“

Im ersten Stock stellten Schwester Kathleen und Augusta Longbottom im privaten Ruheraum ihre Gläser in dem Moment auf dem Tisch ab, als zwei andere Gäste mit dem Inhalt die Blumen wässerten. Zwei Gläser schwebten noch im Raum, genau vor Alice und Frank.

„Es scheint keinen Alkohol zu enthalten.“ Die Schwester leckte sich die Lippen. „Nein, auf keinen Fall. Wir können den beiden ruhig ihr Glas geben.“
Augusta stimmte der Schwester, die über die Jahre zu einer vertrauten Freundin geworden war, mit einem Nicken zu. Sie gesellte sich zu ihrem Sohn Frank und nahm das Glas aus der Luft, das sie vorsichtig an seinen Mund führte und dabei prostete: „Auf das Brautpaar!“
Kathleen hatte sich Alice angenommen und flößte ihr Schluck für Schluck den fruchtigen Drink ein. Alice öffnete und schloss den Mund, schmatzte dabei laut, als ihre Zunge über den Gaumen fuhr. Für Alice war diese Art der Verkostung typisch, wenn ihr etwas mundete. „Es schmeckt ihr“, stellte Kathleen fest.
„Frank mag es auch“, bestätigte Augusta. Wenn ihm etwas gefiel, kniff er für einen winzigen Moment die Augen fest zusammen. Diesmal tat er es bei jedem einzelnen Schluck.

Die Gruppe im Speisesaal hatte sich wieder etwas aufgelöst. Ein paar Gäste waren zurück in den Tanzsaal gegangen, auch Harry, der mit seinen roten Haaren bei Molly den vorhin noch unterdrückten Nervenzusammenbruch ein weiteres Mal reizte. „Diese Lausbuben!“, hatte sie geschimpft. Ginny war eher zum Lachen zumute. Die beschwichtigenden Worte, die Haare würden in spätestens zwei Stunden wieder normal aussehen, hielten Molly nicht davon ab, die Zwillinge zurechtzuweisen. Auf seinem Weg zur Toilette kam Harry an Draco vorbei und schnappte etwas von der Unterhaltung auf, die er mit dem Schlossherrn führte.

„...zwei Verlage an der Hand. Sie sollten wirklich überlegen, ob Sie Ihr Gedicht über die goldenen Schnatzer nicht veröffentlichen möchten“, hatte Draco dem Herrn empfohlen. „Das würde nicht nur Geld einbringen, sondern auch gleichzeitig Gäste in Ihr Hotel locken.“ Mr. Van Tessel schien beeindruckt von der Idee. Harry war eher beeindruckt, dass Draco sich sogar auf einer Feierlichkeit wie dieser potenzielle Geschäfte nicht durch die Lappen gehen lassen wollte.

Nach seinem Toilettengang bemerkte Harry als Erstes, wie sich Draco und Mr. Van Tessel die Hand gaben und etwas besiegelten. Hatte er es doch geschafft, dachte Harry amüsiert. Als Dracos neuer Kunde sich wieder ins Leben stürzte, fuhr Draco mit einer Hand über seinen Bauch und rieb ihn. Es sah fast so aus, als hätte er Hunger, was bei dem übermäßigen Angebot nicht sein konnte.

Auf seiner Suche nach Ginny schlenderte Harry an George vorbei, dem Gabrielle gerade eine Karte mit den Worten in die Hand drückte: „Bis Mittwoch bin ich noch im Lande. Vielleicht könnten wir uns noch einmal treffen, bevor ich abreise?“
Ein paar Schritte weiter kam er an Hermines Eltern vorbei. Mr. Granger sagte zu seiner Frau: „Wir sollten die beiden nächste Woche mal einladen. Was meinst du? Wir kennen ihn doch kaum.“
„Gern, frag sie ruhig, aber bleib nett.“
Mr. Granger täuschte Entrüstung vor: „Ich bin immer nett!“

Das würde interessant werden, dachte Harry, so dass er Mr. Granger unauffällig an den Tisch folgte, an dem Severus von Charlie und Hermine in die Mitte genommen worden war. Dort fand er auch Ginny, die sich mit Gregory und Pansy unterhielt. Was für ein ungewöhnlicher Anblick. Gleich daneben hörte Susan dem Gespräch zu, massierte sich dabei die Schulter, als hätte sie eine Verspannung, was Harry gut verstehen konnte. Er gesellte sich zu seiner Braut, denn von da hatte er einen guten Blick auf Severus, der auch schon von Mr. Granger begrüßt wurde. Hermine rutschte ein Stückchen, damit sich ihr Vater zur Gruppe setzen konnte.

„Severus“, sagte Mr. Granger, doch danach kam nichts mehr.
Offensichtlich erwartete Severus, dass sein Name lediglich eine Einleitung für einen Satz herhalten musste und war perplex, dass dem nicht so war. „Ja?“, fragte er langsam zurück.
Mr. Granger grinste, legte eine Hand in den Nacken und knetete ihn, bevor er nochmals sagte: „Severus.“
Langsam aber sicher die Geduld verlierend klärte Severus den Mann auf: „Ja, das ist der Name, den man mir nach meiner Geburt gegeben hat.“
Von seiner Rechten hörte Severus die nicht ernst gemeinte Frage von Charlie: „Was denn? Sie waren mal klein?“ Wie in Zeitlupe drehte sich Severus zu dem ehemaligen Schüler um und starrte ihn an. Charlie grinste, richtete gleich drauf seinen Kragen, als wäre der zu eng geworden. „Ich glaube, ich gehe dann mal, sonst muss ich heute noch nachsitzen.“
„Guten Abend noch, Mr. ...“ Es war schwer, aber irgendwann würde Severus es lernen. „Charlie.“
„War schön, mit Ihnen Geschäfte gemacht zu haben. Die Verträge kommen nächste Woche.“
Mit diesen Worten verließ der zweitälteste der Weasley-Söhne den Tisch und ließ eine verdutzte Hermine zurück, die über die Schulter ihres Vaters hinweg fragte: „Was denn für Geschäfte?“
„Das erzähle ich dir morgen ganz in Ruhe.“ Sein Blick wanderte zu ihrem Vater. „Ich glaube, dein Vater wollte irgendetwas sagen. Mr. Granger?“
Diesen Fehler hatte Severus zu spät bemerkt und wurde prompt darauf hingewiesen: „Ich erinnere gern noch einmal daran, dass wir längst bei den Vornamen angekommen waren.“
Zumindest wusste Severus jetzt, dass die Aufdringlichkeit und die Hartnäckigkeit, was beides ein auffälliges Merkmal von Hermines Wesen darstellte, von väterlicher Seite vererbt waren. Mit eiserner Miene tat Severus dem Mann den Gefallen, denn er sagte lang gezogen und gefährlich leise: „Joshua.“
Mr. Granger blinzelte zweimal, seine fröhliche Mimik verschwand jedoch nicht. „Ich habe wirklich noch nie in meinem Leben gehört, wie jemand einen Namen wie eine Drohung ausspricht.“
„Ich schon!“, beteuerte eine Stimme in der Nähe.
Severus drehte sich um. „Black!“, fauchte er ihn giftig an.
Mit übertrieben verängstigten Augen deutete Sirius auf Severus und behauptete: „Sehen Sie! Das war eine Morddrohung!“ Remus stieß Sirius zum Weitergehen an, lachte dabei und machte in Richtung Severus und Mr. Granger eine Handbewegung, die versichern sollte, dass alles nur ein Scherz war. Die beiden gingen weiter nach hinten, wo sich ein wenig abseits vom aufgebauten Buffet eine kleine Menschentraube angesammelt hatte.
„Ein Freund von Ihnen?“, fragte Mr. Granger neugierig.
„Der Mann ist alles andere, aber definitiv kein Freund!“

Wütend schaute Severus dem Mann hinterher, der sich einen Scherz mit ihm erlaubt hatte. Als das Auge nicht mehr Black folgte, sondern die nahe Umgebung fokussierte, hatte er Hermine im Sichtfeld. Sie lehnte gelassen mit einem Ellenbogen auf dem Tisch, stützte eine Seite ihres Gesichts ab und lächelte, während sie Severus ansah. Ihr Anblick ließ die Wut über Black sofort verfliegen. Als sie ihm auch noch zuzwinkerte, ertappte er seine Gesichtsmuskeln dabei, wie die ohne bewusste Beteiligung ein Lächeln formten. Auch Mr. Granger bemerkte das und blickte über seine Schulter zum Töchterlein.

„Hermine! Du flirtest hier doch nicht etwa schamlos herum, während ich ein Gespräch mit Severus suche?“ Seine Zurechtweisung war, wie so häufig, als Scherz gemeint.
„Ich doch nicht“, winkte Hermine ab.
„Warum gehst du nicht ein bisschen“, er deutete in den Raum, „spielen?“
„Papa!“
„Da hinten ist ein Zauberer! Die hast du als Kind doch immer so gemocht.“
„Ha ha“, machte sie gelangweilt.
„Nein, ich meine es ernst. Sieh mal!“ Er deutete auf die Ecke des Raumes, wo sich Sirius und Remus ein paar Neugierigen anschlossen. Albus und Minerva sowie Horace, Arthur, Bill, Fleur und ein paar andere waren von irgendetwas sehr fasziniert. Alastor hielt wie üblich einen angemessenen Sicherheitsabstand zum Unterhaltungskünstler. „Das ist ein Zauberer aus der Muggelwelt. Ich sage dir“, er hob die Augenbrauen und nickte mit Hochachtung zu dem Herrn mit dem schwarzen Zylinder hinüber, „mit seinen Tricks bereitet er den echten Zauberern eine Menge Kopfzerbrechen!“

Hermine verstand den Wink. Ihr Vater wollte mit Severus allein sein. Auch wenn sie gerade das am heutigen Tage vermeiden wollte, war sie sich sicher, dass er ihn nicht auseinander nehmen würde. Trotzdem war ungewiss, wie Severus in seinem Zustand auf bestimmte Reize reagieren würde. Sie strich ihrem Vater liebevoll über den Rücken und stand auf. Im gleichen Moment setzte sich zwei Stühle weiter Harry an den Tisch, mit dem Rücken zu Hermines Vater, aber die Ohren waren dennoch gespitzt. Er würde jetzt Acht geben, bemerkte sie erleichtert.

„Meine Tochter war so frei, meine Frau und mich über diese kleine“, Mr. Granger hob und senkte die Augenbrauen, „Übereinkunft mit Ihnen zu unterrichten.“
Seine Unsicherheit überspielte Severus mit Eiseskälte. „Und was, wenn ich fragen darf, muss ich jetzt von Ihnen erwarten?“ So warm Severus‘ Gefühle für Hermines auch waren – sein Gegenüber war für ihn fast ein Fremder. Er konnte und wollte nichts dagegen unternehmen, dass die emotionalen Temperaturen unter den Gefrierpunkt sanken, während er diese in seinen Augen unangenehme Konversation führte. „Folgt vielleicht eine Art Aufzählung von Pro und Kontra? Beispielsweise dass der Altersunterschied Ihnen missfällt?“
Mr. Granger hatte aufmerksam zugehört. In seiner Miene rührte sich kaum etwas, nur in den Fältchen neben den Augen war Enttäuschung zu sehen. „Ein wunder Punkt?“, fragte er ganz offen. Noch bevor Severus antworten konnte, fügte Mr. Granger hinzu: „Hermine hat Ihnen sicherlich gesagt, dass meine Frau und ich im Alter auch ein ganzes Stück auseinander liegen. Warum sollte ich Ihnen vorwerfen, was mich selbst betriff?“ Severus schaute weg. Eine Falte der Tischdecke weckte plötzlich sein ganzes Interesse. „Ich bin zu Ihnen gekommen“, begann Mr. Granger erneut, „um Hermine und Sie nächste Woche zu uns einzuladen. Wir sollten uns näher kennen lernen. Das ist, wie ich gerade bemerkt habe, dringend notwendig.“
„Nächste ...?“ Jetzt hatte Mr. Granger wieder seine Aufmerksamkeit erlangt. „Nächste Woche wird es für mich etwas strapaziös werden. Am Mittwoch ist mein letzter Tag in Hogwarts. Danach werde ich mit dem Umzug in die Apotheke ausgelastet sein.“
„Kein Problem, dann vielleicht übernächste Woche, wenn wieder etwas Ruhe eingekehrt ist?“
Severus überlegte, nickte letztendlich. „Gern.“ Er hatte Mr. Granger falsch eingeschätzt. Severus‘ Annahme, jeder Vater hätte etwas dagegen, dass die einzige Tochter so einen Griesgram ehelichen wollte, war verpufft.
„Gut, dann bleiben wir in Kontakt.“ Mr. Granger streckte den Rücken und schlug sich auf die Schenkel. „Ich wollte mir sowieso mal die Apotheke anschauen, aber alles zu seiner Zeit.“ Er blickte sich im Saal um. „Wo ist denn meine Frau abgeblieben?“ Die unterhielt sich mit Molly. „Ah, da ist sie ja. Dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen ...“ Mr. Granger hielt inne, weil ein Mann mit weißblonden Haaren, auffällig galanter Kleidung und rosigen Wangen auf Severus und ihn zukam.
„Severus, Narzissa lässt fragen, ob du mit ihr ...“ Lucius stoppte mitten im Satz, weil der Herr bei Severus sich höflichkeitshalber vom Stuhl erhob. Als Einziger wollte Severus nicht sitzenbleiben. Mit leicht angehobenem Kopf, was ihn arrogant wirken ließ, musterte Lucius den Fremden. Eigentlich lag es an Severus, die beiden gegenseitig vorzustellen, doch der dachte gar nicht daran. Lucius legte eine Hand auf seine Brust, sah dem Unbekannten dabei in die Augen. „Malfoy, Lucius Malfoy ist mein Name.“ Er hielt dem Herrn die Hand hin, die sofort ergriffen wurde, doch als der Mann sich vorstellen wollte, übernahm Severus überraschenderweise doch diesen Part.
„Darf ich vorstellen? Das ist Mr. Joshua Granger.“
Noch während Lucius dem Mann die Hand schüttelte, rümpfte sich von ganz allein die hoch getragene Nase. Ein Muggel. Und den fasste er auch noch an! „Ah“, machte Lucius vorgetäuscht interessiert, „dann sind Sie der zukünftige Schwiegervater von“, er legte die besudelte Hand auf Severus‘ Schulter, „diesem Herrn.“ Weil Severus die Hand an seiner Schulter missbilligend anschaute, entfernte Lucius sie lieber. Vom Tanz noch ganz bezaubert, kam die gute Laune schnell zurück. „Ich bin sicher, er wird Sie nicht enttäuschen, Mr. Granger. Er ist ein Meister auf seinem Gebiet und wird bestimmt den finanziellen Ansprüchen gerecht werden, um Ihrer Tochter ...“
„Wir sind hier nicht auf dem Viehmarkt“, zischte Severus, „wo du Vorteile anpreisen musst, um den bestmöglichen Erlös zu erzielen.“
„Oh, nein!“, stimmte Lucius seinem verstimmten Freund mit aufgesetztem Lächeln zu. „Und das ist auch gut so, denn ich befürchte, da würde ich nicht viel für dich bekommen.“

Lucius konnte von Glück sagen, dass Blicke nicht töten konnten. Severus war in Rage, ballte die Fäuste an der Hosennaht zusammen. Das plötzlich auftretende Jucken unterhalb der Rippen verstärkte Severus‘ Unbehagen nur noch. Lucius verlor die Nerven nicht. Sein Freund sollte Scherze dieser Art nicht übel nehmen. Er müsste sogar damit rechnen, dachte Lucius. Sie kannten sich lange genug.

„Was war das?“, fragte Severus völlig zusammenhanglos. Er betrachtete erst zu Lucius‘ Hals, blickte dann direkt in dessen Augen. „War das gerade ein Ruck an der Leine? Deine Frau oder dein Sohn scheinen nach dir zu verlangen.“
Das Lächeln auf Lucius‘ Lippen blieb nur bestehen, weil er während seiner jahrelang Arbeit im Ministerium die Gesichtsmuskeln für unangenehme Situationen wie diese trainiert hatte. Ausschließlich an seinen grauen Augen war zu erkennen, dass jegliches Amüsement verschwunden war. „Ja, du hast Recht. Meine Gattin hat mindestens noch einen Tanz verdient und da sie auf dich verzichten muss ...“ Er wandte sich dem anderen Herrn zu. „Mr. Granger.“ Ein höfliches Nicken zur Verabschiedung folgte. Man sollte ihm nicht nachsagen können, er hätte keine Manieren.
Als Lucius gegangen war, wollte Mr. Granger wissen: „War das ein Freund?“
„Leider!“ Ein verärgertes Brummen hallte nach, das deutlich werden ließ, wie sehr Severus diesen Zwischenfall verteufelte.
„Mmmh“, summte Mr. Granger verständnisvoll. „Solche Kabelleien unter Freunden kenne ich. Hoffentlich renkt sich das wieder ein. Wir sehen uns.“ Mr. Granger gesellte sich zu seiner Frau, die sich noch immer mit Molly unterhielt.

Es war soweit, dachte Severus. Würde Hermine jetzt noch einmal fragen, ob sie nachhause gehen wollten – er würde auf der Stelle bejahen. Geistesabwesend öffnete er einen Knopf seiner Weste und führte die rechte Hand in das Loch, um diese juckende Stelle zu kratzen. Severus schaute sich um. Am Tisch saßen zwei Pärchen, die in eigene Gespräche vertieft waren. Und ein Rothaariger war zu sehen, der mit dem Rücken zu ihm saß. Welcher Weasley ...? Der besagte Herr drehte sich um. Harry. Der Scherz der Zwillinge würde mindestens noch eine Stunde andauern. Nach Harrys Gesichtsausdruck zu urteilen war er kein bisschen verärgert über die neue Tönung. Severus knöpfte die Weste wieder zu und erhob sich, um Hermine aufzusuchen.

Um den Muggelzauberer herum hatten sich mittlerweile unzählige Gäste eingefunden. Severus stellte sich hinter Hermine, die ihn anfangs nicht bemerkte. Alle schauten dem Mann mit dem Zylinder zu, wie der erst eine Galleone herumzeigte und dann mit einer Hand umfasste. Als er sie wieder öffnete, war die Münze verschwunden. Ein erstauntes Raunen ging durch die Menge.

„Das war ein Evanesco“, sagte Horace. „Ganz sicher!“
Hermine lachte. „Sie vergessen, dass der Mann nicht zauber kann.“
Mit einer Hand strich Horace seinen Umhang glatt. „Nun, er beweist und doch gerade das Gegenteil, oder etwa nicht?“
Der Muggelzauberer trat an Minerva heran und fuchtelte in der Nähe ihres Ohres herum, was Albus mit kindlicher Freude beobachtete. Er brachte die verschwundene Münze wieder zum Vorschein. Die Leute applaudierten. An Minerva gerichtet schäkerte Albus: „Ich habe eine Goldmine geheiratet.“ Sie verkniff sich das Lachen und klatschte.
Als Hermine einen Schritt zurückging, stieß sie versehentlich jemanden an und drehte sich um. „Severus, entschuldige bitte.“
„Interessiert dich dieser Hokuspokus tatsächlich?“
„Ich stehe wahrscheinlich aus dem gleichen Grund hier wie Albus: Es macht Spaß dabei zuzusehen, wie die anderen einfach nicht hinter das Geheimnis kommen.“ Sie warf einen Blick zu Horace, der weiterhin die Kunststücke des Muggelzauberers interessiert, aber auch sichtlich gefrustet beobachtete. Hermine bekam Mitleid. Sie trat an ihn heran und flüsterte: „Achten Sie auf seine Hände und blicken Sie ja nicht auf, wenn er etwas erklärt.“ Diesen Tipp nahm sich Horace zu Herzen. Sein Blick war auf die flinken Finger gerichtet, während alle anderen den Worten des Zauberers lauschten.

Hermine löste sich von dem Trickkünstler. Wie ihr Vater es gesagt hatte, war sie schon als Kind fasziniert gewesen, wenn jemand Karten oder Münzen verschwinden ließ, die später an den seltsamsten Orten wieder auftauchten. Solche Tricks förderten das Verständnis für Logik. Sie ging zu Severus hinüber, der ihr den Arm anbot. Als sie sich zum Gehen abwandten, bemerkten sie, dass Albus und Minerva sich ebenfalls in Bewegung setzten und langsam auf Severus und Hermine zukamen. Diesem Moment wollte Severus nicht vorübergehen lassen.

„Albus?“ Das betagte Ehepaar hatte ihn gehört und näherte sich ihnen. Dank Hermine fand er Halt. „Albus, warum hast du Remus gekündigt?“
Minerva fiel aus allen Wolken, schaute Albus mit großen Augen an. „Du hast was?“
„Da scheint ein Missverständnis ...“
Severus schüttelte den Kopf. „Das glaube ich nicht. Hagrid hat es herumerzählt.“
„Dann hat der Gute die Hälfte vergessen“, stellte Albus klar.
„Das bezweifle ich nicht einmal.“ Davon ging Severus sogar aus. „Trotzdem läuft Remus den ganzen Tag in der Annahme hier herum, er würde ab September arbeitslos sein.“
„Oh“, machte Albus betrübt. „Dann werde ich ihn besser aufsuchen, bevor wir gehen. Du musst wissen, Severus, du warst nicht der Einzige, der von selbst gekündigt hat.“ Hermine, Severus und Minerva wiesen alle den gleichen, fragenden Gesichtsausdruck auf, so dass sich Albus dazu aufgefordert sah, Licht ins Dunkel zu bringen. „Ich wollte es eigentlich am Montag während der Lehrerversammlung verkünden, aber da die Sache bereits die Runde macht: Gestern Abend hat mir Harry seine Kündigung überreicht.“ Hermine war von dieser Information nicht überrascht, nur darüber, dass sie es nicht von Harry selbst erfahren hatte. „Remus soll seinen Platz einnehmen, aber das konnte ich erst planen, sobald ich jemanden für die Pflege magischer Geschöpfe gefunden habe. Hagrid hat zugesagt, also ist alles im Lot. Kein Grund zur Aufregung.“ Minerva atmete tief ein und aus. „Ich sollte es Remus wirklich sagen, sonst macht der Gute sich noch den ganzen Sonntag Gedanken. Wie spät ist es eigentlich?“ Die Standuhr in der Ecke brachte Erkenntnis. „Wir haben ja schon Sonntag. Höchste Zeit zu gehen.“ Albus ließ seinen Blick schweifen. „Und da ist ja auch Remus. Wenn ihr mich kurz entschuldigen würdet?“
Kaum war Albus gegangen, ergriff Minerva das Wort. „Ich möchte mich schon einmal verabschieden. Albus und ich werden uns auf den Weg machen.“
„Wir gehen auch“, bestätigte Hermine. „Ich möchte nur noch Harry und Ginny auf Wiedersehen sagen.“

Das Brautpaar verabschiedete gerade Justin Finch-Fletchley und Hannah Abbott. Absichtlich ging Hermine langsam, so dass sie Harry und Ginny erst erreichen würden, wenn die anderen beiden schon gegangen waren. Sie kamen an Bill und Fleur vorbei. Mit einer Hand rieb sich Bill sich die entstellte Wange. Fleur nahm seine Hand in ihre, damit er damit aufhörte.

„Ihr wollte euch auch verabschieden?“, fragte Harry, dessen Augen durch die Brille hindurch schon ganz klein waren. „Kingsley und Alastor sind auch eben gegangen.“
„Es ist auch langsam an der Zeit“, begann Severus, „dem Brautpaar etwas Ruhe zu gönnen.“ Er hielt zuerst Ginny die Hand entgegen, die sie ohne zu Zögern ergriff. „Nochmals meine Glückwünsche, Mrs. ... Ist der Name jetzt Potter?“
Ginny grinste breit. „Ja, das ist er. Vielen Dank, Professor Snape.“
„Harry“, auch ihm schüttelte er die Hand. Einen Moment überlegte Severus, ob er ihn wegen der Kündigung ansprechen sollte, entschied sich aber dagegen, falls dessen Frau noch nichts davon wusste. „Vielen Dank für die Einladung. Der Abend hat einige Überraschungen gebracht.“
Davon war Harry überzeugt. „Dann bleibt ihr nicht über Nacht?“
„Nein“, warf Hermine ein, die plötzlich anfing zu zappeln, weil sie mit einem Fuß über ihre Wade strich. Vielleicht hatte das Kleid sie gekitzelt. „Ich habe heute noch etwas zu erledigen.“ Der letzte Heiltrank. Harry wusste das und fragte nicht nach.
„Morgen frühstücken wir hier alle zusammen. Nur die engsten Freunde und Familienmitglieder. Wenn ihr kommen möchtet ...?“
„Wir überlegen es uns“, erwiderte Severus, was so viel wie eine Absage bedeutete.
Die Enttäuschung darüber verbarg Harry. Nur als Information gab er an Hermine weiter: „Es beginnt erst um elf oder zwölf Uhr, ist also mehr ein Brunch, wenn man so möchte. Nur falls ihr es euch überlegen solltet.“
Dean, Lee und die Creevey-Brüder – letztere musterten Severus und Hermine mit einem Schmunzeln – hatten sich mittlerweile in die Schlange der Gäste eingereiht, die sich von Harry und Ginny persönlich verabschieden wollten, also machte Hermine es kurz. „Bis dann, ihr zwei. Wir sehen uns.“ Vom Tisch nahm sie ihren Brautstrauß.
„Ach“, hielt Harry sie auf, „zum Kamin geht es gleich hinten links. Der Weg ist ausgeschildert.“

Auf dem Weg zum großen Kamin, der ans Flohnetzwerk angeschlossen war, trafen die beiden auf Luna. Sie stand in der Nähe des Ganges, der zum Kamin führte. Luna fuhr mit den Fingern einer Hand immer wieder von der Stirn über ihren Kopf und zog einen unsichtbaren Mittelscheitel. Im ersten Moment schien sie nur zufällig dort zu stehen, doch kaum waren Severus und Hermine ihr näher gekommen, wurde ihr verträumter Blick klar.

„Professor Snape, bevor Sie gehen“, Luna fischte etwa aus ihrem Umhang, „möchte ich Ihnen das zum Geschenk machen.“
Irritiert über diese unerwartete Aufmerksamkeit wäre er fast ins Stottern geraten, aber nur fast. „Danke, Miss Lovegood.“ Er betrachtete das kleine, in rotes Geschenkpapier eingewickelte Päckchen, das von der Form her an ein Streichholzheft erinnerte. Es war flach und viereckig. „Wie komme ich zu dieser Ehre?“
„Ich habe es nie veröffentlicht. Es könnte ein falsches Bild entstehen, aber Sie, da bin ich mir ganz sicher, werden es nicht missverstehen.“ Sie zeigte mit einem Finger drauf. „Es ist verkleinert. Mit einem Finite wird es wieder groß.“
„Ich muss zugeben, Sie machen mich neugierig. Ich lasse Sie wissen, was ich davon halte.“ Das ungeöffnete Päckchen steckte Severus in seine Innentasche. „Auf Wiedersehen, Miss Lovegood.“
Hermine war weniger förmlich. „Bis dann, Luna.“

Im Gang selbst warteten einige auf ihre bessere Hälfte, um den Nachhauseweg einzuschlagen. In dem Raum, der sich als ein gemütlich möblierter Warteraum für die Gäste des Schlosshotels entpuppte, waren sie nicht allein. Justin und Hannah warteten geduldig, bis eine Bedienstete des Schlosses das Flohpulver in den dafür vorgesehen Behälter nachgefüllt hatte. Offenbar war der Kamin heute schon unzählige Male benutzt worden. Justin drehte sich um.

„Professor Snape“, er nickte ihm höflich zu. „Hermine, hi.“
„So“, unterbrach die Dame, die den Behälter wieder in der Haltevorrichtung des Kamins anbrachte, „alles bereit. Ich wünsche eine gute Heimreise.“ Die Frau verließ den Raum.
Justin und Hannah traten gemeinsam in den Kamin. Er nahm eine Handvoll Flohpulver, nannte den Zielort und wenige Sekunden später waren die beiden verschwunden. Hermine und Severus waren allein. Er schaute ihr in die Augen und fragte: „Reisen wir nacheinander oder zusammen?“
„Wenn wir den Kamin zusammen benutzten, dann müssen wir uns aber sehr eng aneinanderkuscheln“, antwortete sie, konnte die Vorfreude darauf nicht verbergen.
Ein Mundwinkel von Severus hob sich von ganz allein, bevor er sie zum Kamin führte. Er griff nach dem leicht schimmernden Flohpulver, mit der anderen Hand nahm er die ihre. „Dann halt dich gut fest.“ Diesen Ratschlag nahm sie sehr ernst, denn sie umarmte ihn. „Winkelgasse, Granger Apotheke.“

Als Reisender vernahm man weder den lauten Knall noch sah man, wie sich die Flammen grün verfärbten. Während ihres Heimweges kamen sie an unzähligen Kaminen vorbei. Die lauten Fahrtgeräusche waren um diese Uhrzeit verträglich. Als es plötzlich unangenehm kalt wurde, bedeckte Severus sie mit seinem Umhang. An einer undefinierbaren Stelle bekam Hermine heiße Asche in den Mund und begann zu husten. Bei der holprigen Landung im eigenen Wohnzimmer hielt Severus sie fest, damit sie nicht stürzte. Sie hustete noch immer. Auf der Stelle kam er mit einem Glas Wasser zu Hilfe, aus dem sie dankbar trank.

Der Husten hatte sich gelegt. „Meine Güte, warum ist diese Art zu reisen immer noch so populär?“ Severus betrachtete sie von oben bis unten, sah dabei sehr amüsiert aus. „Was ist?“ Sie schaute an sich herab. Das Kleid hatte kein bisschen Ruß und Asche abbekommen, wofür offenbar der Schutzzauber des Bekleidungsgeschäfts verantwortlich war. Mit seinem Zeigefinger strich er über ihr Dekolleté und zeigte ihr das Resultat. Seine Fingerbeere war schwarz. „Mist!“, fluchte sie, als sie den Dreck auf ihrem Ausschnitt betrachtete. „Ich lass mir lieber ein Bad ein.“
„Mach das.“ Kaum hatte er etwas gesagt, kam der Hund ins Wohnzimmer gestürzt. Er war so aufgeregt, dass er sein Herrchen mit wedelndem Schwanz ansprang und dabei fiepende Geräusche von sich gab. „Aus!“ Doch Harrys Freude konnte er mit dem halbherzigen Befehl nicht bremsen. „Er tut ja gerade so, als wären wir mehrere Wochen verreist gewesen.“
Hermine lächelte, als Severus das Ohr des Hundes knetete. Auf der Couch erblickte sie Fellini, der sie mit weit aufgerissenem Maul angähnte. Die Ankunft des Frauchens hatte er völlig gelassen beobachtet. „Vielen Dank für die herzliche Begrüßung!“, gab sie gespielt enttäuscht von sich. Fellini nahm die Rüge als Anlass, sich zu putzen.
„Geh baden, Hermine. Ich werde den beiden etwas zu Fressen geben.“

Im Flur trennten sich ihre Wege. Von Harry überholt und von Fellini gefolgt ging Severus die Stufen hinunter, während Hermine das Bad aufsuchte und sofort die Hähne aufdrehte. Noch ein bisschen Badeschaum und ihr Dekolleté würde bald wieder sauber sein. Als sie in den Spiegel schaute, bemerkte sie zu ihrem Entsetzen, dass auch ihr Gesicht an einigen Stellen schwarz war. Sie sah aus, als hätte sie eine Liebesaffäre mit einem Schornsteinfeger. Warum musste sie immer alles abbekommen? Das Gesicht wusch sie mit einem Lappen, während das Badewasser einlief. Als sie alle schwarzen Flecken von ihren Wangen entfernt hatte, verrenkte sie ihre Arme, um das Kleid zu öffnen. Wie schon heute früh, als sie es angezogen hatte, kam sie auch jetzt nicht an die Haken heran. Im Flur hörte sie seine Tür. Severus war aus der Küche zurück und könnte bestimmt helfen. Hermine klopfte an seine Schlafzimmertür.

„Herein!“
Als sie eintrat, stand er an einem der Gaslichter und betrachtete den Umhang, den er eben ausgezogen hatte. „Ist etwas?“ Vielleicht war er an einem der vorüberfliegenden Kamine hängengeblieben und das gute Stück war gerissen, vermutete sie.
„Das ist blau!“
Hermine stutzte. „Ich dachte, das wusstest du?“, erwiderte sie auffällig unschuldig.
Er warf ihr einen kurzen Blick zu, bevor er ins Leere starrte. „Dann macht es Sinn, was Remus gesagt hat. Ich dachte, er wollte mich nur veralbern.“
„Was hat er denn gesagt?“
„Dass die Farbe mir stehen würde.“
„Das tut sie auch“, beteuerte sie kräftig nickend.
„Es ist aber nicht schwarz!“
„Wo steht denn bitteschön geschrieben, dass Severus Snape nur in schwarz gut aussieht?“ Er schnaufte und warf den Umhang achtlos über einen Stuhl, schien über ihre Äußerung enorm verärgert. „Was hast du?“
„Ich bin mir über mein äußeres Erscheinungsbild durchaus bewusst!“, schalt er sie.

Zweifel kamen in ihm auf. Der innere Widerstreit richtete sich durch seine momentan übersensiblen Empfindungen gegen sich selbst. Hermine wusste das. Sie hütete sich davor, ihn vom Gegenteil überzeugen zu wollen. Jedes ihrer Argumente würde er mit einem Gegenargument auseinander brechen lassen. Sie war sich über sein, wie er so schön sagte, äußeres Erscheinungsbild auch bewusst. Er war kein Adonis, stellte eher ein Antonym dazu dar. Schon mehrmals hatte sie über dieses Thema nachgedacht, oftmals im Bett liegend, kurz vor dem Einschlafen. Ron war auch kein Schönling. Er war für sein Alter immer zu groß gewesen und hatte eine lange Nase, wenn auch keine Hakennase. Wenn sie Harry mit etwas Abstand betrachtete, war auch er nicht besonders gutaussehend. Mit seiner damals schon schmächtigen Gestalt, seinen knubbeligen Knien und den stets ungekämmt wirkenden Haaren war er das, was er immer sein wollte: durchschnittlich. Einzig Blaise könnte Hermine als wahrlich gutaussehend beschreiben, doch der hatte sie nie interessiert. Viktor Krum beeindruckte mit seinen buschigen Augenbrauen und der krummen Nase auch nicht durch Äußerlichkeiten. Sein schlurfender Gang war alles andere als graziös und trotzdem fand sie damals Interesse an ihm. Sie war vor langer Zeit zu dem Schluss gekommen, dass das Aussehen für sie kein primäres Kriterium für eine Partnerwahl darstellte. Lockhart und vor allem Svelte stellten zwei gute Beispiele dar, die ihre Ansicht untermauerten.

„... und dann werde ich nackt durch die Tundra reiten.“
Nicht die Worte, sondern seine Stimme hatte sie aus ihren Gedanken gerissen. „Wie bitte?“
„Ich fragte, ob du aus einem bestimmten Grund hier bist.“
„Oh“, machte sie überrascht. Natürlich war da ein Grund gewesen. Langsam näherte sie sich Severus und drehte ihm den Rücken zu. Mit dem Daumen zeigte sie über ihre Schulter. „Ich bekomme das Kleid nicht auf. Wärst du so lieb?“
„Das ist keine gute ...“

Er schluckte kräftig, als er sich an das kleine Problem von heute morgen erinnerte. Severus riss sich zusammen und legte die Hände an ihr Kleid. Es wäre doch gelacht, wenn er nicht mehr Kontrolle an den Tag legen könnte als so ein 14jähriger Schüler. Seine Finger tauchten in die Lücke zwischen Stoff und Rücken. Sofort ging ihre Körperwärme durch Mark und Bein. Er bekam eine Gänsehaut. Der erste Haken löste sich. Unzählige lagen noch vor ihm.

„Du hast kalte Finger“, bemerkte sie mit ruhiger Stimme.

Bald nicht mehr, dachte er, denn eine angenehme Wärme breitete sich in ihm aus. Genauso wohlig wie vorhin im Kaminzimmer. Der zweite Haken war geöffnet. War er so langsam oder nahm er alles so überaus bewusst war, dass die Zeit ihr eigenes Tempo gedrosselt zu haben schien? Beim fünften Haken kam sein Atemproblem zurück. Er müsste demnächst mal seine Lungen untersuchen lassen, scherzte er in Gedanken. Zum Glück erging es Hermine genauso wie ihm. Wenn sie einatmete, wurden seine Finger durch das Kleid an ihre Haut gepresst und gewärmt. Beim zehnten Haken bemerkte er, dass er nicht einmal die Hälfte hinter sich gebracht hatte. Sie wartete geduldig. Nicht ein einziges Mal forderte sie ihn auf, schneller fortzufahren. Er konnte die Gänsehaut verfolgen, die sich von ihrem Rücken aus bis zum Nacken emporarbeitete. Hermine schüttelte sich kurz. Fast war er am Ziel. Der letzte Haken war gelöst. Mutig glitten die Finger beider Hände vom unteren Rücken durch die Schneise, die das offene Kleid freilegte, hinauf bis zu ihrem Hals, wo sie kurz am Haar verweilten. Gleich darauf strichen seine Hände zurückhaltend seitwärts. Dabei nahm er die Ärmel mit, so dass ihre Schultern freigelegt wurden. Hermines Atmung war heftiger geworden, der Kopf leicht zur Seite gelegt. Die Hände an ihren Schultern zogen sie zu sich heran, bis sie mit dem Rücken an ihm lehnte. Sie spürte seinen zittrigen Atem an der empfindlichen Stelle hinter ihrem Ohr.

„Severus?“ Mit einem Male war alles verschwunden, was sie so genossen hatte: die Wärme, die Hände, sein Atem. Sie drehte sich um. Severus hatte sich einen Schritt von ihr entfernt. Offenbar fühlte er sich zurechtgewiesen, was keineswegs in ihrer Absicht lag. Sie wollte nur daran erinnern, dass sie heute, auch wenn sie ungern als Spielverderberin dastehen wollte, noch eine wichtige Angelegenheit zu erledigen hatte. Die kurze Distanz überwand sie in Windeseile. Ohne Vorwarnung schlangen sich ihre Arme um seine dürre Taille, ihre Wange legte sie an sein Herz. „Auch wenn ich jetzt gern etwas anderes machen möchte“, sagte sie leise, „darf der letzte Trank nicht warten. Ein, zwei Stunden Verspätung sind in Ordnung, aber mehr dürfen wir nicht wagen, sonst ist alles ...“ Sie hielt inne, als er ihre Umarmung erwiderte und sie seine Hände an dem nackten Rücken spürte. Versehentlich entwich ihr ein Seufzer, der ihr nicht unangenehm war. Ein behaglicher Schauer überkam sie, als sich ein paar Lippen zaghaft auf ihre Schläfe pressten. Sie wollte nicht gehen und im Labor brauen. Hermine wollte hier bleiben, wo ihr Herz Purzelbäume schlug und gleichzeitig wie ein Kniesel schnurrte. Langsam hob sie den Kopf, um ihn anzusehen. Dabei bemerkte sie, dass sie die Augen geschlossen hatte. Ihre Lider fühlten sich schwer an, woran nicht die Müdigkeit Schuld war. Sein ganzes Gesicht sah genauso entspannt aus wie sie sich fühlte. Es war keine feurige Leidenschaft, die ihr aus seinen Augen entgegenfunkelte. Etwas viel Bedeutungsvolleres zeigte sich ihr, denn er offenbarte behutsam die eigenen Empfindungen. Die Zuneigung zu ihr fiel mehr ins Gewicht als jegliche Gelüste. Severus schien das Gleiche in ihren Augen zu sehen. Ihre Übereinstimmung wollte er besiegelt wissen. Ohne Hast beugte er sich zu ihr, ließ ihr alle Zeit der Welt, Einspruch zu erheben, doch der kam nie. Kurz bevor sich ihre Lippen berührten, schloss Hermine die Augen. Der Kuss konnte unschuldiger und zugleich aufregender nicht sein – er versprach und bestätigte, beichtete und zog ins Vertrauen. Er bedeutete alles, erklärte Himmel und Erde. Hermine nippte fast unmerklich an den geschlossenen Lippen und dachte dabei an den scheuen Kuss, den er ihr einmal auf den Mundwinkel gegeben hatte. Sie nippte ein zweites Mal und sah Severus und sich selbst, wie sie sich im Rosengarten drehten und Blumen zertraten. Beim dritten Mal machte er es ihr gleich, um das Ende einzuläuten, sonst würden sie sich und alles andere vergessen. Benommen öffnete sie ihre Augen. Noch einen Moment hielten sie sich. Severus wirkte sehr ausgeglichen, beinahe wunschlos glücklich, aber nur beinahe. Sie konnte diese eine Sache, die ihn zu bedrücken schien, nicht ausmachen, nicht mit dem Finger darauf deuten. Vor irgendetwas schien er, trotzdem sich die Situation in ihren Augen wunderbar entwickelt hatte, Angst zu haben. Ihre Umarmung löste sich im gegenseitigen Einverständnis. Hermine schenkte ihm ein zuversichtliches Lächeln und strich in der Hoffnung über seinen Oberarm, diese eine Befangenheit auszuradieren, doch es gelang ihr nicht.

„Du sollest nach deinem Bad sehen.“ In seiner Stimme hatte sich die Ruhe und Sanftheit niedergeschlagen, die ihre gegenseitige Bestätigung geweckt hatte. „Sonst läuft es noch über.“ Hermine nickte und verschwand mit wackeligen Beinen aus seinem Zimmer.

Zum Glück war im Boden ein Ablauf eingearbeitet, denn sonst würde das Badezimmer unter Wasser stehen. Fluchend ließ sie etwas Wasser aus der Wanne ablaufen und reinigte den nassen Boden, auf dem der meiste Schaum verteilt war. Das Bad selbst verlief weniger entspannend, sondern diente nur der Reinlichkeit. Für Entspannung sorgte die Erinnerung an den Kuss. Hermine zog sich legere Kleidung an und machte sich auf ins Labor, um den letzten Trank zu brauen.

Als Erstes setzte sie einen Kessel auf. Während das Wasser langsam zu kochen begann, wusch sie die Zutaten, teilte und schnitt sie. Alles stellte sie in Griffnähe. In dem Moment, als sie eine Vitrine öffnen wollte, war sie über ihr eigenes Spiegelbild überrascht. Sie strahlte über das ganze Gesicht. Nur kurz begutachtete sie ihren Frohsinn, bevor sie die Federn des Sekretärs aus dem Schrank nahm. Sie wartete darauf, bis das Wasser im Kessel die angemessene Temperatur haben würde, strich sich derweil mit einer der schwarzen Federn über die Finger. Dieses bisschen Unbehagen in seinen Augen wollte ihr nicht aus dem Kopf gehen. Er durfte sich sicher sein, was sie betraf. Warum war er es nicht? Hermine seufzte. Die Feder strich über ihre Wange und löste einen Geistesblitz bei ihr aus. Der Vogel, dessen Feder sie hielt, wählte eine feste Partnerin im Leben. Aus einem unerklärbaren Grund war sie davon überzeugt, dass seine Angst daraus bestand, sie nicht ständig für sich zu haben. In einem Buch hatte sie einmal über das Trauerverhalten von Tieren gelesen, bei denen der Partnerverlust genau wie beim Menschen die größte, seelische Belastung darstellte. Monogam lebende Tiere traf es besonders hart. In dem Buch wurde als Fallbeispiel über einen Tibetfuchs berichtet, der nach dem Verlust der Partnerin erst noch tagelang Lockrufe ausstieß. Später verfiel er in eine Depression, war apathisch. Der Tierforscher schilderte, dass der Fuchs nicht mehr fraß, sich kaum noch bewegte und wie tot auf einem Felsen lag und wartete – auf seine Partnerin oder den Tod. Hermine war sich aber auch darüber im Klaren, dass es genetisch gesehen beim Menschen keine Monogamie gab, höchstens Treue, was aus wissenschaftlicher Sicht nicht gleichzusetzen war. Vielleicht bewertete sie die Sache aber auch nur über, dachte sie. Sie nahm sich auf jeden Fall vor, Severus später zu fragen, ob es etwas gab, über das er mit ihr reden wollte. Später, wenn etwas Ruhe und Alltag eingekehrt war.

Das Brauen des letzten Trankes dauerte keine Stunde, obwohl die gleichen Zutaten verwendet wurden wie bei den vorhergehenden Tränken. Die Temperaturregelung für den Trank war anders, ebenso die Reihenfolge, in der die Zutaten in den Kessel wanderten. Aufkochen, Hitze wegnehmen, nochmal aufkochen und im Uhrzeigersinn rühren. Am Ende ließ sie exakt nach Brauplan die Feder in den Kessel fallen. Ein helles Licht formte sich und löste die letzte Zutat in Luft auf. Das Licht verging nicht, auch nicht, als Hermine den Trank sorgfältig in einen der Becher füllte, den sie mit einem Deckel schützen konnte.

Der letzte Trank.

Hermines Herz pochte.

Mit dem Becher ging sie nicht sofort zu ihm, sondern in ihr Zimmer, um sich zum Zu-Bett-Gehen umzuziehen. Sie zog noch einen leichten Morgenmantel über und nahm mit zittrigen Händen das Gefäß. An seiner Tür klopfte sie, obwohl sie wegen der Haustiere nur angelehnt war. Das vertraute „Herein!“ folgte. Severus saß ans Kopfende gelehnt und las, schien auf seltsame Weise gerührt, was seine Augen nicht verbergen konnten. Hermine erkannte das Buch.

„Ist das der Gedicht-Band, den dir Anne mal geschenkt hat?“ An seinem Bett machte sie halt. Severus nickte, legte ein Lesezeichen in das Buch und ließ es auffällig schnell in der Schublade seines Nachttisches verschwinden. „Was für eines hast du gelesen?“
Er zögerte einen kurzen Augenblick, als er den Becher in ihrer Hand bemerkte, doch dann sah er in ihre Augen. Missgestimmt antwortete er: „Rilke. Ein Gedicht mit dem wahnsinnig originellem Titel ‚Liebes-Lied‘. Der Mann hätte sich wirklich was Besseres einfallen lassen können.“
Dass die Zeilen ihm trotz seiner bösen Worte sehr gefallen haben mussten, sprach sie nicht an. Stattdessen hob sie den Becher. „Hier.“ Nicht mehr nur ihre Hände zitterten, sondern auch ihre Stimme.

Seine Laune wechselte zwischen hoffnungsvoll und pessimistisch. Was all die Mühe bringen würde, sollte sich erst zeigen, wenn er diesen einen Trank einnahm. Die Befürchtung, es könnte einen noch so kleinen Fehler gegeben haben, der alles zunichte machte, war bei ihm genauso groß wie bei ihr. Er atmete tief durch und ließ den inneren Widerstand hinter sich, als er sich nach vorn beugte und ihr das Gefäß abnahm. Gerade wollte sie sich abwenden, da schlug er neben sich einladend die Bettdecke zur Seite und klopfte mit der flachen Hand zweimal auf die Matratze. Mit dieser Erlaubnis hatte sie gerechnet, aber ungewöhnlich war, dass sie dabei sein durfte, während er den Trank einnahm. Die sechs Tage zuvor hatte er sie erst danach in sein Bett gelassen. Sie zögerte nicht und zog sich den Morgenmantel aus, bevor sie sich neben ihn legte.

Vorsichtig öffnete Severus den Deckel. Dampf stieg aus. Aus dem Becher schien helles Licht, was ihn verdutzte. Auch für sie war es vorhin schon seltsam gewesen, dass dieser letzte Trank so kräftig strahlte. Er nahm einen Schluck, dann noch einen. Der Trank war warm und er nippte so vorsichtig an ihm, wie an ihren Lippen. Starren wollte Hermine auf keinen Fall, aber was sie sah, versetzte sie in Erstaunen. Severus Kehle begann leicht zu schimmern, auch sein Brustkorb und der Magen. Der Trank hinterließ eine sichtbare Spur.

„War das bei jedem Trank so?“, fragte sie neugierig, zeigte dabei auf die leuchtenden Stellen.
„Ja, nur nicht so stark.“
Sie erinnerte sich daran, vor wenigen Tagen einen hellen Fleck an seinem Thymus gesehen zu haben. Schon da hatte sie vermutet, dass der Farbtrank, mit dem sie die Pflanzen gewässert hatte, sich in dem Heiltrank niederschlug. „Wie schmeckt er?“
Severus ließ den Becher in seinen Schoß sinken. „Nicht so gut, wie er riecht. Ein wenig nach Mohn.“ Mohn war eine der Zutaten. „Und ziemlich bitter.“ Die Alkaloide. „Aber es ist nicht von Nöten, dass er schmeckt. Er soll schließlich wirken.“

Sie lächelte zurückhaltend und drückte innerlich die Daumen. Nach dem letzten Schluck verschloss Severus das Gefäß wieder und stellte es auf den Nachttisch, bevor er mit einem Wutsch seines Stabes das Licht im Zimmer löschte. Trotzdem war es noch so hell, dass man mit etwas Mühe ein Buch lesen könnte. Severus leuchtete. Selbst als er die leichte Bettdecke bis zum Hals hinaufzog, schien das Licht noch immer hindurch.

„Ich hoffe, du kannst dabei schlafen“, scherzte er, um seine böse Vermutung zu vertuschen, mit dem Trank könnte etwas nicht stimmen.
„Es macht mir überhaupt nichts aus. Ich kann bei Licht ganz gut schlafen. Damals mussten meine Eltern immer ein Nachtlicht brennen lassen, weil ich der felsenfesten Überzeugung war, ein schwarzer Mann würde unter meinem Bett hausen.“
„Jetzt haust er im Bett. Fragt sich nur, ob das besser ist.“
Hermine lachte. „Viel besser!“ Sie rutschte näher an Severus heran und nahm seine Hand. „Ich habe nämlich keine Angst.“
Er drehte sich zur Seite. Ihre umfassten Hände lagen in Brusthöhe. „Ich schon“, gestand er leise.
Verzweifelt drückte sie seine Hand, aber sie wusste, dass es keine Möglichkeit gab, ihm diese Angst zu nehmen. „Weck mich, wenn irgendwas ist“, flüsterte sie. „Egal was. Ein Traum, ein beängstigender Gedanke. Weck mich einfach. Du sollst das nicht allein durchstehen.“
„Dann wirst du mit mir aufbleiben müssen. Ich befürchte, ich werde nicht schlafen können.“
In seinem Licht musste er sie lächeln sehen. „Dann bleibe ich wach. Ich bin sowieso noch viel zu aufgedreht.“
„Wegen dem Trank?“
Sie rückte noch weiter zu ihm hinüber, so dass sie ihren Kopf auf seinem Kissen ablegen konnte. „Nein, der ganze Tag heute ...“ Sie seufzte erleichtert. „Es war wunderschön, und dann noch ...“
Er wartete, doch sie sagte nichts mehr. „Dann noch ...?“
„Der Tanz, die Verlobung, der Kuss“, zählte sie mit verträumtem Lächeln auf.
„Jetzt kannst du wenigstens nie wieder behaupten, ich wäre berechenbar.“
Hermine grinste. Ihre zweite Hand fand den Weg nach oben und strich über seinen Unterarm. „Wie war eigentlich die Unterhaltung mit meinem Dad?“
„Anfangs unangenehm, am Ende gelassen. Deine Eltern wollen uns einladen, kommende oder übernächste Woche.“
„Wir werden sehen. Erst einmal muss es dir gut gehen.“
„Im Moment fühle ich mich ausgezeichnet. Ich könnte sogar versuchen, ein Auge zuzutun.“
„Dann wünsche ich eine angenehme Nacht, Severus. Und versprich mir ...“
„Ja, ich werde dich wecken, wenn etwas ist.“ Mit Schmunzeln fügte er hinzu: „Oder wenn du schnarchst.“
„Frechheit!“, sagte sie leise und darüber hinaus amüsiert. „Ich schnarche nicht.“
„Wir werden sehen. Gute Nacht, Hermine.“
„Gute Nacht, Severus.“
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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218 Nacht der Wunder




„Siehst du, Molly: Es hat dich niemand darauf angesprochen, dass der Tanz des Brautpaares ...“

Ein leises Schnarchen ließ Arthur mitten im Satz aufhören. Den langen Tag der Hochzeit spürten viele in ihren Knochen. Molly schien anfangs die Ausnahme zu sein. Gerade noch plauderte die auf dem Bett liegende Frau mit ihrem Mann über den ereignisreichen Tag, da übermannte sie der Schlaf. Er selbst war noch viel zu aufgekratzt, um sich hinzulegen. Aufmerksam blickte er sich im Hotelzimmer um. An jedem einzelnen Möbelstück erkannte man, wie edel die Schlossräume eingerichtet waren. Selbst das Badezimmer war mit seiner eingelassenen Wanne ein Traum. So verführerisch ein heißes Bad auch sein mochte, er wollte Molly um nichts in der Welt wecken. Ein Bad kam nicht in Frage, aber nicht, weil sie es hören würde – dagegen gab es Zaubersprüche. Molly würde merken, dass er nicht neben ihr lag. Damit sie nicht besorgt aufwachen und nach ihm suchen würde, legte sich Arthur neben sie und deckte sie zu, bevor er ihr noch einen Kuss auf die Stirn gab.

Die Weasleys waren im Schloss Schnatzer alle auf einer Etage untergebracht. Ein Zimmer weiter kam Fleur gerade aus dem Badezimmer. Sie zupfte sich das seidene Nachthemd zurecht und schaute danach zum Bett hinüber.

„Bill, lass bitte dein Gesicht in Ruhe“, bat sie, als sie sich neben ihn legte.
„Ich kann nichts dafür. Es juckt. Das muss vom Rauch kommen.“
„Es wurde auf der Hochzeit überhaupt nicht geraucht, mein Schatz.“ Weil er sich vorsichtig mit einer Hand über das Gesicht fuhr, fasste sie einen Entschluss. „Warte einen Moment.“ Aus ihrem Kosmetikkoffer holte sie eine kleine Dose, deren Deckel sie abschraubte, bevor sie sich wieder aufs Bett setzte. „Komm her, mein Schatz.“
„Was ist das?“ Als er sich aufsetzte, bemerkt er sofort den angenehmen Geruch, den der Inhalt der Dose verströmte.
„Eine Salbe mit Nachtkerzenöl.“ Daraus wurde Bill nicht schlau, also erklärte sie: „Das ist eine Blume. Die Salbe hilft bei juckender Haut.“ Mit einem Zeigefinger nahm sie etwas davon auf und führte es an Bills Wange.
„Ich kann das selbst machen“, sagte er beschämt.

Ihr Finger strich bereits über die Wange mit den knotigen Verwachsungen, die entstanden waren, weil Teile der Haut zusammenwachsen mussten, obwohl etwas von ihr fehlte. Ein Gruß von Greyback. Langsam massierte sie die vernarbte Stelle direkt unter dem Wangenknochen. Als sie fertig war, kam die andere Seite an die Reihe. Hier war sie vorsichtiger. Die Haut war dünn, könnte sogar reißen oder mit Leichtigkeit durchstochen werden, sagte damals ein Heiler im Mungos. Das war der Grund, warum Bill sich angewohnt hatte, besonders harte Sache wie die Kruste von Brot nur noch auf der anderen Seite zu kauen. Bill hatte die Augen mittlerweile geschlossen und genoss die wohlfühlende Gesichtsmassage, vor allem aber den abklingenden Juckreiz.

„Vielleicht war es nur der Stress des ‘eutigen Tages?“
Ganz selten vergaß sie bei ihrer Aussprache ein h, weshalb Bill lächeln musste. „Ich hatte keinen Stress“, hielt er mit sanfter Stimme dagegen. Stirn und Hals wollte sie nicht außen vor lassen. Entspannt warf er den Kopf nach hinten und ließ sich von ihr verwöhnen. Am Ende gab sie ihm je einen Kuss auf die geschlossenen Augenlider.
„Ist es besser?“, wollte sie wissen.
„Auf jeden Fall! Das Zeug wirkt Wunder. Ich hätte nie gedacht, dass du so etwas brauchst.“
Minimal beleidigt stellte sie richtig: „Ich brauche solche Cremes nicht. Ich habe sie wegen deiner Mutter mitgenommen. Sie bekommt manchmal diese“, sie fuchtelte vor ihrem Gesicht herum, „scheußlich roten Flecken, wenn sie sich überanstrengt.“
„Das ist lieb von dir. Weiß sie, dass du so an sie denkst?“
Fleur schraubte den Deckel auf die Dose und stellte sie auf dem Nachttisch ab. „Sie muss es nicht wissen.“ Dicht an ihn geschmiegt gab sie ihm einen Kuss auf die durch alte Wunden verformten Lippen. „Schlaf gut, mein Herz.“

Ein Zimmer weiter übernachtete Charlie, doch er lag noch nicht im Bett. Stattdessen stand er in der großen Wanne und ließ sich vom Duschkopf mit heißem Wasser berieseln. Zudem schrubbte er jede Stelle seines Körpers mit einer Bürste, sog dabei durch die Zähne Luft ein.

„Das ist ja nicht auszuhalten“, murmelte er genervt. Nicht gerade zaghaft navigierte er die Bürste mit drehenden Bewegungen über jede einzelne Partie seines Körpers, auch über die Narben, die er im Laufe der Jahre von seinen lieben Drachen davongetragen hatte. Lediglich eine Stelle packte er nicht grob ab. Die gerötete Haut trocknete er zaghaft mit einem der großen Handtücher. Auch Charlie kannte die Wirkung der Nachtkerzensalbe. Die gehörte zur Standardausrüstung der Reservatsangestellten. Großzügig verteilte er die gut duftende Salbe auf dem ganzen Körper. Danach ging er noch immer nicht ins Bett, sondern las sich zum siebten Mal die Verträge durch, die seine Vorgesetzten ihm für Snape mitgegeben hatten. Die ganze kommende Woche war Charlie noch im Land. Die Apotheke von Hermine wollte er unbedingt sehen, bevor er wieder nach Rumänien reisen müsste. Nur langsam kam die Müdigkeit. Charlie gab nach und legte sich ins Bett. Durch die Wand hindurch konnte er Stimmen hören. Es musste George sein, dachte Charlie, bevor er einschlief.

George und Percy teilten sich ein Zimmer. George hätte auch mit Charlie zusammen übernachten können, wie er es anfangs auch wollte, aber aus irgendeinem Grund glaubte er, Percy würde sich dann ausgeschlossen fühlen. Noch immer war Percys Vergangenheit, seine Arbeit unter Fudge und seine beinahe unverzeihlichen Handlungen, bei denen man nur mit dem Kopf schütteln konnte, ein wunder Punkt der Familie Weasley. Wenn George in sich ging und sich die Frage stellte, welchen Bruder er weniger mochte, dann wäre die Antwort Percy. Solche Fragen stellte man jedoch niemanden. Man sollte sich nicht einmal sich selbst stellen. Dieser eine Bruder schlug vom Wesen her völlig aus der Reihe. Er war ordnungsliebend, pflichtbewusst und – was die Familie fast entzweit hätte – viel zu ehrgeizig. Schon während des Krieges hatten sich Percys Ansichten geändert, aber seine Familie traute ihm nicht über den Weg. Erst nach dem Sieg über Voldemort wollten sie ihn empfangen. Ginny hat mit der Benennung ihres Jungen einen neuen Grundstein für die Familie gelegt. Percy gehörte dazu. Das wollte auch George ihm zeigen. Was ihm nur gegen den Strich ging war das ständige Nörgeln.

„George! Du kannst nicht einfach andere belauschen.“
George nahm das Ohr von der Wand und fragte mit frechem Grinsen: „Doch, das geht ganz leicht. Hast du doch eben gesehen.“
„Sowas macht man aber nicht.“ Percy schüttelte den Kopf, hielt George für unverbesserlich und das war er auch. Während Percy sich am hoteleigenen Schreibtisch wieder seinem Pergament widmete und nach Worten grübelte, die er niederschreiben wollte, drückte George erneut das Ohr an die Wand. Er hörte jemanden lachen, laut lachen. Es war Harry.
„Was treiben die nur in ihrer Hochzeitsnacht?“, fragte George in den Raum hinein, als er gelangweilt die halbherzige Observation sein ließ.

Es wäre witzig gewesen, morgen beim Frühstück gewisse Geräusche aus dem Nebenzimmer anzusprechen, um Harry einen gesunden Rotton auf die Wangen zu zaubern, aber sein Schwager schien sich auf ganz andere Weise zu amüsieren. Georges Interesse widmete er nun dem Bruder, mit dem er das Zimmer teilte. Stocksteif saß Percy an dem gemütlich wirkenden Tisch und strich sich mit der Feder über die Lippen, während er verträumt in die Gegend blickte. Er war mit seinen Gedanken woanders. Leise schlich sich George an und stierte Percy über die Schulter. Auf dem Pergament stand Liebe Penelope – mehr nicht.

„Wow!“ Bei dem einfachen Ausdruck der Überraschung fuhr Percy erschrocken zusammen, drehte sich um und bedeckte gleichzeitig das Geschriebene mit der freien Hand, obwohl es längst zu spät dafür war. „Hat es dich erwischt?“ Zwar bekam nicht Harry, dafür aber Percy rosige Wangen. Für George eine kleine Genugtuung. „Was willst du ihr schreiben?“
Percy überlegte, ob er offen sprechen wollte und gab sich einen Ruck. „Ob sie ...“ Er zögerte. „Ob sie sich mit mir treffen möchte.“
„Dann schreib doch einfach: Liebe Penelope, ich würde dich gern zum Essen einladen. Wie wäre es am kommenden Wochenende im – hier setzt du das Restaurant deiner Wahl und die Uhrzeit ein“, gab George an nett gemeinten Ratschlag.
Percy stutzte. „Ein wenig plump, oder?“
„Zumindest bringst du deine Absichten auf den Punkt, anstatt mit Zweideutigkeiten alles hinauszuzögern. Und“, George hob den Zeigefinger, „du erfährst es schneller, wenn sie nichts von dir möchte. Stell dir vor, du schreibst ihr monatelang – in deinem Fall wohl eher jahrelang – nette Briefe und wenn du den nächsten Schritt wagst, dann heißt es von ihr“, er verstellte die Stimme und sprach hoch, „oh Percy, ich dachte, wir wären nur gute Freunde.“
Irgendetwas regte sich in Percy. Er nickte. „Du hast Recht“, gab er leise zu. Nach einem kleinen Seufzer sagte er: „Ich schreibe ihr morgen. Langsam bin ich wirklich müde.“ Percy stand auf, doch bevor er ins Badezimmer ging, wollte er plötzlich wissen: „Ist das mit Gabrielle ernst?“
Regungslos blickte George ihn an, schien selbst nach einer Antwort zu suchen, die er geben wollte. „Ich weiß es nicht, kenne sie ja kaum. Sie ist nett.“
Sein zwei Jahre älterer Bruder musste schmunzeln. „Du bist ihr heute nicht von der Seite gewichen.“
„Was daran lag“, schob George als Erklärung vor, „dass sie von Fleur und ich von Fred dazu genötigt wurde, Schluss mit unserem Singleleben zu machen. Gabrielle war genauso genervt wie ich. Nachdem wir nur noch zusammen in Erscheinung traten, hatten wir plötzlich unsere Ruhe, also verbrachten wir den Rest des Abends zusammen.“
„Mmmh“, machte Percy nicht sehr überzeugt. „War also nur ein Mittel zum Zweck. Wirst du sie nochmal sehen?“
„Wir treffen uns Montag und am Mittwoch begleite ich sie ins Ministerium, wo sie ihren Portschlüssel für die Weiterreise abholt.“
Percy zog beide Augenbrauen nach oben. „Weiterreise?“
„Sie macht einen Abstecher nach Island, um einen Zauberstabhersteller zu besuchen. Ihre Ausbildung macht sie aber in Frankreich, bei Fernandi.“
„Du meintest doch, du kennst sie kaum.“

Diesmal war es George, bei dem sich ein Hauch Röte über die Wangen legte. Grinsend verschwand Percy im Bad. George wollte sich gerade hinlegen, da hörte er nebenan nochmals jemanden gackern.

Es war Harry, der vor lauter Lachen schon vom Bett gefallen war.

„Was hat er gesagt?“, wollte er nochmal von Ginny hören.
Ginny tat ihm den Gefallen und schilderte von vorn: „Als Seamus stolz herumerzählte, dass er auf dem Rückweg von Hermines Geburtstagsfeier zufällig auf Umbridge uriniert hat, da meinte Sirius ...“ Harry begann wieder kichern, obwohl sie es noch gar nicht gesagt hat. Bei seinem Anblick musste nun auch Ginny anfangen zu lachen. Sie riss sich zusammen, als sie völlig gelassen seinen Patenonkel imitierte: „Die würde ich nicht einmal anpinkeln, wenn sie brennen würde.“ Harrys Augen tränten. Zu gern hätte er seinen Patenonkel dabei gesehen. „Harry“, lachte Ginny, „der Witz ist uralt.“
„Mag sein“, er rückte seine Brille gerade, grinste dabei noch immer breit, „aber mit Seamus‘ Vorgeschichte passt das so wunderbar.“
„Dafür hätte er wirklich einen Orden verdient“, stimmte Ginny mit ein. Sie zog die Bettdecke zurück, um sich hinzulegen. „Kommst du auch ins Bett oder schläfst du daneben?“, stichelte sie. Langsam kroch er ins Bett, legte die eben noch geradegerückte Brille auf dem Nachttisch ab. Als er die Matratze berührte, begann Harry mit schlängelnden Bewegungen damit, seinen Rücken am Laken zu reiben. „Was wird denn das?“, wollte Ginny wegen der seltsamen Bewegungen wissen.
„Ich glaube, ich habe meine Hochzeitsgarderobe nicht vertragen. Es juckt überall.“
„Kann ich dir irgendwie behilflich sein?“ Ungenau deutete sie in eine Richtung. „Soll ich den Stuhl für dich in einen Kratzbaum verwandeln.“
„Sie sind ganz schön vorlaut, Mrs. Potter.“ Der Name klang in Harrys Ohren wie ein wahrgewordener Traum.
„Dreh dich mal um, und zieh vor allem deinen Pyjama aus. Was soll denn das?“, beschwerte sie sich scherzhaft. „Es ist unsere Hochzeitsnacht und du kommst in voller Montur ins Bett.“
„Entschuldige vielmals, werde es sofort ändern.“ Im Nu hatte er sich aufgesetzt und zog das Pyjama-Oberteil aus, das er kurzerhand ziellos in den Raum warf. Die Hose folgte. „Könntest du ...?“ Er drehte sich auf den Bauch und zeigte ihr den Rücken.
„Meine Güte, Harry. Hast du eine Allergie, von der ich nichts weiß? Dein Rücken ist ganz rot.“
„Wirklich? So rot wie mein Haare vorhin waren?“
Der Scherz ihrer Brüder ließ sie lächeln. „Nein, sieht eher aus, wie ein leichter Sonnenbrand.“ Mit den Fingern einer Hand strich sie sanft über die weißen Narben, die von geröteter Haut umgeben waren. Eine Menge Todesser hatten sich nicht getraut, Harry von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen, weshalb sie ihn feige von hinten angriffen. „Juckt es schlimm? Ich könnte was besorgen, damit sich die Haut beruhigt.“
„Nein, wenn du bitte nur ein bisschen schubberst? Dann wird es schon gehen.“

Leicht wie eine Feder ließ sich Ginny auf seinem Allerwertesten nieder und legte ihre Handflächen auf seine Schulterblätter. Mit streichenden, teils kreisenden Bewegungen begann sie damit, gegen seinen Juckreiz anzugehen. Bei der zaghaften Berührung fing Harry an zu stöhnen.

„Oh, ja! Das ist genau das“, ein wonniger Seufzer unterbrach seinen Satz, „was mir jetzt gefehlt hat.“
„Dass wir verheiratet sind“, ihre Handflächen strichen mit leichtem Druck neben seiner Wirbelsäule hinunter bis zum Po, „bedeutet aber nicht, dass ich ab jetzt deine persönliche Masseurin bin.“
„Nicht?“, stichelte er vorgetäuscht irritiert. „Wozu habe ich dich dann geheiratet?“

Ginny konnte nicht anders. Seinen Scherz bestrafte sie aktiv, denn sie kitzelte seine völlig schutzlosen Seiten und brachte Harry auf diese Weise zum Schreien, bis er sich gackernd zusammenrollte, um ihrer Kitzelattacke zu entgehen. Er scheiterte kläglich.

Gleich im Zimmer nebenan saßen Fred und Verity am Kopfende ihres Bettes und starrten gemeinsam ungläubig zur Wand hinüber, hinter der jemand erneut in Gelächter ausgebrochen war – einmal sogar japsend nach Hilfe rief. Verity führte ihre Hand hinüber zu Freds und umfasste sie.

„Was treiben die da nur?“, fragte sie ihren langjährigen Freund.
„Jedenfalls nicht das“, begann er nüchtern, „was ich in einer Hochzeitsnacht treiben würde.“
Verity seufzte. „Du willst doch gar nicht heiraten. Dann wirst du auch nie erfahren, was in der Nacht danach passieren könnte.“
Aus ihren Worten hörte Fred einen Vorwurf heraus. „Haben wir das Thema nicht schon bis zum Erbrechen durchgekaut?“
Wütend richtete sich Verity im Bett auf, zog ihre Kopfkissen hinunter und schlug zweimal auf die unschuldigen Daunenfedern ein, während sie zischelte: „Bis zum Erbrechen ist genau die richtige Bezeichnung. Du konntest es ja nicht lassen, lieber eine Kotzpastille zu schlucken, als mit mir zu reden.“ Sie wandte ihm den Rücken zu und schmiss sich auf die Kissen.
„Verity …“
„Gute Nacht!“ Mit einer Handbewegung löschte sie das magische Licht auf dem Nachttisch.

Irgendetwas war während des kurzen Gesprächs schiefgelaufen, das war Fred klar geworden. Gespräche über eine mögliche Hochzeit hatte er immer gemieden, manchmal mit zugegebenermaßen sehr brachialen Methoden, als er beispielsweise erwähnte Kotzpastille eingenommen hatte, um sich nicht mehr zum Thema äußern zu müssen.

„Ich verstehe es nicht“, sagte er in die Dunkelheit hinein. „Warum ist eine Unterschrift so wichtig? Wir können auch so glücklich sein.“ Neben ihm schnaufte es, doch Verity hielt den Mund. „Es ist doch alles gut wie es ist, oder etwa nicht?“
„Unsere Beziehung stagniert, Fred! Alles um uns herum entwickelt sich weiter, wirklich alles. Mit dem Scherzartikelladen geht es kontinuierlich bergauf, in der Gesellschafft allgemein ändert sich vieles zum Positiven und sieh‘ nur mal die Menschen um uns herum! Da heiraten Leute, die sich nicht einmal so lange kennen wie wir uns. Bei uns ändert sich absolut nichts.“ Sie seufzte, bevor sie leise offenbarte: „Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie viele Hochzeiten und Geburten ich in unserem Bekanntenkreis noch ertragen kann, ohne in Selbstzweifeln zu ertrinken.“ Diesmal blieb Fred still, so dass sie sich zu ihm drehte. Im Dunkeln sah sie seine Augen glitzern. Er lag auf dem Rücken und blickte zur Decke, ließ sich ihre Worte durch den Kopf gehen. „Ich weiß“, begann sie leise, „warum du dich so sträubst.“
„Ach ja?“, fragte er unerwartet feindselig zurück.
Verity rückte näher und war froh, trotz seiner harschen Worte von ihm empfangen zu werden, denn er legte seinen Arm um ihre Schulter. „Kann es sein, dass du befürchtest, auf einen Schlag erwachsen sein zu müssen?“
„Unsinn!“
Von seinem Einwand ließ sie sich nicht irritieren. „Glaubst du, du dürftest nicht mehr Kind sein, wenn du selbst eines hast?“
„Man muss doch aber nicht heiraten, um Kinder zu bekommen“, hielt er ihr vor Augen.
„Muss man nicht, aber ich würde es schön finden.“
„Warum?“, wollte er ernsthaft wissen. „Damit du einen Ring herumzeigen kannst?“
„Mir ist egal, was andere denken. Der Ring ist nur für mich. Wenn ich Ware in die Regale sortiere, dann werde ich ihn sehen, oder wenn ich koche oder bade. Ich werde mich nie alleine fühle.“
„Du kannst auch so an mich denken. Dazu brauchst du keinen Ring“, versuchte er, seinen Standpunkt zu verteidigen.
Verity legte einen Arm um seinen Oberkörper. „Wenn ich plötzlich versterben sollte ...“
„Ich will sowas nicht hören!“
„So etwas es kann jederzeit passieren, Fred. Und wenn ich nicht mehr unter den Lebenden weilen sollte, dann wird alles, was ich besitze, automatisch meinen Eltern und meiner Schwester gehören.“ Gedanklich notierte sie, demnächst einen letzten Willen schriftlich zu gestalten, damit genau das nicht eintreffen würde. „Und wenn man mich böse verfluchen sollte und ich im bewusstlos Mungos liege“, sein Arm drückte sie leicht an sich, „dann wird man dich nicht zu mir lassen“, ihre Stimme bebte, „weil du nicht zu meiner Familie gehörst.“ Dieses fiktive Szenario ging ihr sehr nahe. „Dabei würde ich dich gerade in so einem Moment ...“

Der Rest des Satzes wurde erstickt, als Fred sie so sehr an sich drückte, dass ihr Gesicht sich an sein Schlüsselbein schmiegte. Um sich selbst wieder zu beruhigen, pflanzte sie einen Kuss auf die weiche Stelle unter seinem Adamsapfel. Der Kuss trug auf der Stelle Früchte, denn auf ihrer Stirn regnete es viele kleine Küsse.

Weit weg in Malfoy Manor lagen Narzissa und Lucius ganz ähnlich in ihrem Ehebett zusammen. Auch er küsste die Stirn seiner Frau, doch sein Atem dabei war nicht so ruhig wie der von Fred. Selbst Narzissa holte kräftig Luft. Während beide darauf warteten, dass ihre Herzen sich beruhigten, bedachten sie den anderen mit sanften Liebkosungen.

Nach einer Weile blickte Narzissa ihren Mann an. Ein seliges Lächeln hatte sich zu dem befriedigtem Gesichtsausdruck gesellt, als sie fragte: „Sagtest du nicht, deinem Rücken geht es heute nicht sonderlich gut?“
„Das war während der Feier“, hauchte er erschöpft, beinahe dem Einschlafen nahe. „Als ich vorhin vor dem Zu-Bett-Gehen sagte, ich würde mich wie ein junger Gott fühlen, war das nicht gelogen.“
„Ja schon, aber dass du auch wie einer liebst ...?“
Lucius fühlte sich geschmeichelt. Er lächelte nun ebenfalls, aber nicht nur mit dem Mund, sondern auch mit den Augen, was kaum jemand neben seiner Frau zu sehen bekam. Er blinzelte müde. „Vielen Dank für das Kompliment.“ Mit einem Kuss auf die porzellanhafte Stirn wollte er seine Worte unterstreichen. Blind griff er nach der Decke, die sie in ihrer stürmischen Leidenschaft ans Fußende geschoben hatten. Liebevoll deckte er sie und sich mit dem dünnen Federbett zu. „Ich habe Lust“, begann Lucius schläfrig, „morgen mit dir irgendwohin zu gehen.“
„Wohin denn?“
„Ich weiß es nicht. Vielleicht an einen verträumten See, den wir ganz für uns allein haben. Wir könnten uns ein paar schönen Stunden machen, nur du und ich.“
Sie kicherte. „Du möchtest mich aber nicht zum Nackbaden verführen, oder?“
Eine Erinnerung an die Hochzeitsreise blitzte auf. Der Indische Ozean. Narzissa, wie sie ihren Hut festhielt. Die freche Brise, die ihr Kleid gelüftet hatte und schlanke Beine freilegte – und der See, den sie mit niemanden teilen mussten. „Nur wenn du möchtest.“ Narzissa spürte an ihrer Stirn, wie Lucius grinste. „Niemand wird uns sehen, dafür sorge ich“, beruhigte er sie. „Schlaf gut, mein Täubchen.“

Bei der sentimentalen Bezeichnung, die Lucius damals gern während der Zeit des Werbens benutzt hatte, fühlte sich Narzissa in die Vergangenheit zurückversetzt, aber das erste Mal während ihres neuen Lebens hatte eine Erinnerung an alte Zeiten keinen bitteren Beigeschmack. Das war etwas, was sich nie geändert hatte: die Liebe zu ihrem Mann.

Im gleichen Herrenhaus kuschelte sich Draco an Susan – nicht umgekehrt, wie man meinen könnte. Nach dem entspannenden Techtelmechtel legte sie einen Arm um ihn und strich gedankenverloren über sein Schulterblatt bis hin zum Oberarm und wieder zurück. Eine ganze Weile verlor keiner von beiden ein Wort. Über Liebesnächte musste man nicht sprechen, man musste sie erleben.

Kurz vorm Einschlafen wollte Susan unbedingt in einem einzigen Satz den gesamten Tag umschreiben, denn sie flüsterte: „Die Hochzeit war wunderschön.“
„Mmmh“, stimmte er müde zu. „Ich bin ganz froh, dass wir beide vor Harry geheiratet haben.“
„Wieso denn das?“ Sie drehte ihren Kopf, damit sie ihm in die Augen sehen konnte, doch die waren geschlossen.
Dennoch antwortete er: „Weil jeder, der nach ihm heiratet, enorme Schwierigkeiten haben wird, seine Braut zu beeindrucken.“
„Wieso?“
„Versuch doch mal, den heutigen Tag zu übertrumpfen. Das wird schwer werden.“
„Ach“, sie schüttelte den Kopf, „ich glaube nicht, dass jemand sich an der Hochzeitsfeier eines Freundes orientieren muss, um eine eigene, wunderbare Vermählung zu erleben.“
„Man möchte seiner Zukünftigen doch aber etwas bieten.“
„Nach welchen Maßstäben soll man da gehen? Nicht jeder hat das Geld für so eine Feier. Ich will gar nicht wissen, was das alle gekostet hat.“
Draco war wieder putzmunter. Er küsste Susan knapp über der Achsel, wo die Haut besonders weich war, bevor er sie anschaute. „Ich habe Bilder von der Hochzeit meiner Eltern gesehen. Die Feier meiner Tante war noch pompöser. Jeder wollte den anderen übertreffen.“
„Das ist völlig bescheuert“, sagte sie mit einem Grinsen auf den Lippen. Mit ihrer freien Hand strich sie sich über die Schulter, die seit heute Abend unangenehm schmerzte. „Bei deinem Patenonkel kann ich mir zum Beispiel nicht vorstellen, dass ihm an einer großen Hochzeitsfeier mit unzähligen Gästen etwas liegt. Er würde viel mehr im kleinen Kreis feiern.“
„Severus? Der würde gar nicht heiraten“, sagte Draco sehr von sich überzeugt.
„Da habe ich heute aber etwas anderes gehört.“
Von ihren Worten neugierig gemacht stützte er sich auf seinem Ellenbogen ab, damit er sie gut sehen konnte. „Wie meinst du das?“
„Ich habe gehört, wie dein Vater deiner Mutter von der Neuigkeit erzählt hat, Severus hätte sich verlobt.“ Völlig verdutzt öffnete Draco seinen Mund, doch es kam kein einziges Wort heraus. „Du kannst mir glauben, Schatz“, versicherte sie ihm. „Dein Vater war nicht gerade begeistert, aber deine Mutter hat sich gefreut wie ein Schneekönig.“
„Severus ...“ Er riss die Augen auf, schluckte kräftig. „Severus ist verlobt? Seit wann? Und mit wem?“ Die Antwort fiel ihm sofort ein. „Nein, sag nichts. Es ist Hermine, oder?“ Es war weniger die Tatsache, dass Hermine die Auserwählte war. Viel überraschender war die Aussage, dass Severus überhaupt jemanden heiraten wollte. „Hermine?“
Susan lachte. „Wer denn sonst?“
Ein gedanklicher Vergleich bestätigte, dass Severus zwar durchaus ein paar andere Frauen kannte, aber keine von denen so gut, dass er sie ehelichen würde. Es blieb nur ... „Hermine“, wiederholte er überrascht. „Warum hat er mir nichts erzählt? Und vor allem: Warum hat Hermine mir nichts erzählt? Sie war meine Trauzeugin, verdammt.“
„Warum regst du dich so auf? Es kann doch sein, dass sie es nur nicht vor allen Leuten sagen ...“
„Ich bin doch nicht ‚alle Leute‘, Susan. Ich bin sein Patenkind!“
„Und er sehr gnatziges noch dazu.“
„Nun werden Sie mal nicht beleidigend, Mrs. Malfoy.“
Bei der Anrede mussten beiden lächeln. „Draco, du bist ein Schatz, wirklich. Trotzdem ist es Sache deines Patenonkels, wann er wem irgendwelche Neuigkeiten aus seinem Leben preisgibt.“
„Hermine hätte mir doch sagen ...“
„Für sie gilt das Gleiche.“ Mit beiden Armen wollte sie ihn an sich drücken, da strich sie ihm über den Brustkorb, woraufhin er Luft durch die Zähne einsog. „Was hast du?“
„Ach, nichts. Die Narbe juckt nur ganz furchtbar.“ Myrthes Toilette. Harry. Eine Menge Wut und Sectumsempra. „Mr. Moody meinte vorhin, wenn seine Narben jucken, dann schneit es bald.“
Susan stutze. „Wir haben Juni.“
„Das habe ich ihm auch gesagt. Daraufhin meinte er, es wären ja nicht seine Narben, die jucken würden.“ Draco seufzte. „Ich kann ihn irgendwie nicht ausstehen.“
„Er ist doch aber ganz nett.“ Mit einem Male huschte Susan ein Bild Mr. Moody als Lehrer für Verteidigung durch den Kopf. „Ist es wegen dem falschen Moody, bei dem wir Unterricht hatten?“ Draco winselte, was einem Ja gleichkam. „Das war doch ein anderer.“
„Bei Merlin, erinnere mich bloß nicht Crouch junior. Ich habe nicht mal gewusst, dass er ein Todesser war. Und ich habe ihn gehasst, als er mich in ein ...“
Stille trat ein. Susan konnte nichts dagegen unternehmen, ständig das Wort „Frettchen“ in Gedanken zu wiederholen. „Crouch junior war ein Idiot. Der echte Moody hätte das niemals getan.“
Draco schnaufte. „Weißt du, was mich damals wirklich überrascht hat?“
„Was?“
„Dass Professor McGonagall für mich eingetreten ist. Sie hat ihn für sein Verhalten zurechtgewiesen. Das war das erste Mal, dass sie mir sympathisch war.“ Trotzdem lachten die anderen Schüler. Draco konnte das Gelächter noch heute hören. Die Situation war peinlich gewesen, kränkend.
Susans verträumte Stimme riss ihn wieder aus den unangenehmen Gedanken. „Ich hätte dich gern als weißes Frettchen gesehen“, sagte sie ohne jeden Spott in der Stimme. „Frettchen sind niedlich.“

Damit brachte sie ihn sogar dazu, diesen verletzenden Moment seines Lebens in einem anderen Licht zu sehen. Susan lachte nicht über ihn, hätte auch damals nicht gelacht, wäre sie dabei gewesen. Als Dankeschön strich er ihr übers Haar.

Mit einer Strähne spielte er verliebt, als er sagte: „Weißt du eigentlich, wie sehr mir dein Haar gefällt? Es sieht aus wie der Himmel bei einem Sonnenaufgang.“
„Oh, du Schmeichler.“ Mit einem Kuss auf die Lippen bedankte sie sich für sein Kompliment.

Nicht nur die Malfoys hatten das Angebot ausgeschlagen, im Schloss Schnatzer übernachten zu dürfen. Die meisten Lehrer waren zurück nach Hogwarts gegangen, aber auch Neville und Luna. Beide waren erst jetzt aus dem Mungos zurückgekehrt, nachdem sie wegen der späten Uhrzeit eine Rüge von der Nachtschwester über sich ergehen lassen mussten. Manchmal war Neville froh, dass seine Großmutter selten ein Blatt vor den Mund nahm, denn selbiges wendete sich, als Augusta Longbottom der Nachtschwester die Leviten las und auf einige Missstände hinwies, die man, wenn man Böses vermuten würde, der Unfähigkeit besagter Nachtschwester zuschreiben konnte. Die Nachtschwester ließ die Longbottoms ohne weitere Worte ihre Arbeit verrichten. Zusammen mit Schwester Kathleen wurden Alice und Frank entkleidet, gewaschen, in baumwollende Nachthemden gewandet und letztendlich ins Bett gesteckt.

Seine Eltern waren unruhig gewesen. Als Neville sich in seinem Zimmer im Hufflepuff-Terrain aufs Bett setzte und die Socken auszog, rief er sich den Anblick seines Vaters ins Gedächtnis. Immer wieder hatte Frank mehrmals die Augen zusammengekniffen, was er normalerweise tat, wenn ihm etwas schmeckte. Ein Glas Wasser rief diese Reaktion nicht hervor, doch das war es gewesen, was Frank vor dem Schlafengehen noch bekommen hatte. Neville bemerkte nicht, wie er mit seiner Bewegung innehielt. Zeige- und Mittelfinger waren in den elastischen Bund der Socke genauso gefangen wie Nevilles Geist, der für dieses sonderbare Verhalten seines Vaters eine Erklärung suchte. Auch seine Mutter war rastlos gewesen. Sie hatte ihre Arme umhergeworfen. Der Kopf legte sich von links nach rechts, wieder und wieder, und ihre Augen waren weit aufgerissen, wenn sie auch nichts mit ihnen fixiert hatte. Es wäre die Aufregung des Tages gewesen, hatte seine Großmutter gesagt. An Kathleens Mimik konnte Neville jedoch ablesen, dass sie das Benehmen der beiden Patienten nicht nur ebenfalls für auffällig hielt, sondern dass sie sich sorgte. Also sorgte sich Neville auch.

„Der Blick steht dir“, hörte er plötzlich Lunas Stimme sagen.
Neville schüttelte unmerklich den Kopf, um ihn klar zu bekommen. Die Hand taute auf und führte die eingefrorene Bewegung an der Socke automatisch fort. Er schaute zu Luna, die im Schneidersitz direkt vor ihm auf dem Boden Platz genommen hatte. Sie war längst in ihr Nachthemd geschlüpft. „Was für ein Blick?“ Die Socke flog von dannen.
„So verträumt.“
Er lächelte. Gerade sie musste das sagen. Seine Sorge teilte er ihr nicht mit. Morgen würde er seine Eltern sowieso besuchen. Dann könnte er sich davon überzeugen, dass alles wie immer war. Ihm fiel auf, dass Luna sich mit den Fingern einer Hand über den Kopf fuhr und einen unsichtbaren Scheitel zog. „Was machst du da?“
Sie legte beide Hände auf den Kopf, spreizte die Finger und strahlte. „Es fühlt sich an, als würden Engel mich berühren.“
„Wie fühlt sich denn sowas an?“, fragte er völlig ernst, während er damit begann, sein Hemd aufzuknöpfen.
„So“, veranschaulichte sie ihm, denn mit einer Handfläche strich sie sich langsam über den Kopf.
Nevilles Hemd fand auch einen Platz am Boden, bevor er vor Luna auf die Knie sank, damit sie auf gleicher Höhe waren. „So?“, wiederholte er und ersetzte ihre Hand durch die eigene.

Liebevoll streichelte er ihren Kopf. Luna schloss die Augen, als sie seine Berührung genoss. Sie blieb nicht lange passiv, denn sie legte ihre Handflächen auf seine nackte Brust, nur um zu fühlen. Sie fühlte gern. Manchmal kniete sie sich während eines Spaziergangs im Park einfach hin, um ihre Hände von Gräsern kitzeln zu lassen. Wenn sie Neville im Gewächshaus besuchte, kam es nicht selten vor, dass Luna ihre Hände in der feuchten Erde vergrub. Weiches mochte sie, wie Ginnys Minimuff Arnold, aber auch fließendes Wasser oder die rosigen Nasen von Abraxanern. Sie liebte Kieselsteine, Federn, Blüten, sogar Hufeisen. Besonders gern fühlte sie die samtene Haut von Thestralen. Am liebsten von allem war aber das Gefühl von Nevilles Herzschlag, den sie fühlen konnte. Immer wieder aufs Neue war sie davon fasziniert, wie es stetig schneller schlug, sobald sie sich nahe waren. Völlig unverhofft legte sie, noch immer mit geschlossenen Augen, ein Ohr an sein Herz. Neville ließ sich nicht beirren und strich ihr weiterhin über den Kopf.

„Gehen wir ins Bett, Neville.“ Mit ihrer romantisch angehauchten Stimme fügte sie noch hinzu: „Heute ist eine Nacht voller Wunder.“
Neville grinste. „Eine Nacht voller Wunder? Ich glaube, du erwartest ein bisschen zu viel von mir, Luna.“
Langsam entfernte sie sich wieder von ihm. „Ich erwarte einen Gutenachtkuss“, den bekam sie von ihm sofort, „ein wenig Schlaf und eine Überraschung.“
„In der Reihenfolge?“
„Hab ich die Liebe vergessen? Die kommt vor dem Schlaf“, versicherte sie, bevor sie aufstand und ihm ihre Hände entgegenhielt, um ihm aufzuhelfen.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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Rest von Kapitel 218

Während die meisten Hochzeitsgäste sich bereits zum ersten Mal in der Nacht im Schlaf umdrehten, kämpften andere damit, ein Auge zuzutun. Obwohl der Körper dringend Erholung forderte, war der Geist hellwach.

Ein solches Sorgenkind war Severus. Im Bett hatte er sich still verhalten, die Augen geschlossen, doch der Schlaf wollte einfach nicht kommen. Der Griff zum Trank der lebenden Toten könnte Abhilfe schaffen, doch Severus fand die Gedanken, die ihn wachhielten, viel zu interessant, als dass er sie in Bewusstlosigkeit ertränken wollte. Am heutigen Tag war eine Menge geschehen. So viel, dass er sofort darüber nachdenken wollte und nicht erst morgen oder übermorgen. Er hatte es wirklich getan, bestätigte er sich in Gedanken selbst. Er hatte den Antrag einer Frau angenommen. Seine Mutter würde jetzt schimpfen „Das gehört sich aber andersherum!“, würde ihn im gleichen Moment herzlich an sich drücken und sehr wahrscheinlich in Freudentränen ausbrechen. Er vermisste sie. Hermine hätte ihr gefallen, auch wenn seine Mutter im ersten Moment – im Gegensatz zu den Grangers – gegen den Altersunterschied gewettert hätte. In solchen Dingen war seine Mutter immer altmodisch gewesen. Severus versuchte sich vorzustellen, wie sein Vater reagiert hätte. Der Mann war schwer einzuschätzen. Wäre er nüchtern, würde er bei dem Gedanken, womöglich bald noch mehr Zauberer und Hexen in der Familie zu haben, sehr wahrscheinlich angewidert die Nase rümpfen. Wäre er betrunken, würde er die zukünftige Schwiegertochter von oben bis unten mustern, flegelhaft aufstoßen und irgendeinen einen nicht salonfähigen Kommentar von sich geben, für den Severus sich in Grund und Boden schämen würde. Es war ganz gut, dass er keinen Kontakt mehr zu diesem Mann pflegte. Noch besser war, dass Hermine seinen Vater nicht kannte. Weniger als eine Handvoll Menschen aus seinem Bekanntenkreis waren jemals Tobias Snape begegnet. Albus stand ihm einmal gegenüber, gezwungenermaßen auch Poppy, die alte Schulfreundin seiner Mutter. Lange musste Severus nicht überlegen, denn es gab sonst niemanden, der diesen ungebildeten, rüpelhaften Gewohnheitstrinker mit ihm in Zusammenhang bringen konnte.

Immer wieder, Severus bemerkte es kaum, kratzte er sich an den gleichen Stellen: unter den Rippen und am Bauch. Neben ihm lag Hermine. Zwar schlief sie, aber merklich unruhig. Sie hatte sich so häufig umgedreht, dass Severus nach dem achten Mal aufgehört hatte zu zählen. Ihre Beine waren besonders lebhaft. Manchmal stieß sie ihn versehentlich mit dem Knie oder Fuß an, was ihn aus seinen Gedanken riss, denn dann blickte er hinüber zu der Frau, die er guten Gewissens seine nennen durfte. Ihre buschigen Haare bedeckte das weiße Kopfkissen vollständig. Bis zum Ende seines Lebens würde er diesen Anblick genießen dürfen – hoffte er.

Diesmal war es nicht ein leichter Tritt von der Seite, sondern ein leises Geräusch an den Scheiben, das ihn daran hinderte, sich eine Zukunft auszumalen. Neugierig stand er auf und ging zu den Fenstern hinüber. Es nieselte. Severus bückte sich ein wenig, um den Himmel besser betrachten zu können. Es war bedeckt. Nach dem warmen Tag würde frische, kühle Luft guttun und so öffnete er die Fenster. Das unregelmäßige Plätschern, das immer stärker wurde, wirkte sich auf unerklärliche Weise beruhigend auf ihn aus. Nach langer Zeit war das der erste Moment, den er bewusst damit verbrachte, dem Regen zu lauschen. In den Kerkern hatte er vom draußen herrschenden Wetter nie Kenntnis gehabt – es war immer gleichbleibend kühl und klamm gewesen.

Plötzlich stieß etwas an seine Wade. Hermines Kater schmiegte sich an ihn, schnurrte dabei. Fellini strich um die Beine und wollte anfangs, wie Severus es oft bei Hermine beobachtet hatte, zwischen den Beinen hindurchlaufen, um eine unsichtbare Acht zu gehen. Der Weg des Haustieres wurde durch das knöchellange, weiße Nachthemd versperrt, weswegen der Kater seine Gewohnheit änderte und außen um Severus‘ Beine herumstrich. Severus nahm das Tier auf. Als er den Kniesel kraulte, dabei aus dem Fenster in die verregnete Nacht starrte, hatte er ein Déjà-vu. Eine Erinnerung an seine damaligen Haustiere aus Kindertagen drängte sich seinem Bewusstsein auf. Kater und Katze – nicht unbedingt originellen Namen für Haustiere, aber sie hatten ihren Zweck erfüllt. Seine Mutter hatte sie vor einem tierfeindlichen Nachbarn gerettet. Seitdem lebten die beiden bei ihm, seit er fünf Jahre alt war. Katze war von einem Auto überfahren worden, als sie drei war, was ihm einen so großen Schock versetzt hatte, dass er sich schwor, nie wieder ein neues Haustier aufzunehmen, bis Harry kam, der vergessene Welpe aus dem Verbotenen Wald. Nach Katzes Tod hing Severus an ihrem Bruder. Der lebte, wenn Severus Hogwarts besuchte und sein Vater nicht nüchtern genug war, um das Tier zu füttern, gern von den Mäusen, die es in den leerstehenden Häusern der heruntergekommenen Nachbarschaft zur Genüge gab. Kater war elf Jahre alt geworden und dankte während Severus‘ sechstem Schuljahr ab. Zum Sterben hatte sich das Tier unter Severus‘ Bett verkrochen und wollte nicht angefasst werden, wollte ganz allein sein Leben beschließen. An den Brief von seinem Vater, der ihm sonst niemals geschrieben hatte, konnte er sich noch sehr gut erinnern. Die Muggelpost hatte ihn per Eule weitergeleitet. Es war ein Freitag gewesen, als Severus während des Frühstücks in der Großen Halle die schlechte Nachricht in der krakeligen Handschrift seines Vaters las, gespickt mit den unzähligen Rechtschreibfehlern. Sie lautete: Kater ist tod Hab ihn im park beerdigt beim Findling wo Katze ligt. An diesem Tag hatte Severus die Arbeit in Zaubertränken mit der Note Mies verhauen. Slughorn hielt das für einen schlechten, leicht durchschaubaren Scherz der Gryffindors und ließ seinen besten Schüler die Arbeit am Montag darauf nachschreiben – mit Ohnegleichen bestanden.

Severus seufzte und blickte auf das lebendige, laut schnurrende Tier in seinen Armen. Der Wind war angenehm kühl, aber zu kalt, um sich weiterhin direkt am Fenster aufzuhalten. Langsam schlenderte Severus hinüber zum Bett, in dem Hermine wieder auf der Stelle trat und sich damit der eigenen Decke beraubte. Damit sie keinen Zug bekommen würde, entschloss sich Severus dazu, sie zuzudecken. Fellini setzte er auf seiner Seite des Bettes ab, bevor er herumging. Hermine lag auf dem Bauch, winkelte im Schlaf das rechte Bein an, bevor sie es Sekunden später wieder von sich streckte. Vorsichtig entwirrte er die Decke, die er ihr bis zum Hals hochzog. Der Kater, nun putzmunter, lief über Hermines Beine zu Severus hinüber und rieb sein Gesicht an ihm.

„Was?“, fragte Severus das Tier. Fellini legte sich hin, rollte sich auf den Rücken. Der Bauch lag frei und verführte zum Streicheln. Langsam, damit die Matratze sich nicht zu sehr bewegen würde, setzte sich Severus an Hermines Fußende und führte die Hand an Fellinis schwarzen Bauch. Der Kater streckte sich und genoss die nächtliche Streicheleinheit sichtlich und hörbar.

Eine leise Stimme, die seinen Namen sagte, riss ihn erneut aus seinen Erinnerungen.

„Severus?“
Er sah, wie Hermines Hand im Dunkeln auf seiner Seite des Bettes herumtasteten. „Ich bin hier“, machte er so ruhig wie möglich seine Anwesenheit präsent, um sie nicht zu erschrecken.
Sie drehte sich um und rieb sich die Augen. „Was tust du denn da?“, murmelte Hermine verschlafen. „Ist etwas?“ Man hörte ihre Befürchtung, der letzte Trank könnte ein Fehlschlag gewesen sein.
„Alles in Ordnung. Ich kann nur nicht schlafen“, beruhigte er sie, kraulte Fellini dabei seelenruhig weiter.
Als sich Hermines Augen in der Dunkelheit zurechtfanden, erblickte sie den Kater. „Du lässt es dir ja vielleicht gut gehen. Lässt dir einfach die Wampe kraulen.“ Plötzlich sog Hermine Luft durch die Zähne ein. Weil es sich anhörte, als würde sie fauchen, nahm Fellini augenblicklich Reißaus.
„Was hast du?“
Sie fasste sich an die Wade. „Ein Krampf. Oh Himmel, tut das weh!“
Severus behielt die Ruhe. „Setz dich auf.“
„Es geht nicht.“ Mit brummenden, knurrenden Lauten versuchte sie, ihrem Schmerz Ausdruck zu verleihen. Kaum berührte sie ihr Bein, ließ sie wieder los und stöhnte laut und schmerzerfüllt.
Vorsichtig entfernte Severus die Bettdecke. Sein Blick fiel sofort auf den verzerrten Unterschenkel. Die Muskeln waren so angespannt, dass sie sich gut sichtbar unter der Haut abzeichneten. Ein Anblick, den er von einem Cruciatus gewohnt war, denn der wirkte ähnlich unkoordiniert auf sämtliche Muskeln des Körpers wie ein Krampf. „Komm, setzt dich hin. Ich helf dir.“
Zaghaft umfasste er ihren Knöchel, um das Bein zu drehen, da schalt sie ihn: „Fass es ja nicht an! Es tut weh!“ Jammernd wiederholte sie den letzten Satz mehrmals. Sie spürte nun am eigenen Leib, wie hilflos ein Taucher sich fühlen müsste, wenn er in hundert Metern Tiefe mit solchen Beschwerden zu tun bekam. Die spasmischen Bewegungen der Wade waren die Hölle.
„Du musst auftreten“, riet er ihr. Jetzt verkrampften sich sogar ihre Zehen. Sie warf den Kopf zurück und öffnete den Mund, als wollte sie schreien. „Jetzt ist es genug!“ Gelassen zog er seinen Stab unter dem Kopfkissen hervor und sprach: „Mobilcor...“
„Nein, nein, nein!“
„Hermine“, Severus seufzte und überlegte sich eine andere Taktik. „Ich kann dir einen Trank holen.“
Der Krampf in der Wade ließ mit einem Male nach, so dass sie sein Angebot ausschlug. Hermine atmete erleichtert aus. „Mannomann!“ Um keinen weiteren Krampf zu provozieren, setzte sie sich mit Bedacht aufrecht hin. Mit einer Hand betastete sie die beanspruchten Muskeln im Unterschenkel. „Ich fühle mich wie nach einem Marathonlauf.“ Ihre Beine zog sie ganz gemächlich über den Rand des Bettes. „Gott, hab ich einen Muskelkater. Das kann doch nicht wahr sein! Wie spät ist es überhaupt?“
„Kurz vor sechs.“
„Na prima, da können wir schon mal ausschlafen und dann wach ich um sechs auf“, verkündete sie schlecht gelaunt.
Nörgeleien mochte Severus gar nicht, also ignorierte er ihre Worte und wechselte das Thema. „Ich mache mir einen Kaffee. Möchtest du etwas Tee?“
„Um diese Zeit?“
„Ich werde sowieso nicht mehr schlafen können.“
Sie nickte. „Ich nehme einen Tee.“

Bevor er in die Küche ging, zog sich Severus einen Morgenmantel über. Hermine schloss das Fenster im Schlafzimmer. Es regnete noch immer. So kurz nach dem Aufstehen fand sie es unangenehm kühl, weshalb sie ihre Decke mit ins Wohnzimmer nahm. Auf der Couch zog sie die Beine an. Mit kreisenden Bewegungen beruhigte sie den Schmerz im Muskel. Von unten hörte sie den Hund einmal bellen. Severus schien den beiden etwas zu Fressen zu geben, denn normalerweise war Harry ruhig. Wenn er bellte, dann nur kurz, weil er sich über etwas freute, was selbst bei einem frisch gefüllten Fressnapf der Fall war. Geschirr klimperte. Der Duft von Tee wurde von starkem Kaffeegeruch in den Hintergrund gedrängt. Und schon kam Severus zurück. Er trug ein Tablett in der Hand. Hermine lächelte. So dürfte es gern jeden Morgen sein, dachte sie. Andererseits würde sie auch gern für ihn das Frühstück machen, denn wie es aussah, hatte er neben den heißen Getränken auch ein paar Leckereien gezaubert. Speck mit Eiern, Schinken, Brot und natürlich Käse. Zuvorkommend rückte sie Zaubertränkezeitschriften beiseite, damit er das Tablett abstellen konnte. Severus wirkte nicht anders als gestern. Bisher hatte er auch nicht verlauten lassen, dass er sich anders fühlen würde und sie hütete sich davor, ihn zu fragen.

„Hast du Lunas Geschenk eigentlich schon aufgemacht?“, fragte sie, obwohl ihr sein Wohlbefinden viel mehr am Herzen lag.
„Nein.“ Er schenkte Hermine Tee ein und schien dabei nicht ein kleines bisschen neugierig.
„Willst du denn nicht wissen, was es ist?“
„Nicht sofort, aber offensichtlich kannst du es nicht abwarten, das Päckchen zu öffnen.“
„Darf ich?“, bat sie mit glänzenden Augen.
Ihre vorweihnachtliche Vorfreude im Juni amüsierte ihn. „Mach es auf.“
„Accio ...“
„Moment! Wie willst du es herbeirufen? Vielleicht mit ‚Accio Miss Lovegoods’s Geschenk an Severus?‘.“
Hermine grinste. „Vielleicht klappt es ja?“

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren ging Severus in sein Schlafzimmer, um aus der Innentasche seines Umhangs die kleine Überraschung zu herauszuziehen. Als er zurück war, überreichte er es Hermine.

„Es ist doch aber dein Geschenk“, sagte sie, während ihre Finger schon eine Ecke des Papiers öffneten.
„Wie wäre es, wenn du es erst wieder vergrößerst?“
„Ach ja, richtig.“ Beinahe hätte sie vergessen, dass Luna das Geschenk verkleinert hatte. Hermine legte es auf den Boden und bemerkte eine klitzekleine Wichtigkeit. „Ich habe meinen Zauberstab nicht hier.“ Severus rollte mit den Augen, musste jedoch schmunzeln. Er zog seinen Stab aus dem Morgenmantel, was Hermine stutzig werden ließ. „Wie kannst du deinen Stab im Morgenmantel mit dir herumführen? Der hat doch keine Innentaschen, oder?“
„Es gibt Zaubersprüche“, er näherte sich dem Geschenk, „die dafür sorgen, dass der Stab sogar an der nackten Haut hält.“
„Hui“, Hermine ließ die Augenbrauen auf und ab tanzen, „den musst du mir beizeiten mal zeigen.“
Severus schluckte, rang sich ein zurückhaltendes Lächeln ab. Den Stab richtete er auf das Päckchen, als er sagte: „Finite!“ Das kleine Päckchen verwandelte sich in eine große, flache Box, die so lang wie ein Arm von Severus war und so breit wie sein Unterarm.
„Na ja, ein Buch ist es zumindest nicht“, mutmaßte Hermine scherzhaft. „Luna meinte, sie hätte es nie veröffentlicht. Ich dachte an einen Text, weil sie doch für die Muggelpost schreibt.“
Severus hob das viereckige Geschenk auf und wollte es gerade Hermine reichen, da fiel sein Blick auf das Geschenkpapier. „Spielen hier etwa Hunde miteinander?“ Er gab es weiter, so dass Hermine sich davon überzeugen konnte.
Mit einem Nicken stimmte sie zu. „Ist doch niedlich. Vielleicht hat sie das Papier gewählt, weil du einen Hund als Haustier hast.“
„Vielleicht wollte sie sich auch einfach nur über mich lustig machen.“
„Unfug! Du kennst Luna nicht so gut wie ich. Sie nimmt niemanden auf den Arm.“

Das an einer Ecke bereits angerissene Papier zog Hermine vorsichtig ab. Da sie wegen ihrer auf der Couch angewinkelten Beine leicht schräg saß, konnte Severus zwar ihr Gesicht sehen, nicht aber das, was sich unter dem Papier befand. Er wollte keinesfalls interessiert wirken, auch wenn er sich den Kopf zerbrach, was seine ehemalige Schülerin ihm wohl schenken könnte. Das Papier war endlich entfernt und legte einen Bilderrahmen frei, den Severus allerdings nur von hinten sah. Dafür konnte er Hermines Augen sehen, die beim Anblick des Geschenks ganz weich geworden waren. Ihr Blick huschte interessiert über Details, die Severus verborgen blieben.

„Jetzt verstehe ich“, begann Hermine mit verzückter Stimme, „warum Luna meinte, es könnte ein falscher Eindruck entstehen.“ Sie legte ihren Kopf schräg, wie sie es oft tat, wenn ihr etwas gefiel. „Ich finde es schön.“

Severus war froh, dass er sie nicht bitten musste, das Geschenk umzudrehen. Sie kam von ganz allein darauf. In einem Rahmen aus Palisanderholz offenbarte sich ihm ein bewegtes Bildnis seiner selbst, aufgenommen in jener Nacht, in der man Peter Pettigrew fangen konnte – in der Nacht, in der der Fuchsbau brannte. Mit seiner schwarzen Gestalt zeichnete sich Severus deutlich vom orangeroten Hintergrund ab. Das züngelnde Feuer hinter ihm schien ihn gerade ausgespuckt zu haben. Vielen Menschen würden das Bild so interpretieren, als wäre er aus dem Tor der Hölle herausgetreten. Seine Freunde hingegen würden es ganz anders deuten, würden das Feuer mit den Flammen eines Phönixes vergleichen, aus denen er wiedergeboren worden war. Die zweite Assoziation gefiel ihm sehr viel besser.

„Hängen wir es auf?“, fragte sie begeistert. „Hier im Wohnzimmer vielleicht.“
„Ich weiß nicht.“
„Darf ich es dann in meinem Schlafzimmer aufhängen?“
Severus wandte seinen Blick von dem Bild ab, um ihr in die Augen zu schauen. „In deinem Schlafzimmer? Wann hast du es überhaupt zuletzt betreten?“ Sie dachte so lange nach, dass er schmunzeln musste. „Dachte ich es mir. Du kannst dich nicht mal mehr daran erinnern.“
Unsicher erklärte sie: „Das war irgendwann vor zwei Wochen?“
„War das eine Frage?“ Er hatte sie kalt erwischt, denn sie schaute beschämt auf ihre nackten Füße, die nicht weit von seinen Schenkeln entfernt waren. „Wie geht es deiner Wade?“
„Muskelkater“, quengelte sie.
„Möglicherweise leidest du an einem Ungleichgewicht deines Mineralstoffhaushaltes.“
Hermine grinste verstohlen. „War das eine Diagnose?“
„Hast du das öfter?“, wollte er wissen, womit er ihre schelmische Frage ignorierte. „Wenn ja, dann solltest du das untersuch...“
„Das letzte Mal hatte ich so einen Krampf vor fünf oder sechs Jahren, nachdem wir zwei Tage ohne Stopp vor“, sie zögerte, „Todessern fliehen mussten. Ich denke, es liegt an ...“
„Den Schuhen“, unterbrach Severus sie punktgenau. „Du hattest am See bereits geschwollene Füße! Das konnte ja nicht gut gehen.“ Er meckerte nur halbherzig, während er zu seiner Kaffeetasse griff. „Frauen und ihr unverständlicher Drang nach Selbstverletzung“, murmelte er in die Tasse, bevor er einen Schluck nahm.
„Das muss unbedingt jemand sagen, der sich in enge Kleidung einschnürt“, hielt sie scherzhaft dagegen.
„Das hat einen Grund.“
Jetzt wurde sie hellhörig. „Welchen?“ Severus blieb stumm. „Was für einen Grund?“ Noch immer erwiderte er nichts. „Erst neugierig machen und mich dann wie dumm dastehen lassen.“
„Ich ...“, er zögerte, atmete tief durch. „Ich wurde in der Schule Opfer eines Scherzes. Seit diesem Tag trage ich Kleidung, die sich nicht leicht entfernen lässt.“
Hier endete seine Erklärung. „Ich bin genauso schlau wie vorher“, gab sie kleinlaut zu. Sie konnte sich nicht vorstellen, was für ein Scherz ihn dazu animiert haben könnte, Kleidung mit unzähligen Knöpfen zu tragen.
„Black“, zischte er, als würde die Nennung dieses Namens die absolute Erleuchtung bringen.
„Dass Sirius oft Unsinn angestellt hat, das ist mir beka...“
„Unsinn?“, unterbrach er. „Der Mann hat zusammen mit Potter Freude dabei empfunden, seine Mitschüler öffentlich zu demütigen.“
Sie nickte. Die Auszüge aus Remus’ Tagebuch haben bei ihr genau dieses Bild von Sirius entstehen lassen. „Ich verstehe den Zusammenhang trotzdem nicht“, gab sie offen zu.
„Levicorpus“, sagte er kurz und knapp.
Angestrengt dachte sie nach. Levicorpus ließ einen Menschen kopfüber baumeln – ein ihrer Meinung nach völlig sinnfreier Zauberspruch. Wenn ein Schüler sich, wie es damals üblich war, an die eingebürgerte Kleiderordnung halten würde und nichts unter seiner Robe ... „Oh“, machte sie peinlich berührt, obwohl sie nicht wusste, ob er unter seiner Schuluniform etwas getragen hatte oder nicht. Selbst mit Unterwäsche wäre es unangenehm. Würden alle ihr Höschen sehen, würde sie vor Scham im Erdboden versinken. Verlegen rieb sie ihre Wade.
„Tut es noch weh?“, wollte er wissen. Das vorherige Thema wurde begraben.
„Der Muskelkater wird wohl noch ein paar Tage bleiben. Wo wir uns gerade nach dem Wohlbefinden erkunden: Wie geht es eigentlich deinem Arm?“
Severus stellte die Tasse auf den Tisch und krempelte den Ärmel hoch. Zu sehen war ganz wenig Schorf. „Wie du siehst, ist es fast vollständig verheilt.“
Neugierig rückte sie auf, zog dabei ihre leichte Bettdecke mit. Seinen Unterarm legte sie auf ihren Oberschenkeln ab. Hermine betrachtete die helle Haut. „Man sieht rein gar nichts mehr.“ Sie musste nicht erwähnen, dass sie das dunkle Mal meinte. Ihr Finger strich um den Schorf herum. „Die Haut wird mit der Zeit nachdunkeln.“ Weil sich die Haare am Arm aufstellten, strich sie mit der flachen Hand mehrmals darüber, um den Schauer zu vertreiben. Dass Hermine mit einer Decke auf der Couch saß, konnte er gar nicht nachvollziehen. Ihm war ganz warm. „Ich würde gern etwas ausprobieren“, sagte sie und sprang von der Couch auf.

Ihr leichtes Nachthemd bedeckte wenig, die Beine schon gar nicht. Als sie aus dem Wohnzimmer eilte, dachte er für einen Moment, etwas auf ihrer Wade auszumachen. Der Gedanke an ihren Unterschenkel nahm ihn jedoch nicht so sehr ein wie ihr gesamtes Erscheinungsbild. Er kam in den Genuss, ihre vollständige Gestalt zu betrachten, als sie erneut das Wohnzimmer betrat. Ihre Haare ließen sie unbändig erscheinen. Ein kleiner Wildfang. Im Nu saß sie wieder neben ihm. Er drehte sich auf der Couch, damit sie sich direkt gegenübersitzen konnten und legte wie sie ein angewinkeltes Bein auf das Polster. Sie hielt ihm etwas entgegen. Eine Phiole. Ihr Farbtrank. Das Einzige, das dazu imstande war, die erfolgreiche Wirkung des letzten Heiltranks zu offenbaren. Es war nicht zu übersehen, dass Hermines Hand zitterte, als sie ihm den Trank reichte. Er nahm nicht nur die kleine Flasche, sondern auch ihre Hand in seine. Ihr Lächeln zuckte nervös, flammte auf und verschwand wieder. Sie war unsicher.

„Mein Herz schlägt wie verrückt“, gestand sie. „Fühl mal.“

Auch ohne Farbtrank wollte er ihr eine Bestätigung seines gesunden Gefühlszustandes geben, denn er fühlte sich unmerklich anders, fühlte sich gut, befreit. Langsam lehnte er sich vor. Sie erschrak nicht, beobachtete aber jede seiner Bewegungen. Wie in Zeitlupe kam sein Gesicht dem ihren näher. Seine Wange strich über ihre, bevor er sich noch mehr zu ihr neigte, vorbei an ihrem Ohr und hinunter zu ihrem Hals, an dessen Puls er nippte. Ein kurzer Schauer durchfuhr sie, doch ihre Hand, die seine Schulter fand und ihn an Ort und Stelle hielt, bekräftigte ihn in seinem Vorhaben. Ihr Herz raste, ihr Brustkorb bebte. Genauso bedächtig trat er den Rückzug an, vermisste es dabei nicht, ihre Wange abermals mit seinen Lippen zu streifen.

„Ja“, sagte er leiser als gewollt, „dein Herzschlag geht schnell.“

Mit verklärten Augen schaute sie ihn an. Der Farbtrank schien unwichtig, doch Severus wollte auch einen sichtbaren Nachweis haben. Er öffnete seine Phiole. Das quietschende Geräusch des Korkens machte sie auf seine Hände aufmerksam. Mit seinem gläsernen Behälter stieß er an ihren, als wollte er ihr zuprosten. Hermine verstand den Hinweis und öffnete ihr Fläschchen. Gleichzeitig stürzten sie den Trank hinunter, der für mindestens eine halbe Stunde die Farben ihrer Magie zeigen sollte. Noch immer schwer atmend stellte sie die leere Phiole auf den Tisch und richtete den Blick auf ihr Gegenüber. Innerlich flehte sie. Es musste etwas kommen. Das letzte Mal hatte sich ein blassroter Schimmer an seinem Brustbein gezeigt. Spannung lag in der Luft, denn auch Severus hoffte innig, das Grau würde ein für allemal der Vergangenheit angehören.

Hermine leuchtete als Erste. Ihr kräftiges Orange stach sogar die warmen Sonnenstrahlen aus, die mit dem Tagesanbruch durch die Fenster lugten, als würden auch sie es kaum abwarten können, Severus in voller Pracht zu erleben. Hermines Strebsamkeit schlug sich auch diesmal in goldbraunen Farbtönen nieder, während Hingabe und Opferbereitschaft ihre Beine dunkelblau bedeckten. Kaum begannen die Vögel der aufgehenden Sonne ihren Morgengruß entgegenzusingen, da machte Severus dem hellsten Stern mit lichtgelber Farbe Konkurrenz. Wie eine wundersame Korona erstrahlte das helle Gelb um den roten Fleck herum, der sich im Zentrum befand – am Herzen. Vor lauter Verwunderung legte eine Hand auf das eigene Herz, das nur noch heftiger schlug. Severus blickte an sich herab, sah auch neben den neuen Farben das bekannte, blasse Rot, das in den Hintergrund gedrängt wurde. An seinen Beinen fand sich ein dezenter Grünton und – das gefiel ihm besonders – das gleiche, kräftige Orange wie bei Hermine. Er war sich sicher, auch wenn das niemals nachgewiesen werden könnte, dass sie ihm etwas von sich gegeben hatte.

„Oh, mei...“ Ihre Worte starben, noch bevor sie geboren wurden. Ihr Staunen, ihre Erleichterung und ihre Freude konnte Hermine sowieso nicht mit Hilfe der Sprache ausdrücken. Gebannt starrte sie auf den roten Fleck an Severus’ Herzen, wo der Thymus eine neue Seele wiegte. Sie hörte einen Schluchzer und erschrak, als sie sich selbst als Ursache ausmachen konnte, denn Severus – und das berührte sie – lächelte, als er sich über die Brust strich. Unbemerkt von Hermine erkundete ihre Magie auf eigene Faust das umliegende Gebiet. Hauchdünne Fäden schlängelten sich von ganz allein hinüber zu Severus, um Kontakt mit seiner sichtbaren Magie aufzunehmen.
„Du bist wie immer aufdringlich“, scherzte er mit hörbarer Rührung.
„Was?“ Sie folgte seinem Blick und bemerkte, wie sich etwas von ihren blau umhüllten Oberschenkeln dem Grün seiner Beine näherte, um Guten Tag zu sagen. Eine Geste, die sehr wahrscheinlich in den vergangenen Wochen und Monaten bereits unsichtbar getätigt worden war. Hermine streckte eine Hand aus und legte sie auf sein Knie. Sofort wurde ihre Hand von der grünen Farbe ergriffen, als wollte man sie das erste Mal offiziell begrüßen. „Das ist atemberaubend“, hauchte sie fasziniert von dem Schauspiel.

Severus strich ihr über die Wange. Beim letzten Mal hatte seine Magie einen schmutzig wirkenden Schleier hinterlassen, doch diesmal war es ein farbenfroher Strich, als hätte er ihr mit Fingerfarben eine Indianerbemalung aufgetragen. Als er ihre Hände auf seiner Brust fühlte, blickte er erneut an sich herab. Goldbraun floss ihre Magie in ihn, während sein Herz ein wenig Rot spendete. Es war ein beidseitiges Geben und Nehmen von Farbe, von Magie. Unerwartet fühlte er einen Kuss auf seiner Wange.

„Wofür war der?“
Überglücklich erwiderte sie: „Weil du lächelst.“
„Das tu ich gar nicht“, leugnete er lächelnd.

Seine Hand fuhr an ihrem Unterarm hinauf bis zur Schulter, zum Hals und hinterließ dabei einen farblichen Nebel in Regenbogenfarben. Hermine hingegen strich über seinen Brustkorb. Mit dem Zeigefinger zeichnete sie den Umriss des roten Zentrums nach, das ihm mehr als zwanzig Jahre fehlte. Beide hatten alle Zeit der Welt, erkundeten und betasteten sich gegenseitig in aller Ruhe. Überall war Farbe. Wo sie sich berührten, entstanden neue Töne, als würden die in der Farbpallette eines himmlischen Malers neu gemischt.

Nach dreißig Minuten begannen die Farben langsam zu verblassen. Hermine war darüber zwar traurig, wusste aber, dass sie sich nur ihrer Wahrnehmung entzogen und nicht tatsächlich verschwanden. Euphorisch fiel sie Severus um den Hals und drückte ihn an sich, freute sich über den leichten Druck, den seine Hände an ihrem Rücken ausübten, als er die Umarmung erwiderte. Sie hörte ein leises Danke an ihrem Ohr. Vielleicht sprach sie dieses Wort aber auch nur im Geiste, um sich bei überirdischen Mächten zu bedanken. Der sichtbare Heilerfolg machte Severus mutig. Zaghaft rieben seine Hände ihren Rücken. Seine Wange strich über ihre Haare, über die Stirn, bis seine Lippen der Form ihrer Augenbrauen nachfuhren. Ein Kuss an der Schläfe, einer auf die Wange. Erwartungsvoll drehte sie ihren Kopf und bekam das, was sie erhoffte. Er küsste sie auf den Mund, erst sanft, wie beim ersten Mal, dann stürmischer. Sie hieß sein Feuer willkommen, konnte sich selbst nicht mehr beherrschen. Nachdem sich ihre Magie vorhin schon ausgiebig kennen lernen durfte, begrüßten sich nun ihre Zungen das erste Mal auf französische Art.

Die Frage, was ein Kuss in seelischer Hinsicht bewirkte, hatte noch nie jemand beantworten können. Bei Zauberern und Hexen sowie bei Muggeln war es pure, unerklärliche Magie, die freigesetzt wurde. Die Euphorie, die man bei einem Kuss verspürte, ließ Hermine beispielsweise gerade die hochmütige Behauptung aufstellen, das Universum bis ins kleinste Detail erklären zu können. Das war eine völlig einfache Aufgabe, denn es gab ja nur sie beide. Bei Severus hingegen war ein kleiner Teil seines Gehirns – einer, mit dem er trotz der Überflutung durch Adrenalin noch denken konnte – mit der Aufgabe beschäftigt, sämtliche Küsse seines Lebens mit diesem einen zu vergleichen. Als er zu dem Ergebnis kam, dass kein Einziger diesem besonderen auch nur annähernd das Wasser reichen konnte, ergab er sich vollends der neuen Erfahrung, dass ein Kuss nicht gleich ein Kuss war. Manchmal war es viel mehr.

Keiner von beiden bemerkte, wie der Hund genüsslich den Speck von den Tellern stibitzte oder wie Fellinis kleine Zunge hurtig über die Butter leckte.

Die Sonnenstrahlen schauten nicht nur bei Hermine und Severus nach dem Rechten. In einem Zimmer der Janus Thickey-Station schien die Sonne durch einen Spalt des Vorhangs. Durch die Wärme im Gesicht erwachte die dort liegende Frau, öffnete die Augen. Heute war irgendetwas anders. Der Blick zum Fenster war nicht unkontrolliert wie sonst – er war gewollt. Die Frau blinzelte. Schon oft hatte sie die Sonne gesehen, aber lange Zeit nicht als solche erkannt. Die heutige Besonderheit bestand darin, dass sich das Wort Sonne in ihrem Gedächtnis wiederholte. Das Licht, das durch die Fenster drang, war nicht mehr nur mit dem Empfinden von Wärme und Wohlbehagen verknüpft, sondern mit einer dazugehörigen Bezeichnung. Verunsichert schaute sich die Frau im Zimmer um. Alles war ihr vertraut und trotzdem fühlte sie sich fremd, weil jeder Gegenstand erst heute einen Namen trug. Das war es, was die Frau aus der Fassung brachte. Verängstigst schloss sie die Augen, doch es hörte nicht auf. Das eben Gesehene huschte über verschiedene Nervenbahnen, deren Enden nicht mehr verbrannt, zerrissen oder verkümmert waren. Nach langer Zeit wurden die Informationen, die das Auge übermittelten, wie in einem gut organisierten Büro bis zur richtigen Tür getragen, um dort weiterverarbeitet zu werden. Im ersten Moment schmerzte es, wenn sich laut quietschend eine dieser verstaubten Türen öffnete, die seit so langer Zeit stillgestanden hatten. Das Wort Gardine stieß eine Tür in ihrem Kopf auf, ließ ein Bild vor ihrem inneren Auge entstehen. Ein kleiner Junge, der geradeso laufen konnte, lachte fröhlich, als er mit einer wehenden Gardine spielte und sich hinter ihr versteckte. Erschrocken öffnete sie die Augen und blickte sich um, doch hier war kein Kind. Sie schaute nach rechts. Ein Nachttisch, registrierte ihr Gehirn mit Worten. Ein Bilderrahmen mit einer alten Frau und einem jungen Mann, den sie nicht kannte. Die Frau im Bett stöhnte. Ihr Kopfschmerz wurde mit jedem neu erfahrenen Begriff größer. Augusta Longbottom. Der Name zu der Dame auf dem Bild war schnell gefunden. Es gab viele, schöne Erinnerungen mit dieser älteren Frau.

Die gegenüberliegende Wand zierte ein magischer Kalender. Die Zahl 27 war hervorgehoben, aber weder Monat noch Jahr konnte man von hier aus erkennen. Das Bild neben ihr ließ sie nicht in Ruhe. Sie war sich sicher, dass auch ihr eigener Nachname Longbottom war. In Gedanken sah sie plötzlich einen Mann. Von ganz allein verknüpfte ihr Gehirn die Erinnerung an das spielende Kind mit dem Mann, von dem es stammte. Ihr Mann. Frank.

Alice winselte. Ihr Kopf schien kurz davor zu zerbersten, als sie sich den eigenen Lebenslauf vor Augen halten wollte. Dass sie ein Leben gehabt hatte, wusste sie, aber weder konnte sie ahnen, wo sie war noch weshalb sie dieses Zimmer nicht mit dem Wort Zuhause verbinden konnte. Es war nicht ihr Zuhause, aber sie wollte dorthin, an den Ort, an dem ein kleiner Junge auf sie wartete. Alice wollte aufstehen, doch kaum ein Muskel in ihrem Körper gehorchte. Nicht einmal ihren Arm konnte sie heben. Erneut blickte sie zum Nachttisch, zum Bild. Augusta sah alt aus, viel älter als in ihrer Erinnerung. Der junge Mann irritierte sie besonders. Die Gesichtszüge sahen vertraut aus. Eine schlimme Ahnung versetzte sie in Panik. Sie wollte das Bett verlassen, doch sie konnte sich höchstens hin und her bewegen, so dass das metallene Gitter leicht zu quietschen begann. Heftig atmend wollte sie sich ihrem unbestimmten Schicksal ergeben und daran glauben, dass alles sich zum Guten wenden würde. Ihr Vorhaben wurde von den Gedanken an die Bedrohung durch Voldemort und seine Todesser vereitelt. Ihr Sohn war womöglich in Gefahr. Alice versuchte zu schreien, japste aber nur. Das Bild. Sie schaute es sich nochmals an, aber sie konnte keine Erinnerung finden, die den jungen Mann erklärte. Neben dem Bild stand ein Fläschchen auf dem Nachttisch, auf dem Stärkungstrank stand. Darunter befand sich ein Symbol: ein Zauberstab, der einen Knochen kreuzt. Sie war im St.-Mungo-Hospital für Magische Krankheiten und Verletzungen. Die Erleichterung über ihren möglicherweise sicheren Aufenthaltsort hielt nur kurz an. Sie wollte mit jemandem reden, wollte sich erkundigen, warum sie sich kaum bewegen konnte und warum ihre Stimme versagte. Wie sollte sie mit einem Heiler reden, wenn sie kein Wort herausbrachte? Tränen der Hilflosigkeit formten sich in ihren Augen und liefen an ihren Schläfen herab.

Ihren Kopf drehte sie langsam zur anderen Seite. Dort stand sehr dicht neben ihr ein Bett, fast komplett an das ihre gerückt, und ein Mann lag darin. Sie erinnerte sich an ihn, obwohl er jetzt älter war und viele graue Haare hatte, die zu kurz geschnitten waren. Sofort wusste sie, wer das war. Frank, ihr Ehemann, schoss es ihr durch den Kopf. Frank schien eben erst erwacht zu sein, schaute sich im Zimmer genauso verwirrt um wie sie selbst vor wenigen Minuten.

Sie wollte seinen Namen sagen, wollte Frank direkt ansprechen, doch ihre Stimme spielte ihr einen Streich. Es kam kein Wort heraus. Sie konnte sich nicht flüssig artikulieren, obwohl sie wusste, dass sie früher sprechen konnte. Alice versuchte es nochmals. Sie konzentrierte sich auf seinen Namen und auf ihre Atmung.

„Fan“, kam bei ihrem Versuch heraus. Es war gehaucht, fast nicht zu hören. Sie versuchte es erneut. „Fran?“
Das leise Geräusch hatte sich bis zum Ohr ihres Mannes durchgekämpft. Langsam drehte er den Kopf. Als er sie sah, betrachtete er ihr Gesicht, die Haare, die Augen. Er erkannte sie als seine Frau und lächelte, was ihm ohne Probleme gelang. Sein Mund formte ungehörte Worte. Eines, das ihrem Namen ähnelte, ließ sie vor Freude schluchzen, denn er sagte: „Äls.“

Unter größter Kraftanstrengung bewegte Frank seine Hand, zog sich mit den Fingern am Laken immer mehr in Alice’ Richtung. Sie kam ihm entgegen. Die Muskeln im ganzen Körper waren schwach, so auch die in den Fingern, aber am Ende waren sie beieinander angelangt. Die erste Berührung nahm ihr all die Ängste, und als die Hände endlich kraftlos ineinander lagen, spürte sie, wie die Hoffnung wuchs, denn sie war nicht allein. Frank war bei ihr.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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219 Ursache und Wirkung




Als Susan erwachte, fand sie die andere Hälfte des Bettes leer vor.

„Draco?“
„Hier bin ich“, erwiderte er, während er den Kragen eines edlen Hemdes schloss. „Steh auf, meine Gute.“
Sie rieb sich die Augen. „Wie spät ist es?“ Als sie durch die vom Schlaf noch ganz engen Lider schaute, erblickte sie ihn am Fußende. „Und warum bist du schon angezogen?“
„Wir gehen gemeinsam frühstücken – und zwar im Schloss Schnatzer!“ Bevor sie Fragen stellen konnte oder sich nörgelnd über die frühe Uhrzeit äußern konnte, fügte er schnell hinzu: „Harry hat uns gestern dazu eingeladen.“
Susan richtete sich im Bett auf, suchte eine Uhr. „Wie spät ist es?“
„Halb acht.“
Sofort warf sie sich zurück in die Federn. „Ich bin müde.“
Das Hemd saß. Draco warf sich eine Jacke über, die sehr der eleganten Garderobe seines Vaters ähnelte. „Soll ich etwa alleine auf der Bildfläche erscheinen?“
„Warum können wir nicht einfach hier frühstücken?“
„Weil wir hier das Frühstück alleine machen müssten.“ Vorsichtig zog er an ihrer Decke, doch Susan hielt sie mit aller Kraft fest, so dass er lachen musste. Unerwartet verließ er den Raum, um nur wenige Minuten später mit Charles auf dem Arm zurückzukommen. „So, mein Kleiner“, er setzte den putzmunteren Jungen auf dem Bett ab, „dann weck mal deine Mama.“ Die ersten Zähnchen waren zu sehen, als Charles grinsend auf dem Bett in Richtung Susan krabbelte.
„Hallo Spätzchen!“ Ihre Laune hatte sich komplett gewandelt. Freudig hielt sie dem Jungen die offenen Arme entgegen. „Komm her. Mir ist nach Kuscheln.“
„Aber nicht, dass ihr beide wieder einschlaft.“
„Meine Güte, Draco“, beschwerte sie sich, „was ist los? Warum willst du unbedingt …“ Langsam wurde sie skeptisch. „Was hast du vor?“ Ihr Gatte setzte eine Unschuldsmiene auf, doch davon ließ sie sich nicht täuschen. „Geht es um das, was du gestern über deinen Patenonkel erfahren hast?“
„Möglich?“
„Und wenn er heute gar nicht da ist?“
„Ich könnte auch Hermine ganz einfach meine herzlichsten Glückwünsche übermitteln.“ Er machte eine stoppende Geste mit seiner Hand, weshalb sie innehielt. „Und wenn sie auch nicht kommen sollte, was ich mir nicht vorstellen kann, dann möchte ich trotzdem Harry besuchen und mich bedanken, wie auch immer er das vollbracht hat.“
Völlig ahnungslos schüttelte Susan ihren Kopf. „Was soll das wieder heißen?“
Ein Seufzer entwich ihm. „Ich habe zwar gerade eben alle Knöpfe geschlossen, aber wenn du unbedingt sofort eine Antwort möchtest …“

So schnell es ging öffnete er die Knöpfe seines Hemdes und legte seinen Oberkörper frei. Im ersten Moment wusste Susan nicht, was er meinte, doch dann fiel es ihr auf.

„Wo ist die Narbe?“, wollte sie wissen.
„Das ist genau die Frage, die ich Harry gern stellen möchte.“ Sein Körper wies keine Spuren mehr von damaligen Dummheiten auf, weshalb Draco zufrieden lächelte. „Ich bin mir sicher, er hat etwas damit zu tun.“
Neugierig schwang Susan sich aus dem Bett und eilte zu ihm, um sich aus nächster Nähe selbst von seiner unversehrten Haut zu überzeugen. Mit einer Hand strich sie an der Stelle entlang, an der gestern noch die Narbe zu sehen war, als sie sich liebten. „Das geht nicht mit rechten Dingen zu.“ Es war nicht mal mehr andeutungsweise etwas zu sehen, keine hellere Haut, kein Kratzer – nichts. Mit einem Finger lüpfte er den Träger ihres Nachthemdes, lehnte sich vor und wollte ihr gerade einen Kuss auf die Schulter geben, da stieß sie ihn leicht zurück. „Nicht da“, bat sie beschämt. Sie war der Meinung, die Wunde an ihrer Schulter würde sie unattraktiv machen. Weder wollte sie dort berührt werden noch sollte jemand ihre Narbe sehen. Hemden und T-Shirts umrandeten den Hals stets so eng, dass nicht einmal der Zufall einen Blick erhaschen konnte.
„Was hast du denn?“, fragte er grinsend. Er überraschte sie, indem er ihr doch noch einen Kuss auf die Schulter gab.
Sie schreckte zurück und hielt eine Hand an die Stelle, die sie so sehr an den Krieg erinnerte, doch heute war dort keine harte Kerbe zu spüren. Susan drehte den Kopf, konnte aus diesem Winkel jedoch nichts erkennen, weshalb sie in Windeseile ins Badezimmer lief, um den Spiegel zu Rate zu ziehen. Draco folgte ihr mit Charles. Der Kleine fing an zu nörgeln, kaum dass er das Töpfchen in der Ecke sah. Er wollte es nicht versuchen. Die Windeln waren viel gemütlicher. Er quengelte so lange, bis sein Vater ihn auf den Boden absetzte. Draco hatte sowieso nur Augen für Susan. Fassungslos starrte sie in den Spiegel, den Blick auf die Schulter gerichtet. Sie war weg, die tiefe, längliche Narbe, in der ein kleiner Finger Platz gehabt hatte. Susan hielt sich eine Hand vor den Mund, um die bebenden Lippen zu verbergen, aber Draco sah an ihren Augen, dass sie mehr als nur gerührt war.

Im Zimmer von Dracos Eltern herrschte bereits Aufbruchsstimmung. Narzissas Haar war hübsch hergerichtet, ihr Kleid spiegelte zeitlose Eleganz wider und ihr Lächeln würde selbst einem Griesgram gute Laune bescheren. Sie stand vor dem Spiegel und versuchte, ihren Ohrring anzulegen, doch es missglückte.

„Lucius, kommst du mal bitte?“ Als er hinter ihr durch die Tür trat und sie von oben bis unten bewunderte, begann ihr Gesicht im Spiegel noch breiter zu lächeln. „Würdest du mir bitte helfen? Ich bekomme den Ohrring nicht durch.“
„Gibt es dafür denn keinen Zauber?“, stichelte er auf freundliche Weise, obwohl er sich ihr längst genäherte hatte und die Hand aufhielt. Sie legte das Schmuckstück mit dem dezenten Diamant in seine Handfläche. Vorsichtig legte er ihren Kopf schräg, strich mit dem Zeigefinger hinter dem weichen Ohrläppchen entlang und stutzte plötzlich. „Ich kann dir sagen, warum du ihn nicht durch das Loch bekommen hast.“
„Und warum?“
„Es ist kein Loch zu sehen.“ Um sich von seiner eigenen Aussage zu überzeugen, lehnte er sich vor und betrachtete sie aus nächster Nähe. „Kein Loch“, bestätigte er.
„Das kann doch aber nicht …“ Sie wandte den Kopf und beugte sich zum Spiegel vor. „Erst gestern habe ich noch welche getragen. Wie ist das möglich?“
„Ich habe keine Ahnung, meine Teuerste. Aber soll ich dir etwas verraten?“ Von hinten umarmte er sie und zog sie zu sich, damit sie von dem Spiegel abgelenkt war. „Du bist ohne glanzvollen Zierrat genauso hübsch wie mit. Nein, was sag ich? Du brauchst überhaupt keinen Schmuck. Wie soll man auch etwas so Vollkommenes wie dich noch verschönern?“
Anstatt sich mit Worten für dieses Kompliment zu bedanken, drehte sich Narzissa in seinen Armen und ließ mit einem Kuss ein wenig von der gestrigen Leidenschaft aufflammen. Mit glänzenden Augen blickte sie zu ihm auf. „Dann heute ohne überflüssigen Schmuck. Komm“, sie gab ihm einen weiteren Kuss auf die Lippen, „lass uns den Picknickkorb packen. Ich möchte frühzeitig am See sein, damit wir uns mit Zaubern vor neugierigen Blicken absichern können.“

In der Küche traf das junge Ehepaar auf das ältere. Draco hatte Charles an die Hand genommen. Der Junge lief noch sehr wackelig und setzte sich oft und gern auf den Boden, um seinen kleinen Beinen eine Verschnaufpause zu gönnen.

„Mutter, Vater, guten Morgen.“ Draco legte beide Hände auf die Lehne eines Stuhls. „Sagt, könntet ihr bitte auf Charles aufpassen, während Susan und ich …“
Sein Vater blickte ihn mit fröhlichem Gesichtsausdruck an, hob dabei eine Hand in stoppender Geste. „Ich bedaure, aber heute haben deine Mutter und ich schon etwas anderes vor.“ Dracos Blick landete wie auf Kommando auf den Picknickkorb, in den seine Mutter noch eine Flasche Wein legte. „Wir werden heute den ganzen Tag unterwegs sein.“
„Oh“, machte Draco irritiert. Es war lange her, dass er seinen Vater so lebensfroh erleben durfte.
Susan winkte ab. „Das macht doch nichts, Draco. Wir nehmen Charles mit. Bestimmt ist Nicholas auch da. Dann hat er jemanden zum Spielen.“
Lucius ließ es sich dennoch nicht nehmen, seinen Enkel herzlich zu begrüßen. Er nahm ihn auf den Arm. Von Rückenschmerzen keine Spur. „Mein Engelchen“, sagte Lucius mit vor stolz geschwellter Brust. Susan wandte sich ab, damit niemand sehen würde, dass sie sich das Lachen verkneifen musste. Charles blickte seinem Großvater erwartungsvoll in die Augen und horchte auf, als der sagte: „Wir beide, das verspreche ich dir“, Lucius war voller Leben, „gehen demnächst auch zum See, um uns ein wenig im Wasser zu tummeln. Hast du dazu Lust?“ Charles verstand kein Wort, aber der Tonfall des Mannes, der ihn trug, war sehr freundlich, also grinste Charles so breit, wie seine Gesichtsmuskeln es zuließen. „Ja“, bestätigte Lucius mit warmer Stimme, „das wird dir gefallen, da bin ich mir ganz sicher.“ Narzissa verbarg die Freude über den Umgang ihres Mannes mit dem Enkel nicht und lächelte offenherzig. „Ich werde einen großen Ball zaubern, der mit Luft gefüllt ist und dann …“
„Wollt ihr ihn nicht doch mitnehmen?“, fragte Draco scheinheilig.
Lucius wandte sich an seinen Sohn. „Nein, nicht heute.“ Den Enkel setzte er behutsam auf dem Boden der Küche ab. „Ein andermal gern.“

Weit entfernt von Malfoy Manor schien die Sonne in das Zimmer von dem Lehrer für das Fach Pflege magischer Geschöpfe, aber die Sonnenstrahlen trafen nicht nur sein Gesicht. In der heutigen Nacht war Remus nicht allein gewesen. Tonks’ Beruf als Auror erlaubte es ihr selten, ein Wochenende bei ihrem Verlobten zu verbringen, doch um diese Nacht hatte sie gekämpft. Mal nicht für den Notfall in Bereitschaft stehen, mal nicht damit rechnen müssen, alles stehen und liegen zu lassen, um sich einer Nacht-und-Nebelaktion anzuschließen. Die ständige Bereitschaft stellte eine Beziehung auf die harte Probe. Alastor, Dawlish, Kingsley – sie alle waren ungebunden. Der Beruf Auror machte viele Menschen einsam, aber auch Werwölfe waren oftmals allein. Tonks und Remus hatten sich gefunden und hielten einander fest. Das Schicksal könnte sie zwar trennen, aber niemals entzweien. Zusammen in Ruhe einschlafen zu dürfen zählte bereits zu einem großen Privileg, weil spontane Nachtarbeit häufig einen Strich durch die gemeinsame Zeitplanung machte. Tonks wollte nach der Hochzeit in den Armen ihres Verlobten einschlafen, aber viel mehr noch wollte sie genau dort wieder aufwachen, um wenigstens einen Hauch des ersehnten Alltags am eigenen Leib zu spüren, den andere Paare nach einer gewissen Zeit als langweilig empfinden würden. Tonks fand es kein bisschen langweilig, Remus beim Schlafen zuzusehen. Nur dann waren die winzigen Sorgenfältchen neben seinen Augen verschwunden, die sich nur bildeten, wenn Remus befürchtete, die Anwesenheit eines Werwolfs könnte seinen Mitmenschen unangenehm sein, auch wenn die stets das Gegenteil versicherten. Nur im Schlaf war er frei von dem Zwang, es jedem recht machen zu wollen.

Als Remus erwachte, fühlte er eine Hand liebevoll über seine unbekleidete Seite streicheln, nicht zu zaghaft, so dass es nicht kitzelte.

„Mmmh“, brummte er wonnig, hieß die Berührung willkommen. Die Augen wollte er noch nicht öffnen, dazu war die Sonne zu hell.
„Remus“, flüsterte Tonks leise. Er antwortete abermals mit einem brummenden Laut. „Remus, bist du wach?“
„Nein“, konnte man gerade so verstehen.
Tonks lachte, schmiegte sich dann an ihn, um ihn an Armen, Schulter und Brust wachzustreicheln. „Remus?“
„Was ist denn?“, fragte er mit müder Stimme und einem Hauch kindlicher Nörgelei. Mutig blinzelte er. Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Helligkeit. Sofort zog ihre Haarfarbe seine Aufmerksamkeit auf sich. Ein warmes Hellbraun wie sein eigenes, nur ohne ein Anzeichen von Grau. Sie fühlte sich gut. Ihre Gemütsstimmung färbte auf ihn ab. Er lächelte – mit dem Mund und den Augen. Mit den Fingern wuschelte er ihr durch die Frisur. „So gut gelaunt?“
„Das bist du auch gleich“, beteuerte sie. „Das bist du auch gleich, Remus.“ Sie richtete sich auf und legte erneut eine Hand an die Stelle, die er vorhin schon spürte, als er erwachte. „Sieh nur.“ Müde stützte er sich auf den Ellenbogen ab und blickte an sich hinunter. Ihre Finger tänzelten über die empfindliche Stelle unter den Rippen. „Sieh dir das an, Remus! Das ist unglaublich.“
„Was …?“ In diesem Moment traf ihn die Erkenntnis so hart wie ein Klatscher. Seine Augen sahen es, aber sein Verstand weigerte sich, das Gesehene als Tatsache anzuerkennen. Was aus logischer Sicht nicht möglich war, durfte nicht sein. „Wie …?“ Noch immer war seine Sprachfunktion durch den surrealen Anblick, der sich ihm bot, gemindert. Er hatte hier einen unerklärlichen Fakt vor Augen. Sein heller Geist wollte sich der Leichtgläubigkeit jedoch nicht hingeben. „Das ist nicht möglich!“
„Aber es ist wahr!“, beteuerte Tonks. „Die Narbe von dem Biss ist verschwunden.“

Erst jetzt tastete seine eigene Hand nach dem, was er sehen konnte. Remus rechnete fest damit, die leichten Unebenheiten des weißen Gewebes zu spüren, die seit seinem sechsten Lebensjahr – seit dem Biss durch Greyback – mit ihm gewachsen waren und einen Teil von ihm darstellten. In jeder Lebenslage hatte er diese alten Narben gefühlt: beim Ankleiden, beim Baden, beim Sex. Ein ziehendes Gefühl der Narben hatte ihm damals verlässlich ein Gewitter vorhergesagt oder auch Schneefall, wenn sie juckten. Draußen schneite es nicht, obwohl er gestern unter so starkem Juckreiz litt, dass er mit einer Salbe Linderung schaffen musste.

„Wie kann das sein?“ Remus sprang – hellwach und splitternackt – aus dem Bett und eilte zum Fenster, zum Sonnenlicht. Die leichten Gardinen zog er beiseite, um die Stelle am Körper genauer betrachten zu können.
„Remus …!“, warnte Tonks zu spät.

Von draußen ertönte ein kurzer, heller Schrei. Davon aufgeschreckt ließ Remus die Gardine fallen und presste sich neben das Fenster an die Wand. Tonks lachte. Sie zog sich schnell einen Morgenmantel über und sprintete zum Fenster, das sie kurzerhand öffnete. Die Person, die sich erschrocken hatte, hielt sich eine Hand über den Mund und eine aufs Herz. Tonks setzte eine ernste Miene auf, was ihr bei der vorangegangenen Situation nicht leicht fiel.

„Entschuldigen Sie vielmals, Professor Sprout.“
„Bei Merlin!“, schimpfte die Lehrerin für Kräuterkunde. „Sie können von Glück reden, dass kein Schüler hier mit mir entlanggeht.“
„Es tut ihm sehr leid“, sie schaute kurz zu Remus hinüber, dessen Wangen vor Scham rot glühten, „glauben Sie mir bitte. Das war keine Absicht.“
„Ach“, Pomona winkte ab, „Schwamm drüber.“ Die rundliche Kräuterkundelehrerin setzte ihren Weg zu den Gewächshäusern fort. Tonks schloss das Fenster wieder und zog die Gardinen zu, bevor sie sich an Remus wandte. „Das sollte dir eine Lehre sein.“
„Ich habe nicht damit gerech… Meine Güte!“ Er holte tief Luft und stieß sie schnaubend wieder aus. Wie von allein befühlte eine Hand die unversehrte Stelle an seiner Seite. „Wie ist das nur geschehen? Und was bedeutet das?“ Die Hoffnung, die sich in ihm ausbreiten wollte, ertränkte er in Zweifeln. „Das kann nicht sein!“ Ein Spiegel war das nächste Objekt, das Remus völlig aufgelöst zurate zog. Sie war tatsächlich weg, genau wie Harrys Narbe verschwunden war. „Ob Harry was damit zu tun hat?“, schoss es ihm durch den Kopf. Nervös fuhr sein Blick an seinem nackten Körper auf und ab. Es war kein Trugbild. Jedesmal, wenn er die alte Wunde erwartete, war sie nicht zu sehen. „Zieh dich an!“, forderte er von Tonks. „Ich muss unbedingt mit Harry sprechen.“ Remus begann sofort damit, sich frische Kleidung überzuwerfen, während Tonks noch einen Moment die unversehrte Haut an ihrem Verlobten bewunderte und sich heimlich fragte, ob es noch mehr gab, das über Nacht verschwunden war.

Die Sommersonne weckte nicht nur die Menschen. Die Ersten, die erwacht waren, waren die gefiederten Freunde. Mitten in der magischsten Ecke von London, der Winkelgasse, trällerten die Vögel durch die Fenster hindurch. Dabei wurden sie von den wachen Augen eines Knieselmischlings beobachtet, für den es eine Qual war, den netten Tieren nicht persönlich hallo sagen zu können. Nachdem er so viel Butter geschleckt hatte, war er sowieso viel zu träge, um dem Federvieh hinterherjagen zu können, doch es machte Spaß, sie wenigstens zu beobachten. Sein Frauchen bekam von dem aufregenden Leben, das man durch das Fenster hindurch betrachten konnte, nichts mit, denn sie schlief auf der Couch, wenn auch nicht direkt auf dem Möbelstück.

Widerwillig verließ Severus das Traumland, das er zu seinem Erstaunen in letzter Zeit immer öfter besucht hatte. Träume waren für ihn ungewohnt. Als Kind hatte er viele gehabt, schöne und schlimme. Die stetig wachsende Seele ermöglichte es, surreale Bilder und Situationen als nächtliches Unterhaltungsprogramm zusammenzustellen. Der heutige Traum zählte zur Kategorie Romanze und stellte eine willkommene Abwechslung zu den aufflackernden Bildern dar, die sein Geist ihm die letzten zwanzig Jahre während des Dämmerzustands kurz vor dem Schlafengehen als Mahnung an seine Taten zeigte. Schreie in der Dunkelheit, ein Wimmern um Gnade – all das sollte der Vergangenheit angehören.

Die Augen hielt er geschlossen. Während sein Geist wacher und wacher wurde, führte Severus sich die schönsten Szenen aus der nächtlichen Ballade des gesundeten Gemüts vor Augen. So schön die Momente des frühen Morgens und des folgendes Traums auch waren, sein Nacken tat ihm ein wenig weh, was daran liegen mochte, dass er auf der Couch eingeschlafen war. Eine angenehme Wärme umgab ihn, außerdem spürte er, dass etwas Weiches auf ihm lag. Es kitzelte ihn an der Hakennase. Severus ging davon aus, dass sein Hund ihn wieder einmal als biologisch abbaubare Heizdecke missbrauchte. Als auch die anderen Sinne zurückkamen, duftete es nach gebratenem Speck, aber auch nach etwas Üblem. Severus rümpfte die Nase und fragte sich, ob er vielleicht unter Mundgeruch litt. Mit einem Auge blinzelte er und fand sich unerwartet Aug und Aug mit seinem Hund wieder, der ihn mit hängender Zunge freudig anhechelte. Der Geruch eines nie geputzten Hundegebisses samt Ausdünstungen aus dem Magen schlug ihm wie der Atem des Todes entgegen. Severus legte eine Hand über die Nase, schob Harry mit der anderen von sich. Irgendetwas knackte. Im Rückwärtsgang war Harry auf etwas getreten, dass er sofort beschnüffelte. Ein Stück gebratener Speck, das vorhin ungesehen vom Teller gefallen war. Sofort vertilgte der Hund den Leckerbissen. Severus erblickte das leere Frühstücksservice, von dem Hermine und er kaum einen Happen gegessen hatten. Ein Sturm muss gewütet haben. Der Tisch war mit Essensresten verschmutzt, das Geschirr teilweise umgestoßen. An dem neuen Stück Butter fehlte eine Ecke, als wäre sie in der Sonne geschmolzen und in der Luft verdunstet.

„Für dich koche ich nie wieder“, brummte Severus verschlafen, schaute dabei Harry an. „Du weißt das einfach nicht zu schätzen.“ Harry winselte, bevor er auf der Stelle kehrtmachte und sich zu Fellini ans Fenster gesellte. Als Severus ihm mit dem Blick folgte, sah er auch endlich, was auf ihm lag. Dick in ihre Bettdecke eingemummelt hatte Hermine es sich auf ihm gemütlich gemacht. Nur eines ihrer Beine lag eingezwängt zwischen ihm und der Rückenlehne der Couch. Severus musste lächeln und hielt sich damit nicht zurück. Niemand konnte es sehen. Die Erinnerung an vorhin, an den Farbtrank und die Küsse, waren ein absoluter Höhepunkt seines Lebens. Still fragte er sich, wann er das letzte Mal mit einer Frau mehr als eine Stunde lang ausschließlich mit küssen verbracht hatte. Die Antwort war ernüchternd. Sie lautete: nie.

Es war Hermines Haar, das ihn im Gesicht kitzelte. Vorsichtig strich er die störenden Strähnen aus seinem Gesicht, konnte nun ihres betrachten. Ihre Gesichtszüge waren entspannt, der Atem still und gleichmäßig. So gleichmäßig, dass er beinahe wieder eingeschlafen wäre, doch da kräuselte sie kurz die Nase, dann noch einmal. Unerwartet drehte sie ihren Kopf und stillte den Juckreiz an seinem Nachthemd, indem sie die Nase daran rieb. Hermine seufzte ausgeschlafen und öffnete langsam die Augen. Er konnte sie lächeln sehen, als sie bemerkte, wo sie sich befand. Seine Hand lag locker zwischen Brust und Bauch, ganz in der Nähe ihres Gesichts. Hermine, die noch nicht wusste, dass er bereits wach war, nahm seine Hand und, zu Severus erstaunen, hielt sie einfach, während ihr Daumen über seinen Handrücken strich.

„Endlich erwacht?“, fragte er leise, doch sie schreckte dennoch hoch. Die Hand ließ sie an Ort und Stelle, als sie ihren Kopf hob.
„Bist du schon lange auf?“
„Nein. Der Hund hat mich eben geweckt.“
Hermine schaute sich im Wohnzimmer um und bemerkte beide Haustiere am Fenster. „Ich schätze, Harry möchte bald spazieren gehen.“
„Kommst du mit?“, fragte er hoffnungsvoll. Die Winkelgasse auf und ab zu gehen machte zu zwei mehr Spaß.
„Gern“, bestätigte sie breit lächelnd, doch anstatt aufzustehen, legte sie ihren Kopf erneut auf seine Brust. „Ich möchte vorher noch etwas dösen.“ Schon waren ihre Augen geschlossen. Ein Stündchen noch, dann wäre sie fit, dachte sie.
„Lässt du mich aufstehen?“
„Ungern“, murmelte sie, machte dennoch Platz, damit er unter ihr hervorkrauchen konnte. Sie selbst zog die Bettdecke bis hinauf zum Kinn, womit sie, weil die Decke quer lag, ihre Beine entblößte. „Ist kalt …“, quengelte sie.

Bei jedem anderen wäre ihm dieser Hinweis egal gewesen, doch er fühlte sich persönlich für Hermines Wohlbehagen verantwortlich. Ein Teil der Decke lag auf dem Boden. Severus bückte sich und nahm das eine Ende in die Hand, als sein Blick zufällig auf ihre nackten Waden fiel und er wie paralysiert innehielt. Nur von dem Apparierunfall in Hogwarts wusste er, wie ihre durch das Spinnenfeuer getroffene Wade aussah. Es waren knallrote, fadenartige Veränderungen der Hautoberfläche gewesen, die das abgetrennte Bein verunstalteten, doch jetzt war nichts davon zu sehen. Severus schloss einmal die Augen, falls seine Sinne ihm einen Streich spielen würden, doch als er sie öffnete, sah er lediglich ihre helle Hautfarbe. Er konnte sich nicht mal mehr daran erinnern, welches Bein das verletzte gewesen war. Ohne Vorwarnung legte er eine flache Hand auf die Rückseite ihres Unterschenkels. Sie fuhr zusammen.

„Hermine …“
„Du hast kalte Hände.“
„Hermine, wo hat dich damals der Fluch getroffen?“
Sofort zog sie ihre Beine an, damit er die Stelle nicht sehen konnte. „Rechts.“ Ohne Umschweife ergriff er ihren rechten Knöchel und zog das Bein lang. „Hey, was soll das?“, protestierte sie lauthals. Jetzt war sie wach.
„Es ist weg.“
„Was?“
„Die spinnennetzartige Narbengewebe.“

Hermine setzte sich abrupt auf und drehte ihren Körper auf athletische Weise, so dass sie über ihren Oberschenkel hinweg auf die Wade sehen konnte. Er hatte die Wahrheit gesagt. Mit fachmännischem Griff befühlte sie den Unterschenkel, suchte nach den inneren Verknotungen, die dem Spinnenfeuern zu verdanken waren, doch auch die waren verschwunden. Zumindest erklärte das den nächtlichen Wadenkrampf.

„Harry!“ Für einige Fragen eine richtige Antwort, aber auch für dieses Mysterium? „Er hat es wirklich getan, oder?“ Bei ihren Worten griff sich Severus an die Rippen, versuchte durch das Nachthemd hindurch die Narbe von Bellatrix’ Messer zu spüren, doch da war nichts. Er stürmte nach draußen. „Wo gehst du hin?“
„Ins Bad“, erwiderte er vom Flur aus, bevor er die Tür hinter sich schloss.

Im Badezimmer zog er sich das Nachthemd über den Kopf und betrachtete seinen wenig ansehnlichen Körper im Spiegel. Das Resultat von Bellatrix’ Angriff war fort, ebenso die leicht gerötete Haut von dem Zaubertränkeunfall, für den Neville verantwortlich war. Severus’ Herz raste. Gestern, als die Gläser vor den Gästen auftauchten, hatte er gewusst, was er trank. Wofür er sich selbst schalt, war seine eingeschränkte Denkweise, denn er ging lediglich von ein paar Jahren aus, die Harry den Gästen geschenkt hatte. Das Elixier des Lebens – Albus war das beste Beispiel dafür – sah jedoch selbst den Tod als Krankheit. In Gedanken schlug sich Severus mit der flachen Hand gegen die Stirn – eine Geste, die er niemals in der Realität machen würde. Natürlich würden sämtliche körperliche Gebrechen verschwinden. Die Aussicht auf ein paar Lebensjahre mehr, die er zusammen mit Hermine verbringen wollte, war so erfreulich gewesen, dass er all die anderen Eigenschaften, die das Elixier mit sich brachte, vollkommen verdrängte. Wie ein starker Wind brausten alle möglichen Wahrscheinlichkeiten durch seinen Kopf. Lucius, der durch mehrere Cruciatus-Flüche seit Jahren an Rückenschmerzen litt, wäre geheilt. Dessen Sohn würde keine zurückbleibenden Narben des Sectumsempra-Fluchs aufweisen und wenn Moody den Inhalt des Glases getrunken haben sollte …

Ein Räuspern riss ihn aus seinen Gedanken. Severus griff nach seinem Nachthemd und hielt es sich vor die Leistengegend, bevor er sich umdrehte. An der offenen Tür zum Bad stand Hermine, die auffällig unauffällig auf ein Schränkchen starrte, das neben der Tür stand.

„Es schickt sich nicht, ohne anzuklopfen eine Tür zu öffnen“, rügte er sie mit leicht geröteten Wangen.
„Ich habe geklopft“, beteuerte Hermine. „Und ich habe auch nicht geguckt.“ Ihr verschmitztes Lächeln behauptete das Gegenteil. Sie deutete auf seinen Oberkörper. „Wie sieht es bei dir aus?“
„Auch ich bin vor der wundersamen Heilung sämtlicher Wehwehchen nicht verschont geblieben. Ich hoffe innig, dass Harry sich über die Ausmaße vorher bewusst war.“
„War es das Elixier des Lebens?“, wollte sie wissen. In ihrem Gesicht konnte er verschiedene Gefühle ausmachen. Einerseits Dankbarkeit, andererseits Wut.
„Ja“, erwiderte er leise.
Sie seufzte, schüttelte den Kopf. „Wenn das die Runde macht, war Harrys Rückzug von der Öffentlichkeit umsonst gewesen. Man wird ihn belagern und für dieses ‚Wunder‘ verantwortlich machen. Er kann auf diese Art und Weise nicht einfach in das Leben seiner Mitmenschen eingreifen. Ich könnte ihn …“ Sie hielt inne, aber ihre Fäuste ballten sich, weshalb Severus ihren Satz im Kopf selbst vervollständigte.
„Wenn du mich jetzt bitte alleinlassen würdest? Ich wollte gerade …“ Mit einer Hand machte Severus eine ungenaue Geste zur Badewanne.
„Oh, sicher.“

Nachdem Hermine die Tür hinter sich geschlossen hatte, trat Severus in die Wanne. Den Duschkopf brachte er oberhalb an einer Stange an. Die ganze Zeit über rief er sich die Menschen ins Gedächtnis, die gestern von dem Elixier getrunken hatten. Charlie, dessen Körper aufgrund des Umgangs mit nicht immer freundlich gesinnten Drachen von oben bis unten mit kleinen und großen Narben überdeckt war, würde genauso deutlich merken, dass etwas Seltsames vor sich gegangen war wie Remus, der irgendwo an seinem Rumpf von Greyback eine Bisswunde davongetragen haben musste. Bill. Severus schloss die Augen, als das Wasser über sein Gesicht lief. An Bills Gesicht würden alle sehen, was geschehen war. Die Leute würden Fragen stellen. Harry durfte keinesfalls zugeben, den Stein der Weisen zu besitzen, denn das würde ihn in Gefahr bringen, sollten irgendwelche Gauner Interesse daran finden. Besser wäre es, wenn Fawkes das Ding wieder verschlucken würde, dachte Severus, als er zur Kernseife griff und sie mit reibenden Bewegungen zwischen seinen Händen aufschäumen ließ. In diesem Moment erinnerte er sich an das, was Hermine einmal gesagt hatte. Die Kernseife würde die Haare stark entfetten, was die Talgdrüsen zur Überproduktion anregt. Zusammen mit dem eigens entwickelten Schutzbalsam würde er bis in alle Ewigkeit fettige Haare haben, wenn er nicht etwas an seinen Gewohnheiten ändern würde. Die Seife legte er zurück auf die Ablage, auf der die ganzen Tuben, Dosen und Fläschchen standen, die Hermine dort abgestellt hatte. Eine der Tuben nahm er in die Hand. „Pflegekur für trockenes Haar“, murmelte Severus den Text nach, der darauf stand. Mit einem Grummeln stellte er die Flasche weg und nahm die nächste. „Shampoo mit Jojobaöl“, las er vor. Öl war schlecht. Auf einer anderen stand „Pflegespülung für strukturgeschädigtes Haar“, eine weitere bewarb den Inhalt des Muggelartikels mit „Shampoo gegen übermäßige Schuppenbildung“. Damit könnte er sie später aufziehen, dachte er fies grinsend.

„Meine Güte“, er überflog die vielen Utensilien, „gibt es hier auch etwas, mit dem man sich einfach nur die Haare waschen kann?“ Die Dosen, das begriff er schnell, beinhalteten kein Shampoo, sondern Kuren und Spülungen. „Braucht eine Frau wirklich all diesen Krempel?“, fragte er verblüfft in den Raum hinein. Der nächste Griff war ein Volltreffer. Severus studierte das Etikett. „Shampoo mit Milch und Honig, für normales Haar.“ Er nickte sich selbst zu. „Das sollte es tun.“

Hermine wartete artig, bis sie an der Reihe wäre. Vorhin hatte ihr der Vorschlag auf der Zunge gelegen, zu zweit unter die Dusche zu hüpfen. Auf der anderen Seite hatten sie aber alle Zeit der Welt. Sie wollte nichts überstürzen, auch wenn sie sich nach bestimmten Momenten sehnte, auf die sie nach der Trennung von Ron so lange verzichten musste. Nach fast zwei Jahren körperlicher Abstinenz konnte sie auch noch ein wenig warten, um Severus nicht zu überrumpeln. Hermine saß im leichten Morgenmantel auf der Couch und bürstete Fellini, der beim Schnurren bereits ein wenig sabberte, da hörte sie den Kamin – und die Stimme einer Person, die sie lange nicht gehört hatte.

„Hermine Granger? Miss Granger?“ Gegen Fellinis Willen hörte sie mit dem Bürsten auf. „Hermine?“
Schon war sie am Kamin angekommen und steckte den Kopf ins Feuer. „Professor Junot? Guten Morgen“, grüßte sie überrascht. Morcant Junot, ihre ehemalige Lehrerin für das Fach Inaugenscheinnahme, hatte sich noch nie persönlich bei ihr gemeldet.
„Hermine“, grüßte die Heilerin mit ernstem Gesicht. „Sie sind doch eine gute Freundin von Neville Longbottom, nicht wahr?“
Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als ihr Verstand ihr einreden wollte, es wäre etwas Furchtbares mit ihrem alten Schulfreund passiert. „Ja, was ist los? Geht es ihm …?“
„Seine Eltern sind erwacht.“ Nach dieser Offenbarung überschlugen sich Hermines Gedanken. Sie wollte so viel sagen, dass ihr Mund damit überfordert war, auch nur eines der Worte zu auszusprechen, die ihr auf dem Herzen lagen. Stattdessen blieb sie stumm. „Ich dachte“, begann die Heilerin hektisch, „dass Sie herkommen sollten, um Ihrem Freund beizustehen. Wir konnten weder ihn noch die Mutter von Frank Longbottom erreichen. Es ist wahrscheinlich, dass sie schon unterwegs sind. Sie kommen am Wochenende meist gegen neun Uhr.“ Noch immer brachte Hermine kein Wort heraus. „Hermine?“
„Ich …“ Sie schüttelte den Kopf. „Sie sind wach? Frank und Alice Longbottom?“
„Ja! Die Schwester, die das Zimmer heute Morgen als Erste aufgesucht hatte, war furchtbar erschrocken, als sie angesprochen wurde.“
Hermine konnte es kaum glauben. „Sie sprechen?“
„Kommen Sie?“
„Natürlich!“
„Gut“, sagte Junot erleichtert.
„Es kann aber sein“, fiel Hermine gerade ein, „dass die Longbottoms heute gar nicht kommen.“ Sie könnten, wie sie selbst es auch geplant hatte, Schloss Schnatzer besuchen, um mit dem Brautpaar zu frühstücken. Aber falls doch … „Ich bin gleich bei Ihnen.“
„Der Kamin zu meinem Büro ist für Sie offen.“

Hermine spurtete sich. So schnell war sie nicht mehr angekleidet, seit sie beim Baden im Freien von Todessern überfallen wurden. 32 Sekunden für Unterwäsche, Socken, Hose und Shirt, die Schlüpfschuhe nicht mitgerechnet. Severus hörte sie nicht, als sie gegen die Badezimmertür klopfte, also schrieb sie einen Zettel:

„Ein Notfall. Bin im Mungos. Bitte warte im Schloss Schnatzer auf mich.
Hermine“

Das Zähneputzen musste später kommen. In Windeseile trat Hermine an den Kamin heran, nahm eine Handvoll Flohpulver und sagte laut und deutlich: „Sankt-Mungo-Hospital, Büro von Professor Junot.“

Fellini sprang nach dem grünen Rauch, den das verschwundene Frauchen hinterließ, doch er bekam ihn nicht zu fassen.

Von zwei Frauenhänden wurde Hermine aufgefangen, als sie in ihrer Hektik aus dem Kamin stolperte. Professor Junot schüttelte ihr kurz angebunden die Hand.

„Kommen Sie mit!“
Hermine folgte der Professorin aus dem Büro hinaus. Es war ein seltsames Gefühl, einen Ort aufzusuchen, den man drei Jahre lang tagtäglich als Arbeitsstätte angesteuert hatte. Diesmal war Hermine keine Auszubildende – sie war eine Heilerin und Zaubertränkemeisterin, darüber hinaus die Teilinhaberin einer bekannten Apotheke. „Professor Junot?“ Die Dame Mitte dreißig wandte im Gehen Hermine den Kopf zu, so dass sie beschämt fragen konnte: „Haben Sie vielleicht einen Kaugummi oder etwas in der Richtung. Das Badezimmer war besetzt und …“
„Ich bin auch nicht zum Zähneputzen gekommen“, erwiderte Junot mit einem Lächeln. Die Hand wanderte in eine Tasche des limonengrünen Kittels und zog ein Päckchen heraus. „Das habe ich mir auf dem Weg hierher gekauft.“ Kaubonbons mit Pfefferminzgeschmack. Dankend nahm Hermine einen der Bonbons in den Mund, um wenigstens das Gefühl der Frische zu erhalten. Auf dem Weg zur Janus-Thickey-Station erklärte Junot: „Die beiden sind bei vollem Bewusstsein. Sie reagieren, wenn man sie anspricht und versuchen so gut es geht zu antworten. Kehlkopf und Stimmbänder sind noch nicht ganz funktionsfähig, aber wir rechnen mit einer kompletten Wiederherstellung in den nächsten Stunden.“
Hermine blieb plötzlich wie angewurzelt stehen. „In den nächsten Stunden?“
„Ja“, bestätigte Junot und winkte Hermine heran, damit beide ihren Weg fortsetzen konnten. „Wenn der Heilprozess so weitergeht wie bisher, könnten die beiden sehr bald schon entlassen werden.“ Nach einer Biegung fuhr Junot mit den wichtigen Punkten fort: „Soweit Miriam und ich das feststellen konnten, ist bei beiden Patienten das Wissen über die Sprache vorhanden.“ Miriam Strout war die Stationsheilerin der Janus-Thickey-Station, auf der auch Gilderoy Lockhart betreut wurde. „Die dysarthrischen Störungen äußern sich mit dem Verschlucken von Endungen und mit Verzögerungslauten, meist ein summender Ton.“
Scheinheilig fragte Hermine: „Hat man schon herausgefunden, was der Grund für den plötzlichen Genesungsprozess ist?“
„Nein, aber Miriam tippt schlichtweg auf ein Wunder.“ Junot lächelte so breit, als würde sie, trotzdem sie eine abgeklärte Heilerin darstellte, die mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen stand, mit dieser Erklärung übereinstimmen. „Schwester Kathleen erklärte, dass die beiden Patienten bereits gestern Auffälligkeiten in Bezug auf gewohnheitsmäßige Bewegungsabläufe gezeigt hätten.“
„Was für Auffälligkeiten?“
Junot drückte den Knopf für einen der Fahrstühle und wandte sich dann Hermine zu: „Auffällige Kleinigkeiten. Bewegungen des Kopfes, geschlossene Lider im Wachzustand, unruhige Gliedmaßen“, zählte Junot auf. „Normalerweise schauten die beiden immer interessiert umher und schlossen die Augen nur, wenn sie müde waren. Miriam führt gerade eine Diagnose der geschädigten Hirnnerven durch.“ Der Fahrstuhl kam und beide traten ein. Da sie allein waren, berichtete die Professorin weiter. „Die Stimmqualität ist auch noch nicht komplett wiederhergestellt. Momentan können sie Worte nur leise sprechen, mit vermindertem Sprechtempo.“
„Wie sieht es mit Bewegungen aus?“, fragte Hermine nach.
„Die wären bestimmt schon möglich, wären die Muskeln und Sehnen nicht alle verkümmert. Es gibt starke, motorische Einschränkungen. Miriam zieht bereits eine Bewegungstherapie in Betracht, will aber erst den Befund abwarten. Sie sind schwach, beide. Den Arm zu heben bedeutet für sie eine enorme körperliche Anstrengung. Der Unterarm lässt sich leichter heben. Die Beine gehorchen noch gar nicht.“
Hermine nickte. „Und beide sind sich ihrer Situation bewusst?“
„Ja, wir konnten noch keine großartige Unterhaltung führen, aber beide haben eine gute Erinnerung an den Grund ihres Aufenthalts im Mungos.“

Die letzte Erinnerung von Alice und Frank war die an Bellatrix Lestrange und den Schmerz, den diese Wahnsinnige den beiden zugefügt hatte.

Eine Sache lag Hermine besonders am Herzen. „Wissen die zwei, wie lange sie nicht ansprechbar waren?“
„Nein.“ Junot seufzte. „Miriam will es den beiden beibringen, noch bevor die Familie sie besucht. Das ist nicht leicht. Wählt man die Holzhammer-Methode oder eine schonende Variante?“
„Das ist eine gute Frage. Ich habe in meiner Ausbildung erfahren, dass die meisten Patienten kurze und präzise Angaben bevorzugen, weil sie sich während eines langsamen, vermeintlich rücksichtsvollen Gesprächs viel mehr Sorgen machen. Ich bin froh, dass ich nicht diejenige bin, die darüber entscheiden muss.“
Die Professorin stieß sie mit dem Ellenbogen an. „Ich dachte, Sie würden die Aufgabe freiwillig übernehmen.“
„Oh weh, ich weiß nicht, ob ich dazu in der Lage bin.“ Sie zeigte der Kollegin ihre Hände, die so sehr zitterten, dass sie wie die Flügel einer abhebenden Eule schlugen.
Junot schenkte ihr ein mitleidiges Lächeln. „Ich wollte eigentlich Mrs. Longbottom nachher einen Trank zur Beruhigung geben, aber wie ich sehe, hätten auch Sie einen nötig.“
„Nein, das wird schon“, winkte Hermine ab. „Lassen wir es einfach auf uns zukommen.“

Das vierte Obergeschoss war erreicht. Kaum war Hermine aus dem Fahrstuhl getreten, wurde sie von aufgebrachten Heilern und Pflegern beinahe überrannt. Von irgendwoher sah man ein Blitzlicht. Hermine ortete die Quelle.

„Was zum Teufel sucht die Presse hier?“
„Was?“ Junot blickte sich um. „Die waren vorhin noch nicht da. Ich kümmere mich drum.“ Die Professorin schaute sich um und hielt wahllos einen der Pfleger auf. Auf dem Namensschild stand Mike. „Mike, nehmen Sie sich eine Sicherheitskraft und setzen Sie die Presse vor die Tür.“
„Aber gern doch! Die habe ich vorhin schon aufgehalten, als sie ins Zimmer der Longbottoms gehen wollten. Ich schmeiß sie raus“, versicherte der kräftige, junge Mann.

Mit vor der üppigen Brust verschränkten Armen stand Miriam Strout wie ein Schutzwall vor der Tür zum Krankenzimmer der Longbottoms und verharrte dort solange, bis Mike und ein Herr von der Sicherheit die beiden Leute von der Presse nach draußen führten. Als die ältere Heilerin Junot und Hermine sah, winkte sie beide zu sich heran. Einer Schwester gab sie die Anweisung, Augusta Longbottom nebst Begleitung sofort nach der Ankunft auf der Station erst ins Schwesternzimmer zu bitten.

„Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie kommen konnten. Möchten Sie die beiden sehen, Miss Granger?“, fragte die Stationsheilerin an Hermine gewandt.
„Ja, ich weiß nur nicht, was ich tun oder sagen soll.“
„Ich möchte, dass Sie sich als eine gute Bekannte des Sohnes der beiden ein Bild von der Situation machen, um die Familienangehörigen behutsam vorzuwarnen, bevor sie das Zimmer betreten. Ich mache mir ehrlich gesagt ein wenig Sorgen um Augusta.“ Man kannte sich seit über zwei Jahrzehnten. „Womöglich verkraftet sie diese gute Nachricht nur schwer.“
„Ich werde alles tun, was im Bereich des Möglichen liegt“, versicherte Hermine.
„Gut, dann kommen Sie. Drinnen werde ich Sie als Heilerin vorstellen.“

Hermine zitterte, obwohl es dafür keinen Grund gab. Unzählige Male hatte sie mit Patienten gesprochen, hatte sich um bewusstlose Menschen gekümmert. Opfern mit schlimmen Verletzungen konnte sie Erleichterung verschafft, verwirrte Personen mit ihrer besonnenen Art beruhigen und in jedem dieser Fälle waren Gespräche mit Familienangehörigen an der Tagesordnung gewesen. Was man heute von ihr verlangte, war schwerer zu ertragen als all die Erlebnisse, die sie im Mungos machen musste, obwohl es sich von keiner der damaligen Aufgaben unterschied. Bei diesen beiden Patienten handelte es sich um Nevilles Eltern. Erst gestern hatte sie Alice und Frank gesehen, hatte miterlebt, wie sie auf Lichtreize reagierten, auf Geräusche und auf Berührungen. Zwei Menschen, deren wirrer Geist den Körper nicht steuern konnte, waren von einem Tag auf den anderen mit dem Expresszug auf dem Weg zu Besserung. Vielleicht war es aber auch die bevorstehende Aufgabe, mit Neville und dessen Großmutter zu reden, die sie so aufwühlte, so bewegte. Es war nicht vorhersehbar, wie sie reagieren würden. Noch weniger konnte man einschätzen, wie Frank und Alice verkraften würden zu erfahren, wie viel Zeit vergangen war.

Im Zimmer war das Fenster leicht geöffnet. Die Gardine wehte hin und her, machte den ganzen Raum lebendig. Leben. Hier war Leben zu spüren. Hermine blickte zu den Betten. Zwei Augenpaare schauten aufmerksam zu ihr hinüber. Die Stationsheilerin machte genau das, was sie angekündigt hatte und stellte Hermine als Heilerin vor. In diesem Augenblick kam sich Hermine schäbig vor, fast so als würde sie eine gute Freundin belügen. Sie war zwar Heilerin – keine Lüge –, aber sie war nicht gekommen, um Alice und Frank Longbottom zu untersuchen. Am liebsten wollte Hermine reinen Wein einschenken und erklären, dass man befürchtete, Augusta Longbottom könnte vor Freude und Aufregung einen Herzinfarkt erleiden. Sie wollte den Grund nennen, warum sie wirklich hier im Raum stand, aber das würde zu vielen Fragen führen und Antworten ans Tageslicht bringen, die Alice und Frank nicht auf einen Schlag bewältigen könnten.

„Das ist Miss Granger, eine Heilerin. Sie wollte Ihnen beide gern guten Tag sagen“, sagte Miriam Strout.
„Guten Tag“, krächzte es aus Hermines trockener Kehle.
„Tag“, hauchte die zerbrechliche Stimme der Frau zurück.
Von Frank bekam sie ein abgehacktes: „‘llo.“
Als Hermines Blick zur Mitte der zusammengeschobenen Betten huschte und sie sah, dass die beiden sich an den Händen hielten, kamen ihr die Tränen. Sie schaute zu Professor Junot, blinzelte einige Male, damit die Augen trockneten. „Es ist schön zu sehen“, Hermines Stimme bebte, „dass Sie beide wohlauf sind.“

Alice versuchte zu lächeln, doch noch nicht alle Gesichtsnerven konnten ihren alten Job zu vollster Zufriedenheit erfüllen. Hermine erwiderte die Geste. Sie traute sich ein paar Schritte näher ans Bett heran. Auf dem Nachttisch von Alice stand ein Bilderrahmen. Neville lächelte ihr zu. Hermine biss die Zähne zusammen, doch das Bild gab ihr den Rest. Ein Schluchzer entwich ihr. Verlegen hielt sie eine Hand über Mund und Nase.

„Entschuldigung.“ In Gedanken war sie bei Neville und sie fragte sich, ob er nachher auch noch lächeln würde wie auf dem Foto, wenn selbst sie sich arg zusammenreißen musste, von diesem Schicksal nicht zu sehr berührt zu werden. Ihre Professionalität war gefragt. Hermine atmete einmal tief durch. Sie musste ihre Gefühle kontrollieren, was ihr alles andere als leicht fiel. Neville war ihr Freund, ein sehr guter Freund. Am liebsten würde sie ihn drücken, auf der Stelle. Hermine schluckte. „Man hat mich davon unterrichtet, dass Sie sich darüber im Klaren sind, warum Sie in diesem Hospital liegen.“ Alice und Frank nickten zeitgleich. Hermine schaute zu Frank hinüber. „Ihre Mutter wird Sie sehr bald besuchen kommen.“ Das Lächeln auf Franks Lippen sah schon wieder normal aus, nicht verzogen.
„Nnn“, summte es von Alice, so dass Hermine sie anschaute und geduldig wartete, bis sich Worte bildeten. „Nell…?“
„Neville?“, half sie der sprachgestörten Frau auf die Sprünge. Alice nickte heftig. „Neville wird seine Großmutter begleiten.“ Ein Blick auf die Uhr. Zehn vor neun. „Sie müssten jeden Moment kommen.“
„Es gibt etwas“, begann Miriam Strout mit mütterlich fürsorglicher Stimme, „dass Sie wissen müssen, Mrs. und Mr. Longbottom.“ Die zwei richteten ihre Augen auf die Stationsheilerin und sahen, wie diese ihren Blick zu Hermine schweifen ließ, so dass sie dem Blick folgten.
Hermine war an der Reihe. „Es gibt Dinge, die für einen Heiler nicht leicht zu erklären sind“, sagte sie zaghaft. „Ihre Verletzungen waren sehr schwer. Man rechnete nicht mit einer Genesung.“ Hermine blickte zu Frank hinüber, der ihr an den Lippen hing, aber keine Anstalten machte, sie zu unterbrechen. Er hörte aufmerksam zu. „Das Gehirn, die ganzen Nerven, haben sehr unter dem Angriff gelitten.“ An Franks gequälten Gesichtsausdruck erkannte Hermine, dass er gerade an Bellatrix denken musste. „Sie beide“, sie schaute zu Alice hinüber, „waren für eine lange Zeit vom Leben abgeschnitten.“
„Wie …?“ Frank holte tief Luft. „Lang?“
Hermine war ehrlich, wenn auch nicht sehr genau. „Viele Jahre.“ Die Zahl 23 wollte ihr nicht über die Lippen kommen. Von Erzählungen wusste Hermine, dass sehr bald nach dem Verschwinden von Voldemort ein paar aufgebrachte Todesser den Auror und seine Frau folterten, um den Aufenthaltsort des Dunklen Lords zu erfahren. Zu der Zeit sollen die Longbottoms selbst noch in einem Versteck gelebt haben, abgeschirmt von der Welt. „Für Sie beide ist es jetzt besonders wichtig, dass Sie sich nicht aufregen.“ Sie selbst behielt die Ruhe, als sie diesen Ratschlag gab. „Wichtig ist nur, dass Sie erwacht sind. Alles andere wird sich mit der Zeit regeln. Sie müssen absolut nichts befürchten.“
„Www“, summte Alice, ihr Augen waren dabei ganz groß. Hermine konnte nicht ahnen, was Nevilles Mutter sagen wollte. „Wolt…“ Alice schien darüber verärgert, dass ihr das Wort nicht über die Lippen kommen wollte.
Ihr Ehemann hatte offenbar den gleichen Gedanken wie seine Frau, denn er fragte verständlicher: „Volmor?“
„Den gibt es nicht mehr“, beteuerte Hermine wie aus der Pistole geschossen. „Sie brauchen nichts zu befürchten. Keine Todesser mehr, kein Voldemort. Sie sind absolut sicher.“ Als würde ihnen ein Stein vom Herzen fallen schlossen Alice und Frank für einen Moment die Augen, bevor sie erleichtert durchatmeten. Ein zufriedenes Lächeln hatte sich auf ihren Gesichtern geformt, fast als wären sie nun bereit für ein neues Leben.
Alice entwich mit einem Male ein sch-Laut, den sich Hermine nicht erklären konnte. Alice biss die Zähne zusammen, schaute böse drein. „Sch…“ Mit einer Faust schlug sie kraftlos auf die Matratze. „Igel.“ In Gedanken fügte Hermine die beiden Laute zusammen und kam auf „Schiegel“, was keinerlei Bedeutung hatte.
„Oh nein“, schritt Miriam Strout freundlich ein. „Es wäre keine gute Idee, Ihnen jetzt einen Spiegel zu geben, Mrs. Longbottom. Sie würden sich nur …“
„Schhhh“, zischte Alice wütend.
Hermine versetzte sich in Alice hinein und kam zu der Ansicht, dass es wichtig für die Genesung war, ein Gefühl für das eigene Ich wiederzuerlangen. „Früher oder später werden Sie einen Spiegel in der Hand halten“, sagte sie zu Alice, bevor sie sich an die Stationsheilerin wandte, „warum also nicht früher als später?“
„Ich denke nicht, dass das …“ Wieder wurde Miriam Strout von einer zischenden Alice unterbrochen. „Meinetwegen“, gab sie sich geschlagen.

Professor Junot, die das Ganze beobachtet hatte, nahm den Spiegel vom Tisch, den Schwester Kathleen vorsorglich dort positioniert hatte und gab ihn an Hermine weiter. Bevor Hermine der Patientin einfach den Spiegel vors Gesicht hielt, richtete sie erneut das Wort an Alice.

„Bedenken Sie bitte, dass viel Zeit vergangen ist.“ Sie musste es sagen, sonst würde Alice den Schock ihres Lebens bekommen. Leise, fast unhörbar, sagte Hermine: „Dreiundzwanzig Jahre.“ Alice hatte es vernommen, das zeigten die weit aufgerissenen Augen. Unsicher schaute sie zu ihrem Mann hinüber, der ihr ermutigend zulächelte. Mit einem Nicken gab sie Hermine ein Zeichen. „Bereit?“, fragte Hermine nochmals nach. Alice zeigte mit einem schmalen Finger auf den großen Spiegel. „Sie werden sich im ersten Moment fremd vorkommen, Mrs. Longbottom.“ Hermine hob den Spiegel und drehte ihn so, dass die Patientin sich selbst sehen konnte.

Beunruhigt holte Alice Luft, schloss die Augen, doch als sie sie wieder öffnete, sah sie noch immer diese gealterte Frau vor sich. Im Kopf rechnete sie nach. Wenn es stimmte, was diese junge Heilerin ihr gesagt hatte, müsste sie jetzt 44 Jahre alt sein. Mit den Fingern einer Hand strich sich Alice über das eigene Gesicht, das sie noch als rundlich in Erinnerung hatte, jetzt aber eingefallen und schmal war und zusätzlich eine Menge Fältchen aufwies. Viel erschreckender aber war der Anblick ihrer Haare: kurze, dünne, stumpfe Stoppeln. Schlohweiß. Was war mit ihren schönen, langen, schwarzen Haaren geschehen? Ihre Hand fuhr hinauf zum Kopf, zupfte zaghaft an den Stoppeln, bevor sie die Augen schloss und leise schluchzte. Sie war nicht mehr die adrette, junge Frau von damals – und sie würde sie nie wieder sein. Beschämt bedeckte sie ihre Augen mit einer Hand und weinte.

„Alice“, hörte sie die Stimme neben sich hauchen. Alice wandte den Kopf. Ihr Mann sah sie mit strahlenden Augen an. Seine Hand drückte die ihre und er versicherte im gleichen Augenblick: „Bist schön.“ Sie war seine Alice.

Jetzt war es Hermine, die schluchzen musste, doch glücklicherweise hörte sie niemand, denn die Tür wurde aufgerissen. Eine aufgebrachte Schwester stürzte herein, die sich redlich Mühe gab, im Krankenzimmer selbst ihre Ruhe zu bewahren. „Sie sind da, Heilerin Strout.“

Die kurze Information war Hermines Stichwort. Sie blickte zur Stationsheilerin, die ihr zunickte. Hermine sollte zu Augusta und Neville gehen und sie auf die Situation vorbereiten.

Fünf vor neun.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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2/3 von Kapitel 219

Um diese Uhrzeit räkelte sich Harry noch im Bett des Zimmers im Schlosshotel Schnatzer. Die Stelle neben ihm war leer – und kalt. Ginny musste schon vor mindestens einer halben Stunde aufgestanden sein. Aus dem Badezimmer hörte er ihre warme Stimme und die noch unverständlichen, aber begeisterten Antworten von Nicholas. Harry fühlte sich gut. Er wusste nur nicht, ob er das der Tatsache zu verdanken hatte, dass er ausgeschlafen oder verheiratet war. Selbstzufrieden grinste er, bevor er die Decke zur Seite warf und sich nur mit Unterhosen bekleidet aufsetzte. Die Gewohnheit ließ ihn als Erstes zum Nachttisch greifen, wo er seine Brille aufbewahrte. Harry setzte sich seine, wie Ron es einmal so nett ausgedrückt hatte, Intelligenzprothese auf die Nase und schwang sich aus dem Bett. Schon beim ersten Schritt im fremden Zimmer bemerkte Harry, dass er alles nur verschwommen wahrnahm, was er dem Schlaf in den Augen zuschreiben wollte. Ein Spritzer kaltes Wasser im Gesicht sollte Abhilfe schaffen. Beim zweiten Schritt übersah er eine Fußbank, über die er stolperte. All seine Versuche, mit wedelnden Armen das Gleichgewicht zu halten, wurde von der Schlaftrunkenheit vereitelt. Harry stieß sich den großen Zeh und stürzte zu Boden. Ein Seufzer entwich ihm, nachdem er sich auf dem weichen Teppich auf den Rücken rollte.

„Was für ein Tagesbeginn“, murmelte er in den leeren Raum hinein. „Niedergestreckt von einem Schemel.“ Es klopfte an der Tür, die zum Wohnbereich des Hotelzimmers führte. „Herein!“
Die Tür öffnete sich und sein Elf trat ein, machte große Augen. Als er bei Harry, der noch immer am Boden lag, angekommen war, fragte Wobbel: „Sir, wenn Sie gestatten, dass ich die Frage stelle, was Sie dort unten suchen?“
Harry blieb todernst, als er erwiderte: „Ich warte hier, bis jemand vorbeikommt, der mich am Bauch kitzelt.“ Wobbel ließ sich nicht lange bitten und attackierte seinen Herrn. „Nein!“, lachte Harry. „Das war nur …“ Die Elfenhände waren flink und kitzelten die empfindlichen Seiten. Harry schrie auf, rollte auf dem Teppich hin und her, um eine Möglichkeit zu finden, erstens Wobbel zu entkommen und zweitens aufzustehen. „Stopp, Halt!“ Auf der Stelle hörte Wobbel mit seiner Tätigkeit auf. Harry giggelte noch immer, während er aufstand. „Das war gemein von dir!“
„Es war Ihr Wunsch, Sir. Ich glaube, ich habe mich voll und ganz an meine Pflichten gehalten.“ Wobbel verzog den Mund, um sein Grinsen im Zaum zu halten. „Ich wollte nur Bescheid geben, dass das Frühstück im Speisesaal zu elf Uhr geplant ist.“ Harry hob plötzlich seine Brille an, um unter ihr hindurchzusehen, wovon sich Wobbel nicht irritieren ließ. „Ich habe die ganzen Hochzeitsgeschenke bereits nach Hogwarts gebracht.“
Harry setzte die Brille wieder auf, hob sie gleich darauf erneut an und blinzelte. „Ich glaube, ich brauche eine neue Brille.“
„Warum, Sir? Reichen die Augen etwa nicht aus?“, fragte der Elf ernsthaft.
Von den Worten seines Elfs irritiert nahm Harry die Brille von der Nase und schaute sich im Zimmer um. Er konnte alles gut erkennen. Verdutzt näherte er sich einem Tisch, auf dem die Werbebroschüre von Schloss Schnatzer lag. Harry nahm sie in die Hand, führte sie dichter vor Augen und weiter weg. Die Tür des Badezimmers öffnete sich. Sogleich wurden die gut gelaunten Ausrufe von Nicholas lauter, der komplett angezogen ins Wohnzimmer stürmte und dada rief.

„Ginny?“
„Ja?“, antwortete sie ihrem Mann.
Er senkte die Broschüre, um Ginny anzusehen, bevor er freudestrahlend verkündete: „Ich kann lesen!“
Ginny stutzte einen Augenblick. „Na, da freue ich mich aber für dich.“ Der scherzende Unterton entging ihm nicht. „Dann waren all die Schuljahre doch nicht umsonst!“
Wobbel lachte plötzlich, weshalb Harry mit vorgetäuscht ernstem Blick zu ihm hinuntersah. Der Elf sah sich genötigt, seine Emotion zu erklären. „Ich lache nur wegen Nicholas“, redete sich Wobbel heraus. Der Junge versuchte gerade, laut schnaufend einen Sessel zu erklimmen.
„Ja ja, von wegen …“ Fröhlich sah Harry abermals zu Ginny hinüber. „Ich brauche anscheinend keine Brille mehr!“
„Wirklich?“
„Wenn ich’s dir doch sage! Das muss an …“ Er biss sich auf die Zunge. Der Einzige, der eine Ahnung haben könnte, was Harry gestern an die Gäste verteilte, war Severus. Hermine war auch nicht auf den Kopf gefallen. Sie könnte ebenfalls drauf gekommen sein, wo sie doch wusste, dass Severus für ihn das Elixier des Lebens hergestellt hatte.
„Das muss an …?“, wiederholte Ginny seine letzten Worte.
„Keine Ahnung, ich weiß nur, dass ich wieder besser sehen kann als vorher.“
„Kann sich denn eine Hornhautkrümmung einfach so wieder normalisieren?“
„Da fragst du echt den Falschen, Ginny. Hermine ist die Heilerin. Vielleicht kommt sie ja zum Frühstück. Angeboten habe ich es ihr jedenfalls.“ Und er hoffte innig, dass sie ihn nicht zurechtweisen würde, denn wenn Harry keine Brille mehr benötigte, würde das bedeuten, dass auch Arthur keine mehr brauchte, Minerva, Albus. „Ich geh duschen“, entschuldigte er sich, um einen Moment über diese ungeahnten Resultate nachzudenken. Als er ihr den Rücken zudrehte, hörte er, wie Ginny erstaunt Luft holte.
„Harry, dein Rücken …“ Auf der Stelle war sie bei ihm und strich über besagte Stelle. „Die Narben sind weg.“
„Was?“ Er beugte einen Arm, damit er mit der Hand seinen Rücken befühlen konnte. Die Hinterlassenschaften der feigen Todesser hatte er, nachdem die Wunden vernarbten, nie richtig gespürt. Darüber hinaus hatte er sie auch selten berührt. Er spürte nichts. „Das ist … Das gibt’s doch gar nicht.“
„Scheint so, als hätte unsere Hochzeit unter einem guten Stern gestanden.“
„Mmmh“, stimmte er summend zu. „Ich bin dann mal …“ Er ging in Richtung Bad, doch Ginny hielt ihn auf und bestaunte seinen Rücken.
„Interessiert dich das gar nicht, Harry? Dass du plötzlich gut sehen kannst, meine ich, und dass dein Rücken aussieht wie Nicholas’ Popo.“
„Letzteres sehe ich mal als Kompliment.“ Harry drehte sich um und nahm Ginnys Hände. „Vielleicht hat der Umtrunk die positive Wirkung hervorgebracht? Möglicherweise waren dort Heilkräuter enthalten …“
„Harry, das Lügen steht dir nicht“, mahnte sie. „Du bist puterrot im Gesicht.“ Ein sicheres Anzeichen dafür, dass er nicht die Wahrheit sagte. Ginny stellte keine Fragen. Sie wartete, bis er von allein erzählte.
„Ich möchte erst duschen gehen und dann sehen, wie es anderen geht.“ Mit einem Male schoss ihm Bill durch den Kopf. „Ach du meine Güte!“
„Was ist?“
Harry beantwortete Ginnys Frage nicht, eilte stattdessen zum Bett hinüber und zog sich einen hoteleigenen Morgenmantel über, bevor er zur Tür stürmte. „Wo ist nochmal das Zimmer von Bill und Fleur?“
„Ich glaube, das zweite von uns aus links.“

Schon war Harry zwei Zimmer weitergerannt und hämmerte mit einer Faust gegen die Tür. Als niemand innerhalb von drei Sekunden öffnete, schlug er abermals mit der Faust gegen das Holz. Drinnen hörte man die Spülung einer Toilette, den laufenden Wasserhahn, dann eine Tür, die geöffnet und wieder geschlossen wurde, bevor die Tür zum Zimmer sich öffnete. Charlie stand vor Harry, aber anstatt Harry anzusehen, blickte Charlie an sich herab, fuhr mit einer Hand über seine makellose Brust. Harry bekam Kopfschmerzen.

„Sorry, ich wollte eigentlich zu …“
Charlie hielt ihn auf. „Wie ist das möglich? Eben stehe ich im Bad und schau mich im Spiegel an, da sind sie alle weg. Ich hatte hier“, mit einem Finger strich sich Charlie über den Bizeps, „eine tiefe Wunde. Wo ist die hin?“
„Tu mir einen Gefallen und zieh dich einfach an. Das muss niemand sehen!“, verlangte Harry, der Charlie wieder ins Zimmer stieß, doch er kam nicht dazu, die Tür zu schließen. Ginny war Harry gefolgt.
„Charlie?“ Sie blinzelte einige Male ungläubig. „Bei Merlin, dann ist das nicht nur bei Harry passiert.“
Charlie wurde hellhörig. „Was?“
„Harrys Rücken ist so glatt wie ein Babypopo. Keine Narben mehr.“
Wie ein aufgeschreckter Tiger lief Harry den Gang auf und ab. „Wo zum Teufel hat Bill sein Zimmer?“
„Nebenan“, sagte Charlie wenig hilfreich.
„Welche Seite? Das sind zwei Türen neben deiner.“
Weder Charlie noch Ginny gaben eine Antwort, also musste Harry eine Wahl treffen. Hoffentlich hatte er Glück. Er nahm die Tür zwischen Charlies und seinem Zimmer und klopfte. Ihm wurde sehr schnell geöffnet. Percy schaute ihn überrascht an. Im Hintergrund hörte man George fragen: „Welcher Idiot …?“
„Guten Morgen, Harry“, grüßte Percy so laut, dass es George zugleich als Antwort diente. „Was ist los?“
„Entschuldige, falsche Tür.“
„Zu wem wolltest du denn?“
Wenigstens einer war hilfsbereit, dachte Harry, wobei jetzt klar war, in welchem Zimmer Bill und Fleur übernachtet hatten. „Zu Bill.“
„Oh, der hat sein Zimmer genau …“ Percy trat in den Flur hinaus und zeigte auf die Tür neben Charlies Zimmer, hielt aber mitten im Satz inne, als er seinen älteren Bruder sah. „Charlie? Ich wusste ja gar nicht, dass du deine Wunden hast behandeln lassen.“
„Ich auch nicht“, scherzte Charlie.
Ginny, Charlie und Percy standen im Flur. Harry langte es. „Mann, geht doch einfach bitte wieder zurück in eure Zimmer!“
„Wer schreit denn da so?“ Mit verwuschelten Haaren und nur in Pyjamahose bekleidet hatte sich George an den Türrahmen gestellt. Er gähnte mit weit aufgerissenem Mund, bevor er fragte: „Warum ist hier mitten in der Nacht so ein Lärm?“
Harry winkte ab. „Geh ruhig noch schlafen. Es ist ja gerade mal neun Uhr.“
„Was ist denn hier für eine Versammlung auf dem Flur?“
„Bleib ja im Zimmer!“
„Oder was?“, nahm George ihn auf den Arm, während er zu Percy, Charlie und Ginny hinüberschlenderte und ebenfalls Zeuge des Wunders wurde, das seinen Bruder über Nacht heimgesucht haben musste. „Hey, was ist denn hier passiert?“ George nahm Charlie an den Schultern und drehte seinen Bruder. „Keine Souvenirs von deinen Drachen? Warst auf einer Schönheitsfarm, oder?“

Die nicht gerade leise Unterhaltung auf dem Flur hatte sogar Arthur und Molly dazu veranlasst, draußen nach dem Rechten zu sehen. Harry wurde ganz bleich. Um das Chaos zu vollenden, fehlten nur noch Ron, Angelina, Fred und Verity, die am anderen Ende des Flurs ihre Zimmer hatten. Von denen fehlte jedoch jede Spur. Harry wollte als Erster Bill sehen, wollte sich vergewissern, dass die Narben nicht auch verschwunden waren, denn sonst müsste er sich etwas einfallen lassen. Bill wäre für jeden, der ihn kannte, ein auf zwei Beinen wandelndes Wunder, sollte der mit einem Male kein entstelltes Gesicht mehr aufweisen. Einerseits wusste Harry, dass Bill nicht verschont geblieben war, gönnte es ihm sogar von ganzem Herzen, doch andererseits bekam Harry es mit der Angst zu tun. Er hatte sich in das Leben anderer Menschen eingemischt, ohne sie darüber in Kenntnis zu setzen. Auf keinen Fall durfte das die Runde machen, sonst würden die Menschen bei Harry Schlange stehen, um von ihm, dem Wunderheiler, berührt zu werden. Die Wahrheit dürfte schon gar nicht ans Tageslicht kommen, denn der Stein der Weisen war etwas, das viele Menschen begehrten, etwas, wofür Leute töten würden.

„Kinder, warum so aufgeregt?“, fragte Molly. Als sie an Harry vorbeiging, gab sie ihm einen Kuss auf die Schläfe. „Guten Morgen, Schwiegersohn.“ Harry schmunzelte. Zum Glück beachteten Molly und Arthur ihn nicht weiter, sondern bestaunten Charlies unversehrten Oberkörper. Harrys Chance war gekommen. Er ging an Bills Tür und klopfte leise, dann etwas lauter, bis er verzweifelt an der Klinke rüttelte und still bat, dass Fleur oder Bill öffnen würden.

Die Tür wurde von Fleur aufgerissen. Ihre verweinten, aber glücklich leuchtenden Augen waren das erste Anzeichen dafür, dass Harry sich nicht geirrt hatte. Das Elixier hatte nicht nur, wie geplant, Lebensjahre geschenkt, sondern alte Verletzungen aus der Welt geschafft. Harry war so gut wie tot. Oder er würde sich demnächst eine einsame Insel kaufen und für jedes Handauflegen fünfzig Galleonen nehmen – bei den finanziell schwächeren Pilgern würde er es sogar umsonst tun.

„‘arry“, hauchte sie, zog gleich darauf die Nase hoch. Fleur strahlte über das ganze Gesicht. „Komm rein.“

So dicht bei einer Frau zu stehen, die erstens spärlich bekleidet war und bei der zweitens verzauberndes Veelablut in den Adern floss, bescherte selbst Harry weiche Knie. Dass Fleur verheiratet war, war zweitrangig, ebenso dass er mit Ginny den Bund der Ehe eingegangen war. Betört ließ er sich von ihr ins Zimmer ziehen. Fleur lenkte ihn zur offenen Badezimmertür. Bill blickte in den Spiegel, fuhr sich mit einer Hand über die Wange. Als er Harry hinter sich bemerkte, drehte er sich um und präsentierte mit zufriedenem Lächeln sein makelloses Gesicht.

„Ich habe sogar wieder Bartstoppeln“, erklärte Bill stolz und mit glasigen Augen. Nachdem Greyback ihm das Gesicht zerfetzt hatte, war ein Bartwuchs nicht mehr vorhanden.
„Klasse!“, beteuerte Harry. „Ich helf dir aber nicht beim Rasieren.“ Ihm war etwas schwindelig, so dass er sich an den Rand der Badewanne setzte und den Kopf hängen ließ.
Bill war davon alarmiert. „Geht’s dir gut?“
„Ja, aber ich habe das komische Gefühl, dass mir deswegen heute noch jemand den Kopf abreißt.“
„Du steckst dahinter.“ Keine Frage. Bill wusste es. „Ich hab das dir zu verdanken.“
„Ich hab nicht geplant, dass das solche Ausmaße annimmt.“ Betreten blickte Harry auf. „Sieh dich an! Die Leute werden Fragen stellen. Das darf niemand sehen! Wir müssen uns was einfallen lassen, sonst bin ich dran.“
„Wie hast du das …?“ Bill hob die Hand. „Nein, sag es nicht. Ich möchte es gar nicht wissen.“
„Es tut mir leid“, winselte Harry. „Ich hätte dich wenigstens vorwarnen sollen.“
„Es tut dir …?“ Völlig verdattert schüttelte Bill den Kopf. „Das muss dir ganz und gar nicht leid tun. Ich meine, sieh mich an.“ Harry blickte noch immer gen Boden. „Sieh mich an, Harry.“ Den Kopf hebend erblickte Harry Bill, wie der mit einer Hand auf sein Gesicht deutete. „Hält das nur kurz an oder bleibt das so?“
„Es wird so bleiben.“ Zur eigenen Bestätigung nickte Harry. „Was werden deine Arbeitskollegen sagen? Deine Freunde? Der Bäcker, bei dem du morgens immer deine Brötchen holst?“
„Mach dir keine Sorgen. Und denk dran: Dafür muss du dich nicht entschuldigen. Harry, das ist ein einzigartiges Geschenk, das du mir gemacht hast. Ich hätte nicht gedacht“, Bill dreht sich zum Spiegel, „dass ich mich noch einmal so sehen darf.“ Er drehte den Kopf und beäugte sich skeptisch. „Mann, ich bin im Gesicht ganz schön mopsig geworden, meinst du nicht?“

Harry schnaufte belustigt. Er war froh, dass Bill ihm nicht böse war. Wie konnte man in so einer Situation auch böse sein, fragte sich Harry. Ein Klopfen ließ seine Miene sofort wieder ernst werden. Bevor er es verhindern konnte, öffnete Fleur die Tür des Hotelzimmers. Man hörte Arthurs Stimme grüßen. Hilfe suchend blickte Harry zu Bill hinüber, doch anstatt sich im Bad zu verstecken, rannte er nach draußen und offenbarte seinem Vater das Wunder der Nacht.

„Ich bin sowas von tot“, murmelte Harry. Wenn Arthur ihm nicht die Leviten lesen würde, dann sicherlich im Laufe des Tages jemand anderes. Mit gebeugtem Rücken, als würde das Übel der ganzen Welt auf seinen Schultern lasten, schlürfte Harry aus dem Badezimmer nach draußen. Innerlich wappnete er sich dafür, nicht seinem Schwiegervater gegenüberzustehen, sondern dem Zaubereiminister, der ihm Paragraphen um die Ohren hauen würde, in denen in Bürokratensprache erklärt war, warum man seine Mitmenschen nicht als Versuchskaninchen benutzen durfte. Arthur beachtete Harry jedoch nicht. Das Oberhaupt der Familie hielt das Gesicht seines ältesten Sohnes in den Händen und betrachtete es mit so großem Respekt, als hätte er den Heiligen Gral vor Augen.
„Mein Junge“, flüsterte Arthur, bevor er Bill an sich drückte. Irgendjemand schluchzte. Es könnte Fleur gewesen sein. Arthur rieb Bills Rücken, schlug ihm dann zweimal auf die Schulter, bevor er ihn wieder ansah. „Ich weiß zwar nicht, was passiert ist …“
Bill klärte seinen Vater auf. „Harrys war’s.“
Klasse, dachte Harry. Jetzt schauten ihn drei Mitglieder seiner Familie mit fragendem Blick an. Harry spielte verlegen mit seinen Händen. „Es war … Ich weiß nicht, ob ich es sagen darf.“
Arthur zeigte Verständnis, drängte ihn nicht. „Dann bist du auch dafür verantwortlich, dass die Striemen an meinem Rücken weg sind?“
Harry stutze. „Was denn für Striemen?“
„In der Schule bin ich von Apollyon Pringle, dem damaligen Hausmeister, dabei erwischt worden, wie ich nachts von einem Treffen mit Molly zurückkam. Es setzte Prügel.“ Arthurs Augenbrauen zogen sich zusammen, als er an diesen Moment zurückdachte. „Harte Prügel. Die Wunden waren so übel, dass Albus die körperliche Züchtigung in Hogwarts auf der Stelle verbot. Er hat sich sogar mit den Leuten vom Ministerium angelegt, die die Prügelstrafe guthießen und beibehalten wollten. Poppy konnte nichts unternehmen. Die Wunden heilten zwar schnell, aber die Striemen waren zu sehen – bis gestern Abend, Harry. Außerdem“, Harry horchte auf, „sind auch die Stichwunden verschwunden. Du weißt schon. Der Praktikant, wie hieß er noch? Augustus Pye! Der hat mir damals, als ich nach dem Angriff von Nagini auf der Dai-Llewellyn-Station lag, die Wunden auf Muggelart zugenäht. Davon ist auch nichts mehr zu sehen.“
„Ja“, Harry kniff kurz die Lippen zusammen, „das wird auch auf meinem Mist gewachsen sein.“ Seine Schultern sackten ab, als wäre die Schwerkraft zu viel für sie. „Es war das Elixier des Lebens“, offenbarte Harry mit leiser Stimme. „Ich wollte jedem doch nur ein paar Jahre schenken. Das da“, er deutete auf Bills Gesicht, „habe ich nicht mit einkalkuliert.“
„Das Elixier des Lebens?“, wiederholte Arthur mit großen Augen. „Sag, Harry, wie bist du da rangekommen?“
„Ich hab es mir herstellen lassen.“
„Herstellen lassen? Dazu benötigt man doch aber den Stein der Weisen!“ Harry nickte, verzog dabei schuldbewusst das Gesicht. „Harry? Du hast den Stein?“
„Ja, ich … Verdammt! Wenn Bill so herumspaziert, wird das auf den Tag der Hochzeit zurückfallen, somit auf mich.“
Arthur schien die Misere bestens zu verstehen, in der sich Harry befand. „Der Stein ist begehrt“, murmelte er nachdenklich. „Die Tränke und Sprüche im Mungos haben Bills Gesicht nicht komplett wiederherstellen können.“ Nochmals schaute Arthur zu seinem Jungen, lächelte dabei. „Wer weiß, vielleicht könnten die Muggel etwas bewirken? Bill, hast du nicht sowieso ab Montag vier Wochen Urlaub?“
„Ja, warum?“
„Na dann“, er schlug seinem Sohn auf die Schulter, „tauchst du einfach unter und wenn du wiederkommst, wirst du allen erzählen, die Muggel konnten dein Gesicht wiederherstellen. Ist das eine großartige Idee oder nicht?“
„Aber die Muggelgeborenen unter unseren Freunden könnten Verdacht schöpfen“, warf Bill nachdenklich ein. „Die wissen, was möglich ist und was nicht.“
„Dann warst du eben bei einem Spezialisten. Recherchiere ein wenig, damit du weißt, was du erzählen kannst. Von Plastikchirurgie werden die auch schon gehört haben.“

Harry schmunzelte, erklärte aber niemandem, warum. Die Idee war gut. So viele Muggelgeborene kannte Bill nicht und die, die er kannte, würden sich hüten, ihn einen Lügner zu nennen. Die Muggel verfügten über eine Menge Fachwissen, was das Rekonstruieren von Gesichtern betraf. Bill könnte mit der Erklärung durchkommen. Die Zauberer und Hexen wussten nicht, was Muggel-Ärzte zustanden bringen konnten und die Muggelgeborenen wussten nicht über alle Möglichkeiten Bescheid, die Zaubertränke betrafen. Harry wusste ja nicht einmal, wie man einen Kakaofleck aus einem Pyjama herauszaubern konnte. Genauso wenig waren andere dazu in der Lage zu bestimmen, was aus Muggelsicht und magischer Sicht machbar war, um Bills Gesicht wieder so zu richten, wie es jetzt war.

„Allerdings“, warf Arthur ein, „solltet ihr noch vor dem Frühstück verschwinden. Je weniger davon erfahren, desto besser.“ Arthur rechnete jedoch nicht mit seiner aufdringlichen Familie, die gerade dabei war, durch die nur angelehnte Tür in das Hotelzimmer von Fleur und Bill zu stürmen.
„Ach du meine Güte!“ Harrys Knie wurden so weich, dass er sich aufs Bett setzen musste, als er mit ansah, wie Molly bei Bills Anblick in Tränen ausbrach, George seinen Bruder begutachtete und Charlie ihm die Schulter klopfte.
„Harry, geh auf dein Zimmer“, riet Arthur mit freundlicher Stimme, „ich werde das hier regeln. Wir halten alle dicht. Mach dir keine Gedanken.“
Zu spät, dachte Harry und marschierte zurück ins Zimmer, gefolgt von Ginny, die ihn sich sofort zur Brust nahm. „Was hast du getan, Harry?“, wollte sie wissen. Sie war neugierig, nicht böse – noch nicht.
Erst im Zimmer, bei geschlossener Tür, wagte er es, sie einzuweihen. „Das Elixier des Lebens. Ich hab gestern damit eine Runde geschmissen.“
„Du hast was?“ Sie war noch immer fassungslos, nicht verärgert.
„Ginny, hör mal: Es darf niemand erfahren. Ich hab es nicht getan, damit sämtliche Wunden verschwinden. Ich habe es so gemeint, wie ich es zum Trinkspruch sagte. ‚Gegen die verlorenen Jahre‘, Ginny und nicht ‚gegen alte Wunden‘.“
„Bist du dir nicht im Vorfeld darüber klar gewesen, dass dieses Elixier …“
„Nein! Ich hab nicht dran gedacht. Ich wusste ja nicht mal, dass mit dem Stein der Weisen Blei in Gold verwandeln kann, bis Severus es mir gesagt hat. Ja, ich gebe es zu, ich habe nicht nachgedacht.“
„Das ist irgendwie typisch für dich, weiß du?“
Harry lächelte verlegen. Er war Ginny dankbar, dass sie die Nerven behielt, denn sie sah die gute Tat, die hinter seinem unüberlegten Handeln stand. Plötzlich fiel Harry etwas ein. Er legte die Hände übers Gesicht. „Oh mein Gott!“
„Was?“, fragte sie auf der Stelle nach.
„Was ist, wenn Alastor aufwacht und an einem Herzinfarkt stirbt, weil ihm über Nacht ein neues Bein gewachsen ist?“
„Mmmh“, machte Ginny nachdenklich. „Ich denke zwar nicht, dass er etwas trinkt, das nicht aus seinem Flachmann kommt, aber zur Sicherheit sage ich Dad Bescheid, dass er sich erkundigen soll. Zieh dich erst einmal an, Harry.“

Während Ginny nach draußen ging, kam Nicholas freudestrahlend auf Harry zu und hielt ihm eine Eule aus Stoff entgegen.

In der Apotheke in der Winkelgasse kam zur gleichen Zeit der Hund mit einem Ball in der Schnauze zu Severus gelaufen, der gerade die Badezimmertür öffnete.

„Hat es dafür nicht noch etwas Zeit?“, fragte Severus den Hund, der daraufhin wie wild mit dem Schwanz zu wedeln begann. Severus seufzte, nahm den Ball und warf ihn die Treppe hinunter. Als Harry hinterherjagte, hörte es sich an, als würde ein Kalb im Haus umherrennen, so laut war der Hund. „Umwerfend graziös“, murmelte Severus, bevor er in sein Zimmer ging, um sich anzukleiden – diesmal wieder ganz in schwarz. Währenddessen musste er immer wieder den Ball werfen, den Harry fangen wollte, doch das Zimmer war zu klein, als dass es Freude bereiten könnte.

Im Wohnzimmer wunderte sich Severus, dass er Hermine nicht antraf. Gerade wollte er sich auf den Weg in die Küche machen, da fiel ihm der Zettel auf, der auf dem Tisch lag.

„Ein Notfall. Bin im Mungos. Bitte warte im Schloss Schnatzer auf mich“, las er laut vor. „Da ist man nicht mal vierundzwanzig Stunden verlobt und schon wird man per Zettel hin und her beordert.“ Das Wort Bitte stach ihm ins Auge. „Na gut, die Anweisung ist als Bitte getarnt.“ Ein seufzte laut. „Ich wollte nicht ins Schloss Schnatzer.“ Der Hund glaubte, Severus sprach mit ihm, weshalb er die Ohren aufrichtete und ganz genau zuhörte, falls ein Befehl für ihn bestimmt war. Nochmal schaute Severus auf die Notiz. „Notfall? Sie ist doch gar nicht im Mungos beschäftigt! Warum …?“ Ihm rutschte das Herz in die Hose, als er mit einem Mal an die Longbottoms denken musste. Weshalb sonst? „Merlin, wenn es so ist, wie ich befürchte …?“ Er wollte der Aufforderung nachkommen, war sich aber unsicher, ob noch Zeit für einen Kaffee blieb. Andererseits bot das Schloss Schnatzer einen hervorragenden Kaffee an. Außerdem fühlte er im Gegensatz zu gestern nicht diese unsägliche Schwäche, in Erinnerungen zu versinken. Er war voll und ganz Herr seiner Sinne und nur die Lippen seiner Verlobten vermochten, ihm diese zu rauben. „Dann auf ins Schloss Schnatzer.“ Er legte den Zettel zurück auf den Tisch und richtete das Wort an Harry. „Kommst du mit?“ Ein Fiepen wurde als Ja gedeutet.

Severus ging zunächst nach unten, wo Fellini schon an der Hintertür wartete, damit er an diesem schönen Tag nach draußen durfte. Seinen Zauberstab richtete Severus zunächst auf die Tür, sprach dabei einen Sicherheitszauber, den er an ein Lebewesen heften konnte. Besagtes Lebewesen war Fellini. Wenn er wieder zur Hintertür kommen sollte, würde die Tür sich für ihn öffnen – und auch nur ihn hindurchlassen. Als das erledigt war, öffnete Severus die Tür von innen und sagte zu dem Knieselmischling: „Und halt dich von Nachbars Katze fern, hörst du?“ Der Kater mauzte, was Severus ebenfalls als Zustimmung ansah. Schon war Fellini in den Büschen verschwunden. „Und wir beide“, sagte Severus zu dem Hund, der noch immer seinen Ball in der Schnauze spazieren trug, „apparieren jetzt zum Schloss Schnatzer.“

Es stellte sich als nicht leicht zu überwindende Hürde dar, den mittlerweile prächtig gewachsenen Kuvasz für eine gemeinsame Apparation auf den Arm zu nehmen. Das Tier hatte keine Ähnlichkeit mehr mit dem Wollknäuel, das Severus eines Tages aus dem Verbotenen Wald mitgenommen hatte. An Größe und Gewicht hatte Harry enorm zugelegt. Spätestens jetzt war Severus klar, warum diese Rasse zu den ungarischen Hirtenhunden zählte. So ein Hund durfte einem Schaf körperlich in nichts nachstehen.

„Meine Güte, bist du schwer geworden“, ächzte Severus, als er den Hund auf den Arm nahm. Schloss Schnatzer war nicht in unmittelbarer Nähe. Er legte bei der Apparation vorsichtshalber einen Zwischenstopp ein, um nicht zu zersplintern.

Das Tor von Schloss Schnatzer durchschritten gerade Remus und Tonks, als sie hinter sich das Geräusch der Apparation wahrnahmen. Beide drehten sich um. Tonks dachte, ihr Cousin Sirius würde womöglich erscheinen, während Remus auf Hermine hoffte, die ihm sicherlich einen Großteil seiner Fragen beantworten könnte. Keiner von beiden rechnete mit Severus. Tonks stutzte bei dem Anblick. Severus mit einem riesigen Hund auf dem Arm bekam man nicht häufig zu Gesicht.

Remus, noch immer über die Tatsache erfreut und gleichzeitig ein wenig beunruhigt, dass nicht nur die Narben der Bisswunde über Nacht verschwunden war, sondern sämtliche Mitbringsel seiner nächtlichen Streifzüge als Werwolf ebenfalls, hob die Hand und grüßte Severus aus geringer Ferne. Der Hund rannte sofort zu den beiden hinüber, hüpfte aufgeregt hin und her und wedelte mit dem Schwanz. Tonks konnte nicht anders, als den Hund zu streicheln. Vorsichtig nahm sie ihm den Ball aus der Schnauze. Der Hund wartete aufgeregt darauf, dass sein Spielzeug geworfen wurde, senkte dabei seinen Oberkörper, so dass das wild wedelte Hinterteil hoch nach oben gestreckt war. Tonks holte aus und warf den Ball in hohem Bogen.

Die Wurfhand seiner Verlobten umschmeichelte Remus mit den Worten: „Wäre das ein Brautstrauß gewesen, hätte ihn niemand gefangen.“
Ihren Blick nicht vom Hund anwendend lachte sie. „Das macht die Arbeit als Auror. Was meinst du, was ich für Muskeln in den Armen habe.“
Endlich war Severus bei den zweien angelangt. „Tonks“, er nickte ihr zu, „Remus.“ Severus betrachtete das Gesicht seines Gegenübers. Die Narben, die sonst quer übers Gesicht verliefen, waren verschwunden. „Wie ich sehe, war es eine Nacht voller Wunder.“
Verlegen befühlte Remus mit den Fingerspitzen seine Wange. „Bin ich also nicht der Einzige?“ Tonks hörte aufmerksam zu, blickte aber weiterhin dem Hund nach.
„Hermines Bein …“ Severus hielt inne, weil er nicht wusste, inwiefern Remus über das rot vernarbte Gewebe informiert war.
„Das Spinnenfeuer.“
Severus nickte. „Es ist verheilt.“
Als der Hund den Ball zurück zu Tonks brachte, mischte sie sich ins Gespräch ein. „Und was hat das ausgelöst? Eine verzauberte Nougattorte?“
„Das“, warf Remus ein, „würde aber bedeuten, ich hätte ein Stück davon gegessen. Hab ich aber nicht.“
Tonks warf den Ball erneut und freute sich mindestens genauso sehr über das Spiel wie der Hund. „Vielleicht standen gestern einfach nur die Sterne gut?“

Sie benötigte keine Erklärung für das Verschwinden der Narben. Ein Geschenk des Himmels hinterfragte man nicht. Sie fand mehr Gefallen an dem Hund, der über das hohe Gras jagte, um den Ball zu fangen. Tonks wandte sich ab und ging einige Schritte von den beiden Männern weg, um langsam – zwischendurch immer wieder den Ball werfend – zum Schloss zu gehen.

Während Remus ihr nachsah, musterte Severus ihn mit seinem geschulten Blick. Neben den fehlenden Narben fiel ihm auf, dass Remus’ Hände, mit denen er einen abgerissenen Grashalm zerrupfte, zitterten. Des Weiteren waren Fältchen an den Augen zu erkennen, die einer Sorge zuzuschreiben waren, doch welcher Sorge, das müsste Severus erfragen.

„Du wirkst unausgeglichen“, stellte Severus ohne mit der Wimper zu zucken fest.
Remus’ Kopf schnellte herum. „Bin nur etwas aufgeregt. Die Überraschung heute Morgen war groß.“
Damit ließ sich Severus nicht abspeisen. „Andere würden es unbeschwerter aufnehmen, so wie Tonks.“
Remus nickte, schaute auf seine Hände und ließ den fransigen Grashalm fallen, der seine Nervosität verraten hatte. „Mag sein, aber andere machen sich auch nicht die Gedanken, die ich mir mache.“

Remus bedeutete Severus mit der Hand, langsam den Weg zum Schloss fortzusetzen. Normalerweise hatte Severus einen schnellen Schritt am Leib, wenn der auch oftmals ruckartig wirkte. Einen Weg von A nach B war er stets zügig gegangen, doch diesmal, zu seinem eigenen Erstaunen, schlenderte er neben Remus her. Das Schlendern hatte, ähnlich wie ein Spaziergang, einzig den Sinn, die Zeit für eine ungestörte Unterhaltung zu nutzen. Nachher beim Frühstück wäre es nicht leicht, Ansichten auszutauschen, ohne von anderen gehört zu werden.

„Wie sieht’s aus?“, wollte Remus völlig unerwartet wissen. Weil Severus ihn mit fragendem Gesichtsausdruck anblickte, wurde er deutlicher. „Ist gestern noch irgendwas Interessantes bei dir passiert?“
Wie aus heiterem musste Severus an die lange Zeit denken, die er mit Hermine verbrachte hatte und erwiderte daher sehr ruppig: „Das geht dich überhaupt nichts an!“
Von der Antwort irritiert erklärte Remus zaghaft: „Ich meinte, ob außer Hermines Bein …“
„Ach so.“ Severus strich sich geistesabwesend mit einer Hand über die Brust bis zum Bauch, doch Remus fiel diese Geste auf. „Auch ich bin einige Souvenirs losgeworden.“
„Das ist fantastisch.“ Remus klang nicht so erfreut, wie die Worte es weismachen sollten. Er schien abgelenkt, war mit den Gedanken woanders.
Gerade wollte Severus fragen, was sein Gegenüber so bedrückte, da hörte er das Plopp einer Apparation und die darauf folgende, nervtötende Stimme von Black. „Hey, Remus, alter Junge!“ Im Gegensatz zu Remus drehte Severus sich nicht um. Das distanzierte Nicken, das er diesem Mann als Begrüßung zukommen lassen wollte, könnte er auf später verschieben. „Und das ist ja auch Severus, der Hund!“
Hier wandte sich Severus dem dämlich grinsenden Störenfried zu, um ihn besser anblaffen zu können. „Ich höre wohl nicht recht!“
„Ich sagte“, Sirius grinste hämisch, „da ist ja auch Severus und sein Hund.“ Anne und Sirius hatten die beiden Männer erreicht. Tonks winkte ihrem Cousin vom Eingang des Schlosses zu, was er freudestrahlend erwiderte.
„Das hörte sich aber anders an“, knurrte Severus.
Von der gerade eben aufgetretenen schlechten Laune ließ sich Sirius nicht die Stimmung verderben, was Remus zur Sprache brachte: „Warum so gut gelaunt?“
„Ich bin nun mal eine Frohnatur“, grinste Sirius breit.
„Nichts Seltsames in der Nacht passiert?“, hakte Remus nach und wurde deutlicher, als Sirius Augenbrauen sich zusammenzogen. „Irgendwelche alten Narben verschwunden?“
„Stell dir vor“, Sirius krempelte einen Ärmel hoch, „die Narben sind schon alle weg gewesen, als ich aus dem Schleier getreten bin, wie die Narben aus Askaban.“ Dass manche Gefangenen zur Strafe tagelang in Ketten gelegt worden waren und diese Behandlung die Haut an den Handgelenken wund scheuerte, was vernarbte Stellen zurückgelassen hatte, sprach er nicht extra an. „Und meine alte Sportverletzung war fort!“
„Tja“, Remus schnalzte mit der Zunge, „dann kannst du ja gar nicht mehr damit angeben, dass du James ein einziges Mal den Schnatz vor der Nase weggefangen hast.“
„Und bei der Aktion in einem wahnwitzigen Tempo gegen die Zuschauertribünen gekracht bin“, vervollständigte Sirius das Szenario.
„Ja“, seufzte Severus schwelgend, „daran erinnere ich mich. Diesem Ereignis beiwohnen zu dürfen war ein absoluter Höhepunkt meiner Schulzeit.“
Das fröhliche Lächeln auf Sirius’ Gesicht wollte für einen winzigen Augenblick verblassen, aber er riss sich zusammen und setzte ein nur noch breiteres Grinsen auf. „Freut mich“, sagte er übertrieben freundlich, „dass wenigstens ich zu deiner allgemeinen Belustigung einen Beitrag leisten konnte, wo du doch immer mit einem Gesicht herumgelaufen bist, als wolltest du die Definition von dem Begriff Miesepeter zur Schau stellen.“ Gewitterwolken bildeten sich über Severus’ Haupt, was Sirius als Anlass nahm, mit dem Finger auf ihn zu deuten. „Genau das Gesicht meine ich!“
Mit einem wütenden Schnaufen ließ Severus die drei allein. Anne blickte ihm hinterher, bevor sie an Sirius gerichtet sagte: „Muss das denn immer sein? Ich hatte nicht einmal die Gelegenheit, ihm einen guten Tag zu wünschen.“
„Ach, du kannst ihm noch so oft einen guten Tag wünschen, der hat nie einen guten Tag!“, winkte Sirius ab.
Remus gab zu bedenken: „Jedenfalls nicht in deiner Nähe.“
„Was soll das jetzt wieder heißen?“ Sirius schlug den Weg zum Schloss ein und drehte sich um, damit die anderen das als Aufforderung sehen würden, ihm zu folgen. „Ich habe die Nase voll davon, dass er mit dem Gezicke anfängt und ich am Ende als Buhmann dastehe.“
„Ihr schaukelt euch gegenseitig hoch“, brachte Anne es auf den Punkt. „Einer von euch muss einfach mal einstecken und den Mund halten, damit solche Gespräche nicht eskalieren.“
„Ach“, schnaufte Sirius, „und das soll wohl ich sein?“
Remus grinste. „Der Klügere gibt nach! Den Spruch kennst selbst du.“

Im Schloss Schnatzer fanden sich bereits ein paar von Harrys und Ginnys Freunden ein. Es waren nicht überwältigend viele. Der Raum für zwanzig Personen, in welchem das Frühstücksbuffet aufgebaut war, reichte vollkommen aus. Nicht Remus und Tonks waren die Ersten im Schloss Schnatzer gewesen, sondern Draco und Susan, die bereits an einer Tasse heißen Kaffee schlürften und auf die anderen warteten.

Hermine würde nicht so schnell hinzustoßen. Sie war gerade in das Schwesternzimmern gegangen, wo Augusta Longbottom mit besorgtem Gesichtsausdruck wartete, während der von Luna die vertraute Entrücktheit an den Tag legte.

„Guten Morgen, Mrs. Longbottom“, grüßte Hermine mit einer zitternden Stimme, die sie eigentlich vermeiden wollte. Wie befürchtet ließ ihre eigene, hörbare Bewegtheit die Sorge bei Franks Mutter aufblühen.
„Bei Merlin, was ist geschehen?“, fragte die betagte Dame, legte dabei eine flache Hand aufs Herz.
„Ich erkläre es Ihnen gleich.“ Hermine schaute sich um. „Hallo Luna.“ Luna schenkte ihr ein Lächeln. Einer fehlte, stellte Hermine fest. „Wo ist Neville?“
„Der musste nochmal wohin“, erwiderte Luna mit sanfter Stimme. „Er hatte Bauchschmerzen.“
„Sie sind doch“, Augusta legte den Kopf schrägt, „Hermine, nicht wahr? Die Klassenkameradin mit der Apotheke.“ Hermine nickte. „Ist etwas mit meinem Sohn?“ Augusta war so aufgeregt, dass sie sich beim Sprechen verschluckte.
„Mrs. Longbottom, bitte gedulden Sie sich ein wenig.“ Hermine wollte unbedingt, dass Neville anwesend war. „Warten wir, bis Ihr Enkel kommt.“ Ohne es aufhalten zu können brach Augusta Longbottom in Tränen aus. „Nicht doch …“

Hermine schluckte. Zwar hatte sie selbst nicht nahe am Wasser gebaut, wie eine alte Redewendung es gern beschrieb, wenn jemand schnell zu weinen begann, aber der Anblick der älteren Dame brach ihr das Herz. Sie griff zu der kleinen Flasche mit dem Beruhigungstrank und tröpfelte etwas in ein sauberes Glas, das sie mit Wasser auffüllte.

„Hier“, Hermine reichte es der älteren Dame, „trinken Sie das bitte. Sie müssen sich wirklich nicht aufregen.“
„Nicht aufre…?“ Augusta schluchzte unkontrolliert und war froh, ein Glas Wasser in der Hand zu halten. Mit zitternden Händen nahm sie einen Schluck, bevor sie fast unverständlich winselte: „Ich soll mich nicht aufregen? Warum darf ich dann nicht zu meinem Sohn? Es muss doch etwas geschehen sein. Sagen Sie es mir“, flehte sie. Ein paar mögliche Situationen zählte sie auf. „Hat sich sein Zustand verschlechtert? Muss er nachts wieder überwacht werden, weil er aufhört zu atmen? Oder hat die spastische Kontraktion wieder zugenommen?“ Die Probleme glaubte man seit Jahren bewältigt.
Hermine zog einen Stuhl an den Tisch, so dass Augusta Longbottom in die Mitte genommen wurde. „Vielleicht“, begann Hermine, „sollte ich Sie doch lieber sofort aufklären.“ Jetzt war sie wieder die Heilerin vom Mungos, bemerkte Hermine selbst, als sie der alten Frau eine Hand auf den Oberarm legte. Eine Geste, die im Allgemeinen beruhigend wirkte. „Ihr Sohn und Ihre Schwiegertochter haben sich erholt.“ Augusta versuchte, diese Information zu verarbeiten, aber Hermines Verhalten stand für sie nicht im Einklang mit der doch eher positiven Aussage. Weil Augusta nichts von sich gab, sondern sie nur fragend anblickte, begann Hermine langsam zu erklären. „Sie wissen, dass die Cruciatusflüche irreparable Schäden an den Nerven verursacht haben.“ Augusta nickte. Das Gleiche hatten ihr die Heiler bei ihrem ersten Besuch im Mungos erklärt. „Nun“, Hermine tätschelte den Unterarm der älteren Dame, „die Schäden waren doch nicht irreparabel.“

Mrs. Longbottom blinzelte. Sie war unfähig, etwas zu fragen, etwas zu sagen oder auf andere Art und Weise eine Reaktion hervorzubringen.

Mit einem Mal war Augusta gedanklich 23 Jahre zurück in die Zeit gereist.

Sie war gerade dabei, hektisch ihre Sachen zu packen und das Heim zu verlassen, um zu Sohn und Schwiegertochter aufzubrechen. Die Angst war groß, dass Voldemort doch ein Auge auf den kleinen Neville geworfen haben könnte. Die Potters waren in einem Dorf im Südwesten Englands untergetaucht. Dumbledore hatte den Longbottoms das Gleiche geraten. Sie sollten sich zurückziehen, um Voldemorts letzten Schlag zu erschweren. Die Potters sowie die Longbottoms waren dem Dunklen Lord und seinen Todessern zuvor dreimal entkommen. Harry oder Neville – einer von beiden.

Das Gerücht, Voldemort wäre besiegt worden, erreichte Augusta über den Patronus von Minerva McGonagall. Derselbe Patronus berichtete vom Tode von Lily und James Potter. Der kleine Harry war wohlauf, nur leicht verletzt. Mit der Erleichterung, keinen Todesfall in der eigenen Familie betrauern zu müssen, machten sich gleichzeitig Schuldgefühle breit. Augusta brach zusammen. Die Freude über das Wohl von Sohn, Schwiegertochter und Enkel stand im nicht zu ertragenden Gegensatz zu der Trauer um die guten Freunde. Ihre Hektik war nicht verschwunden. Augusta war ohne ihre gepackten Taschen aufgebrochen, um zu ihren Kindern zu eilen.

Als Erstes fiel ihr an dem Haus eine kaputte Fensterscheibe auf. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als sie darin ein böses Omen sah. Anstatt ihren Sohn in die Arme zu schließen, wurde sie von dessen Kollegen aufgehalten. Auroren, soweit das Auge reichte. Ein Herr namens Moody, Frank hatte ihr von ihm erzählt, nahm sie beiseite. Eines seiner Augen tränte – das braune. Die Nachricht vom Überfall der Todesser traf Augusta wie ein Blitzschlag. Entgegen der Ratschläge der untersuchenden Auroren wollte Augusta ihren Sohn sehen.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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3/3 von Kapitel 219

Am Boden des Wohnzimmers lag Frank, krümmte seinen Rücken in ungesundem Bogen, verdrehte die Arme, sabberte. Bei Alice das gleiche Bild. Ihre Augen waren nach innen gedreht. Sie sah aus wie ein Geist. In den eigenen Fäkalien lagen sie, wälzten sich, zuckten, weil die Muskeln es so wollten. Der Verstand war ausgeschaltet. Zum Glück. Sie reagierten nicht, nicht einmal auf das Weinen ihres Jungen, den eine Aurorin im gusseisernen Ofen der Küche gefunden hatte, in welchem seine Eltern ihn wie eines der sieben Geißlein versteckt hatten.

Jemand weinte.

Augusta trocknete sich die Augen, fand sich im Schwesternzimmer der Janus Thickey-Station wieder – in der Gegenwart. Sie selbst war es, die ihre Tränen aufgrund der Erinnerungen nicht zurückhalten konnte. Neben der Hand auf ihrem Unterarm spürte sie nun auch eine zwischen den Schulterblättern. Luna stand ihr bei, spendete Trost. Auch das Beruhigungsmittel wirkte. Ihr altes Herz schlug ruhig, verkraftete die Aufregung.

„Nicht irrepa…?“ Das Wort wurde durch einen Schluchzer entzweit.
„Nein“, beteuerte Hermine mit sanfter Stimme. „Es hat sich etwas Wundersames getan.“ Die weinende Frau zehrte an ihren Nerven. Hermine bemerkte, wie eigene Tränen ihr Sichtfeld verschwimmen ließen.
„Würden sie mich vielleicht sogar erkennen?“, fragte Augusta hoffnungsvoll.
Hermine nickte und beugte sich zu Augusta vor, als sie flüsterte: „Sie werden Sie sogar grüßen können.“

Zu lächeln und gleichzeitig zu weinen war ein Garant für eine entstellende Mimik, doch Augusta war es vollkommen egal, wie sie auf andere wirkte.

Als Neville von der Toilette zurückkam und im Vorübergehen durch die Scheibe des Schwesternzimmers seine aufgelöste Großmutter sah, dazu eine sichtlich bewegte Hermine, da sackte ihm ein Großteil des Blutes in die Beine. Ohne nachzudenken, ohne sich zu erkundigen, was geschehen war, kamen seine Beine einem nicht bewusst gegebenen Befehl nach. Sie setzten sich einfach in Bewegung. Ziel war das Zimmer seiner Eltern. In seinem Kopf herrschte ein Wirrwarr aus Erinnerungen vergangener Ereignisse und möglichen Erklärungen für den Besuch von Hermine und seine weinende Großmutter. Der Gedanke an seine Mutter blitzte auf, wie sie ihm ein golden glitzerndes Bonbonpapier schenkte, gefolgt von der Befürchtung, ein leeres Zimmer vorzufinden. Neville ließ seinen Gedanken freien Lauf, sah sie sich an wie einen Film. Die Wölbung der Türklinke legte sich in seine Handfläche. Ein wenig Druck genügte und die Tür zum Krankenzimmer war geöffnet.

Ein zweites Zuhause. Das Mungos, die Schwestern, dieses Zimmer – all das war ihm vertraut. Seit er denken konnte, kam er mit seiner Großmutter hierher. Als kleiner Junge hatte er manchmal im Bett zusammen mit seiner Mutter einen Mittagsschlaf gehalten. Weihnachten wurde hier gefeiert, Geburtstage. Ein vom Krankenhaus organisiertes Ostereiersuchen wurde jährlich für die Kinder der Patienten veranstaltet. Auch wenn diese christliche Tradition nur für die Muggelgeborenen eine Bedeutung hatte, bereitete es allen Kindern viel Freude. Die gefundenen Eier teilte Neville immer mit seinen Eltern. Ihre Gesichter waren am Ende genauso mit Schokolade verschmiert wie das seine.

Das Krankenzimmer. Plötzlich war es ihm fremd, als würde er es zum ersten Mal aufsuchen. Vielleicht würde er es nie wieder betreten, befürchtete er, weil niemand mehr hier war, den er besuchen könnte. Die Gardinen wehten und ließen ein wenig Sommer herein. Frische Brisen, Sonnenstrahlen. Wie unter einem Imperius konnte er sich nicht dagegen auflehnen, trotz seiner großen Sorge den schmalen Gang an der Toilette vorbei bis zur Mitte des Raumes zu gehen, um einen Blick auf die Betten zu werfen. Er holte tief Luft, bevor er sich drehte. Die Betten waren nicht leer. Eine Schwester tupfte seiner Mutter mit einem Tuch die Wange. Daneben lag sein Vater. Er war ungewöhnlich ruhig und wirkte konzentriert.

„Geht es meinen Eltern gut?“ Seine Stimme war so still, dass er beinahe glaubte, er hätte in Gedanken zu sich selbst gesprochen. Das Rascheln der Gardinen war lauter gewesen. Er startete einen neuen Versuch. Sein Herz pochte bis zur Kehle hinauf und schnürte sie ihm zusammen, was es nicht leicht machte, die Worte herauszubekommen. „Geht es meinen Eltern gut?“ Die Frage war präzise. Eine Antwort sollte leicht sein und die wollte er auf der Stelle haben.

Mit großen Augen blickte die Schwester auf, aber nicht nur sie. Seine Mutter wandte den Kopf. Das erste Mal in Nevilles Leben trafen sich ihre Blicke nicht nur durch einen Zufall. Neville spürte ein Kribbeln. Ihm wurde heiß und kalt. Die Augen seiner Mutter wanderten nicht durch das Zimmer, sondern hafteten an ihm, musterten ihn. Als Neville zum Nebenbett blickte, fand er Blickkontakt mit seinem Vater. Blickkontakt!

„Geht es ihnen gut?“ War das seine Stimme, die so schwächlich klang? An den Seiten seines Blickfelds sah er kleine Lichtpunkte explodieren. Die Schwester schien damit überfordert, seine Frage zu beantworten und doch hörte er eine Stimme, obwohl sich Kathleens Mund gar nicht bewegte. Jemand hauchte „Ja“. Neville schaute wieder zu seiner Mutter. Abermals war er verwundert und entzückt, dass ihre Augen still auf ihm ruhten und ihr Blick ihn nicht nur flüchtig streifte. Ein Wunder! Dann bewegte sich ihr Mund. Die Stimme, zart wie ein leichter Sommerwind, hauchte nochmals „Ja.“

Die Lichtpunkte vor seinen Augen explodierten so heftig, dass er nichts mehr sehen konnte. Plötzlich wurde alles schwarz.

Hilflos sah Kathleen mit an, wie Neville in sich zusammensackte.

„Ach du meine Güte!“ Sofort war sie bei ihm, überprüfte die Lebenszeichen. Sein Puls war so flatterhaft, dass sie es mit der Angst zu tun bekam und nach draußen stürmte, um Stationsheilerin Strout zu holen.

Ebenso hilflos blickten Alice und Frank auf die Stelle, an der der junge Mann liegen musste, doch weil er an ihrem Fußende auf dem Boden lag, konnten sie nicht mehr sehen als eine Gliedmaße. Alice blickte neben sich, sah das Bild von ihrer Schwiegermutter und dem unbekannten, jungen Mann. Die Wiedererkennung setzte ein. Der bewusstlose Mann im Zimmer war derselbe wie auf dem Bild.

„Frank?“ Er blickte zu Alice hinüber, die mit einer Hand kraftlos auf das Bild deutete. Die Erkenntnis war schmerzhaft. Erst vorhin hatte die junge Frau ihnen mitgeteilt, dass sie 23 Jahre lang nicht am Leben teilgenommen hatten. Es war ein Wunschdenken, nach dieser langen Zeit den kleinen Sohn wiedersehen zu können, denn für den war, wie das Bild es zeigte, die Zeit nicht stehengeblieben.
„Er hat dein Gesicht“, murmelte Frank mit gefestigter Stimme, als er das Bild wehmütig betrachtete. Das Wichtigste war, dass er lebte, rief sich Frank ins Gedächtnis zurück. Die Todesser hatten Neville in seinem Versteck nicht gefunden.

Kathleen stürmte zurück ins Krankenzimmer, gefolgt von Heilerin Strout, doch sie kümmerten sich nicht um die Patienten in den Betten, sondern um den Ohnmächtigen. Eine weitere Person trat herein, wie Frank und Alice bemerkten. Eine blonde Frau, die Neville auf dem Boden betrachtete, dabei den Kopf schräg legte. Die junge Frau schien nicht besorgt. Ihre Gegenwart strahlte Ruhe aus. Sie störte Strout und die Schwester nicht. Mit seligem Lächeln blickte sie zu Frank hinüber, kam einen Schritt näher. Wie selbstverständlich legte sie ihre Hand auf seine und grüßte ihn mit Vornamen. Frank war völlig baff. Er kannte die Blonde nicht, aber die Hand an seinem Oberarm ließ ein vertrautes Gefühl aufkommen, als wäre die Geste alltäglich. Nachdem die junge Frau ihn begrüßt hatte, ging sie an Strout und Kathleen vorbei, die einem benommenen Neville gerade wieder auf die Beine halfen, um ihn auf einen Stuhl zu setzen. Von Alice neugierig beäugt kam die blonde Frau auf sie zu und zog einen Stuhl ans Bett.

„Neville wird sich erholen“, sagte die junge Frau mit ruhiger Stimme. „Er ist schon damals ohnmächtig geworden, als er in der Schule das erste Mal Alraunen gesehen hat.“ Mit sanftem Lächeln strich die junge Frau über Alice’ Unterarm, bevor sie vorsichtig die spastisch verbogenen Finger erreichte und die Hand in ihre nahm. Alice beobachtete die Frau genau. „Wir haben wenig geschlafen“, erzählte die Blonde. „Der Abend war lang. Aber ich mag Hochzeiten. Magst du sie auch?“
Alice war von der Normalität, die ihr diese junge Frau entgegenbrachte, etwas verunsichert. Sie schaute zu Frank hinüber, der ebenfalls auf eine Antwort zu warten schien, also blickte Alice die junge Frau an und antwortete: „Ja.“
Das sanfte Dauerlächeln auf dem Gesicht der blonden Frau wurde breiter. „Das dachte ich mir. Am schönsten finde ich die Musik.“
Alice betrachtete ihre unbekannte Besucherin. Der Blick war entrückt, spiegelte das verträumte Wesen der jungen Dame wider, was sie in Alice’ Augen sympathisch machte. Alice ging auf das Thema ein. „Ich mag Musik.“ Ihre Stimme war noch immer schwach, aber ohne Verzögerungslaute.

Bei jedem Besuch im Mungos hatte Luna Nevilles Eltern berührt und sich mit ihnen unterhalten. Sie hat ihnen vom Alltag erzählt, ebenso von großen Begebenheiten und sie hat Fragen gestellt, die immer unbeantwortet blieben, es sei denn, man deutete ein Lächeln oder das Rümpfen der Nase als Antwort, wie Luna es manchmal tat. Dieses Mal, das erste Mal, bekam sie wirklich Antworten.

Vor der Tür des Krankenzimmers wartete Hermine geduldig, bis Mrs. Longbottom bereit war, ihren Sohn und die Schwiegertochter zu besuchen. Augusta tupfte sich mit einem Taschentuch die Augen trocken, putzte sich im Anschluss die Nase und atmete tief durch. Hilfe suchend schaute sie zu Hermine hinüber, von der sie sich Führung erhoffte. Viele Angehörige waren mit dem plötzlich anderen Wesen ihrer Familienmitglieder überfordert, wenn die nach einem Unfall oder einem Fluch nicht wiederzuerkennen waren – wenn sie fremd geworden waren. Die Schwestern und Heiler des Mungos bekamen Patienten zu Gesicht, bei denen man sich heimlich fragte, wie sie wohl früher gewesen waren – so auch bei Frank und Alice Longbottom. Bei manch einem Patienten stand ein Hochzeitsbild auf dem Nachttisch, das jemanden zeigte, der völlig ungleich mit demjenigen war, der im Bett lag. Auf so einem Foto lächelten sie, und jeder Heiler wünschte sich, dass der Patient wieder so werden würde wie auf dem Bild.

„Bereit?“, fragte Hermine zaghaft. Augusta nickte, blieb jedoch an Ort und Stelle stehen. Hermines Überzeugungskraft war gefragt. Sie nahm Augustas Arm und legte ihn um ihren, bevor sie die Tür öffnete. Das Erste, was sie sahen, war ein kreidebleicher Neville, der vom Heilerin Strout umsorgt wurde.
„Neville?“ Augusta löste den Halt, den Hermines Arm ihr gab und stürmte ins Zimmer, um sich Neville anzusehen. „Neville?“ Mit einer liebevollen Geste strich sie ihm übers Haar. Neville öffnete die Augen. Er sah mitgenommen aus. „Mein Junge, wir sollten dich hinlegen.“ An Strout gewandt fragte sie. „Ob es wohl ein freies Bett gibt?“ Die Sorge um den Enkel ließ andere Ängste im Nu verfliegen.
„Mum?“

Augusta blickte sich um, als sie dieses Wort hörte, mit dem nur eine Person sie ansprechen würde. Sie nahm all ihren Mut zusammen und schaute zum Bett ihres Sohnes. Frank sah ihr direkt in die Augen.

„Frank?“ Langsam näherte sie sich ihm, war derweil darüber erstaunt, dass er jedem ihrer Schritte mit dem Blick folgte, sogar den Kopf drehte, als sie neben ihm stand. Achtlos ließ Augusta ihre rote Tasche zu Boden fallen. Der Hut folgte. „Frank.“ Sie nahm, wie bei jedem Besuch, seine Hand. Als sie einen leichten Druck spürte, schluchzte sie vor Freude.
„Schön, dass du hier b…“ Das Wort wollte aufgrund der nur noch leichten Störung der Sprachfunktion nicht über seine Lippen kommen, aber was er sagen wollte, lag auf der Hand.

Die tagtägliche Begrüßung folgte. Augusta küsste ihren Sohn auf die Stirn. Heute etwas länger als sonst. Plötzlich fühlte sie ein paar Augen auf sich. Alice beobachtete die Begegnung zwischen ihrem Mann und dessen Mutter. Augusta lehnte sich über Frank und griff nach Alice’ Hand.

„Mein Liebes.“
Alice lächelte, drückte grüßend die Hand ihrer Schwiegermutter.

Mehr als zusehen konnte Neville nicht. Er beobachtete Luna, wie sie vollkommen natürlich mit seiner Mutter umging. Und er verfolgte das erstmalige, bewusste Wiedersehen seiner Großmutter mit seinem Vater. Neville fühlte sich nicht wohl. Jemand war bei ihm, das spürte er. Man berührte ihn an der Hand, an der Schulter. Eine vertraute Stimme sprach zu ihm. Als er mehrmals seinen Namen hörte, wandte er seinen Blick von den Betten ab. Hermine kniete neben ihm. Sie sah so aus wie er sich fühlte. Ihr Gesicht war blass. Man konnte sehen, dass sie geweint haben musste.

„Neville“, flüsterte sie nochmals, als er sie anschaute. Sie hielt ihm ein kleines Fläschchen unter die Nase. „Das hier solltest du nehmen. Damit geht es dir wieder besser.“
Er konnte nur leise sprechen. „Was ist das?“
„Ein Stärkungstrank. Er regt deinen Kreislauf an. Genau das, was du jetzt brauchst.“
„Du könntest auch einen gebrauchen“, versuchte er zu scherzen, doch seine Stimme war schwach und viel zu ernst.
„Es tut mir leid, dass du ohne Vorwarnung …“
Hermine hielt inne, als noch jemand vor Neville in die Knie ging. Es war Luna. Mit Bedacht nahm sie ihr die Flasche mit dem Stärkungsdrang aus der Hand. „Du wolltest heute bestimmt ins Schloss Schnatzer“, erinnerte Luna sie freundlich. Durch die ganze Aufregung hatte Hermine an nichts anderes mehr gedacht als an die Longbottoms. „Neville ist in guten Händen.“ Sie schaute zu ihm auf und schenkte ihm ein Lächeln, das die gleiche Wirkung wie der Stärkungstrank hatte. Neville sah zu seiner Mutter hinüber und bemerkte, dass sie ihn besorgt beobachtete. Er wollte ihr die Sorge nehmen. Es erstaunte Luna und Hermine gleichermaßen, dass er zum Bett hinüberging, wenn auch etwas wankend. Wie immer, wenn er seine Eltern grüßte, küsste er seine Mutter auf die Wange und sagte: „Hallo Mum.“ Seine Lippen bebten, als ihm erneut die Tränen kamen. Auf dem Stuhl, den Luna zuvor ans Bett gezogen hatte, setzte er sich, nahm die Hand seiner Mutter.
„Du bist groß geworden“, hörte er sie sagen. Neville schloss die Augen und begann zu weinen.

Hermine blieb noch eine Weile, selbst als Heilerin Strout und Schwester Kathleen die Familie allein ließ. Als stiller Beobachter saß sie in einer Ecke des Raumes und tat letztendlich das Gleiche wie eine Überwachungskamera, nur dass sie auch Ton hatte. Sie lauschte den zaghaften Unterhaltungen, dem Weinen, den tröstenden Worten. Neville bekam wieder Farbe ins Gesicht. Und er lächelte, was Hermine mit Erleichterung bemerkte.

„Können wir nicht raus in die Sonne?“, fragte Alice. Das Elixier des Lebens wirkte noch immer. Ihre Aussprache verbesserte sich von Mal zu Mal.
Augusta sprach ein Machtwort. „Wir sollten nichts überstürzen.“
„Aber wir haben das bei schönem Wetter sonst auch gemacht“, wandte Neville ein.

Nach einer Viertelstunde stellte Frank zaghaft Fragen über die Menschen, die er damals kannte. Er erkundigte sich über Professor Dumbledore, über Hogwarts an sich und über seinen Kollegen Alastor. Auch Alice fragte nach ihren Freunden, doch sie ging noch einen Schritt weiter. Sie wollte einige Menschen sehen. Nicht sofort, aber bald.

„Ich möchte gern“, begann Alice leise, „dass Lily mich besucht.“

Stille überwältigte diesen Raum, der gerade erst an Leben gewonnen hatte. Diese Ruhe bedeutete nichts Gutes. Hermine rutschte das Herz in die Hose. Augusta war es zu verdanken, dass die Situation gerettet wurde.

„Ihr beide werdet erst einmal richtig gesund“, sagte sie fast schon im Befehlston. „Nach und nach werde ich eure Freunde und Kollegen zu den Besuchen mitbringen, aber alles schön der Reihe nach.“ Kein Wort über James und Lily kam Augusta über die Lippen.

Von Luna wurde Hermine vor die Tür begleitet. Im Flur gingen die Heiler und Pfleger ihrer tagtäglichen Beschäftigung nach. Nur in diesem einen Krankenzimmer, abgeschnitten vom Rest der Welt, fand ein bewegender Moment statt, der Hermine bereits eine Menge Kraft gekostet hatte. Als auch noch Harrys Eltern erwähnt wurden, wollte der Rest Stärke, den sie noch besaß, sich in die dunkelste Ecke ihres Innern verkrauchen. Luna öffnete Hermines Umhang, damit sie an die Innentasche herankam. Mit der anderen Hand ließ sie zwei kleine Glasbehälter darin verschwinden: der angebrochene Beruhigungstrank, von dem Augusta ein paar Tropfen genommen hatte und der Stärkungstrank, den Neville nicht mehr benötigte.

„Falls du das brauchst“, erklärte Luna und ließ den Umhang wieder los. „Du hast viel für Nevilles Großmutter getan. Für uns. Dafür möchte ich dir danken.“
„Ach, das war doch …“
„Keine leichte Aufgabe“, schnitt Luna ihr das Wort ab. „Es wäre schön, wenn du uns in den nächsten Tagen noch einmal begleiten würdest, wenn wir die beiden besuchen. Ich glaube, sie mögen dich.“ Hermines Mund zuckte, doch das Lächeln wollte sich nicht an den Lippen festhalten. „Geh jetzt erst einmal richtig frühstücken“, riet Luna ihr, bevor sie Hermine umarmte und fest an sich drückte. Jeder würde sehen, dachte Hermine, dass sie geweint hatte. Würde sie sich im Schloss Schnatzer zeigen, würde man sie nach ihrem Wohlbefinden fragen, doch durfte sie darauf antworten? „Ja“, bestätigte Luna ihre Gedanken, „du kannst ein paar Menschen davon erzählen. Ich überlasse es ganz dir, wem du es anvertraust. Es wird sowieso bald kein Geheimnis mehr sein.“
„Ich …“ Hermine atmete tief durch. „Danke, Luna.“

Obwohl Hermine ausgeschlafen war, wurde sie von Müdigkeit übermannt. Emotionaler Stress, das wusste sie aus eigener Erfahrung, sorgte dafür, dass man anfangs funktionierte, doch danach kam die Erschöpfung. Gedankenverloren schlenderte sie zu den Treppen und ging hinunter. In der Eingangshalle nahm sie nicht den Kamin. Die Sonne, die durch die großen Schreiben strahlte, die den Innenraum von der Parkanlage des Mungos trennte, zog sie magisch an. Hermine ging an die frische Luft und setzte sich auf die dritte Bank, an der sie vorbeikam. Vögel zwitscherten. Hier und da gingen Patienten spazieren – allein oder in Begleitung von Familienmitgliedern oder Freunden. Bald auch würden die Longbottoms hier entlanggehen, anstatt in einem Rollstuhl zu sitzen. Gegenüber, außer Hörweite, saß eine junge Frau bei einem alten Mann. Sie strich ihm über die Wange, flüsterte ihm etwas zu. Er begann zu lächeln. In diesem Moment kamen Hermine erneut die Tränen, als sie an Neville dachte und was er durchleben musste. Er war aufgeregter und bewegter als sie, das wusste Hermine. Dennoch nahm es einen mehr mit, wenn jemand, den man kannte, mit so einem Schicksal konfrontiert war.

„Na, na, na“, hörte sie eine männliche Stimme neben sich, „wer wird denn da weinen?“ Hermine blickte auf und schaute in ein ihr bekanntes Gesicht. Die Überraschung war so groß, dass sie kein Wort herausbrachte. Der Herr setzte sich neben sie, hielt einen Höflichkeitsabstand von vierzig Zentimetern ein. „Haben Sie gerade jemanden besucht?“, wollte der Mann wissen, der eine Papiertüte auf die freie Stelle zwischen ihnen ablegte. „Sind Sie deswegen so mitgenommen?“ Noch immer war Hermine vollkommen perplex, was der Mann bemerkte. „Lassen Sie mich raten …“, begann er. „Sie kennen mich und sind überrascht, mich hier zu sehen.“
„Ich …“ Sie schluckte kräftig. „Ja, ich kenne Sie.“
„Ah, dachte ich’s mir.“ Er schenkte ihr ein so strahlendes Lächeln, dass die Sonne neidisch werden könnte. „Dann haben Sie die Bücher gelesen?“
Hermine nickte. „Ich habe alle.“
„Oh, wirklich?“ Er seufzte. „Es ist so schade, dass ich mich an keines dieser Erlebnisse erinnern kann. Die Bücher sind wirklich gut, wenn Sie mich fragen.“ Verträumt schaute er in die Sonne, musste aber schnell wieder wegsehen. „Es heißt zwar, dass Eigenlob stinkt, aber ich kannte die Bücher ja nicht, wusste nicht mal, dass ich der Autor war.“
„Sie waren auch mal Lehrer an meiner Schule.“
Der Kopf des blonden Mannes fuhr herum. „Ist das wahr? Du meine Güte, dann kannten wir uns persönlich?“
„Kann man so sagen“, bestätigte Hermine.
Er schien verlegen, druckste ein wenig herum, bevor er flüsternd fragte: „War ich wirklich so unglaublich blasiert, wie böse Zungen behaupten?“
„Sie bringen mich in Verlegenheit.“
„Verzeihen Sie, Mrs. …?“
„Miss Granger.“
„Granger, Granger …“, murmelte er mehrmals, trug dabei einen nachdenklichen Gesichtsausdruck. „Wie sehr ich mir auch wünsche, dass ich mich an Sie erinnere, es ist zwecklos.“ Der Mann hielt ihr die Hand entgegen. „Daher auf ein Neues: Freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Miss Granger. Mein Name ist Gilderoy Lockhart.“
Sie schüttelte seine Hand. „Hermine Granger.“
„Hermine“, wiederholte er. „Ein wahrlich außergewöhnlicher Name. An so einen sollte man sich erinnern, finden Sie nicht?“
„Das ist nicht so schlimm. Ich weiß ja, dass Sie Ihr Gedächtnis verloren haben.“
„Ja, das ist wirklich grauenvoll“, stimmte er zu, schien von der Tatsache aber nicht sonderlich verstört, denn schließlich konnte er sich an diesen tragischen Tag nicht mehr erinnern.
„Warum sind Sie eigentlich noch hier?“, wollte sie wissen. „Sie machen auf mich nicht den Eindruck, als würden Sie sich in der Welt nicht zurechtfinden.“
Lockhart nahm seine Papiertüte wieder auf und fischte den Inhalt heraus – ein halbiertes Sandwich, das er auf die Bank legte, mit der Tüte als Unterlage. „Wissen Sie, mein Anwalt riet mir, weiterhin hier zu bleiben, denn sonst würde ich mich wohl in Askaban wiederfinden – ein scheußliches Gefängnis, wie er mir erklärte. Ich hätte einige schlimme Dinge angestellt, sagte er.“ Lockhart schüttelte den Kopf. „Ich kann das einfach nicht glauben, aber es soll die Wahrheit sein. Auf keinen Fall möchte ich für Dinge büßen, an die ich mich nicht entsinnen kann. Klingt das selbstsüchtig?“
„Nein“, erwiderte sie ehrlich. „Ihren Zustand würde man bei einem Prozess sicherlich berücksichtigen.“
Lockhart schenkte ihr sein preisgekröntes Lächeln. „Das ist nett, dass Sie so denken. Ich werde es trotzdem nicht darauf ankommen lassen.“ Er zeigte auf das Sandwich. „Nehmen Sie eine Hälfte. Sie sehen aus, als müssten Sie einen Happen zu sich nehmen.“
Der Mann hatte Recht, dachte sie. Ohne Frühstück war sie heute Morgen aufgebrochen. Ein halbes Sandwich könnte nicht schaden. „Vielen Dank.“

So saß Hermine für zehn Minuten neben einem erstaunlicherweise erträglichen Gilderoy Lockhart und verspeiste das Thunfischsandwich, während er das Gleiche tat. Dabei beobachteten sie die Vögel. Ein paar freche Spatzen wagten sich dicht an die Bank heran. Gilderoy brach eine Ecke von dem Weißbrot ab und schnippte es zu den Vögeln, die sich aufgeregt zwitschernd darüber hermachten.

„Drollig, nicht wahr?“, kommentierte er das Federvieh.

Nachdem beide mit dem Sandwich fertig waren, erhob sich Gilderoy von der Bank. Die Vögel schreckten auf und flogen in den nächst gelegenen Baumwipfel. Auch Hermine stand auf.

„Dann, Miss Granger, möchte ich mich für die Zeit bedanken, die Sie mit mir verbrachten. Das war eine Abwechslung, von der ich noch lange zehren kann.“
„Bekommen Sie denn sonst keinen Besuch?“, wollte sie wissen.
„Mein Anwalt kommt manchmal. Selten auch mein damaliger Verleger. Ansonsten habe ich offensichtlich niemanden.“ Er schaute betrübt drein. „Oder niemanden, der sich noch mit mir abgeben möchte. Ich kann es verstehen.“ Gilderoy versuchte, für diese Menschen Verständnis aufzubringen. „Ganz offensichtlich habe ich Unverzeihliches getan. Man distanziert sich lieber von mir.“
„Das tut mir leid, Mr. Lockhart.“ Es war sogar die Wahrheit. Wie sollte man jemanden für seine Taten verantwortlich machen, wenn von dieser Person nur noch die Hülle existierte, aber nicht mehr derselbe Geist? „Ich verspreche Ihnen, dass ich die Sache mit dem Minister bespreche.“ Alles war ihr Recht, solang sie nur nicht mehr ausnahmslos an den bedrückenden Besuch von Neville bei seinen Eltern denken musste. Es war eine kleine Abwechslung, mit der sie sich beschäftigen konnte. „Und wenn ich das nächste Mal hier bin …“
Er unterbrach sie. „Der Minister? Kennen Sie ihn?“
„Sogar sehr gut.“
„Dann darf ich wirklich hoffen. Danke, dass Sie mir etwas geben, mit dem ich mir die Langeweile vertreiben kann. Es macht viel mehr Spaß, sich ein eigenes Leben auszumalen, wenn man wenigstens einen Funken Hoffnung hat, dass diese Vorstellungen eines Tages wahr werden könnten.“

Hermine lächelte. Sie ließ sich von Lockhart in die Vorhalle begleiten. An den Fahrstühlen stieß sie versehentlich an einen Ständer mit Informationsbroschüren. Zwei fielen auf den Boden. Als Lockhart sich danach bückte, fiel ihm ein Bild aus der Innentasche seiner leichten Sommerjacke. Das Bild zeigte ihn selbst.

„Wie peinlich“, sagte er, als er es aufhob. „Wissen Sie, mein Verleger sagt, ich solle immer Autogrammfotos bei mir haben. Ich habe es auf eines reduziert, denn niemand fragt danach.“ Er stand auf und zeigte ihr das Foto. „Schrecklich, oder? Dieses Grinsen …“
„Dafür haben Sie mehrmals einen Preis von der Hexenwoche bekommen“, munterte sie ihn auf.
„Mag sein, aber ich kann es beim besten Willen nicht verstehen. Es sieht gekünstelt aus.“
Sie warf nochmal einen Blick drauf und sah, dass er die Wahrheit sagte. Es war ein Foto von damals, als er noch ein gefeierter Schriftsteller war. „Sie sollten vielleicht neue machen lassen.“
„Ach“, winkte er ab. „Wer interessiert sich denn noch für Gilderoy Lockhart?“
„Ihre Bücher verkaufen sich noch immer ganz gut. Schreiben Sie doch mal ein neues. Eines über ihr Leben hier im Krankenhaus, über Ihr Leiden und Ihre Befürchtungen, was die Zukunft betrifft. Schreiben Sie, wie Sie den Gilderoy Lockhart sehen, der Sie gewesen sein sollen.“
„Bringen Sie mich bloß nicht auf dumme Gedanken, Miss Granger.“
„Ich meine das ernst.“
„Dann wissen Sie wohl nicht, was man mir vorwirft?“ Weil sie nicht antwortete, erklärte er: „Ich soll alles, über das ich geschrieben habe, nicht einmal selbst erlebt haben. Es sind Lügenmärchen.“
„Das war aber der alte Lockhart. Sie, und das können Sie nicht abstreiten, durchleben tagtäglich die Auseinandersetzung mit Ihrem alten Ich, das Ihnen völlig unbekannt ist. Selbst wenn Sie die Geschichten nicht erlebt haben, so kann man eine Sache nicht leugnen: Sie können mit Worten umgehen! Sie mögen nie ein Abenteurer gewesen sein, aber sie sind ein wirklich guter Schriftsteller, der es verstanden hat, die Leser in seinen Bann zu ziehen.“
Er stutzte. „Das meinen Sie wirklich so?“
„Aber ja doch!“
Ein lebendiges Funkeln war in seinen strahlend blauen Augen zu sehen. „Vielleicht … Eines Tages …“ Sein Kopf wackelte unentschlossen hin und her.

Hermine war sich sicher, dass er gleich nach ihrer Abreise durch den Kamin nach Pergament, Tinte und Feder verlangen würde. Sie zeigte Interesse an einem Autogramm, ließ sich das Bild signieren und bedankte sich herzlich dafür.

Über den Kamin im Mungos flohte Hermine zum Schloss Schnatzer. Die Reise war lang, aber zum Glück an einem Sonntagmorgen sehr ruhig. Als sie wieder festen Boden unter sich spürte, fand sie sich im gleichen Zimmer wieder, das gestern für die Abreise genutzt wurde. Innig hoffte Hermine, dass Severus schon hier war. Sie brauchte Halt, gerade jetzt, wo die erfreuliche Abwechslung mit Lockhart wieder verblasste und Erinnerungen an Alice und Frank aufkamen. Wie schön wäre es gewesen, hätten die beiden die gestrige Hochzeit bei vollem Bewusstsein miterlebt. Hermine wankte zur Tür und kam an einem Spiegel vorbei. Ihr Gesicht war an einigen Stellen mit Ruß bedeckt, den sie abwaschen wollte, bevor sie sich zu ihren Freunden gesellte.

Im Flur traf sie auf Harry, der gerade von der Toilette kam. Ihr fiel nicht auf, dass er keine Brille trug.

„Hermine! Schön, dass du gekommen bist.“ Harry strahlte sie an. „Severus ist auch schon hier.“ Erleichtert versuchte sie zu lächeln, aber es kam nur eine gequälte Mimik zum Vorschein. „Ist irgendwas los?“
„Ich möchte auf die Toilette“, sagte sie monoton und völlig erschöpft.
„Hermine?“
Er sollte sie einfach nur in Ruhe lassen, dachte sie zornig. Sie machte einzig und allein ihn für ihren Zustand verantwortlich. Als er nochmal ihren Namen nannte, fuhr sie ihn böse an: „Hast du überhaupt auch nur einen einzigen Gedanken daran verschwendet, was deine Überraschung alles nach sich ziehen wird?“ Harry war der perfekte Blitzableiter für all die Dinge, die ihr so zu Herzen gingen.
„Was meinst du?“
„Stell dich doch nicht so dumm!“ Hermine bemerkte nicht den Schatten, der hinter ihr auftauchte, doch Harry blieb er nicht verborgen. Dennoch machte er sie nicht auf Severus aufmerksam, sondern hörte sich an, was sie zu sagen hatte. „Dein Großmut scheint deinen Verstand teilweise ganz auszuschalten!“, sie schüttelte den Kopf, ihre Lippen bebten.
Harry wurde ungeduldig und auch etwas sauer. Wenn er auf diese harsche Weise getadelt wurde, wollte er erst einmal wissen, um was es sich drehte. „Klärst du mich bitte mal auf?“
Hermine schaute ihn an, war völlig perplex wegen seiner Nachfrage. „Ich fasse es einfach nicht! Tust du nur so oder weißt du wirklich nicht, was ich meine?“ Gerade wollte er etwas erwidern, da fuhr sie ihm über den Mund. „Es täte dir gut, deinen Grips einzuschalten, bevor du mit Dingen hantierst, von denen du nicht die geringste Ahnung hast. Und wer muss die Suppe am Ende auslöffeln?“ Sie sprach sehr schnell, mit leicht erhobener Stimme und klopfte am Ende zweimal mit der flachen Hand auf ihren Brustkorb.

Harry hätte im Mungos bei Neville sein müssen. Es wäre seine Aufgabe gewesen, die ganzen Tränen um sich herum zu ertragen. Es hätte ihn bestimmt hart getroffen, als Alice nach ihrer Freundin Lily fragte. Stattdessen war Hermine dort gewesen. Die ganze Schönheit der letzten Nacht, die Freude über Severus’ Heilung und die neu gewonnene Nähe zu ihm stand nun diesem aufreibenden Besuch im Mungos nach.

„Was ist denn nur passiert?“, fragte Harry mit flauem Gefühl im Magen. Selten war Hermine so aufgebracht.
Ihr Zorn kam erneut auf. In gewisser Weise war sie froh darüber, dass das Gefühl der Traurigkeit durch ihre Wut verdrängt wurde. Es war erleichternd, zudem war es ihr gutes Recht, dachte sie, Harry für alles verantwortlich zu machen und das teilte sie ihm auch unverblümt mit. „Du greifst einfach in das Leben deiner Freunde ein, ohne ihnen auch nur die minimalste Warnung zu geben! Meinst du nicht, du hast damit deine Kompetenzen etwas überschritten?“
„Warum …?“
„Ich war im Mungos!“, sprudelte es aus ihr heraus. Eine kurze Stille trat ein, in der Hermines Wut wieder der aufgelösten Spannung wich. Hermine kniff die Lippen zusammen, bevor sie deutlicher wurde. „Nevilles Eltern sind aufgewacht.“
Damit hatte Harry wirklich nicht gerechnet, aber er sah es positiv – positiv für Neville, dessen Oma und besonders für Alice und Frank. „Wie geht’s ihnen?“
Hermine schnaufte. Eine Eigenart, die sie sich bei Severus abgeschaut haben musste. Die aufkommenden Tränen machten sie wieder wütend. Sie hatte genug vom weinen. Es machte sie müde. „Wie glaubst du denn, wie es ihnen geht?“, fuhr sie ihn zornig an. „Nach 23 Jahren aufzuwachen und in den Spiegel zu schauen, nur um zu sehen, dass die Haare schlohweiß sind, das Gesicht faltig und eingefallen. Wie würdest du dich da fühlen?“ Die eine Träne, die ihr über die Wange rollte, schürte ihre Aufregung nur noch mehr. Sie wollte nicht mehr davon berührt werden. „Stell dir vor, du wachst auf und Nicholas ist plötzlich erwachsen.“
„Hermine …“
„Du hättest an meiner Stelle da sein müssen, verdammt nochmal! Es ist auf deinem Mist gewachsen. Weißt du was? Du solltest den beiden erklären, warum deine Eltern sie nicht besuchen werden.“
Harry rutschte das Herz in die Hose. „Sie haben nach meinen Eltern gefragt?“
„Natürlich haben sie! Für sie ist die Zeit stehengeblieben. Das ist ein Schock gewesen. Neville hat es glatt umgehauen“, sagte sie spöttisch.
„Es geht ihm aber gut, oder?“ Aufgeregt fuhr er sich durch die Haare. „Bei Merlin …“
„Aber dich geht das alles ja nichts an. Du machst einfach, wie es dir beliebt und mit dem Ergebnis müssen die anderen klarkommen. Du und dein blödes Menschenrettungsdings!“
„Entschuldige“, sagte er mit einem unangebrachten Hauch von Hohn, „ich wusste ja nicht, dass ich vorher fragen muss, ob du dein Spinnenfeuer behalten möchtest.“

Seine Worte machten sie blind vor Wut. Er wollte offenbar nicht verstehen. Hermine trat in Windeseile an Harry heran und gab ihm mit der flachen Hand eine Ohrfeige. In diesem Moment hörte sie Schritte hinter sich. Severus brachte die beiden auseinander.

„Ich schlage vor“, richtete Severus das Wort Hermine, „du fragst an der Rezeption, ob man dir mit einem Beruhigungsmittel aushelfen kann.“
Wie auf Kommando fiel ihr etwas ein. Sie fasste sich an die Innentasche. „Luna hat mir einen Trank gegeben.“
„Und warum hast du ihn dann nicht genommen?“, wies Severus sie zurecht. „Es ist ja offensichtlich, dass du ihn benötigst.“
„Fällst du mir jetzt noch in den Rücken?“, blaffte sie ihn an.
„Ich möchte dich lediglich darauf hinweisen, dass du momentan nicht du selbst bist.“

Hermine rang nach Worten, doch ein Gegenargument wollte ihr nicht einfallen, weil Severus leider Recht behielt. Ohne einen Kommentar wandte sie sich von den beiden ab und suchte die Toilette auf. Als nur noch Severus und Harry im Gang standen, ließ der jüngere von beiden den Kopf hängen.

„Ich hätte fragen müssen. Wenigstens hätte ich mich erkundigen müssen, was der Trank anstellen kann. Albus hat ja wohl Erfahrung genug. Ich habe einen riesigen Fehler gemacht, oder?“
Severus schnaufte. „Wenn das ein Fehler war, dann mit Sicherheit der beste deines Lebens.“ Wegen der Worte schaute Harry ungläubig auf, so dass Severus ihm in die Augen blickte, als er ehrlich sagte: „So gut wie heute habe ich mich lange nicht mehr gefühlt. Ich möchte mich bei dir bedanken, Harry.“
„Das musst du nicht. Ich wollte, dass mehr als nur einer oder zwei etwas davon haben. So gleicht sich alles im Leben wieder aus. Du dankst mir und im Gegensatz dazu ist Hermine stinksauer auf mich.“
„Sie durchlebte heute ohne Vorwarnung einen emotional sehr bewegenden Moment und musste sich bei jemand abreagieren.“ Severus fuhr mit einer Hand über seinen Umhang. „Und ich bin ehrlich gesagt froh, dass es nicht mich erwischt hat.“

Severus blieb noch einen Moment bei ihm stehen, als Harry unerwartet in seine Hosentasche griff und seine Brille herauszog, die er nicht mehr benötigte, aber aus Gewohnheit doch eingesteckt hatte.

„Kannst du mir hier“, er hielt Severus die Brille entgegen, „vielleicht Fensterglas reinzaubern?“
Eine fragende Augenbraue wanderte nach oben, als Severus die runde Brille betrachtete. „Natürlich, ja. Aber ...?“
„Ja, ich weiß: Als einer der mächtigsten Zauberer unserer Zeit sollte ich das selbst können.“ Harry seufzte. „Ich bin diese Rolle leid, Severus. Meine beste Freundin hat mir gerade zu verstehen gegeben, dass ich nicht einfach schalten und walten kann, wie es mir beliebt. Und sie hat Recht: Ich hätte dort sein sollen – und das werde ich. Jetzt gleich.“

Seinen Worten folgten Taten. Er entschuldigte sich bei seinen Gästen. Ginny flüsterte er den Grund für seinen plötzlichen Aufbruch ins Ohr. Sie verstand, warum er Neville beistehen wollte. Lange wollte er nicht wegbleiben. Vielleicht würde die Heilerin ihn nicht einmal ins Zimmer lassen, um den Longbottoms jegliche Aufregung zu ersparen. Harry rechnete fest damit, dass seine Gäste noch hier sein würden, wenn er zurückkam. Immerhin hatte das Frühstück gerade erst begonnen.

Übers Flohnetzwerk erreichte Harry das Mungos. Mittlerweile gab es eine Menge Betrieb. Besonders sonntags besuchten Angehörige ihre kranken oder verfluchten Familienmitglieder. Harry wusste, wo die Janus-Thickey-Station lag. Kaum hatte er diese Station betreten, fühlte er das Wunder, das dieses Stockwerk heimgesucht hatte. Die Heiler, Pfleger und Schwestern waren alle mehr als nur gut gelaunt. Sie erfuhren am heutigen Tag, dass man die Hoffnung nie aufgeben durfte.

„Entschuldigen Sie bitte.“ Mit diesen Worten hielt Harry eine der breit lächelnden Schwestern auf.
„Ja?“
„Ich suche Neville Longbottom. Er besucht gerade seine Eltern.“
Mit fröhlichem Gesichtsausdruck legte die Schwester eine Hand an seinen Oberarm. „Folgen Sie mir bitte.“ Harry eilte hinter ihr her, bis sie an einer Tür stehenblieb und das Wort an ihn richtete. „Ich werde ihm Bescheid geben. Einen Moment bitte.“

Geduldig wartete Harry, nachdem die Schwester im Zimmer verschwunden war. Es dauerte nicht lange, da öffnete sich die Tür erneut. Die Schwester trat heraus. Hinter ihr konnte er das rote, aber glückliche Gesicht von Neville erkennen. Als sich ihre Blicke trafen, machte Harry in Nevilles Augen die Freude und Glückseligkeit aus, von der sein Freund eingenommen war.

„Harry“, grüßte Neville überrascht. Dann beantwortete er sich die Frage nach dem unerwarteten Auftauchen seines Freundes selbst. „Hermine hat dir davon erzählt.“
„Ja“, gab Harry zu, doch er sagte nichts weiter. Der Gang war voller Menschen.
Neville führte Harry ein paar Schritte fort, bis sie eine ruhige Ecke fanden. Seine Hand lag auf Harrys Schulter. „Unglaublich“, murmelte Neville. Was er damit meinte, war für Harry klar.

Die Fähigkeit, seine Freude ausdrücken zu können, war angeboren. Menschen, die seit ihrer Geburt mit Blind- und Taubheit geschlagen waren, die also keineswegs ihre Mitmenschen nachahmen konnten, lachten genau wie alle anderen Menschen. Wer kannte es nicht, das Gefühl des Frohsinns, das so überwältigend in einem hochstoßen konnte, das es einem den Atem raubte? Besonders bei Kindern war die Heiterkeit an ihrem beinahe pausenlosen Lachen während des unbekümmerten Spiels zu erkennen. Ein zaghaftes Lächeln – so eines, wie Luna und Remus es stetig auf ihren Lippen mit sich führten –, war der Vorbote der Freude. Ab dem heutigen Tag zählte Neville zu diesen Boten. Sein Lächeln würde möglicherweise nie mehr ganz vergehen.

„Das warst du, oder?“, fragte Neville unverblümt.
Einerseits war Harry beschämt. Wenn er als jemand dastehen würde, der Wunder vollbrachte, hob ihn das auf einen Sockel, auf dessen Kapitell das Wort Heilsbringer eingemeißelt war. Der Gedanke stieß ihn ab. Andererseits war er es seinem Freund schuldig, die Wahrheit zu sagen. „Ja, irgendwie schon“, versuchte er seine Einmischung ins Leben der anderen hinunterzuspielen.
„Irgendwie schon?“, wiederholte Neville mit breitem Grinsen. Harrys Benehmen schrieb er der typischen Bescheidenheit seines Freundes zu.
Verlegen blickte Harry auf den Boden, dann in die Augen seines Freundes. „Ich will es erklären …“
„Nein“, winkte Neville ab. „Du brauchst gar nichts erklären.“ Dem Lächeln folgte ein kurzes Lachen, dem Lachen folgten Tränen. Nevilles Freude hatte Mittagshöhe erreicht. „Harry …“

Wenn man um Worte verlegen war, mussten Taten folgen, die ihnen ebenbürtig waren. Ohne Umschweife drückte Neville Harry freundschaftlich an sich, klopfte ihm auf den Rücken.

„Danke“, hörte Harry dicht an seinem Ohr. „Danke“, wiederholte Neville einen Augenblick später viel ausgeglichener. „Ich wünschte nur“, er hielt kurz inne, überdachte seine Worte. „Ich wünschte nur, ich könnte das Gleiche für dich tun.“
Harry schluckte. Mit einem Mal verstand er, was Hermine heute durchmachen musste. Die bedrückende Mischung aus Freude und Trauer war schwer zu ertragen. „Nein“, hielt Harry dagegen. Das Geschenk, seine Eltern in die Arme nehmen zu können, wurde Harry höchstens in seinen Träumen gewährt. „Es ist gut so, wie es ist.“
Neville löste die Umarmung, schlug Harry als Zeichen der Freundschaft zweimal auf die Schulter. „Möchtest du meine Eltern kennenlernen?“
„Ja kar!“, sagte Harry so begeistert, wie es nur ging, um seine Freude über die Ziellinie laufen zu lassen – mit weitem Vorsprung vor der Trauer. „Aber nicht, dass es zu viel für sie wird.“
„Miriam“, Neville verbesserte für Harry, „Heilerin Strout sagt, dass die ganzen Erlebnisse nach und nach verarbeitet werden. In ein, zwei Wochen könnte ein Folgeschock eintreten, oder sogar“, Neville hielt kurz inne, „Depressionen. Ich denke, je schneller sie wissen, wo sie hingehören und wer ihre Freunde sind, desto unwahrscheinlicher einer negativer Heilungsprozess.“

Harry war von der Diagnose seines Freundes beeindruckt, äußerte sich aber nicht dazu, sondern ließ sich von Neville zurück zur Tür des Krankenzimmers führen. Ein seltsames Kribbeln, teils unangenehm, teils beflügelnd, breitete sich in Harrys Bauch aus. Es schien, als würden Angst und Frohmut sich einen Boxkampf in seinem Magen liefern. Im Zimmer hörte man Stimmen. Die von Luna und Nevilles Großmutter erkannte er. Die anderen beiden, denen es noch an Kraft mangelte, mussten Nevilles Eltern gehören. Der Mann, Frank, ließ sich von seiner Mutter über politische Neuerungen unterrichten.

Als Neville und Harry gerade die Fußenden der Betten erreichten, hörte er Frank überrascht grüßen: „James!“
Erschrocken blickte er Nevilles Vater an, war peinlich berührt, dieser Verwechslung erlegen zu sein, doch Neville rettete die Situation mit ungeahnter Gelassenheit. Er zog Harry zu sich und klopfte ihm auf den Rücken. „Nein, nicht James, aber der Sohn von Lily und James.“
Frank musterte Harry und schien stolz zu sein. „Du siehst aus wie dein Vater.“
Wie oft hatte er diese Bemerkung schon gehört, dachte Harry, doch bevor er antworten konnte, sagte Nevilles Mutter verzückt: „Der kleine Harry.“
Hier lächelte Harry endlich wieder. „Na ja“, er zeigte mit Daumen und Zeigefinger einen kleinen Abstand und beteuerte, „ein bisschen gewachsen bin ich schon.“
„Und ihr beide seid Freunde?“, wollte Frank wissen.
Diesmal legte Harry eine Hand auf Nevilles Schulter. „Ja, seit wir elf Jahre alt sind. Wir waren beide im gleichen Haus, in Gryffindor.“
Frank warf Alice einen Blick zu, der verriet, wie froh ihn diese Freundschaft machte, die ohne das Zutun der Eltern gewachsen war. „Komm, setz dich!“, forderte Frank. „Erzähl ein bisschen, was ihr beide so erlebt habt.“

Harry nahm auf einem Stuhl neben Luna Platz und begann über die Schulzeit zu plaudern.

In genau diesem Moment, am Frühstückstisch von Schloss Schnatzer, griff Hermine in die Innentasche ihres Umhangs und zog ein Autogrammfoto heraus, dass sie zum Erstaunen einiger und zur Belustigung anderer stolz herumzeigte.

Remus las die Signatur laut vor:

„Für meine ehemalige Schülerin Hermine
in Liebe,
Gilderoy Lockhart“
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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220 Die Reise ins Morgen




Der Körper war in einem seltsamen Zusammenspiel mit der Seele verbunden. Was der Geist erlebte, schlug sich auf den Leib nieder. Besonders der Darm reagierte auf Angstgefühle, die häufige Gänge zur Toilette nach sich zogen. Die Tränenpünktchen hingegen öffneten ihre Schleusen, wenn einen etwas tief bewegte oder man litt an üblen Magenschmerzen, wenn eine Situation über einen längeren Zeitraum unerträglich war.

Das eigentümlichste Organ aber war das Herz. Bei einem großen Schreck setzte es – fühlbar – einen Schlag aus, im ungünstigsten Fall könnte es sogar stehenbleiben. Vielen Menschen trugen es am rechten Fleck, wie Schwester Marie, die auf Lucius’ Kosten neben der Ausbildung zur Heilerin auch ihre Prüfung in Legilimentik nachholte, um sich damit einen Herzenswunsch zu erfüllen. Man konnte sein Herz aber auch in beide Hände nehmen, womit Neville sehr vertraut war – und genau diese Eigenschaft stellte den Grund dar, warum der Sprechende Hut ihn in Gryffindor gut untergebracht wusste. Manche Herzen waren hart, wie jenes, das in Lucius’ Brust schlug und es ließ nur Sonne herein, wenn Charles ihn anstrahlte oder wenn Narzissa ihm einen Kuss schenkte. Besonders reich waren jene Menschen, deren Herz aus Gold war, selbst wenn sie finanziell schlecht dastanden, wie Remus die meiste Zeit seines Lebens. Harry war dafür bekannt, sich mit Herz und Hand für das Gute einzusetzen, auch für das Gute im Menschen. Mit einem großen Herzen war Albus gesegnet, der eine Vielzahl von Menschen ins selbige geschlossen hatte und noch immer Platz für mehr bot. Zwei Menschen, die eine tief greifende Freundschaft pflegten, bezeichnete man gern als ein Herz und eine Seele. Eines der größten Mysterien war jedoch, dass einem das Herz noch bis zum Hals schlagen konnte, obwohl man es längst an jemanden verloren hatte. Bekam man im Gegenzug eines geschenkt, fiel einem ein Stein vom Herzen.

Hermine trug ihr Herz manchmal auf der Zunge, wie Harry es vorhin erleben durfte. Während er noch Neville und dessen Familie im Mungos besuchte, schlug sich Hermine im Schloss Schnatzer am Frühstücksbuffet den Bauch voll. Sie registrierte aus den Augenwinkeln, dass Severus sie dabei beobachtete. Er tat gut daran, keinen beißenden Kommentar abzugeben, ja, nicht einmal ein einziges Wort zu sagen. Womöglich befürchtete er, für die Herstellung des Elixiers, das Harry in Auftrag gegeben hatte, zurechtgewiesen zu werden. Manchmal sah Hermine zu ihm hinüber, während sie kaute. Das Autogramm, das sie am Tisch herumgereicht hatte, war endlich bei Severus angelangt. Er blickte es an, schnaufte und … verkniff sich die sehr wahrscheinlich bösen Worte, die ihm auf der Zunge lagen.

„In Liebe“, murmelte Severus. Die Grußformel auf der Autogrammkarte stieß ihm übel auf.
Hermine zuckte mit den Schultern. „Er war begeistert von mir.“ Zu ihrer Rechten brummte es. „Er hat sich sehr gefreut, dass ich mit ihm geredet habe.“
„Bist du denn zum Reden gekommen?“, fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen. „Ich entsinne mich noch gut daran, dass er im Lehrerzimmer gern Monologe führte, die jeglicher Unterhaltungskraft entbehrten.“ Weil Hermine gerade von einem Brötchen abbiss und nichts zum Thema sagen konnte, flüsterte Severus: „Wer weiß bisher von den Longbottoms?“
Hermine ließ sich Zeit, viel Zeit, um den Happen zu schlucken. Sie atmete einmal tief durch, bevor sie sich zu Severus beugte: „Außer den Heilern weiß es die Familie, inklusive Luna. Dann noch Harry, du und ich.“ Flüchtig blickte sich Hermine am Tisch um. „Wo sind eigentlich Bill und Fleur abgeblieben?“
„Angeblich traten beide heute eine Reise an, wie Arthur es verlauten ließ.“
„Du glaubst ihm nicht?“
„Nein, aber diese Notlüge sehe ich nicht so eng.“

Severus musste nicht deutlicher werden. Es war Hermine längst durch den Kopf gegangen, dass Bills Gesicht sich verändert haben musste. Anders als bei Narben, die durch Kleidung bedeckt waren, war seine Wunde ein offensichtliches Merkmal dafür, dass etwas Seltsames vorgefallen war. Hermine spürte plötzlich ein Zupfen an ihrem linken Ärmel. Nicht Nicholas, mit dem sie gerechnet hatte, sondern Charles knüpfte Kontakt zu ihr.

„Hallo, kleiner Mann“, grüßte sie den rotblonden Jungen, dessen Augen sie munter anlächelten. „Was möchtest du denn?“ Ihre Stimme war automatisch zwei Tonarten nach oben geklettert. Charles zeigte undeutlich auf den Tisch. Sie folgte dem kleinen Finger. „Das ist mein Brötchen“, gab sie ihm zu verstehen. Während die anderen Gäste – die Weasleys waren in der Überzahl –, sich in normaler Lautstärke über alles Mögliche unterhielten, versuchte Hermine herauszufinden, was Charles wollte, denn erneut zeigte er auf den Tisch. „Was möchtest du denn?“ Charles legte beide Hände auf ihre Oberschenkel, was sie dazu ermutigte, ihn auf genau diese Stelle zu setzen.
Von gegenüber sprang Draco helfend ein. „Das macht er nur, um von dir auf den Schoß genommen zu werden.“
„Ach, ist das so?“, sagte sie eher zu Charles, als zu Draco.
Severus kommentierte das Verhalten des Kindes mit den Worten: „Genauso durchtrieben wie sein Vater. Am Ende bekommt er, was er will.“
„Du kannst ein Kind doch nicht schon durchtrieben nennen, Severus“, hielt Hermine dagegen.
„Etwas vorzutäuschen, um zu erreichen, was man möchte, halte ich für gerissen. Er wird sicherlich nach Slytherin kommen“, sagte Severus selbstsicher voraus.
„Es ist schade“, begann Draco etwas lauter, „dass er dich nicht mehr als Lehrer haben wird. Aber du wärst sicherlich eh ausgefallen, wenn dein erster Spross zur Welt kommt.“ Einige hörten auf zu reden und lauschten Draco. „Ich meine, du möchtest doch sicher selbst eine Familie gründen“, Severus Todesblick bewirkte gar nichts, „jetzt wo du verlobt bist.“ Er hatte es gesagt. Selbstzufrieden setzte Draco ein breites, wenn auch falsches Grinsen auf. „Meine Glückwünsche, Onkel.“
Molly machte große Augen. „Ist das wahr?“, fragte sie Severus.
Er wollte die Frage ignorieren, doch die anderen ließen nicht locker. Charlie erkundigte sich: „Wer ist es denn?“ Gleich im Anschluss fixierte er die Antwort namens Hermine.
Die Tasse Kaffee vor Severus’ Nase bekam mehr Aufmerksamkeit geschenkt als die Fragesteller. Als auch noch Arthur nachhakte, lüftete Hermine das Geheimnis. „Severus und ich“, ein Moment des Schweigens für diejenigen, die sich verschluckt hatten – Angelina klopfte Ron kräftig auf den Rücken –, „haben uns gestern verlobt.“
„Etwa während der Hochzeit?“, wollte Molly wissen. Sie war sichtlich erfreut.
Hermine nickte. „Es hat sich so ergeben. Geplant war es nicht.“
Severus nahm einen Schluck Kaffee und lauschte der Unterhaltung, als würde sie ihn nichts angehen. Es musste unbedingt Remus sein, der das Wort an ihn richtete und mit fröhlichem Gesichtsausdruck sagte: „Ich gratuliere herzlich, Severus! Dir natürlich auch, Hermine.“
Ihm wollte Severus wirklich danken, denn Remus meinte es ernst, doch bevor er den Mund aufmachen konnte, fragte Fred dreist, wenn auch mit einem schalkhaften Grinsen auf den Lippen: „Das ist aber auf freiwilliger Basis geschehen, oder? Nicht dass Hermine unter Imperius steht.“

Ein Scherz konnte manchmal zu weit gehen. Jeder schien damit zu rechnen, dass Severus die Beherrschung verlieren, zumindest aber ein paar bösartige Bemerkungen von sich geben würde. Dass er seinen Zauberstab zog, irritierte einige der Anwesende. Ein paar legten die Hand auf den eigenen Stab, falls Severus unberechenbare Flüche in Freds Richtung abgeben würde, doch niemand sah vorher, dass Severus lediglich den kleine Keks, der unschuldig auf dem Rand seiner Untertasse döste, in ein Stück Kreide verwandelte, mit dem er kurzerhand nach Fred warf – recht kräftig, muss man dazusagen. Fred duckte sich rechtzeitig. Das Stück Kreide schlug gegen die weiße Wand und hinterließ nicht den Hauch einer Verfärbung. Fred fühlte sich in die Schulzeit versetzt und lachte laut, womit er die anderen ansteckte. Severus blieb die Gelassenheit in Person und widmete sich wieder seinem Kaffee.

Mit ihrem üppigen Frühstück war Hermine noch nicht fertig, da sah man Harry hinten aus dem Gang eintreten. Sie wollte sofort zu ihm, doch jemand vereitelte ihr Vorhaben.

Remus stand auf. „Wenn ihr mich kurz entschuldigen würdet? Ich möchte ein Wort mit Harry wechseln.“

Skeptisch verfolgte Hermine ihn mit den Augen. Als Remus bei Harry angelangt, beugte er sich zu ihm hinunter und sagte etwas.

Harry war überrascht, dass Remus ihn abfing, bevor er zurück zum Frühstückstisch gehen konnte. Er hörte aufmerksam zu, als Remus erst herumdruckste.

„Harry, hör mal … Bist du dafür verantwortlich, dass …?“ Remus legte den Kopf schräg und hoffte, dass diese Andeutung ausreichte.
„Für was?“, fragte Harry nach, obwohl er ahnte, wie die tatsächliche Frage lauten würde.
Remus blickte ihm in die Augen, hindurch durchs neue Fensterglas von Harrys Brille. „Fällt dir denn an meinem Gesicht nichts auf?“
„Oh, ja“, murmelte Harry verlegen. „Du siehst heute irgendwie frischer aus.“ Das Lächeln kam nicht so locker über Harrys Lippen, wie er es gehofft hatte.
„Frischer?“, fragte Remus stirnrunzelnd. „Die Narben im Gesicht sind weg!“
Harrys gequältes Lächeln verblasste auf einen Schlag. „Bist du deswegen böse?“ Wenn diese Frage verneint werden würde, könnte sich Harry vorstellen, dem Freund die Wahrheit zu sagen.
Remus schüttelte fragend den Kopf. „Warum sollte ich böse sein? Wer wäre nicht froh darüber, endlich mal keine Narben mehr im Gesicht zu haben?“ Nun legte er seinen Kopf schräg, was bedeutete, dass er auf eine Antwort wartete – und zwar ohne dass man Harry nochmals dazu auffordern musste.
„Ich glaube, das war der Trank, mit dem ich gestern mit dem letzten Schwung an Gästen angestoßen habe.“
„Mmmh“, machte Remus verständnisvoll, doch mit seinem Blick forderte er Harry auf, mehr preiszugeben.
„Möglich, dass es ein Trank war, der nicht nur das Leben verlängert, sondern auch …“
„Momomoment mal!“, überschlug sich Remus. „Ein Leben verlängernder Trank?“ Harry nickte. „Harry …“
„Das Elixier des …“
„Ich fasse es nicht!“, fiel ihm Remus aufgebracht ins Wort, doch es war nicht die Wut, die aus ihm hervorsprudelte, sondern die pure Freude. „Du bist wie dein Vater! Immer für Überraschungen gut.“ Harry konnte nicht anders, als diesmal echt und natürlich zu lächeln. „Das Elixier des Lebens also.“ Harry nickte nochmals. „Dann kannst du mir sicherlich eine Sache beantworten.“
„Ich werde es versuchen, Remus.“
„Das Elixier“, Remus senkte die Stimme, „hat womöglich nicht nur die Wunden heilen lassen?“
„Ich …“ Nachdenklich verzog Harry den Mund, spitzte die Lippen. „Keine Ahnung.“
„Du weißt aber, was ich meine?“
Schuldgefühle kamen in Harry auf. „Den Werwolfsfluch?“
„Ja!“ Remus’ Augen funkelten neugierig. „Ist er weg?“
Da war so viel Hoffnung in den Augen gegenüber, dass Harry sie keinesfalls zerstören wollte, aber die Antwort konnte er nicht geben. „Ich weiß es nicht.“ Das Funkeln erlosch, doch die Neugierde blieb. „Ich habe wirklich keine Ahnung, Remus. Vielleicht“, Harry nickte zum Frühstückstisch hinüber, „weiß Severus das? Oder Hermine?“
„Oh ja!“, wieder glitzerten Remus’ Augen. „Dann werde ich einen ruhigen Moment abwarten und sie fragen.“ Eine Hand klopfte Harry zaghaft auf die Schulter. „Danke, Harry! Jetzt weiß ich zwar nicht mehr, wann bald Schnee fallen wird, aber ich glaube, das kann ich verkraften.“

Gut gelaunt führte Remus Harry zum Frühstückstisch hinüber, an dem man sich noch eine Stunde die Zeit vertrieb. Hermine bemerkte, dass Harrys Augenlider leicht geschwollen waren. Er musste geweint haben.

Als man sich verabschiedete, nutzte Hermine die Gunst der Stunde. In einem ungestörten Augenblick betrachtete sie nochmals seine Augen und sagte mit sanfter Stimme zu ihm: „Das geschieht dir recht.“

Harry konnte nicht antworten, denn Hermine umarmte ihn bereits, drückte ihn fest an sich. Eine stille Entschuldigung für die Ohrfeige. Sie hatten sich wieder vertragen.

„Ach, Hermine?“ Remus störte das Verabschiedungszeremoniell von Harry und Hermine nur ungern, aber sie sollte ihm nicht entkommen.
„Was ist denn?“
„Kommst du mal kurz mit?“ Sie folgte ihm. Ein paar Schritte weiter hielt Remus inne und schaute sich um, um sich zu vergewissern, dass niemand in Hörweite war. „Sag mal, das Elixier … Meinst du, es könnte den Fluch genauso aufgehoben haben wie die Narben?“
Mit dieser Frage hatte sie überhaupt nicht gerechnet, noch weniger aber mit ihrer Unfähigkeit, eine zufriedenstellende Antwort geben zu können. „Das kann ich nicht sagen, Remus, wirklich nicht.“ Dass er aufgeregt war, konnte sie erkennen. Sein Blick ging flatterhaft hin und her, landete auf ihr und gleich darauf auf Severus. Die Antwort wollte Remus am liebsten sofort haben, womöglich um mit Tonks zusammen alle notwendigen Papiere zusammenzusuchen, damit man Montag beim Standesamt des Zaubereiministeriums vorstellig werden könnte, vermutete Hermine. „Es tut mir leid, Remus. Ich kenne die Antwort nicht.“
„Dann muss ich wohl oder übel warten.“
„Vollmond ist …“
„Am 2. Juli“, kam es von ihm wie aus der Pistole geschossen. Er war informiert, musste informiert sein. „Ab nächster Woche Dienstag ist ‚Ausschank‘“, erinnerte er sie ans Wolfsbanntrankgeschäft.
„Wir werden bis dahin warten müssen, bevor man etwas sagen kann. Du nimmst den Trank aber?“
„Natürlich! Ich verlasse mich doch nicht nur auf mein gutes Gefühl“, sagte er fröhlich.
Die Hoffnung, die sich Remus machte, war in Hermines Augen nicht gesund. Die Euphorie trieb ihn so weit nach oben, dass er tief stürzen würde, sollte er enttäuscht werden. „Remus, mach dir keine allzu großen Hoffnungen. Lass es einfach auf dich zukommen.“
„Ich sehe es gelassen“, beteuerte er. „Entweder bin ich davon befreit oder ich muss den Rest meines Lebens damit auskommen.“ Er wollte es loswerden. Seine Augen, seine Körperhaltung – schlichtweg alles an ihm zeigte, wie überdrüssig er des Umstands war, sich Monat für Monat verwandeln zu müssen.
„Remus …“ Ihr mitleidiges Flüstern wurde nicht mehr gehört, als die Aufbruchsstimmung die ganze Meute in Bewegung setzte. Nach und nach nahmen die Gäste für die Heimreise den Kamin.

Zuhause war Hermine außergewöhnlich ruhig. Severus nutzte den Sonntag, um ein Buch zu lesen, denn Hermine schien für nichts in Stimmung zu sein. Sie starrte abwechselnd auf das Autogrammfoto von Gilderoy Lockhart, dann aus dem Fenster. Nebenher kraulte sie den Kater. Das Schnurren war in Severus’ Augen ein äußerst angenehmer Begleitton beim Lesen.

Es war nachmittags gegen drei Uhr, als Hermine plötzlich etwas wissen wollte.

„Severus?“ Er blickte von dem Wälzer auf, von dem er schon ein Viertel hinter sich gebracht hatte. „Was für Bücher hast du über den Stein der Weisen und das Elixier des Lebens gelesen, bevor du es für Harry hergestellt hast?“
Er legte ein Lesezeichen ins Buch und klappte es zu, bevor er einen Moment in sich ging. „Das waren Bücher, die Harrys Elf mitbrachte. Eines hieß ‚Die gesammelten Werke von Nicolas Flamel‘, eines trug den Titel ‚Flamels Lebenswerk und noch etwas mehr‘ und das dritte …“ Er spitzte die Lippen, während die Stirn Falten schlug. „Ich glaube, der Titel war ‚Die Quelle der ewigen Jugend und andere lebensverlängernde Mythen‘.“
„Mythen?“
„Das Buch war nicht sehr hilfreich. Es war voller unbestätigter Theorien, mehr nicht. Mit den ersten beiden konnte ich etwas anfangen.“ Nach seinen Worten verlor sich Hermine in Gedanken, doch bevor sie vollends abdriftete, fragte er: „Warum?“
„Ach“, nochmals ein flüchtiger Blick auf das Autogramm, „ich frage mich nur, was das Elixier bei Lockhart anstellen würde und ich bin zu einem nicht sehr schönen Resultat gekommen.“
„Welches wäre?“, fragte er interessiert nach.
„Dass es ihm nicht helfen würde. Sein Kopf ist leer …“
„War er schon vorher“, murmelte er unverständlich.
„Lockharts Körper war nach dem Obliviate-Unfall unversehrt, ebenso das Gehirn als Organ. Nur der Geist, der war blitzblank wie von einem Neugeborenen. Das Elixier kann doch nichts zurückbringen, was verloren ist, oder?“
„Nein, dafür gibt es die Dunklen Künste. Mit denen wäre einiges machbar, aber ich befürchte, Lockhart wäre danach nur noch unerträglicher als zuvor.“
„Mir ist nicht nach Scherzen zumute“, nörgelte sie.
Unschuldig dreinblickend versicherte er: „Ich mache keine Scherze. Das war lediglich meine Meinung zum genannten Fallbeispiel.“ Hermine blieb ruhig, doch er wollte an ihren Überlegungen teilhaben. „Spielst du tatsächlich mit dem Gedanken, diesem“, weil sie böse schaute, drückte er sich netter aus, „ehemaligen Kollegen von mir sein Gedächtnis wiederzugeben?“
Diesmal runzelte sie die Stirn. „Wie kommst du denn bitte auf diese Idee?“
„Wie ich auf diese …?“ Er schüttelte den Kopf und begann anders. „Du sprichst von ihm und stellst Hypothesen auf. Was soll ich denn sonst denken?“

Sie sah sich dazu aufgefordert, ihre Gedankengänge zu erläutern, was sie gern tat, denn zu zweit machte es viel mehr Spaß, auf wissenschaftlicher Ebene zu diskutieren, anstatt in Gedanken nur mit sich selbst.

„Meine Theorie lautet, dass man Lockhart aus genanntem Grund nicht heilen können würde. Bei den Longbottoms war es etwas anderes. Die Kraft der Cruciatusflüche hat die Nerven und Muskeln geschädigt, somit das organische Gewebe und nicht den Geist.“
Severus ließ sich das Gesagte durch den Kopf gehen, bevor er argumentierte: „Das Elixier hat Albus vor dem Tode bewahrt.“
„Der Tod ist körperlich“, hielt sie entgegen.
„Was bedeuten würde, dass der Geist …“ Die Ausführung brauchte er nicht zu Ende zu bringen. Dass Geister ohne Körper existieren konnten, wusste jedes Kind, das in Hogwarts zu Schule gegangen war.
„Der Geist kann getrennt vom Körper existieren“, fasste Hermine zusammen. „Das Elixier regeneriert den Körper und solange der gesund ist, kann der Geist darin leben. So haben es Flamel und seine Frau vorgemacht.“
Severus nickte. „Und auf was möchtest du hinaus?“
„Andere Flüche. Wie sieht es mit Fluchschäden aus, die keine körperlichen Verletzungen nach sich ziehen? Wie sieht es mit Opfern von Dementoren aus? Hätte das Elixier auch dich heilen können?“
Severus schüttelte den Kopf. „Ich vermute, das Elixier hätte sich nur meiner körperlichen Wunden angenommen.“
„Würde das Elixier bei einem Beinklammerfluch helfen?“, fragte sie in den Raum hinein.
„Vermutlich nicht“, entgegnete Severus, „denn die Beine sind weiterhin vorhanden und unbeschädigt. Es ist ein Fluch, der sie zusammenhält.“
Sie nickte, wirkte dabei traurig. „Und bei einem Werwolfsfluch?“
Jetzt verstand er, warum diese Überlegungen sie so sehr beschäftigten. Bei einem Werwolfsfluch traf wohl das Gleiche zu, dachte er. „Wir werden es abwarten müssen. Wie war es bei den Longbottoms?“ Sein Versuch, das Gespräch abrupt in eine andere Richtung zu lenken, war nicht erfolgreich.
„Remus hat mich gefragt, weißt du?“
Etwas Ähnliches hatte er sich bereits gedacht. „Ich halte es für klug, dass er die Tränke einnimmt. Außerdem würde ich ihn gern beobachten, wenn es soweit ist.“
„Er lässt sich dabei nicht gern zusehen.“
„Es ist mir gleich, ob es ihm angenehm ist oder nicht. Du wirst ihm schon klarmachen, dass es sich dabei um einen wissenschaftlichen Höhepunkt handelt.“
„Ich?“, fragte sie verdutzt und zeigte mit einem Finger auf sich selbst. „Warum fragst du ihn nicht?“
„Weil …“ Weil er ihr Freund war? Nein, verbesserte Severus in Gedanken. Remus war auch sein Freund. „Ich werde ihn bitten. Er könnte sich in unseren Keller zurückziehen.“ Hermine stimmte wortlos zu. Auch wenn sie es nicht zugeben würde, schürte sie die gleiche Hoffnung wie Remus. Severus wollte sie auf andere Gedanken bringen. „Also, wie verlief dein Besuch im Mungos?“
Ihr Lächeln wurde von einem traurigen Blick begleitet. „Es hat mich sehr mitgenommen, wie du dir vorstellen kannst.“
Er erinnerte sich an ihr Gespräch mit Harry. „Sie haben nach den Potters gefragt?“ Der Namen Lily wollte ihm nicht über die Lippen kommen.
Nochmals nickte sie, griff dabei nach Fellini, um ihn auf den Schoß zu setzen. „Keiner von uns hat es gewagt, ihnen die Wahrheit zu sagen.“
„Das ist verständlich. Es würde wahrscheinlich negativ auf das allgemeine Wohlbefinden der beiden einwirken, sollten sie vom Tod ihrer Freunde erfahren.“
„Irgendwann müssen sie es erfahren.“
„Sie haben jetzt Zeit genug, um mit der Realität vertraut zu werden.“ Severus hatte Alice immer gern gehabt. Sie war ein genauso freundliches Mädchen wie Lily gewesen. Die Freundlichkeit hatte ihr Sohn geerbt. „Wie hat Neville es aufgefasst?“
„Er ist ohnmächtig geworden.“
In einer anderen Situation hätte Severus darüber geschmunzelt wie damals, als Pomona im Lehrerzimmer erzählte, er wäre umgekippt, als er die Alraunen sah und nicht, weil die Ohrenschützer verrutscht waren. „Und seine Großmutter?“
„Wir haben ihr ein Beruhigungsmittel verabreicht.“ Hermine gähnte. „Bei mir wirkt es übrigens immer noch. Ich bin müde.“
„Es war auch eine anstrengende Woche“, rief er ihr ins Gedächtnis zurück. Bis in die Nacht hinein den Heiltrank für Severus brauen, die Hochzeit und heute der Besuch bei den Longbottoms. „Vielleicht solltest du dich hinlegen und bis morgen durchschlafen.“

Dem Vorschlag kam sie nach. Hermine legte sich ins Bett, doch anstatt zu schlafen, dachte sie immer wieder an die Longbottoms, besonders an Neville. Am meisten fragte sie sich, wie es weitergehen würde. Die Familie hatte eine Zeit vor sich, die von Trauer gezeichnet war, dachte Hermine. Zu erfahren, dass Freunde nicht mehr lebten, das Bekannte umgebracht worden waren, könnte niemand unbewegt hinnehmen. Vielleicht würde es helfen, wenn Harry sich mehrmals blicken lassen würde. Wenn nicht an die Longbottoms, dann dachte sie an Remus und seinen Fluch. Warten zu müssen, um ein Ergebnis zu erhalten, müsste sie eigentlich gewohnt sein. In diesem Fall war es kaum auszuhalten zu erfahren, ob er sich verwandeln würde oder er den Werwolfsfluch ein für allemal los wäre. Wie es wohl Remus gehen würde, fragte sie sich. Wenn sie sich schon solche Gedanken machte, würde es bei ihm nicht anders aussehen. Hoffnung. Natürlich war bei allem ein Funken Hoffnung vorhanden. Hoffnung war auch das, was Hermine bei den Recherchen und Berechnungen für Severus’ Heiltrank im Herzen getragen hatte – was ihr die Motivation verliehen hatte, bis an ihre eigenen Grenzen zu gehen. Hermine hoffte, dass es auch für Remus ein Happy-End geben würde. Sein Fluch schränkte ihn nicht nur im normalen Alltag ein, was sich durch Diskriminierung bemerkbar machte. Manchmal glaube Hermine, er selbst würde sich ebenfalls als Wesen zweiter Klasse sehen.

Unruhig drehte sie sich im Bett um. Durch das Fenster schien die Sonne in den Raum hinein. Es war viel zu hell, um ein Auge zutun zu können. Der Beruhigungstrank hatte sie aber dösig gemacht – zu faul zum Aufstehen. Damit sie nicht mehr an die Longbottoms oder Remus denken musste, ging sie in Gedanken die Bestellungen der Kunden durch, kam aber schnell zu dem Schluss, dass sie alles noch vor der Hochzeit erledigt hatte. Heute gab es nichts mehr zu tun. Das Schlimme aber war, dass sie nicht einmal Lust hatte, sich mit irgendetwas die Zeit zu vertreiben. Wenn sie die Zügel ihrer Gedanken locker ließ, ritt ihr wacher Verstand erneut zu den Longbottoms. Hermine legte eine Hand über die Augen.

Während Hermine sich herausnahm, einfach mal nichts zu tun, beschäftigte sich Harry mit einer Sache, die er schon vor Wochen in Angriff genommen hatte. Kurz vor der Hochzeit war ein Katalog gekommen, den er angefordert hatte, doch wegen der Vorbereitungen hatte er bisher nur einmal einen Blick hineingeworfen. Das wollte er heute nachholen.

Mit dem Hochglanzkatalog eines Immobilienmagazins hatte Harry es sich auf der Couch gemütlich gemacht. Zu seinen Füßen spielte Nicholas mit einer Lok und machte dabei summende Geräusche, die man keinem Zug zuordnen konnte. Der Junge hatte noch nie einen gesehen, hatte noch nie erlebt, wie beeindruckend eine Eisenbahn sein konnte. Obwohl Harry als Kind schon mehrmals Züge gesehen und gehört hatte – meist im Fernsehen, denn sein Onkel war der Meinung, jeder Weg könnte mit dem Auto zurückgelegt werden –, hatte der Anblick des imposanten Hogwarts-Express’ einen großen Eindruck bei ihm hinterlassen. Der riesige Triebwagen, der laut schnaufend im Bahnhof stand, die gemütlichen Abteile für sechs Personen, die großen Fenster. In dem Augenblick, als er sich an sein erstes Mal im Hogwarts-Express erinnerte, fasste Harry den Entschluss, Nicholas am Mittwoch mit zum Bahnhof von Hogsmeade zu nehmen, wenn die Schüler abreisen würden. Dann würden auch die Geräusche stimmen, wenn Nicholas das nächste Mal mit seiner Lok spielen würde, die Sirius dem Kleinen geschenkt hatte.

In seinen Händen fühlte Harry das Gewicht von dem Katalog, dem er eigentlich seine Aufmerksamkeit schenken wollte. Er blickte auf seinen Schoß. Hundert Heime für Hexen und Zauberer stand dort in schnörkeliger Schrift direkt über dem Bild eines pompösen Herrenhauses. An dem Tag, als der schwere Katalog von einer erschöpften Eule gebracht worden war, hatte Harry nur kurz durchgeblättert und – Liebe auf den ersten Blick – ein Stück Pergament als Lesezeichen ins Buch gesteckt. Diese Seite schlug Harry auf, um die erste Liebe nun kritisch zu beäugen, Fehler zu suchen, irgendwelche Haken. Erneut wurde ihm warm ums Herz, als er das Haus auf dem Bild betrachtete. Es handelte sich nicht um ein Manor, wie die Malfoys es besaßen, sondern um ein kleineres Gebäude, was reiche Leute wie die Malfoys schlichtweg als Sommerhaus bezeichnen würden. Harry musste sich erst einmal einlesen.

Der Katalog zeigte verschiedene Häuser. Von fürstlichen Schlössern über luxuriöse Herrenhäuser bis hin zu kleinen Landhäusern war hier alles vertreten, was in Schottland einen Käufer suchte. Ein Cottage bestand meist nur aus zwei Räumen und war ebenerdig, außerdem ohne Keller. Das Häuschen, das er auf dem Bild sah, wurde als Manor Cottage bezeichnet. Bei Harry weckte der Anblick des Hauses im ländlichen Stil Sehnsüchte, die er bis dato nicht gekannt hatte. Ein eigenes Heim wollte sorgfältig ausgewählt werden. Nur deswegen suchte er auf Biegen und Brechen nach möglicherweise negativ zu wertenden Aussagen im Text der Beschreibung und nach einem versteckten Haken, warum das Haus so überaus preiswert war. Harry fragte sich ernsthaft, ob man das erste Haus, das einem gefiel, kaufen durfte, ohne dass diese Aktion von anderen womöglich als Schnellschuss bezeichnet werden würde. Hals über Kopf. Dafür war er bekannt, dafür waren Gryffindors bekannt. Er durfte sich keine Fehler erlauben, wenn es um seine Familie ging.

Der Zug, der von Nicholas’ kleinen Händen auf dem Boden gesteuert wurde, fuhr plötzlich über Harrys Fuß.

„Au“, machte Harry nicht ernst gemeint. Nicholas giggelte, was ein sicheres Zeichen dafür darstellte, dass er seinem Vater absichtlich über den Fuß gefahren war. „Du bist ein kleiner Halunke, weißt du das?“, fragte Harry mit hoher Stimme, die den Jungen nur noch mehr zum Lachen brachte. Automatisch schaute Harry zur Tür. „Ich frage mich, wann deine Mutter zurückkommt.“ Ginny war vor über einer Stunde von ihren Klassenkameradinnen abgeholt worden, weil sie alles von der Hochzeitsfeier erfahren wollten, gleichzeitig auch die Zeit dazu nutzen wollten, einen kleinen Abschied zu feiern. Ein paar der Siebtklässler befürchteten, dass man sich nach abgeschlossener Schulbildung niemals wieder über den Weg laufen würde.

Harry seufzte. Sein Abschied von Hogwarts fiel ihm schwerer als er geglaubt hatte. Der letzte Schultag am Mittwoch war auch sein letzter Tag in Hogwarts. Dieses Gebäude mit seinen unermesslich hohen Decken, den vielen Geistern und sprechenden Bildern, den Geheimgängen und den sich bewegenden Treppen hatte ihn damals noch mehr beeindruckt als der Hogwarts-Express und der war schon ein Höhepunkt für sein kindliches Gemüt gewesen. Hogwarts war für eine lange Zeit sein Zuhause gewesen. Hier hatte er das erste Mal Freunde gefunden, war das erste Mal verliebt gewesen. Den Kloß im Hals schluckte Harry mit einem Schluck Butterbier hinunter. Als er dabei seinen Blick schweifen ließ, fiel der auf die feuerfeste Schale. Auf der Stange darüber saß Fawkes. Der junge Phönix hatte sich schnell und gut entwickelt, was Harry den vielen Mäusen zuschreiben wollte, die Hedwig in den kleinen Vogel gestopft hatte. Seit seiner Wiedergeburt hatte Fawkes nur in der Schale gelegen, doch heute war er entweder auf die Stange geklettert oder sogar geflogen.

„Bist du geflogen?“, fragte er den Vogel. Nicholas blickte auf, falls sein Vater mit ihm sprach. Weil es raschelte, schaute sich Nicholas um. Als er Fawkes erblickte, war die Lok nur noch zweitrangig. Der Junge stand auf und zeigte aufgeregt auf den Phönix, sagte dabei „Da“, ohne zu wissen, dass dieses Wort für die Geste sogar richtig war. Harry erhob sich ebenfalls und fragte Fawkes: „Kannst du fliegen?“ Der scharlachrote Vogel spreizte die Flügel und schlug einige Male damit, ohne jedoch abzuheben. „Heißt das jetzt ja oder nein?“ Sogleich wurde Harry abgelenkt, denn Nicholas machte mit seinen Armen die Bewegung der Flügel nach, schlug dabei beinahe die Flasche Butterbier vom Tisch und lachte ausgelassen. Harry stellte die Flasche weiter in die Mitte des Tisches, fragte währenddessen seinen Sohn: „Willst du fliegen?“ Nicholas flatterte noch immer mit seinen Armen. „Ich werde dich mal mitnehmen, auf dem Besen. Wir beide hoch oben in der Luft! Wäre das nicht was?“

Nach nur zehn Minuten waren für Nicholas weder Fawkes noch die Lok interessant, sondern das Malbuch und die Wachsstifte von Tante Hermine. Nur in Gedanken bedachte Harry seine Freunde mit den Titeln Onkel und Tante. Nie im Leben würde er es wagen, Onkel Severus laut auszusprechen. Wenn Nicholas später zu dieser Bezeichnung übergehen sollte, würde er ihn jedoch nicht aufhalten. Das Kind saß auf dem Boden über seinem Buch. Der Kreis, der eine Sonne darstellte, wurde mit Hilfe eines Stifts knallrot ausgemalt. Der Baumstamm war schon letztes Mal mit der Farbe Dunkelblau, die Baumkrone mit Gelb bedacht worden. Die vielen Farben erinnerten Harry an seine Erlebnisse mit Hermines Farbtrank. Es würde ihn wahnsinnig interessieren, wie die Farben von Nicholas aussehen würden. Mit einem Spontanzauber hatte der Kleine noch nicht auf sich aufmerksam gemacht. Ginny meinte dazu, dass nicht jedes Kind aus einem Impuls heraus zu einem Zauber fähig wäre. Dennoch machte sich Harry Gedanken und fragte sich, ob Nicholas überhaupt eines Tages zaubern können würde. Von Draco wusste er, dass Charles einmal Spielzeug bewegt hatte, ohne es zu berühren. Ausgeglichene Kinder, das hatte Molly ihm neulich erst erklärt, würden keinen Anlass sehen, magisch etwas in Bewegung zu setzen. Bei Bill und Charlie hatte man sehr spät in Erfahrung gebracht, dass sie durchaus Magie besaßen.

Harry atmete ruhig und ausgeglichen. Nicholas bei seiner Beschäftigung zuzusehen hatte eine beruhigende Wirkung auf ihn. Es störte Harry nicht einmal, als der Junge an dem roten Wachsstift lutschte. Als Hermine das Geschenk überreicht hatte, sagte sie, die Stifte wären vollkommen ungiftig, also machte sich Harry keine Sorgen. Mit dem Zähneputzen würde die rote Farbe auf der Zunge sicher wieder verschwinden. Harry widmete sich erneut dem Katalog, der wie eine Decke seine Oberschenkel warmgehalten hatte.

Das Manor Cottage. Ein ländliches Gebäude, welches bei Harry die Assoziation zu dem Begriff Traumhaus weckte. Es war sehr viel kleiner als eines dieser Herrenhäuser, besaß dessen ungeachtet ein erstes Stockwerk, einen Dachboden und einen Keller. Es lag am Rande eines dichten Waldes. Gedanklich machte Harry sich die Notiz, bei Percy Erkundigungen wegen der Lage bestimmter Reservate einzuholen, denn direkt an einem Verbotenen Wald wollte er nicht wohnen. Vielleicht war das sogar der Haken, befürchtete Harry. Ein Traumhaus, das von Werwölfen und Banshees umschwirrt wurde. Womöglich wohnte in der Nähe eine Sabberhexe, die es auf das zarte Fleisch junger Kinder abgesehen hatte. Das könnte erklären, warum der Preis geringer ausfiel als der für Hermines Apotheke. Das Seltsame war nur, dass Harry gar kein Interesse daran hatte, sich die anderen Häuser genauer anzusehen. Dieses oder keines! Das war jedenfalls das Gefühl, das sich in seinem Bauch ausgebreitet hatte. Dieses Haus!

„Nicholas, komm mal bitte her“, bat Harry mit freundlicher Stimme. Der Junge schnaufte, als er aufstand. Künstler sollte man bei ihrer Arbeit lieber nicht stören, sonst wurden sie unleidlich. „Komm mal her.“ Als der Junge bei ihm stand – einen Wachsmalstift fest umklammert –, hielt Harry ihm die Übersichtsseite vor Augen, auf der kleine Bilder der sechszehn Manor Cottages abgebildet waren und zum Verkauf angepriesen wurden. Harry tippte wahllos auf die Seite. „Zeig mir eines, das dir gefällt“, forderte er. Nicholas blickte ihn mit großen Augen an. Er verstand nicht, was sein Vater wollte. „Einfach eines antippen.“ Harry wiederholte seine Geste. Nicholas verstand. Er schaute sich flüchtig die Bilder an und tippte mit seinem Wachsmalstift auf ein Bild, hinterließ auf diese Weise eine rote Markierung. Es war Harrys Haus! „Gibt es Zufälle?“, fragte er in den Raum hinein. Nicholas hatte genug und schlenderte zurück zu seinem Malheft, auf dem er den Stift fallen ließ, um sich einer Kiste anzunehmen. Es war eine der Kisten von Harry, die er in der ganzen Zeit, die er in Hogwarts verbrachte, nicht ein einziges Mal ausgeräumt hatte. Jetzt musste er damit auch nicht mehr beginnen. Nicholas kramte in der obersten Kiste und stieß dort auf Indianer und Cowboys, deren Fund er mit dem Ausruf „Boah“ kommentierte, was Harry sehr an Ron erinnerte.

Harry blickte auf das Bild mit der roten Markierung. Wahrscheinlichkeitsberechnungen lagen ihm nicht, aber er wusste, dass jeder Wissenschaftler den Treffer des Jungen als Zufall abstempeln würde. Aus wissenschaftlicher Sicht wären mindestens noch zehn Wiederholungen notwendig, die Harry vor Augen halten würden, dass diese Übereinstimmung nur reine Glückssache war. In seinem Innern wusste Harry jedoch, dass es sich nicht um einen Zufall handelte, egal wie unwissenschaftlich das klang. Dieses Haus sollte das seiner Familie werden. Harry betrachtete die Miniaturansicht auf der Übersichtsseite. Auf dem Bild seines Hauses konnte man eine Katze erkennen. Nicholas liebte Tiere über alles. Es war gut möglich, dass der Junge deshalb auf dieses Bild gezeigt hatte. Harry überprüfte seine Vermutung. Auf keinem der anderen Fotos war ein Tier zu sehen, was ihm sein Haus nur noch sympathischer machte.

Das Spiel mit den Indianern und Cowboys war Nicholas langweilig geworden. Einen alten Western hatte er noch nie gesehen. Fernsehen war wegen gewisser Risiken tabu. Bei der geballten Magie in Hogwarts würde so ein Gerät nur implodieren, wenn man erst einmal – und das war das Schwierigste – einen Weg gefunden haben sollte, einen Sender einzustellen. Harry wurde sich gerade darüber bewusst, dass sie auch kein Kinderbuch besaßen, in welchem Indianer abgebildet waren. Vielleicht würde eine Illustration den Jungen zum Spiel anregen, dachte Harry. Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als er ein lautes Klimpern hörte. Harry konnte noch sehen, dass Nicholas einen Sack triumphierend in die Höhe hielt – der Inhalt traf auf dem Boden auf, hüpfte einmal und kullerte dann in alle Richtungen. Es waren die Murmeln, die Severus in der Schule von Lily bekommen hatte, und Severus hatte sie als ganz persönliches Geschenk an Harry weitergereicht. Nicholas fand die Bewegungen der runden Objekte spannend, aber etwas schien ihn zu stören. Der Junge stampfte mit dem Fuß auf den Boden, dann noch einmal und plötzlich – Harry traute seinen Augen kaum –, begannen die Murmeln zu hüpfen, nicht hoch, aber dafür stetig. Nicholas ging mehrmals hintereinander in die Knie ging und richtete sich wieder auf, beinahe so, als würde er schnelle Kniebeugen machen. Richtig zu hüpfen wagte er nicht, dafür waren seine Beine noch zu wackelig.

Wäre er ein wenig schneller gewesen, hätte Harry von diesem Ereignis ein Foto schießen können. Entweder waren Nicholas die Kniebeugen zu anstrengend oder – wie in so jungen Jahren wohl üblich – hatte er kein Interesse mehr an dem wenig abwechslungsreichen Anblick von hüpfenden Murmeln, die sehr schnell wieder zum Erliegen kamen. Harry war noch immer völlig überwältigt von diesem Ereignis. Ein Spontanzauber! Nicholas’ erster Spontanzauber. Allerdings machte sich Harry auch ein wenig Sorgen. Er selbst hatte sich so sehr gewünscht, dass der Junge zaubern könnte, dass Harry das seltsame Gefühl beschlich, er hätte womöglich mit dem bisschen stabloser Magie, die er beherrschte, die Murmel unbewusst in Bewegung gesetzt. Er würde später Wobbel fragen. Der Elf hatte bestimmt eine Antwort parat.

Erneut hatte Nicholas die Wachsmalfarben entdeckt. Er nahm je einen Stift in die Hand: grün und rot. Mit denen kam er auf seinen Vater zugelaufen, die Stifte dabei wie Dolche fest umklammert. Schon hatte Harry einen grünen Strich an der Hand. Nicholas’ Augen glänzten, seine Lippen waren zu einem neckischen Grinsen geformt.

Harry betrachtete den Strich auf der Hand und fragte: „Was soll denn das werden?“ Eine weitere Attacke, diesmal mit dem roten Stift, folgte auf der Stelle. Harry wurde am Unterarm getroffen. Die rote Linie zeigte eine imaginäre Schnittwunde. Nicholas giggelte. „Frechdachs! Pass mal auf, dass ich das nicht mit dir mache.“ Mit einem Aufrufezauber, für den Harry keinen Stab mehr benötigte, holte er sich die Wachsstifte mit den Farben Blau und Orange. Große Kinderaugen betrachteten die beiden Stifte in Harrys Händen. Der Junge schien Respekt zu haben, doch das war nur vorgetäuscht, denn mit beiden Händen bemalte Nicholas ganz flugs Harrys Unterarm, bevor er laut lachend davonrannte, um sich vor einem Racheakt seines Vaters in Sicherheit zu bringen. Harry ging in die Knie und robbte um die Couch herum, hinter der sich Nicholas versteckte. Der Junge rechnete nicht mit einem Angriff aus dem Hinterhalt. Harry malte einen dunkelblauen Strich auf die Kinderhand. Erschrocken drehte sich Nicholas um und schaute auf die Stelle, die sein Vater gekennzeichent hatte.

Nach einer Weile saß Harry im Schneidersitz auf dem Boden, direkt neben dem Kasten mit den Wachsmalfarben. Er blieb ganz still, während Nicholas ihm das Gesicht bemalte – und er war wahnsinnig neugierig, wie er danach aussehen würde. Seine runde Brille benötigte er zwar nicht mehr, aber im Moment war sie ein guter Schutz gegen grobmotorische Bewegungen der Kinderhände. Manchmal verharrten die Stifte dich an seinem Auge, nur durch das dünne Fensterglas voneinander getrennt. Auf Nicholas’ Wange befand sich bereits eine Blume, auf der anderen eine Biene, die Harry ihm mit verschiedenen Farben aufs zarte Kindergesicht gemalt hatte. Harry fühlte, wie Nicholas Striche auf seine Stirn zeichnete. Vor lauter Konzentration war die rosafarbene Zunge zu sehen, die Nicholas zwischen die Lippen genommen hatte.

Als die Tür aufgerissen wurde, blickten Harry und Nicholas neugierig hinüber. Ginny trat ein, und sie hatte jemanden im Schlepptau. Remus folgte ihr und blieb beim Anblick von den bemalten Gesichtern mit einem freundlichen Lächeln in der Tür stehen. Ginny hatte nur einen Blick für das Wohnzimmer übrig.

„Um Himmels Willen! Was ist denn das für eine Unordnung? Hier sieht es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen.“
Harry betrachtete den Boden: die Lok, Cowboys und Indianer, ein aufgeklapptes Malbuch und hier und da eine Murmel. Er schüttelte den Kopf. „Es ist nicht unordentlich“, verteidigte Harry das Chaos, „es sieht lebendig aus.“
„Bring ihm lieber von Anfang an bei, dass er nach dem Spielen aufräumen soll.“
„Aber wir spielen doch noch!“
„Mit allem?“ Nachdem Ginny ihren Umhang abgelegt hatte, sah sie Harrys Gesicht. „Und was soll die Kriegsbemalung?“
„Wir üben uns im Bodypainting“, erwiderte Harry vollkommen ernst. „Man kann nie früh genug damit anfangen, die Talente eines Kindes zu fördern“, versuchte er auf die pädagogische Tour, die Unordnung zu rechtfertigen. „Das könnte seine spätere Berufswahl positiv beeinflussen.“
„Bodypainting? Ist das überhaupt ein Beruf?“
„Ginny, ich spreche hier von Kunst! Das ist mehr als nur ein Beruf – das ist eine Berufung.“
Sie hob aufgrund seiner Aussage eine Augenbraue, schmunzelte dabei. „Ich dachte, er wird später mal Quidditchspieler oder macht irgendwas mit Tieren.“
„Er kann doch Quidditchspieler malen und Tiere auf die Leinwand bringen“, hielt Harry besserwisserisch entgegen.

Remus hielt sich aus dem Gespräch heraus und hatte nur Augen für Nicholas, der wieder damit begonnen hatte, seinen Vater zu bemalen. Weil Harry den Kopf zu Ginny gedreht hatte, lag der Hals frei, dem eindeutig etwas Farbe fehlte. Ein kräftiges Lila sollte Abhilfe schaffen, schien der Junge zu denken. Langsam ging Remus um die Couch herum. Als er auf etwas trat, musste er sich an der Rückenlehne festhalten, sonst wäre er gefallen. Eine Murmel. Remus bückte sich und sammelte nach und nach die Murmeln ein. In seiner Handinnenfläche stießen sie zusammen und gaben nachhallende Geräusche von sich, die ihn an die eigene Kindheit erinnerten. Remus stand auf und betrachtete die Murmeln, weil sie ihm bekannt vorkamen. Eine von den schwarzen nahm er zwischen Zeigefinger und Daumen, hielt sie gegen das Fenster. Das Sonnenlicht zeigte die wahre Farbe: Dunkelbraun.

„Harry?“ Als Harry ihn anblickte, zeigte Remus ihm die Murmel und sagte: „Deine Mutter hatte damals auch solche, in verschiedenen Farben.“
„Ja, ich weiß“, stimmte Harry zu. „Das sind ihre.“
Mit einem Male hielt Remus nicht nur Kinderspielzeug in der Hand, sondern einen Nachlass seiner verstorbenen Schulfreundin. „Tatsächlich? Wie bist du da rangekommen?“
„Severus hat sie mir geschenkt, zusammen mit einer Erinnerung.“
„Eine Erinnerung?“, hakte Remus vorsichtig nach, denn er wollte keinesfalls eine nähere Erklärung erzwingen, obwohl er mehr als nur neugierig war.
„In der Erinnerung kommt sie vor“, schilderte Harry mit zufriedenem Lächeln, denn er musste sofort an diesen Moment denken. „Sie treffen sich auf dem Schulhof.“ Mehr wollte Harry nicht preisgeben. Diese Erinnerung gehörte Severus – und jetzt ihm. Ordentlich füllte Remus den Sack mit den Murmeln und legte ihn in eine der Kisten. Harry beobachtete Remus. „Wo ist Tonks?“
„Sie musste heute nach dem Brunch zu einer Besprechung ins Ministerium. Geht um irgendwelche Kleinkriminelle.“
Selbstzufrieden grinste Harry. „Zum Glück nichts Ernstes.“ Auch wenn Remus immer gern willkommen war, lag Harry eines auf dem Herzen und er fragt unverblümt: „Bist du eigentlich aus einem bestimmten Grund hier?“
Remus’ Kopf schnellte herum. „Ja“, gab er zu, nahm gegenüber von Harry Platz. „Am Mittwoch, nachdem die Schüler abgereist sind, wollen wir im Lehrerzimmer eine kleine“, er zögerte, wackelte mit dem Kopf hin und her, „Abschiedsfeier geben.“
Der Groschen fiel bei Harry sofort. „Für Severus? Ich bin dabei!“
Remus lachte. „Für dich auch. Du hast gekündigt, wie ich gestern hörte.“
„Es war etwas kurzfristig“, gab Harry zu, „aber ich habe mir schon Wochen zuvor Gedanken gemacht und alles geplant, aber die Kündigung hab ich irgendwie vergessen.“ Dennoch hatte Albus die Vertragsauflösung freundlich angenommen, und er schien bereits zu wissen, wie er was organisieren wollte, wenn Harry nicht mehr als Lehrkraft fungieren würde. „Ein weiteres Jahr wollte ich nicht als Lehrer arbeiten.“ Über seine Schulter schaute Harry zu Ginny, die einige Papiere für ihren zukünftigen Arbeitgeber ordnete. „Ginny möchte bei Eintracht Pfützensee anfangen.“
„Tatsächlich?“ Begeistert schaute Remus hinüber zu Ginny, die ihm lächelnd zunickte. „Und du, Harry? Wie stellst du dir deine Zukunft vor?“
„An der Seite von Ginny und Nicholas“, gab er prompt zurück. „Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, was ich beruflich machen will. Ich möchte erst einmal ein Zuhause haben“, unbewusst fiel sein Blick für wenige Sekunden auf den Katalog auf den Tisch, was dem aufmerksamen Remus nicht entging, „und dann möchte ich irgendwas machen, wo ich meine Ruhe vor Leuten habe, die immer nur den großen Harry Potter in mir sehen.“
Verständnisvoll nickte Remus. „Das wird nicht leicht werden. Dich wird man auch ohne Narbe immer und überall erkennen. Für deine Generation wirst du eine Art Befreier bleiben – und auch als solcher behandelt und gefeiert werden.“ Harry verzog das Gesicht, woraufhin Remus seufzte. „Sieh es doch einfach positiv, Harry. Lass die Menschen dich anblicken und ihren Frieden sehen.“
„Hör bloß auf, so zu reden“, winkte Harry ab. „Da wird einem ja übel.“
Hier musste Remus herzlich lachen. „Ach, Harry …“ Ein Giggeln vom Boden ließ Remus zu Nicholas hinuntersehen. „Du hast doch, was du immer wolltest: eine Familie.“ Er schaute Harry in die Augen und wollte etwas sagen, doch seine Kehle war mit einem Male wie zugeschnürt. Harry besaß etwas, das ihm noch verwehrt blieb.
Harry schien seinen Gedankengängen folgen zu können, denn er sagte augenscheinlich zusammenhanglos: „Weißt du übrigens, was mir Kingsley gestern erzählt hat?“ Remus blinzelte einmal, so dass Harry einfach fortfuhr. „Die neuen Gesetze sind fertig und wurden vom Zaubergamot abgesegnet. Mitte Juli kommt es schon in gedruckter Form in den Handel. In Kraft treten soll es aber erst am 1. September.“ Mit glückseligem Lächeln scherzte Harry: „Lass mich raten, wann du heiraten wirst …“

Am 1. September 2004, einem Mittwoch, war Schulbeginn. Vormittags, dachte Remus, wäre genügend Zeit, das Standesamt aufzusuchen, Ringe auszutauschen, mit ein paar Freunden zu feiern und sich abends frisch verheiratet an den Lehrertisch zu setzen, um die Erstklässler in Hogwarts zu begrüßen. Auch der Hochzeitsnacht stand nichts im Wege. Perfekt!

„Tonks wollte mir Bescheid geben, wenn es offiziell ist“, erinnerte sich Remus. Mehrmals hatte sie erwähnt, das Gesetz würde gerade geprüft werden. Wahrscheinlich waren die neusten Informationen an ihr vorbeigegangen, weil sie am Samstag nicht im Ministerium war, im Gegensatz zu Kingsley, der beinahe jeden Tag im Aurorenbüro vorbeischaute, selbst wenn er frei hatte. „Ich frage mich, ob sie …“
Ein unangenehm lautes Pochen an der Tür ließ Ginny erschrocken zusammenfahren. „Meine Güte!“, beschwerte sie sich über den Lärm, öffnete aber die Tür. Tonks kam hereingestürmt, trat auf einen Bauklotz von Nicholas, kam ins Straucheln und ließ sich von Ginny auffangen. „Remus!“ Tonks’ Haare waren feuerrot, was als Erkennungszeichen für ihre Aufregung zu sehen war. „Remus, ich habe eben mit King gesprochen!“
Remus, die Ruhe in Person, lächelte ihr friedlich zu. „Dann ist der Termin klar? Am 1. September?“

Ihre Haare wurden wieder braun, ihre Gesichtszüge weicher und ihr Gang sicherer, als sie sich – ein wenig aus der Puste – der Couch näherte. Sie ließ sich neben Remus nieder und holte tief Luft. Jeder im Raum, war davon überzeugt, dass Tonks von Remus’ Zimmer aus, in dem sie ihn nicht aufgefunden hatte, in Windeseile hierher gerannt sein musste. Tonks kramte in der Innentasche ihres Umhangs und zog eine dicke Rolle Pergament heraus, mit der sie vor Remus’ Nase wedelte.

„Rate mal …“
„Ich glaub es nicht!“, freute sich Remus und nahm Tonks die Pergamente aus der Hand, die er sofort entrollte. Hochzeitspapiere. Der Termin stand rechts oben – der 1. September. Morgens um neun Uhr.
Tonks schmunzelte zufrieden. „Kingsley hat es gestern Morgen für uns klargemacht.“
„Es geht nichts über Freunde, die mitdenken“, lobte Remus.
Sie seufzte erleichtert und blickte sich um. Sie sah den Jungen auf dem Boden spielen, bemerkte Ginny, wie sie einen Ordner mit Papieren zusammenstellte und schaute in Harrys farbenfrohes Gesicht, was sie stutzig machte. „Harry, was ist denn mit dir passiert?“ Gerade wollte er erklären, da fragte sie gespielt vorsichtig: „Weiß Ginny, dass du dich an ihrem Schminkköfferchen vergreifst?“
Harry lachte ausgelassen und betrachtete dabei seine angemalten Unterarme. „Nicholas wollte mal ausprobieren, wie die Farbe auf Haut hält.“
Mit fachmännischem Blick würdigte sie die Arbeit aus Kinderhänden. „Ich würde sagen, die Stifte taugen auch für Körperbemalung.“ Tonks schaute nochmals zu Nicholas, der gerade dabei war auszuprobieren, ob so ein Wachsstift auch in die Nasenlöcher passte, doch dafür waren sie glücklicherweise zu dick. Der Anblick ließ ihr Herz aufblühen. Mit breitem Lächeln schaute sie zu Remus, der ihrem unausgesprochenen Wunsch auf ein eigenes Kind mit der gleichen Mimik entsprach. Zu Harry sagte sie: „So einen ruhiger Junge wäre mein Traum.“
„Ruhig?“, fragte Harry verdattert nach. „Ihr hättet mal vor zwei Stunden hier sein müssen. Dann hättet ihr ihn von seiner anderen Seite kennengelernt.“
„Wieso?“, fragte Ginny hinter ihm. „Was war denn los?“
„Ach, das übliche Geschrei wegen dem Töpfchen.“ Er wandte sich wieder an Tonks. „Außerdem gibt es fast jeden Abend das gleiche Theater, wenn er ins Bett soll. Mittlerweile lassen wir ihn schon länger auf, damit er am Abend so richtig müde ist, aber das scheint nicht zu helfen. Sein Schlafrhythmus verschiebt sich dadurch nur.“ Beide, Tonks und Remus, betrachteten das stille Kind auf dem Boden und wollten gar nicht wahrhaben, was Harry da erzählte. „Ihr könnt es mir ruhig glauben“, kommentierte Harry die verwunderten Gesichter seiner Freunde. „Wollt ihr ihn mal für einen Tag haben?“
„Babysitten?“, fragte Tonks.
„Ja, dann können Ginny und ich mal weggehen. Wir wollen uns sowieso um ein Haus kümmern. Wenn wir demnächst eines besichtigen …“
Tonks stimmte sofort zu: „Ja, machen wir! Wir passen solange auf den Süßen auf.“
„Warte nur“, sagte Harry in dramatisch bedrohlichem Tonfall, „bis sich der Süße in Mr. Hyde verwandelt.“
Ihre fertige Mappe legte Ginny auf den Couchtisch und kommentierte Harrys Aussage mit den Worten: „So schlimm ist er ja nun auch nicht.“
„Ha!“ Den anschuldigenden Zeigefinger auf Nicholas gerichtet, der seinen Vater verwundert ansah, sagte Harry: „Kreischend hat er sich auf den Boden geworfen, gestrampelt und mit den Fäusten um sich geschlagen.“ Er senkte den Finger. „Ein Unschuldslamm ist er bestimmt nicht.“
„So sind Kinder nun mal.“ Aus Neugierde griff Ginny nach dem Katalog, in dem ein Lesezeichen steckte. „Ich bin nur froh, dass er bisher in der Öffentlichkeit so umgänglich war. Stell dir nur vor, er hätte seine fünf Minuten bekommen, als er gestern bei Snape auf dem Schoß saß.“
„Dann wäre Nicholas wohl zu einer Trankzutat geworden“, vermutete Harry laut. Als neben ihm Ginny den Katalog aufschlug, wurde sein Blick magisch von dem Bild seines Traumhauses angezogen. Er konnte nicht anders, als darauf zu tippen und kurz und knapp zu sagen: „Das da!“
„Das hier?“ Ginny las die Beschreibung, die ihr zuzusagen schien, doch sie stutzte bei dem Preis. „Und warum ist das so preiswert?“
„Keine Ahnung! Aber ich wäre der Letzte, der dem Makler die Ohren voll heulen würde, damit er es teurer macht.“
Remus streckte den Arm. „Darf ich das mal bitte sehen?“
Ohne Umschweife reichte Ginny ihm den Katalog mit der aufgeschlagenen Seite. Auch er las sämtliche Informationen zum Haus, bevor er aufblickte. „Wenn man ein Traumhaus zu einem Traumpreis bekommt, dann sollte man Vorsicht walten lassen.“
„Was kann an einem Haus schon so sehr kaputt sein, dass es niemand haben will?“, fragte Harry zurück. „Man kann doch alles richten.“
Tonks blickte auf das Bild. „Da ist eine Katze abgebildet. Vielleicht ist das ein Hinweis dafür, dass es dort vor lauter Mäusen nur so wimmelt?“
„Dagegen gibt es Kammerjäger“, konterte Harry. „Ich glaube, Hermine hatte auch Mäuse im Keller, als sie die Apotheke übernommen hat. Sie hat einen Kammerjäger an der Hand.“
„Und was“, begann Remus, „wenn die Leitungen kaputt sind, die Wände verfault? Das Fundament könnte abgesunken sein oder …“
„Soll ich dir die Wachsstifte reichen?“, unterbrach Harry mit gehobenen Augenbrauen. „Damit kannst du den Teufel besser an die Wand malen.“ Er fühlte sich persönlich beleidigt, dass man seinem Traumhaus solche Makel andichtete.
Remus lachte leise. „Ich möchte dich doch nur auf ein Gespräch mit dem Makler vorbereiten. Die haben immerhin gelernt, nur auf die schönen Aspekte einzugehen und die Mängel außen vor zu lassen.“
„Und ich habe gelernt, nicht alles zu glauben, was man mir erzählt“, gab Harry zurück.
„Harry.“ Allein mit Nennung des Namens beruhigte Remus ihn wieder. „Ich wollte doch nur …“
Harry unterbrach mit erhobener Hand. „Ich lasse mir schon nichts aufschwatzen.“
„Nein“, stimmte Ginny zu, „denn ich bin ja mit dabei.“ Sie ergriff seine Hand und legte sie auf ihren Schoß. „Ich will mir das Haus auch ansehen.“
„Aber nicht, dass du es die ganze Zeit schlechtredest“, warnte er mit nörgelnder Stimme vor, was Ginny zum Lachen brachte. Harry musste auch wieder lächeln. „Ich mache einen Termin für nächste Woche. Ist das in Ordnung?“
„Ab Donnerstag wäre schön, dann ist die Schule vorbei.“
Harry nickte, schaute dann zu Remus hinüber. „Wegen der Abschiedsfeier … Sollte ich da noch etwas wissen?“
„Ich wollte dich darum bitten, es vor Severus wenn möglich geheim zu halten.“
„Das wird mir nicht gelingen. Er wird mich durchschauen“, gab Harry zu bedenken. „Warum soll ich das überhaupt geheim halten?“
„Weil er solche gesellschaftlichen Anlässe wie die Pest meidet, besonders wenn er im Mittelpunkt steht.“
„Mmmh“, machte Harry nachdenklich. „Da magst du Recht haben. Trotzdem werde ich ihn nicht anlügen.“
„Du sollst ihn auch gar nicht anlügen, Harry. Es wäre nur schön, wenn du ihn, wenn das Thema zur Sprache kommen sollte, ermutigen könntest zu kommen, damit wir alle, na ja, Adieu sagen können.“ Remus atmete einmal durch und murmelte: „Er wird es hassen.“
„Ab wann geht’s los?“
„Gleich nachdem wir die Kinder in den Zug gesteckt haben.“
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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Rest von Kapitel 220

Der Sonntag klang allmählich aus. Nicholas sträubte sich mit Händen und Füßen, ins Bett zu gehen und das, obwohl Harry versprochen hatte, ihm ein Märchen vorzulesen. Nicholas war hellwach und konnte nicht schlafen.

Remus ging es ganz ähnlich. Auch er machte kein Auge zu, weil er immerfort an Dienstag denken musste. Übermorgen würde er den ersten Wolfsbanntrank einnehmen, die anderen beiden an den darauf folgenden Tagen.

Es hieß, als Belby der Öffentlichkeit das erste Mal den Wolfsbanntrank präsentierte, dass der Trank zwei Tage vor und der letzte Trank direkt am Tag der Verwandlung eingenommen werden sollte. Das Problem war jedoch, dass der Vollmond nicht immer in die späten Stunden fiel. Der kommende Vollmond war beispielsweise schon für 13:08 Uhr vorherberechnet. Ein Werwolf müsste den letzten Trank noch vor dem Vollmond einnehmen, sonst könnte es schmerzhaft werden oder sogar in einem Desaster enden, weil das Bewusstsein teilweise getrübt und der Geist nicht klar war.

Remus hatte für sich selbst herausgefunden, dass die Verwandlung leichter zu ertragen war, wenn der dritte Trank ungefähr zwanzig Stunden vor Einbruch der Dunkelheit genommen wurde, besonders wenn sich der Vollmond zu so früher Stunde zeigte wie dieses Mal. Was aber war danach? Diese Frage beschäftigte ihn, so dass er keine innere Ruhe fand. Es könnte möglich sein, hoffte er, dass das Elixier des Lebens den Werwolffluch aufgehoben hatte. Das Lebenselixier war auch dazu imstande gewesen, die geschwärzte Hand von Albus zu heilen. Seine Gedanken überschlugen sich. Die Frage kam auf, ob die geschwärzte Hand nur das Resultat eines Fluches war oder der Fluch selbst noch auf ihr gelastet hatte. Bei ersterer Möglichkeit hatte das Elixier nur die Wunde geheilt, beim zweiten Szenario hatte es den Fluch aufgehoben. Die Chance stand fünfzig zu fünfzig, dass Remus am Wochenende seinen Fluch Vergangenheit nennen könnte. Zu hoffen, ganz fest von ganzen Herzen etwas zu wünschen, konnte von einem quälenden Gefühl begleitet werden, denn der Hoffnung stand als Gegner immer das Schicksal im Wege. Wie würde wohl seines aussehen, fragte er sich in Gedanken. Er hoffte. Und irgendwann spät in der Nacht schlief Remus endlich ein.

Am nächsten Tag war Hermine die Erste, die sich aus dem Bett schwang. Noch immer waren ihre Gedanken bei den Longbottoms, aber auch bei Remus und letztendlich bei Severus, der sich die Freiheit nahm, sich noch einmal umzudrehen, um für eine weitere halbe Stunde zu dösen. Hermine machte sich für den Tag fertig, gab den Tieren ihre Mahlzeit und richtete danach das Frühstück an.

Als der Kaffee fertig war, erschien Severus pünktlich in der Küche. Er gestattete seinen Lippen, sich zu einem zaghaften Lächeln zu formen, als er das fertige Frühstück bemerkte. Hermine hatte die Rühreier nicht anbrennen lassen. Was für ein perfekter Start in den Tag.

„Ah, Severus“, grüßte sie, während sie die Rühreier auf den beiden Tellern verteilte. „Guten Morgen.“
„Guten Morgen, Hermine.“ Mit wachen Augen überflog er den Küchentisch: Brot, Butter, Marmelade. Sie hatte nicht einmal den Käse vergessen, den sie so widerlich fand. „Hast du dich gut erholen können?“, fragte er vorsichtig nach, erwähnte absichtlich keine Namen oder Situationen von gestern.
„Geht so“, gab sie unschlüssig als Antwort. „Ich muss immerzu an sie denken.“ Sie nahm ihm gegenüber Platz. „An Neville besonders. Ich werde ihn heute Abend mal anflohen. Er wird bestimmt den ganzen Tag im Mungos sein.“
Severus nahm eine Scheibe Brot. „Meinst du nicht, er wird pünktlich bei Pomona auftauchen?“
„Ach“, winkte sie ab. „Wenn er ihr sagt, warum er nicht kommt, wird sie schon nichts dagegen haben.“
„Anzunehmen.“

Ein kurzer Moment heimeliger Stille folgte, den die beiden im Einklag miteinander verbrachten. Genau so, dachte Severus, dürfte es, wenn es nach ihm ginge, die nächsten Jahre weitergehen. Ein gemeinsames Frühstück und eine seichte Unterhaltung, die das Gehirn auf die tiefsinnigen Gespräche des Tages vorbereitete. Hermine schien nichts von oberflächlichen Gesprächen zu halten. Sie startete intellektuell voll durch.

„Ich habe mir nochmal Gedanken über den Fluch gemacht, den Werwolffluch. Erinnerst du dich daran, als ich meinte, man müsste Remus mal ins Flugzeug setzen, um zu sehen, ob er dem Vollmond davonfliegen könnte?“
Severus wusste nicht, ob er um diese Uhrzeit schon bereit für so eine gehaltvolle Konversation war, dennoch erinnerte er sich, weshalb er nickte. „Willst du aus der Überlegung Ernst machen?“
„Vielleicht“, gab sie als vage Antwort. „Es müsste gut durchgeplant werden.“
„Allerdings“, stimmte er zu, „und ich rate, sehr genau zu planen. Brech es nicht übers Knie.“
Hermine hörte mit dem Kauen auf und blickte ihn mit großen Augen an. Sie schluckte den Happen hinunter. „Seit wann breche ich etwas übers Knie?“ Unmöglich konnte er in all der Zeit ihre Vorsicht übersehen haben.
„Du bist eine Gryffindor!“, war die alles erklärende Antwort für seine Bemerkung.
Sie schnaufte, schüttelte dabei den Kopf. „Nur weil ich eine …“ Ihr fehlten beinahe die Worte, aber nur beinahe. „Dann nenne mir doch bitte eine einzige Sache, bei der ich voreilig gehandelt haben soll.“

Severus war sich sicher, dass ihm auf der Stelle etwas einfallen würde, doch er irrte. Er musste in sich gehen und nachdenken. Mit selbstgefälligem Lächeln beobachtete sie ihn dabei, wie er händeringend nach einem Beispiel suchte. Es musste etwas geben, davon war Severus überzeugt. Bei den Nachforschungen bezüglich seines Seelenheils war sie sehr gründlich gewesen, hatte nichts überstürzt. In Gedanken ging er weiter zurück, viel weiter. Er war bei dem Augenblick angelangt, als sie in sein Denkarium schauen wollte, doch dazu war sie nie gekommen. Sie hatte lange nachgedacht, ob sie es tun sollte. Mit Schaudern stellte er fest, dass er es gewesen war, der in diesem Moment übereifrig gehandelt hatte, indem er ungefragt Legilimentik bei ihr anwandte. Ihm fiel nichts ein. Hermine hatte sich sogar viel Zeit gelassen, um über eine Anstellung als Zaubertränkeschülerin bei ihm nachzudenken. Ihre Zusage bekam er, als er schon gar nicht mehr damit rechnete. Hermine schien tatsächlich nichts zu überstürzen, oder?

„Dein Antrag kam sehr voreilig“, sagte er gelassen, bevor er von seinem Brot abbiss.
„Welcher …?“ Für einen Moment hatte sie an solche Anträge gedacht, die man beim Ministerium wegen irgendeiner Angelegenheit einreichte, doch in Windeseile kam ihr der Gedanke, dass er nur den Heiratsantrag meinen konnte.
„Siehst du!“, hielt er ihr schief lächelnd vor. „Es scheint dir sogar entfallen zu sein.“
„Ich hab es nicht vergessen“, beteuerte sie. „Und der war nicht überstürzt!“
„Dann hast du dich lange damit auseinandergesetzt?“, fragte er scheinheilig.
„Es war in diesem Moment das Richtige.“

Mit dieser Antwort konnte sie sich herauswinden. In Wirklichkeit hatte Hermine nicht mit einer bejahenden Antwort seinerseits gerechnet. Innerlich war sie dennoch dafür bereit gewesen. Das war wie nach dem Fest nach der Ordensverleihung, als Hermine ihren ehemaligen Professor zum Tanzen aufgefordert hatte. Zwar war sie davon ausgegangen, dass er ablehnen würde, aber sie hätte keinen Rückzieher gemacht, hätte er zugestimmt. Eine zukünftige Heirat war allerdings etwas viel Gewichtigeres als ein einmaliger Tanz im Garten des Fuchsbaus. Und doch war sich Hermine aller Konsequenzen bewusst gewesen, als sie gestern fragte, ob sie den gefangenen Brautstrauß bei ihm einlösen könnte. Mit solchen Dingen machte man keine Scherze. Als Scherz hätte sie es höchstens heruntergespielt, wenn er ihr einen Korb gegeben hätte. Seine Zusage hatte sie überrascht, aber noch viel mehr war sie darüber erfreut.

Von gegenüber beobachtete er Hermine beim Frühstück. Zu gern würde er ihre Gedanken lesen können. Eines aber fühlte er, nämlich dass sie zu der Situation stand. Sie blickte auf und lächelte ihm mit geschlossenem Mund zu, kaute dabei den Bissen Marmeladenbrot.

„Wie sieht es eigentlich mit den Hauspunkten aus?“, fragte sie interessiert. „Wer liegt vorn?“
„Gryffindor“, erwiderte er mit gerümpfter Nase. „Morgen gibt es noch ein Quidditch-Spiel. Das Blatt könnte sich also noch wenden.“
„Dracos Team hat sich gut geschlagen. Ich habe zwar nicht alle Spiele gesehen, aber Harry und Ginny haben mir davon erzählt.“
Severus nickte. „Slytherin lag mit den Hauspunkten eine Weile an letzter Stelle.“
„Weil du ihnen Punkte abgezogen hast – und nicht zu wenig.“
Severus verzog das Gesicht. „Danke, dass du mich daran erinnerst. Nichtsdestotrotz hat Draco diese Strafe verdient. Es war geschmacklos.“ Severus erinnerte sich an die Halloweenfeier in Hogwarts, und an Draco, der im Kostüm eines Todesser für Aufsehen gesorgt hatte.
„Er hat nur rebelliert.“
„Nur? Er hat Angst und Schrecken verbreitet und das mit voller Absicht. Außerdem fühlte ich mich durch seinen Auftritt bloßgestellt.“
Sie versuchte, Draco zu verteidigen. „Er wusste sich eben nicht anders gegen die Anfeindungen zu helfen.“
„Er hätte …“ Severus seufzte. „Man kann es sowieso nicht mehr ändern. Ich fand sein Handeln falsch. Jede Art von Rebellion ist mir zuwider.“
„Ich habe manchmal auch gegen dich rebelliert.“ Nach ihren Worten schenkte er ihr einen lang anhaltenden Blick, der schwer zu deuten war. „Oder irre ich mich?“, hakte sie nach.
Severus stellte die leere Tasse Kaffee ab und erhob sich. „Ich muss los. Der Unterricht beginnt in zehn Minuten.“
„Irre ich mich?“ Die Antwort wollte sie noch hören. Sie verkniff sich das Lachen, als er sich an der Küchentür zu ihr umdrehte und dabei den Kopf schräg legte. Am Ende gab er ihr die ersehnte Antwort. „Deine Absichten waren uneigennützig und dienten in erster Linie dazu, mich in meinem Denken zu beeinflussen.“ Sie lächelte selbstzufrieden, doch diesen Ausdruck wollte er ihr neckisch aus dem Gesicht wischen. „Es ist jedoch nicht von der Hand zu weisen“, begann er mit freundlicher Stimme, „dass deine Art, mit schwierigen Situationen umzugehen, durchaus eine Stärke des Geistes darstellt, und darüber hinaus hast du eine Kunst geschaffen“, seine Augen funkelten frech, „auf denselben zu gehen.“
Hermine runzelte die Stirn, wiederholte seine Worte in Gedanken, bis sie verstand. Als sie sich rechtfertigen wollte, war er längst auf der Treppe, die ins Wohnzimmer führte. Sie rannte zum Absatz und rief ihm hinterher: „So so, ich gehe also manchmal auf den Geist?“ Beleidigt war sie nicht, eher amüsiert.
Schalkhaft nickte er ihr zu, was sie wahlweise als Abschiedsgruß oder als Bejahung sehen konnte. „Ich werde heute erst nach Ladenschluss kommen“, wechselte er das Thema. „Es gibt noch ein paar Dinge in Hogwarts, die ich packen muss.“

Seinen Unterrichtsraum betrat Severus pünktlich. Kein Lehrer würde heute noch ernsthaft unterrichten. Selbst Severus hatte, was er sich selbst eingestehen musste, keine Lust. Übermorgen wäre das Schuljahr vorbei. Alle Noten waren vergeben. Die Erstklässler verweilten still und brav auf ihren Plätzen. In ihren Gesichtern stand die Furcht geschrieben, heute noch hart arbeiten zu müssen. Wäre er übelgelaunt, würde er einen Aufsatz über irgendein Thema aus dem Lehrbuch „Tausend Zauberkräuter und -pilze“ schreiben lassen, damit die Kinder beschäftigt wären. Das unsichere Blinzeln einiger Schüler, die bisher eher mittelprächtige Arbeiten abgeliefert hatten, veranschaulichte ihm, dass sie genau dies mutmaßten.

„Greifen Sie zu einem Stück Pergament“, forderte er mit emotionsloser Stimme. Irgendwer unterdrückte einen Seufzer, dennoch gehorchte die Klasse. Leise zog jeder für sich ein Blatt Pergament aus der Tasche, stellte gleich noch das Tintenfass auf den Tisch und legte die Feder in Reichweite. Wieder waren alle Augen auf den dunkel gekleideten Lehrer gerichtet, der sich vor der Klasse aufbaute und die Hände hinter dem Rücken verschränkte. Mit kühlem Blick musterte er die Schüler. Die meisten verzogen enttäuscht das Gesicht, bis auf Miss Clavick, die sich über jede Art von lehrreicher Beschäftigung freute. Sie strahlte über das ganze Gesicht, und sie war die Einzige, die ihre Feder bereits in die Tinte getaucht hatte und nur noch auf den Startschuss wartete. Sie erinnerte ihn an seinen Hund, nur dass Miss Clavick keinem Stock mit hängender Zunge und wedelndem Schwanz hinterherjagte, sondern einem interessanten Thema.

„Ich möchte“, seine Stimme klang hartherzig, „dass Sie sich Ihr erstes Schuljahr hier in Hogwarts vor Augen führen und niederschreiben, welche Aspekte des Unterrichts Sie positiv und welche Sie negativ bewerten.“ Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete er die Gesichtszüge der Schüler und bemerkte, dass ein oder zwei entgleist waren. „Und kommen Sie mir nicht nur mit einer puren Aufzählung“, knurrte er mahnend. „Begründen Sie Ihre Meinungen und machen Sie Verbesserungsvorschläge, sofern Sie wenigstens dazu in der Lage sind, wenn Sie schon keine Tränke nach einem einfachen Rezept brauen können.“ Ein Schüler, bei dem häufig der Kessel geschmolzen war, blickte beschämt zu Boden. Bei der in die Höhe schnellenden Hand rollte Severus mit den Augen. „Miss Clavick? Was an meiner Anweisung könnte wohl so unglücklich formuliert gewesen sein, dass Sie als Klassenbeste“, das Lob war ihm versehentlich herausgerutscht, „noch Fragen haben könnten?“
„Ich wollte mich erkundigen, Sir, ob wir nur den Inhalt des Lehrplans analysieren und bewerten sollen oder ob die Umsetzung des Stoffes in Bezug auf das Lehrpersonal mit einbezogen werden darf.“
Ihre Wimpern klimperten, als sie aufmerksam auf eine Antwort seinerseits wartete, doch Severus fragte sich momentan noch, ob es Absicht war, dass die Schülerin ihren Satz länger gestaltet hatte als er den seinen. „Die von mir bereits genannten Aspekte des Unterrichts bezieht natürlich auch das Lehrpersonal mit ein“, er warf ihr einen warnenden Blick zu, „ebenso die Arbeitsmaterialien, die Ihnen von der Schule zur Verfügung gestellt werden.“ Ein Junge aus Slytherin hob zaghaft die Hand. „Was ist denn noch?“, blaffte Severus den Jungen an.
Erschrocken zog der Schüler die Hand zurück, als liefe sie Gefahr, verhext zu werden. Trotzdem hatte er den Mut zu fragen: „Wofür ist das gut?“
„Wofür ist das gut, Sir!“, verbesserte er den Schüler. „Wäre das meine Aufgabe“, schnellen Schrittes ging er zu seinem Pult hinüber, „wäre ich bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag damit beschäftigt, Verbesserungsvorschläge zu den Verhaltensregeln und Umgangsformen der Schüler zu verfassen.“ Er ließ sich auf seinem Stuhl nieder und schüttelte zermürbt den Kopf. „Was, bei Merlin, ist an dieser Aufgabe nur so schwer?“
Er erwartete keine Antwort, doch Miss Clavick saß in seiner Klasse – und sie war offenbar noch nicht über die Funktion rhetorischer Fragen informiert, denn sie erklärte ernsthaft: „Ich glaube, viele Schüler haben einfach nur Bedenken, wenn sie sich frei über die möglicherweise verbesserungswürdigen Unterrichtsmethoden des Lehrpersonals äußern sollen.“
„Sagt die Schülerin, die es nicht für notwendig hält, sich zu melden.“ Langsam hob Miss Clavick ihre Hand. „Jetzt ist es zu spät, Miss Clavick.“
„Sir, ich habe noch eine Fra…“
„Herrje“, stöhnte er theatralisch, warf die Arme nach oben und schlug sie sich auf die Schenkel. „Da wollte ich nur einen ruhigen Unterrichtstag einläuten, stattdessen sehe ich mich mit einer Horde unsicherer Schüler konfrontiert, denen es offensichtlich an Mumm fehlt, offen und ehrlich Kritik an einem Lehrer zu üben, der sie im kommenden Schuljahr sowieso nicht mehr unterrichten wird.“
„Sie verlassen uns, Sir?“, fragte Miss Clavick erstaunt. Severus konnte auch etwas Enttäuschung heraushören. Die Schülerschaft schaute gebannt zu ihrem Lehrer und wartete auf eine Antwort.
„Ab dem nächsten Schuljahr wird Sie Professor Popovich unterrichten“, verkündete er gelassen. Einige Schüler kicherten, als sie daran dachten, wie man den Namen des neuen Lehrers abkürzen konnte. „Und glauben Sie mir: Darüber freue ich mich mehr als Sie ahnen können!“
„Waren wir wirklich so schlimm?“, fragte Miss Clavick kleinlaut.
Severus war sich nicht sicher, ob sie die Frage ernst meinte. „Die gleiche Frage darf ich wohl Ihnen stellen“, er blickte auf die Uhr, „und wenn ich mich recht entsinne, habe ich sie indirekt gestellt – und zwar gleich nach Unterrichtsbeginn.“ Wieder schaute er zu seinen Schülern. „Bisher ist nicht ein Tröpfchen Tinte auf Ihren Pergamenten zu sehen.“
Ein Schüler seines eigenen Hauses fragte, ohne die Hand zu heben: „Geht es nur um den Zaubertränkeunterricht oder können wir auch schreiben, was uns bei den anderen Lehrern nicht gefällt?“
„Tun Sie, was Sie nicht lassen können“, antwortete Severus gelangweilt.
Diesmal fragte ein Gryffindor: „Werden Sie das lesen, was wir schreiben?“
„Ich werde Ihre Vorschläge auf jeden Fall an meinen Nachfolger übergeben, damit er seinen Unterricht in Einklang mit Ihren Wünschen gestalten kann.“

Severus hielt inne. Seine eigenen Worte schockierten ihn. Ursprünglich wollte er sich zwei ruhige Stunden machen, vielleicht in einem Buch über Werwölfe blättern, während die Schüler mit einer schriftlichen Aufgabe beschäftigt waren. Das Thema der Stunde war ihm völlig egal gewesen. Den Schülern offenbar nicht.

„Wie ich Ihnen gesagt habe, sollten Sie Ihre Anregungen oder Ihre Kritik stichhaltig begründen. Bleiben Sie bei Ihrer Wortwahl sachlich. Noch irgendetwas unklar?“ Innerlich schlug sich Severus gegen die Stirn. Jetzt forderte er die Kinder sogar noch dazu auf, ihm Löcher in den Bauch zu fragen. Dass sich die Schüler gar nicht mehr meldeten, nahm er nicht einmal zur Kenntnis.
„Sir?“
„Was ist?“, belferte er in die Richtung, aus der die Frage kam.
Den Schüler hatte es nicht eingeschüchtert. „Was machen Sie denn nach der Schule?“
Sein Leben ging die Bälger überhaupt nichts an, dachte Severus. Möglicherweise war es der Stolz, der ihn trotzdem antworten ließ: „Ich besitze eine Apotheke, der ich mich widmen werde.“ Dass ihm nur die Hälfte des Geschäfts gehörte, ließ er außen vor. Er würde sich nicht in Details verzetteln.
„Wo?“, fragte eine gesichtslose Stimme, die Severus nicht ausmachen konnte.
Entnervt stand er von seinem Stuhl auf und stützte sich mit beiden Händen auf dem Pult ab. „Drücken Sie alle sich jetzt schon vor einer Aufgabe, deren Umfang völlig Ihnen überlassen ist oder was soll das hier werden?“
„Wir unterhalten uns“, erwiderte Naseweis Clavick.
„Ich fühle mich nicht unterhalten“, schoss er zurück. „Das Plauderstündchen ist beendet. Beginnen Sie mit Ihrer Aufgabe.“
„Sie haben nicht beantwortet, ob Sie unsere Vorschläge lesen werden“, erinnerte ihn der Schüler von vorhin.
„Was“, Severus legte nach dem einen Wort eine Pause ein, damit er den Buchstaben s schön zischeln konnte, „interessiert es mich, was Ihnen lieb und recht wäre, wenn ich gar nicht mehr hier sein werde? Beantwortet das Ihre Frage?“ Ein schüchternes Nicken seitens des Schüles. „Gut, denn ich werde keine weitere Diskussion mehr zulassen, es sei denn, Sie haben Freude daran, die letzten Tage vor den Ferien Mr. Filch eine überaus große Hilfe beim Putzen dieses riesigen Schulgeländes zu sein.“

Erste Federn begannen bereits, Worte aufs Pergament zu kritzeln. Endlich Ruhe. Während der nächsten Stunde, in der er die gleiche Aufgabe den Siebtklässler stellen wollte, würde er die Vorschläge der Erstklässler lesen, denn deren Reaktionen hatten ihn neugierig gemacht.

Während der Mittagspause nahm Severus wie immer zwischen Harry und Remus Platz. Die Zeit konnte ihm gar nicht schnell genug vergehen. Er wollte am liebsten sofort seine restlichen Sachen packen und sich häuslich in der Wohnung über der Apotheke einrichten – endgültig. Sein Tischnachbar zur rechten stocherte lustlos im Essen herum. Gedankenverloren schob Remus eine Kartoffel hin und her. Harry hingegen stopfte sich den Bauch voll. Er war sichtlich glücklich. Zwischen diesen beiden Extremen zu sitzen bereitete Severus Unbehagen. Ihm war nach einer Unterhaltung zumute, die er vorzugsweise mit dem unbefangen fröhlichen Harry beginnen wollte, doch Remus, dessen faltige Stirn als Ventil für unausgesprochene Sorgen herhalten musste, hätte ein Gespräch nötiger.

„Warum so betrübt?“, fragte Severus kurz und knapp. Es lag nun an Remus, die Konversation aufzunehmen oder dankend abzulehnen.
„Ach …“ Remus schob den Teller von sich weg.
„Du solltest etwas essen“, empfahl Severus, hielt sich aber zurück, den Grund für den Vorschlag zu nennen. Eine körperliche Zwangsverwandlung war kraftzehrend.
„Ich habe keinen Appetit.“
Severus schaute auf. Der Anblick eines narbenfreien Gesichts war ungewöhnlich, daher ein Gesprächsthema wert. Leise fragte Severus: „Hat sich irgendjemand erkundigt, warum …?“ Ungenau deutete er aufs eigene Gesicht, damit Remus verstehen würde, was er meinte.
Remus musste lächeln. „Eine Schülerin war der Meinung, ich würde einen Abdeckstift benutzen.“ Er schnaufte. „Ich musste mich erst einmal bei Ginny erkundigen, was genau das ist.“ Mit einem Kopfnicken deutete Remus zu den Gryffindors. „Mr. Smith stellte die Vermutung auf, ich hätte mich übers Wochenende einer Laserbehandlung unterzogen.“ Sein Blick schweifte hinüber zu den Slytherins. „Mr. Foster äußerte sich nicht dazu, obwohl er wusste, denn er war selbst Gast auf der Hochzeit, dass ich am Samstag noch anders aussah.“
„Mr. Foster hat den Mund gehalten?“, fragte Severus nach.
Remus nickte. „Ich glaube, er wollte mich nicht in die Verlegenheit bringen, meine Situation erklären zu müssen. Mich erstaunt nur, dass Mr. Foster mich nicht selbst gefragt hat.“
„Slytherins fragen nur nach, wenn die Antwort ihnen einen Vorteil bescheren könnte.“
Ungläubig blickte Remus ihn an, der Hauch eines Lächelns auf seinem Gesicht. „Dann hast du mich nur nach meinem Wohlbefinden gefragt, weil du dir von der Antwort einen Vorteil erhoffst?“, stichelte er.
Severus äußerte sich zunächst mit einem vorwurfsvollen Blick, bevor er die Flunkerei aufgriff. „Natürlich! Du musste bei Kräften sein, wenn Hermine dich eines Tages mit auf eine Weltreise nimmt.“
Hier wurde Harry hellhörig. Er drehte den Kopf und fragte nach: „Habe ich hier irgendwas von Weltreise gehört? Wo soll es denn hingehen?“
„Ja“, stimmte Remus mit ein, „das würde mich auch interessieren.“
Jetzt hielt Severus den Trumpf in der Hand. Er fand nicht nur seine ersehnte Unterhaltung, sondern er konnte auch noch Remus damit aufheitern – nicht dass es ihm etwas daran gelegen hätte. „Hermine hat eine Theorie entwickelt. Es ist noch zu früh, um Genaues sagen zu können.“ Seelenruhig schenkte sich Severus einen Schluck Wasser ein, während Harry und Remus auf glühenden Kohlen saßen.
„Und?“, fragte Harry erwartungsvoll.
Remus zeigte verständlicherweise sehr viel mehr Interesse an diesem Thema: „Was beinhaltet diese Theorie?“
„Ich sagte doch bereits, sie steckt noch in den Kinderschuhen, aber wenn ihr es unbedingt wissen wollt: Hermine will überprüfen, inwiefern das Licht des Vollmondes Einfluss auf den Werwolfsfluch hat.“
Harrys Augenbrauen begrüßten sich über der Nasenwurzel, so irritiert war er. „Aber wie will sie das denn überprüfen?“
„Weltreise?“, wiederholte Remus das vorhin genannte Thema. „Hat sie das vor, was ich denke?“
„Um das beantworten zu können“, Severus schmunzelte, „müsste ich Legilimentik anwenden, um herauszufinden, was du denkst.“
Mit Daumen und Zeigefinger einer Hand fuhr sich Remus nachdenklich und deutlich interessiert über die Lippen. „Sie will reisen, um dem Vollmond zu entkommen.“
Harry schüttelte den Kopf. „Das geht doch aber gar nicht.“
„Natürlich geht das“, wiedersprach Remus. Neugierig wandte er sich Severus zu. „Wann hat Hermine das vor?“
„Einen Termin kann ich noch nicht nennen. Von der reinen Idee bis hin zur Umsetzung muss gründlich geplant werden. Ich bin, da mache ich mir nichts vor, überhaupt nicht informiert über die Schnelligkeit heutiger Flugzeuge, was bei diesem Versuch ein wichtigen Punkt darstellt.“
„Wow!“, machte Harry beeindruckt. „Ich bin noch nie im Flugzeug gereist. Darf ich mitkommen?“
Severus’ Augenbrauen schnellten in die Höhe. Es könnte an seinem Slytherin-Verstand liegen, dass er diese Frage gleich in eine geschäftliche Angelegenheit wandelte, denn er ließ verlauten: „Ich bin mir sicher, dass Sponsoren am Experiment teilnehmen dürfen.“
„Sponsoren?“, fragte Harry irritiert nach.
„So ein Flugzeug ist sicherlich nicht preiswert. Es muss gechartert werden, denn man möchte doch keine anderen Passagiere an Bord haben, falls die Verwandlung wie üblich vonstatten gehen sollte.“
Von seinen trüben Gedanken war Remus im Nu befreit. „Das Experiment wird bestimmt interessant werden. Ich bin mit dabei!“
Harry stimmte ein: „Ich auch! Gern auch als Sponsor, aber ich müsste das vorher mit Ginny besprechen.“
„Es ist bisher nur eine Idee, Harry. Wer weiß, vielleicht wird das erst in einem Jahr in Angriff genommen.“
Hoffnungsvoll warf Remus ein. „Mit etwas Glück werdet ihr euch einen anderen Werwolf für das Experiment suchen müssen.“
Es lag Severus fern, Remus’ Hoffnung zu zerstören, aber nichts sprach gegen einen kleinen Dämpfer. „Remus, ich will den Tatsachen ins Auge sehen: Die Chance liegt bei weniger als fünfzig Prozent, dass der gestrige Umtrunk sich positiv auf deine Situation auswirkt.“ Seine Worte sorgten wieder für die Falten auf Remus’ Stirn. „Es tut mir leid, dass ich nicht bestätigen kann, dass sich all deine Sorgen nach dem kommenden Freitag in Wohlgefallen auflösen.“
„Aber hoffen darf ich doch“, entgegnete Remus etwas gereizt, weil seine gute Laune wieder gebremst wurde.
„Sicher.“ Was Hoffnung bedeutete, hatte Severus in den letzten Monaten am eigenen Leib erfahren. Sein Glück war jedoch gewesen, dass aufgrund seiner emotionalen Kälte die Gleichgültigkeit über die Hoffnung gesiegt hatte. Der Rest seiner Seele hätte es leicht verkraften können, wären Hermines Bestrebungen umsonst gewesen. Erst jetzt, nachdem er wieder vollständig war, war er sich darüber im Klaren, was für ihn auf dem Spiel gestanden hatte. Zuviel Hoffnung könnte schädlich sein, was er Remus verinnerlichen wollte, als er sagte: „Vom Gipfel der Hoffnung ist es ein langer Weg bis nach unten, sollte man enttäuscht werden.“

Für die ehrlichen Worte war Remus dankbar. Severus hatte Recht. Würde er fest damit rechnen, sich am Freitag nicht zu verwandeln, würde er noch mehr leiden als sonst. Remus zog seinen Teller wieder heran und kam Severus’ Ratschlag nach, noch etwas zu essen. Er benötigte Energie, damit er am Tag nach der Verwandlung nicht so schwach war.

„Du hast jetzt die Siebtklässler, oder?“, wollte Harry von Severus wissen.
„Korrekt!“
„Wie war deine erste Doppelstunde?“ Selbst Harry als Kollege schien zu ahnen, dass Severus irgendein anstrengendes Projekt mit den Erstklässlern durchgeführt hätte. „Irgendwas gebraut?“
„Nein, ich habe die Schüler eine Art Aufsatz schreiben lassen.“
„Tatsächlich?“
Severus nickte. „Sie sollten ihr vergangenes Schuljahr reflektieren und schriftlich festhalten, was ihnen missfallen hat.“
Mit einem summenden Laut drückte Harry seine Verwunderung aus. „Wir haben nur ein bisschen geredet. War sehr entspannend.“
Geredet hatte er mit seinen Schülern ebenfalls, dachte Severus, und es war sogar erträglich gewesen. „Ich fand die Fragen der Schüler sehr ermüdend“, sagte er entgegen seiner inneren Einstellung. „Außerdem gehörten sie nicht zum Unterricht.“
„Wir haben ausschließlich über Privates gesprochen. Zum Beispiel darüber, was für Berufswünsche der Einzelne hat.“
Severus legte seine Serviette auf den leeren Teller. „Das interessiert dich?“
„Na klar! Ich habe auch ein bisschen gehofft, es wäre ein Beruf mit dabei, der auch mein Interesse wecken könnte.“
„Und? Fündig geworden?“
Harry schüttelte den Kopf. „Ich bin ab Donnerstag dann wohl offiziell Hausmann, bis ich was gefunden habe.“
„Mir würde die Decke auf den Kopf fallen“, ließ Severus verlauten.
„Du hast ja auch kein fast einjähriges Kind, das dich auf Trapp hält.“ Harry lächelte breit. „Einer von uns müsste sowieso noch die nächsten Jahre Zuhause beim Kleinen bleiben und da Ginny demnächst ihr Probespiel bei Eintracht Pfützensee hat, kann ich das auch sein.“
„Jahre?“, fragte Severus verdutzt nach.
„Es gibt hier keine Kindergärten oder Vorschulen, sofern ich unterrichtet bin. Molly hat mir gesagt, dass das Kinderkriegen in der magischen Welt für einen Elternteil bedeutet, immer für die Kinder da sein zu müssen und sie auch zu unterrichten. Schreiben, Rechnen und so weiter. Es sei denn, man organisiert sich mit einem Nachbarn, der auch Kinder hat.“
Irgendwas machte bei Harry Klick, wie Severus es in dessen Augen zu sehen glaubte. „Es ist angenehm, von den Eltern unterrichtet zu werden.“ Bei seiner Mutter hatte Severus gern die Schulbank gedrückt. Nachteile hatte der private Unterricht nie, bis auf die Zeiten, in denen sein Vater arbeitslos war und seine Mutter Geld herbeischaffen musste. Tobias Snape lag lieber angetrunken auf der Couch und schaute Fernsehen, als seinem Sohn etwas mit auf den Lebensweg zu geben, auch wenn es sich dabei nur um einen guten Eindruck von Muggeln handelte.
„Ich überlege, ob ich für Nicholas einen Platz in einem Muggel-Kindergarten klarmache.“
Severus hatte Einwände. „Davon rate ich ab. Stell dir vor, es passiert etwas Seltsames. Wie willst du das erklären? Oder soll jedesmal ein Vergissmich-Team anrücken, um den Fehler deines Jungen wieder rückgängig zu machen?“

Ohne es zu wollen drängten sich Erinnerungen von Harrys Zeit bei den Dursleys in den Vordergrund. Die Glasscheibe, die Dudley von der riesigen Schlange trennte, war eines der wundersamsten Ereignisse gewesen, mit denen Harry zurechtkommen musste. Von Hermine wusste er, dass deren Eltern eine Zeit lang geglaubt hätten, ihre Tochter würde übersinnliche Fähigkeiten besitzen. Für Harry war die Gesamtsituation sehr verwirrend gewesen. Niemand hatte ihm gesagt, er wäre normal. Das Gegenteil war der Fall gewesen.

„Das kann doch auch bei Muggelgeborenen passieren, dass im Kindergarten oder der Schule was passiert. Bei mir …“ Weitere Erinnerungen aus seiner Grundschulzeit blitzten auf. Ein Pudding, der ohne ersichtlichen Grund von Piers Polkiss’ Essenstablett gefallen war. Der Stuhl von dem arroganten Mathematiklehrer Mr. Lawrence, der in dem Moment von selbst zur Seite gerutscht war, als er sich setzen wollte. Der Apfelbaum im Schulhof, der seine Früchte über Dudley und seinen drei Freunden fallen ließ.
Severus verstand, obwohl Harry keines der Beispiele laut genannt hatte. „Bei dir sind auch einige Dinge vorgefallen.“
„Ja“, gab Harry zu. „Und wenn ich Seamus, Hermine und all den anderen glauben darf, die ebenfalls in den ersten Jahren in der Muggelwelt zur Schule gingen …“ Harry hob eine Augenbraue.
Severus zuckte gelassen mit den Schultern. „Das wird man nicht ändern können.“
„Warum werden die Eltern eigentlich erst so spät darüber informiert, dass ihr Kind zaubern kann?“
„Ich …“ Severus überlegte. Ihm fiel kein triftiger Grund ein, warum das so gehandhabt wurde. An Harry vorbei schaute er zu Albus. „Am besten fragst du unseren Schulleiter. Der wird es wissen.“
„Später, die Pause ist gleich vorbei.“ Harry leerte noch seinen Becher mit Kürbissaft. „Was hast du jetzt mit deinen Siebtklässlern vor?“
„Das Gleiche wie mit den Erstklässlern.“ Ihm lag daran, heute und morgen seine Ruhe zu haben.
„Ihr könntet doch auch ein bisschen miteinander reden“, schlug Harry vor.
„Ich sagte vorhin bereits, dass ich die Auseinandersetzung mit meinen Schülern ermüdend fand. Diese ständige Fragerei …“ Severus biss sich auf die Zunge, um keine bösen Worte zu verlieren.
„Mich stört es überhaupt nicht, wenn die Schüler mir Fragen stellen.“
Harrys Aussage machte Severus skeptisch. „Nicht ein bisschen?“
„Ist das nicht die Aufgabe eines Lehrers, Fragen zu beantworten?“, stichelte Harry mutig.

Die Schüler brachen bereits zu ihren Klassen auf. Severus verabschiedete sich von Remus und Harry, um sich der Siebtklässler anzunehmen. Auf seinem Weg in die Kerker traf er auf Miss Clavick, die ihn mit ihrer penetranten Art das ganze Schuljahr über belästigt hatte. Irgendeinen Preis musste es ja haben, Klassenbeste zu sein. Es war ihm unverständlich, dass sie nicht auch Harry auf den Geist ging. Vielleicht könnte man da ein wenig nachhelfen.

„Miss Clavick?“
„Ja, Sir?“
„Sie sind auf dem Weg zu Professor Potter?“ Sie nickte. „Würden Sie mir einen Gefallen erweisen?“
„Was für einen, Sir?“, fragte Miss Clavick zuvorkommend.
„Sie stellen gern und oft Fragen“, läutete er seine Bitte ein. Sie lauschte aufmerksam. „Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Professor Potter heute unter Dauerfeuer nehmen würden. Stellen Sie ihm Fragen.“ Ein hämisches Grinsen zierte sein Gesicht. „Viele Fragen.“
Skeptisch kniff sie die Augen zusammen. „Darf ich wissen, warum?“
Schon begann sie damit, der Sache auf den Grund gehen zu wollen. „Ein Scherz“, sollte als Antwort reichen, dachte er.
Unschuldige Augen blickten zu ihm auf. „Bekomme ich für den Gefallen etwas?“
Mit dieser Frage hatte er nicht gerechnet. „Wenn ich Ihnen dafür etwas geben würde, wäre es kein Gefallen mehr, sondern eine Dienstleistung.“
Ihre Augen funkelten frech. „Ich glaube, jetzt verstehen wir uns.“
„Miss Clavick!“ Er täuschte Entrüstung vor. „Warum sind Sie mit dieser Einstellung nicht in Slytherin gelandet?“ Die Schülerin lachte über seinen Kommentar, womit sie ihm auf der Stelle ein bisschen sympathischer wurde. „Reichen zehn Hauspunkte?“
Sie hielt ihm ihre Hand entgegen, die er ergriff. Miss Clavick schüttelte die seine. „Abgemacht!“

Der Schultag blieb ohne Störungen. Jeder Schüler, jeder Lehrer und sogar die Geister im Schloss hofften, dass dies bis zum letzten Tag so bleiben würde. Nur Peeves machte sich einen Spaß daraus, die vorüberziehenden Menschen mit dem Inhalt eines Papierkorbes zu bewerfen. Das Abendessen in der Großen Halle strich Severus, doch im Eingangsbereich konnte er ein Gespräch zwischen Harry und Remus verfolgen. Severus kam in den Genuss zu erfahren, dass Harry von der zweiten Unterrichtsstunde der Kopf qualmte, weil eine bestimmte Schülerin – so erzählte Harry es Remus – ihn mit Fragen bombardiert hätte. Niemanden fiel auf, dass das Stundenglas von Gryffindor zehn Punkte mehr aufwies.

Die Kerker.

Die dunklen, kalten, leblosen Gänge erinnerten Severus an sein Innerstes – an das Ich, das er für über zwei Jahrzehnte verkörpert hatte. Als Fremder betrat er sein Büro, welches ihm auf eigentümliche Weise vertraut war. Ein Schauer lief ihm über den Rücken, als er sich der unwirtlichen Umgebung bewusst wurde. Es war, als wollte der Raum ihn verdrängen, ihm den Zutritt verwehren, weil er nicht mehr derselbe war, der hier gehaust hatte. Mit einem Zauber entzündete Severus sämtliche Fackeln und Kerzen im Raum, doch es blieb unbehaglich. Einen Ort zu betreten, von dem man wusste, dass er bald nicht mehr das Zuhause darstellen würde, löste ein schwer zu beschreibendes Gefühl aus. Er verspürte ein leichtes Ziehen in der Brust. Es war keine Wehmut, sondern das Sträuben, das man immer fühlte, wenn man eine alte Gewohnheit ablegen sollte. Die Apotheke war jetzt schon sein neues Heim. Der Abschied von den Kerkern sollte nicht ganz so schwer fallen. Severus blickte sich um. Seine bescheidenen Habseligkeiten befanden sich überwiegend in der Winkelgasse. Die Schränke waren bereits leer, die Bücherregale geräumt. In seiner Großzügigkeit hatte Albus ihm ein paar der Möbel überlassen, die ihren neuen Platz im Labor der Apotheke gefunden hatten. Hier, in diesem Loch, hielt ihn nichts mehr. Einzig die Gläser in den Regalwänden, in denen schleimige Kreaturen eingelegt waren, warteten noch auf ihren Ortswechsel. Lange hatte Severus nach einem Zauberspruch gesucht, der diese seltenen und teilweise unbekannten Kreaturen keinesfalls beschädigen würde, sollte er sie verkleinern. In einer stabilen, gepolsterten Kiste verstaute er die Glaskolben. Bald, dachte er, würde er endlich Zeit finden, diese Dinge zu analysieren, anstatt sie nur tag ein, tag aus anzustarren.

Nach getaner Arbeit schweifte sein Blick durch den leeren Raum. Nur noch eine Sache: die Geheimverstecke. In ihnen lagen die wenige Schmuckstücke seiner Mutter, eine Besitzurkunde für ein Grundstück, das er nie gesehen hatte, bestätigte Patentanmeldungen, seine Urkunde, die belegte, dass er ein vom Ministerium geprüfter Zaubertränkemeister war und – zu seinem Leidwesen – auch auf Papier gebrachte Projekte, für deren Forschung er jetzt schon mit einem Bein in Askaban stand. Severus überlegte nicht lang und verbrannte zwei seiner Theorien, um sich und sein neues Leben, vor allem aber Hermine, nicht zu gefährden. Er fand im vierten Versteck seine Geburtsurkunde und nahm sich die Zeit, sie aufmerksam zu lesen, wie er es schon viele Male getan hatte, wenn er an diesem Geheimfach zugange war. Ein alter Umschlag fiel ihm in die Hände. Der Brief von Lily, in welchem sie ihm von ihrer Schwangerschaft berichtete. Beinahe wäre auch er dem Feuer zum Opfer gefallen, doch im Bruchteil einer Sekunde entschied er sich um und legte ihn wahllos zwischen seine Patentanmeldungen.

Severus löschte in seinen Räumen das Licht, nahm die Kiste und ging zum Kamin hinüber, als er plötzlich das Gefühl hatte, von einer eiskalten Hand an der Schulter gepackt zu werden. Diese Hand gehörte dem Gedanken an das fünfte Versteck. Langsam setzte er die Kiste auf dem Boden ab, bevor er sich drehte und an die Decke schaute. Trotz der Dunkelheit wusste er genau, wo sich der Stein befand, hinter dem er jene Dinge aufbewahrte, mit denen er sich nicht mehr beschäftigen wollte.

Wie paralysiert starrte Severus auf den Stein, hinter dem sich vierhundert Milliliter seiner Erinnerungen verbargen. Er könnte sie ignorieren, sie hier lassen und vergessen. Eines Tages, wenn Hogwarts in tausenden von Jahren altersschwach in sich zusammenfallen würde, wären auch sie begraben. Die Überlegung, dass ein Teil von ihm zurückbleiben und ihn überleben würde, ließ eine bizarre Unruhe in ihm aufkommen. So lange hatte er darauf gewartet, wieder komplett zu sein. Es stünde im Wiederspruch, sich jetzt eines Lebensabschnittes zu entledigen, obwohl diese Erinnerungen genauso zu ihm gehörten wie seine Seele. Eine andere Möglichkeit wäre, sie mitzunehmen und im Keller der Apotheke einen kleinen Hohlraum zu schaffen, in der er sie einmauern konnte. Sie wären näher bei ihm, weiterhin von ihm getrennt.

Tief durchatmend löste sich Severus aus seiner Starre. Er zog seinen Zauberstab und richtete ihn auf den Stein an der Decke, um die Abwehrzauber zu entfernen. Gleich darauf sagte er den Spruch, der den Stein aus der Decke löste. Das silberne Licht ließ die Schatten der Vergangenheit an den finsteren Wänden tanzen. Schwebend senkte sich der Stein, bis die Phiole auf ihm sichtbar war. Das kalte Leuchten war ähnlich der Luciferine, die den Gespenstischen Steinregen glimmen ließen, wie von biolumineszenten Naturstoffen, wie manche Drachenfische sie herstellten. An einem pechschwarzen Ort wie diesem wurden durch das Flimmern der Erinnerungen Geister geweckt. Severus hatte Angst, nach der Phiole zu greifen.

In seinem Kopf existierten die Erinnerungen an damals nur als Echo. Ihre emotionale Kraft hatten sie durch die abgesonderten Dubletten, die seit zwei Jahrzehnten in der Phiole abgelegt waren, eingebüßt. Allein der geschwächte Nachhall ließ die Furcht in ihm aufkommen, diesen Teil seiner selbst nicht ertragen zu können. Sein sonst vernunftbegabtes Wesen war von einer sonderbaren Befangenheit gelähmt, sein Körper wie versteinert. Er hörte Stimmen; die von Lucius war dabei. Sie echoten in seinem Kopf und ertönten gleichermaßen aus der Phiole, riefen nach Vereinigung. Seine Vorstellungsgabe schenkte den Stimmen körperliche Wesen. Jeder einzelne Nerv war sensibilisiert und rief Gefühle wach, die sich in Täuschungen manifestierten. Severus spürte Lilys Atem an seinem Hals, fühlte ihr Kind an seinem Hosenbein zupfen. Vor ihr, ihrem Trugbild, wollte er sich nicht als Feigling zeigen. Severus atmete tief durch und griff zu, brach damit den Mystizismus, den die Phiole aufrechterhalten wollte. Der Zauber war gebrochen. Mutig betrachtete er in seiner Handfläche die leuchtende Flüssigkeit, die seine schwersten Erfahrungen und Entscheidungen beherbergten. Das Vergangene ebnete den Weg in die Zukunft. Nur mit ihr wäre Severus bereit für ein neues Leben.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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221 Adieu




„Was liest du denn da?“, fragte Hermine, als Severus abends im Wohnzimmer einen Stapel Pergamente in der Hand hielt, die ihn zu faszinieren schienen.
Er blickte auf. „Das sind heutigen Aufgaben der Schüler.“
„Du gibt ihnen tatsächlich Hausaufgaben auf, wo doch übermorgen die Ferien beginnen?“
„Wer sagt denn was von Hausaufgaben?“, entgegnete er gelassen. „Die Schüler sollten Verbesserungsvorschläge zum Unterricht machen.“

Hermines Neugierde war geweckt. Sie setzte sich neben ihn und machte den Hals lang, um auf das Pergament schauen zu können. Sie las irgendwas mit dem Wort „doof“, doch Severus blätterte weiter.

„Und? Gab es Beschwerden?“, wollte sie wissen.
„Nicht direkt.“ Severus blätterte in den Pergamenten und zog eines hinaus, das er ihr entgegenhielt. „Damit kann man etwas anfangen. Verbesserungsvorschläge, die man durchaus umsetzen kann.“
Hermine las den Anfang laut vor. „Nun trag ich schon eine Brille“, stand dort in krakeliger Handschrift, „und trotzdem greife ich zur falschen Zutat. In den Kerkern ist es viel zu dunkel. Ich wünschte, der Klasseraum hätte Fenster.“ Hermine nickte und gab ihre eigene Meinung dazu. „Der Schüler hat Recht, Severus. Es ist schummerig da unten. Ich weiß nicht, wie es den Brillenträgern in meiner Klasse erging“, sie dachte an Harry, „aber wenn du nicht so ein strenger Lehrer gewesen wärst, wäre ich bestimmt auch mal eingenickt.“
„Ich bin doch nicht streng“, hielt er dagegen und erntete dafür von Hermine einen ungläubigen Blick. Das Thema ließ Severus schnell fallen. „Es ist für viele der Zutaten wichtig, dass sie im Dunkeln gelagert werden.“
Hermine nickte. „Das können sie auch im dritten Stock. Es gibt im Schloss genügend Kammern ohne Fenster, wo sie gelagert werden können.“ Sie überflog den Rest des Pergaments und fragte: „Gab es noch interessantere Vorschläge? Was war das davor? Irgendjemand schrieb ‚doof‘.“ Severus schnaufte, suchte trotzdem entsprechendes Pergament heraus und zeigte es ihr. Sie las laut: „Ich find’s doof, dass man immer Angst haben muss, wenn man sich meldet. Ich trau mich schon gar nicht mehr, irgendwas zu sagen und halt lieber den Mund.“ Hermine schaute auf die obere Seite des Pergaments. „Es steht kein Name drauf.“
„Anhand der Schrift und des Ausdrucks weiß ich, wer sich hier als anonymer Kritiker versucht.“
„Und wer ist es?“
„Das ist irrelevant“, entgegnete er. „Der Schüler hat eines Tages die aktive Teilnahme am Unterricht eingestellt und hat nur noch Antworten gegeben, wenn ich ihn aufgerufen habe.“
„Kannst du dich noch daran erinnern, was für ein Vorfall dem vorausging?“
Severus blätterte in den Pergamenten und fand das, welches er gesucht hatte. „Das hier könnte der Grund sein. Eine Schülerin schreibt etwas Ähnliches.“

Sie las, diesmal leise in Gedanken: ‚Für einen Schüler ist es schon peinlich genug, eine falsche Antwort zu geben. Unerträglich wird es aber, wenn so ein Fehler vom Lehrer mehr als einmal unter die Nase gerieben wird. Das fördert weder die Lust am Lernen noch ist das Ansporn, weiterhin am Unterricht teilzunehmen. In pädagogischer Hinsicht sollte ein Lehrer immer daran denken, einen Schüler zu motivieren.‘

Hermine stutzte. „Wer hat denn das geschrieben? Ein Siebtklässler?“
„Nein, das war von Miss Clavick, einer Erstklässlerin.“
„Hört sich ganz schön hochgestochen an.“
„Sie stellt so etwas wie ein kleines Gegenstück zu dir dar.“
Hermines Augenbrauen schossen in die Höhe. „Sowas wie mich gibt es nochmal?“
„Ja, leider“, murmelte er mit einem frechen Grinsen auf den Lippen, womit er Hermine ansteckte. Als er an den Gefallen dachte, den Miss Clavick ihm erwiesen hatte, sagte er: „Ich habe heute übrigens eine sehr interessante Sache erfahren.“
„So?“ Aufmerksam hörte Hermine zu.
„Gryffindors sind käuflich“, behauptete er unvorhergesehen.
„Unsinn, das glaube ich nicht.“
„Wenn ich es dir sage. Für ein paar Hauspunkte tut ihr doch alles“, wurde er jetzt auf neckische Art und Weise persönlich.
„Das ist üble Nachrede, Professor Snape! Ich für meinen Teil war immer durch und durch unbestechlich gewesen – und ich bin es noch.“
Er spielte mit und verwendete die höfliche Anrede. „Ist das so, Miss Granger?“
„Ich kenne keinen Gryffindor, der käuflich wäre.“ Ihr fiel tatsächlich niemand ein.
„Nun, besagte Schülerin nahm zehn Hauspunkte, um Professor Potter einen Streich nach meinen Anweisungen zu spielen.“
„Dann“, Hermine hob einen Zeigefinger, „war das ein Geschäft und keine Korruption.“
„Das würde ich an deiner Stelle jetzt auch behaupten.“

Sie stieß ihn leicht mit dem Ellenbogen an, was er mit einem schiefen Lächeln kommentierte. Trotzdem Hermine sichtlich müde war, was er natürlich bemerkte, war sie äußerst gut gelaunt.

„Hast du, wie du es vorhattest, mit Neville gesprochen?“, fragte er nach, denn womöglich war das der Grund für ihre gute Laune.
„Ja“, bestätigte sie lächelnd. „Er hat sich wieder gefangen, ist trotzdem noch hin und weg. Pomona hat ihm freigegeben, aber am Mittwoch will er kommen und die Schüler verabschieden. Er kann es gar nicht erwarten, dass bald Ferien sind.“
„Und wie stand es heute um die Longbottoms?“
„Sie werden eine Therapie bekommen. Was das Elixier nämlich nicht geheilt hat sind die verkümmerten Muskeln und die“, Hermine verkrümmte die Finger ihrer Hand, „spastischen Haltungen der Gliedmaßen.“
„Ich nehme an, weil diese Muskeln unbeschädigt waren, genauso wie die Sehnen und alles andere.“
„Das habe ich auch sofort vermutet. Das Elixier kümmert sich offenbar wirklich nur um Beschädigungen des Körpers. Die Muskeln sind vorhanden, sie müssen nur wieder aufgebaut werden.“ Sie seufzte. „Ich werde sie am Wochenende besuchen.“ Nach einer kurzen Pause fragte sie: „Wenn du mitkommen möchtest …?“
„Das wäre keine gute Idee. Frank Longbottom hat nie viel von mir gehalten, hat mich immer nur der übelsten Machenschaften verdächtigt.“
„Früher oder später werdet ihr euch bestimmt mal über den Weg laufen.“
Severus hob und senkte seine Schultern. „Dann lieber später, wenn ihn jemand über sämtliche Ereignisse aufgeklärt hat.“
„Harry hat sich bereiterklärt, den beiden alles über den vergangenen Krieg zu berichten, inklusive …“
Weil sie innehielt, sprach Severus es aus. „Inklusive Lily und James.“
„Ja.“
„Wie ich Harry kenne, wird er im gleichen Atemzug auch meine Rolle im Krieg offenlegen.“
Hermine stimmte Severus zu. „Das wäre nicht falsch, wenn er es macht.“ Mit den Fingern einer Hand fuhr sich Hermine nachdenklich über die Lippen, bis sie plötzlich zusammenzuckte. „Ach, das hab ich dir ja noch gar nicht erzählt!“ Hermine sprang von der Couch und griff zur Zeitung, die an einer Ecke des Couchtisches lag. „Irgendein Presse-Fuzzi hat was über die Longbottoms geschrieben. Die lungerten gestern auf der Station rum und wurden auch prompt rausgeschmissen.“ Hermine schlug eine Seite auf und hielt sie ihm vor die Nase. „Hier! Wenn man den kleinen Artikel liest, dann weiß man, dass die keinen blassen Schimmer haben, was da wirklich passiert ist.“

Die Artikelüberschrift lautete „Fragwürdige Experimente im Mungos?“. Die zweite Überschrift, die die erste auf magische Weise ablöste, lautete „Komapatienten nach über 20 Jahren erwacht“.

„Sie litten an einer Bewusstseinsstörung infolge von geschädigten Nerven und lagen nicht im Koma“, verbesserte Severus den abwesenden Journalisten. Den Artikel las er in Windeseile. „Was für ein Unsinn!“ Die Zeitung warf er zurück auf den Couchtisch. „Es ist klar, warum dem Verleger für die Story nicht mal die erste Seite wert war. Der Artikel quillt über vor Vermutungen und hanebüchenen Laien-Erklärungen.“
„Luna hat gesagt, sie wird über Nevilles Eltern schreiben. Sozusagen prophylaktisch, damit später kaum jemand Fragen stellen wird, wenn Frank und Alice eines Tages wieder ein normales Leben führen.“
„Als was wird die Genesung der beiden im Mungos bezeichnet?“, wollte Severus wissen.
„Bisher noch als Wunder“, erwiderte Hermine mit ernstem Gesichtsausdruck. „Niemand sollte etwas anderes denken.“
„Von mir erfährt man nichts“, versicherte Severus.
„Hast du eigentlich gewusst, was Harry mit dem Elixier vorhat?“
Severus schüttelte den Kopf. „Er hat kein Wort darüber verloren, nur dass es eine Überraschung werden soll.“
„Warum hast du das Elixier überhaupt hergestellt?“
Ihre Frage kam überraschend. Severus war der Meinung, die Antwort würde auf der Hand liegen. „Er hat mich darum gebeten.“
Sie schnaufte. „Und wenn er von dir verlangen würde, einen Trank herzustellen, mit dem er üble Dinge anstellen könnte?“
„Dann würde ich es tun“, warf Severus selbstsicher ein.
„Ich höre wohl nicht recht!“
„Hermine, du scheinst nicht zu verstehen. Wenn er einen Trank benötigen würde, wie du ihn als Beispiel angeführt hast, würde ich mir bei Harry keine Sorgen machen. Er ist nicht der Typ für bösartige Pläne oder hinterhältige Machenschaften.“
„Aber …?“
„Ich war noch nicht fertig“, unterbrach er. Hermine verzog den Mund, blieb aber still und hörte zu, als Severus seine Ansichten erläuterte. „Er stand in einem Augenblick zu mir“, seine Stimme wurde ernst, „als ich nicht damit gerechnet habe.“ Severus ließ eine kurze Pause, damit sie selbst darauf kommen würde, dass er die Ordensverleihung und Harrys Rede meinte. „Des Weiteren hat Harry bisher mit traumtänzerischer Sicherheit immer das Richtige getan.“
Bei seinen Worten musste sie lächeln, weil sie Harry so gut beschrieben. „Wirst du ihm das mal sagen?“
„Bist du wahnsinnig?“, fragte er vorgetäuscht erbost. „Der Junge bekommt sonst noch einen Höhenflug.“
Jetzt musste Hermine grinsen, war dennoch von der Tatsache, dass Harry mit Severus’ Hilfe das Elixier erstellt und verteilt hat, nicht sehr angetan. „Trotzdem war es falsch“, wollte sie Severus weismachen.
„Hat sich bisher irgendjemand darüber beschwert?“
„Nein, weil die meisten gar nicht wissen, was mit ihnen passiert ist. Außerdem hatte nicht jeder Narben, an denen es ersichtlich war, was sie da zu sich genommen haben.“
„Korrekt“, stimmte er zu. „Zudem wird niemand bemerken, dass er dank Harrys Großzügigkeit ganze zwanzig Jahre länger leben wird.“
Hermine fielen beinahe die Augen heraus. „Moment … Zwanzig Jahre? Heißt das, wir alle werden wegen des Tranks älter werden als das Schicksal es für uns vorgesehen hat?“
„Du vergisst, dass das Elixier des Lebens einen Teil des Schicksals darstellt.“
„Unterlass bitte die philosophische Erbsenzählerei!“
„Ich jedenfalls bin froh“, läutete er das Ende der Diskussion ein, „zwanzig Jahre zusätzlich zu haben, die ich“, er blickte sie an, „vorzugsweise mit dir verbringen möchte.“
Mit einem Male war ihr Hundeblick wieder da, mit dem sie sich für ihre vorhergehenden Worte entschuldigen wollte. „Was kann ich dazu noch sagen?“, fragte sie hin und her gerissen.
Severus spitzte die Lippen und überlegte, bevor er kurzerhand vorschlug: „Juhu?“
Sie lächelte und wiederholte: „Juhu.“
„Etwas enthusiastischer bitte.“
Hermine wedelte mit den Armen. „Juhu!“
„Na bitte, geht doch“, kommentierte er ihren Versuch, Freude auszudrücken. „Ich werde versuchen, morgen die letzten beiden Unterrichtsstunden ausfallen zu lassen. Die Schüler werden sicher nichts dagegen haben und Albus auch nicht.“
„Das wäre schön, wenn du früher hier wärst.“ Den Wolfsbanntrank könnte Hermine gar nicht mehr allein brauen. Es gab zu viele Anfragen. „Wollen wir ins Bett gehen?“
Er schaute auf die Uhr. „Schon?“ Es war gerade mal halb zwölf durch.
„Ich bin müde. Morgen werde ich schon um sechs aufstehen und mit der Arbeit beginnen.“
„Dann werde ich dir Gesellschaft leisten.“

Wie versprochen stand Severus am nächsten Morgen zusammen mit Hermine auf, um die Vorbereitungen für den ersten großen Kessel Wolfsbanntrank zu treffen.

Kurz vor Unterrichtsbeginn flohte Severus in sein Büro, um die Klasse aufzusuchen. Heute waren die Zweitklässler dran. Er spielte mit der Überlegung, diesen Schülern die gleiche Aufgabe zu geben wie den Erstklässlern.

Der Artikel im Tagesprophet, der von fragwürdigen Experimenten im Mungos sprach, ging bei den Lesern unter. Nur Arthur Weasley, der in seinem Büro des Zaubereiministeriums die Medien durchforstete, wusste genau, um was es sich handelte. Erst gestern hatte Augusta Longbottom ihn über das Wunder unterrichtet. Frank und Alice waren Klassenkameraden gewesen. Es hatte ihm im Herzen wehgetan, sie auf der Hochzeitsfeier seiner Tochter zu sehen. Zwei einst so lebendige Menschen, die durch Bellatrix Lestrange zum Pflegefall wurden. Augusta Longbottom teilte ihm mit, dass Frank zwei bestimmte Menschen gern sehen würde. Dabei handelte es sich um ihn selbst – und um Alastor Moody. Bei letzterem hatte Frank seine Ausbildung zum Auror gerade mal abgeschlossen, als sie von Todessern überfallen wurden.

Es klopfte an der Bürotür.

Arthur blickte auf. „Herein!“
Wie geahnt öffnete Alastor die Tür. Sein magisches Auge rollte hin und her. „Bereit, Arthur?“ Selten konnte man erleben, dass Alastor aufgeregt war, doch dieses Mal machte der Auror im Ruhestand keinen Hehl daraus. Seine Hände glätteten unruhig den Umhang, das echte Auge blinzelte nervös.
Arthur klappte eine Mappe zusammen und stand auf. „Ich bin fertig.“ Er deutet auf den Kamin. „Nach dir.“
„Nein, geh du schon vor“, bat Alastor ungewohnt befangen.
Am Kamin kamen beide Männer zusammen. „Alastor, alles in Ordnung?“
„Ja, ja“, sagte der alte Zauberer zügig. „Geh schon.“
Arthur nahm eine Handvoll Flohpulver und betrat den Kamin. „St.-Mungo-Hospital für Magische Krankheiten und Verletzungen.“ Er schleuderte das Pulver in den Kamin und verschwand in einer grünen Wolke.

Alastor atmete tief durch. Die Nachricht von der plötzlichen Genesung von Alice und Frank Longbottom hatte ihn sehr erfreut. Seine Freude verwandelte sich in Unsicherheit, als Arthur ihm mitteilte, dass Frank nach ihm fragte. Es schwang die Angst mit, nicht mehr dem alten Freund gegenüberzustehen, sondern einen fremden Menschen. Alastor schüttelte den Kopf, wollte damit jedes Zögern von sich weisen. Er folgte Arthur zwei Minuten später ins Mungos.

Als Alastor im Eingangsbereich des Mungos ankam, fiel sein Blick auf Arthur, der mit einer Schwester sprach. Das Geräusch des Kamins hatte Arthur auf seinen Freund aufmerksam gemacht. Er bedankte sich bei der Schwester und kam auf Alastor zu.

„Auf der Janus-Thickey-Station müssen wir uns nur ausweisen und dann können wir rein“, klärte er Alastor mit fröhlichem Gesichtsausdruck auf. Alastor hingegen schien eine Laus über die Leber gelaufen zu sein. „Alastor“, begann Arthur mit seiner ruhigen Art, „wenn dir das zu viel ist, dann …“
„Ich werde wohl einem alten Freund nicht den Wunsch abschlagen, mich nach so langer Zeit wiederzusehen“, unterbrach er. „Gehen wir.“

Im Zimmer der Longbottoms sah sich Augusta zusammen mit Alice ein Fotoalbum von damals an. Alice hatte den Wunsch geäußert, auf einem Stuhl zu sitzen, aber weil ihre Muskeln noch nicht auf ihre Kommandos hörten, war der einzige Stuhl, auf dem sie Halt fand, ein Rollstuhl. Das Album, das sie sich ansah, war beinahe wie ein Katalog mit Freunden, denn immer wieder zeigte sie auf eine Person und sagte, dass sie denjenigen gern wiedersehen wollte. Augusta nickte jedesmal, selbst als Alice auf Lily zeigte. Noch hatte es niemand übers Herz gebracht, die beiden über die unschönen Momente der Vergangenheit zu informieren. Es wäre zu früh, würde zu sehr aufregen, hatte Miriam Strout gesagt. Alles zu seiner Zeit.

Bei Frank am Bett saßen Neville und Luna. Der Kontakt verlief ein wenig holprig, obwohl der Vater wie auch der Sohn alles dafür taten, ein Gefühl der Vertrautheit aufkommen zu lassen. Es fiel schwer. Der kleine Junge, an den sich Frank erinnerte, war ganz anders gewesen als der junge Mann, der ihm gegenübersaß. Nur eines zeigte, dass sie verwandt waren. Frank machte deutlich, was das war.

„Du hast das Gesicht deiner Mutter.“ Neville lächelte. Das war genau das, was er von seinem Vater hören wollte. „Spielst du Quidditch?“
„Ich, ähm“, Neville wollte keine Enttäuschung sein, kam daher ins Stottern, „ich bin nicht besonders gut auf dem Besen.“
„Das macht doch nicht“, versicherte sein Vater. „Womit beschäftigst du dich? Was ist dein Gebiet?“
„Ich mache meinen Meister in Kräuterkunde“, verkündete er stolz und fügte schnell hinzu, „bei Professor Sprout.“
„Kräuterkunde? Das war überhaupt nicht mein Fach.“ Weil sein Sohn geknickt schien, offenbarte Frank: „Das scheinst du auch von deiner Mutter zu haben.“
„Was?“, hörte man vom Tisch am Fenster. Alice hatte den letzten Satz gehört.
„Neville macht seinen Meister in Kräuterkunde“, wiederholte Frank für seine Frau, die daraufhin breit zu lächeln begann.
„Oh, das hätte ich auch gern gemacht.“ Ein Hauch Bedauern war herauszuhören.
Frank wandte sich wieder seinem Sohn zu. Die vielen Fragen, die ihm auf dem Herzen lagen, würde er sowieso nicht an einem Tag stellen können. Er ging es langsam an. „Wie war deine Schulzeit? Hattest du Schwierigkeiten?“

Nevilles Wangen wurden rot. Spätestens jetzt wäre er eine Enttäuschung, würde er zugeben, dass er in Zaubertränken mies gewesen war oder dass er manchmal zum Gespött seiner Mitschüler wurde.

„Ich, ich …“ Innerlich schalt sich Neville. Er war immerhin in Gryffindor gewesen.
„Wer war dein Hauslehrer gewesen?“, lenkte sein Vater ihn ab.
„Professor McGonagall.“
„Tatsächlich? Das ist wunderbar!“ Nach all den Jahren gab es doch noch Dinge, die genauso waren wie früher. „Und Dumbledore?“
„War der Direktor.“
Die Lage entspannte sich für Frank sichtlich. Er war in eine Welt zurückgekommen, die ihm nicht allzu unbekannt war. „Wunderbar … War Professor Slughorn auch dein Lehrer für Zaubertränke?“
„Nein, das war Professor Snape.“
Diese Information zu verarbeiten verlangte eine Menge von Frank ab, bevor er nachfragen konnte: „Severus Snape?“
„Ja, warum?“

Neville wusste nicht, wie sein Vater damals zu Snape gestanden hatte. Aus einem Bauchgefühl heraus vermutete er, dass die Beziehung ähnlich schwierig gewesen war wie die von Harrys Vater.

„Wieso hat Dumbledore so jemanden als Lehrer eingestellt?“, murmelte Frank verständnislos.
„Da fragst du Professor Dumbledore vielleicht lieber selbst.“
„Ja, das würde ich gern. Ist er noch immer Schuldirektor?“
Neville nickte. „Das wird er auch noch eine ganze Weile bleiben.“

Als es an der Tür zum Krankenzimmer klopfte, stand Augusta von ihrem Stuhl auf. Kathleen sagte ihr, dass Arthur Weasley und Alastor Moody hier wären. Zunächst warnte sie Frank und Alice vor, dass Besuch kommen würde – vor allem auch, wer gleich eintreten würde –, bevor sie beide hineinbat.

„Arthur!“, grüßte Alice mit freundlichem Lächeln. „Es ist schön, dich zu sehen.“
„Alice, meine Gute.“
Nach Arthur trat Alastor ein, der sich unsicher umblickte. Es war ihm leichter gefallen, mit den beiden natürlich umzugehen, als sie nicht ansprechbar waren. „Alastor“, hörte er Frank sagen, woraufhin er sich dem Bett zuwandte. „Du meine Güte, was ist mit deinem Gesicht passiert?“
„Ha, du müsstest mal den anderen sehen“, konterte Alastor plötzlich wieder gut gelaunt.
Luna nahm Nevilles Hand und stand von dem Stuhl auf, der neben Franks Bett stand. „Wir beide werden jetzt in die Cafeteria gehen.“
„Aber …“

Neville konnte keine Widerrede leisten, denn Luna zog ihn einfach hinter sich her. Das Krankenzimmer wäre mit fünf Besuchern auf einmal völlig überfüllt. Auf diese Weise konnten Nevilles Eltern nicht überlastet werden. Augusta blieb ruhig am Tisch sitzen. Sie hatte das Fotoalbum beiseite gelegt und nahm ihr Strickzeug aus der roten Handtasche. Ihr war es angenehm, einfach nur im Zimmer mit ihrem Sohn und der Schwiegertochter zu bleiben, ihre Stimmen zu hören. Die Unterhaltung führten die vier allein.

Alice blickte Arthur fröhlich an. „Arthur, sag, was hast du in deinem Leben sonst noch geschafft, außer gerade Zaubereiminister zu werden?“
Bei diesem Punkt warf Frank ein: „Du als Minister! Damit wirst du einigen Leuten wohl das Leben schwermachen.“
Arthur lachte auf. „Das ist schon passiert, Frank.“ Er schaute zu Alice und visierte den freien Platz neben ihr an. „Ansonsten wird es euch nicht überraschen, dass Molly und ich für etwas Nachwuchs gesorgt haben.“
„Habt ihr euch den Wunsch erfüllt und eine Tochter in die Welt gesetzt?“, wollte Alice wissen.
„Ja, am Ende hat es doch noch geklappt. Allerdings“, Arthur schmunzelte, „benötigten wir dafür einige Anläufe.“
„Wie viele?“, fragte Alice mit glänzenden Augen nach.
„Beim siebten Mal kam die Tochter.“
Alice’ Augen wurden ganz groß. „Sieben?“
Arthur setzte sich auf den freien Stuhl. „Ja, sechs Buben und die kleine Ginevra.“ Arthur lachte über seine eigene Bezeichnung, denn klein war Ginny bestimmt nicht mehr. „Sie ist übrigens ganz frisch mit Harry verheiratet.“
„Mit Lilys Harry?“
Nur für einen winzigen Augenblick flackerte das Lächeln auf Arthurs’ Gesicht, bevor er sich einen Ruck gab und antwortete: „Mit Harry Potter, ja.“
„Sechs Söhne und eine Tochter?“, wiederholte Frank ungläubig.
„Ihr werdet sie sicherlich nach und nach kennenlernen, Frank.“
„Kennt Neville alle?“
Arthur nickte Frank zu. „Meinen Jüngsten kennt er wohl am besten, sind immerhin im gleichen Haus und im gleichen Jahrgang gewesen.“

Für Frank war es eine Erleichterung zu erfahren, dass sein Sohn nicht einsam gewesen war. Neville hatte Freunde, wie Frank erfuhr – und das waren die Kinder seiner Freunde.

Niemand überschlug sich. Während Arthur in Ruhe mit Alice sprach und all ihre Fragen gewissenhaft beantwortete, stillte Alastor den Wissensdurst von Frank.

„Wie sieht es in der Aurorenzentrale aus? Wer leitet das Büro jetzt?“, wollte Frank wissen.
„Kingsley Shacklebolt“, war die knappe Antwort.
Der Name sagte Frank etwas. „Der breite Kerl, der nur aus Muskeln besteht?“, fragte er schelmisch nach.
„Genau der! Der richtige Mann für diesen Job.“
Franks Frohsinn wollte weichen. „Das hast du damals auch über mich gesagt, als ich mich für den Posten bewerben wollte.“
„Ich …“ Alastor seufzte. Er beugte sich nach vorn. Ganz leise, damit Alice es nicht hören würde, sagte er: „Frank, das tut mir alles so furchtbar leid. So furchtbar …“
„Nicht doch“, winkte Frank ab. „Erzähl mich was Schönes.“ Frank wollte den niederschlagenden Gefühlen aus dem Weg gehen. „Wie viele Todesser hast du noch geschnappt?“
„Oh, das waren unzählige“, brüstete sich Alastor. „Eines Tages wird man dir gewiss Einblick in die Akten gewähren.“ Flüsternd fügte er hinzu: „Und wenn nicht, lasse ich dich heimlich einen Blick hineinwerfen.“
Frank musste lachen. „Sag mal, ist es wahr? Sind keine Todesser mehr übrig? Nicht einer?“
„Wer hat dir denn das erzählt?“, hakte Alastor nach.
„Eine junge Heilerin …“ Frank blickte zu Alice. „Wie hieß die junge Dame nochmal, Schatz, die vorgestern hier war?“ Alice Augenbrauen wollten sich über der Nasenwurzel treffen, weshalb Frank genauer wurde. „Du weißt schon, die mit den buschigen Haare.“
„Das war Miss Granger, eine Freundin von Neville.“
„Danke!“ Frank wandte sich wieder Alastor zu. „Miss Granger meinte, es gäbe keine Todesser mehr.“
„War klar, dass sie das sagt“, murmelte Alastor. Sie war immerhin mit einem liiert. „Na ja, Frank, das ist etwas verzwickt. Diejenigen, die ich nicht erwischen konnte“, das Grinsen in Alastors entstelltem Gesicht ließ auch Franks Laune wieder in die Höhe schnellen, „hat Harry niedergestreckt.“ Franks Augenbrauen wanderten zum Haaransatz, doch er lauschte, als Alastor ihm schilderte: „Und die wenigen, die das dunkle Mal trugen und Harrys Angriff überlebten, die sind jetzt frei.“
„Wie bitte? Wie soll ich das verstehen? Man lässt Todesser einfach frei herumlaufen?“
„Ich sagte schon, das ist verzwickt, Frank. Ich werde viel Zeit benötigen, dir alles zu erklären. Es hat aber seine Richtigkeit, auch wenn ich anfangs anderer Meinung war.“

Seinem ehemaligen Ausbilder wollte Frank Glauben schenken. Eines interessierte ihn besonders, doch bisher hatte er weder von seinem Sohn noch von seiner Mutter eine Antwort darauf erhalten, also versuchte er es bei Alastor.

„Was ist“, er senkte die Stimme, „mit Bellatrix Lestrange?“ Man konnte die Furcht heraushören, dass sie womöglich eine der wenigen war, die noch frei herumliefen.
„Die hat es erwischt.“
„Hast du sie zur Strecke gebracht?“
Alastor schüttelte den Kopf. „Das war ihr eigener Neffe.“ Bei der Antwort kniff Frank fragend die Augen zusammen.
„Welcher Neffe?“
„Draco Malfoy“, entgegnete Alastor in normaler Lautstärke, womit er auch Alice’ Aufmerksamkeit auf sich zog. Nichtsdestotrotz erklärte Alastor die Situation. „Snape hat Malfoys Sohn mitgenommen, als er sich Voldemorts Einflussbereich entzog. Die beiden tauchten Jahre später plötzlich auf, als es hart auf hart kam. Im Schlachtgetümmel hat Draco Malfoy seine Tante attackiert. Bellatrix Lestrange schlug sich den Schädel auf und starb auf der Stelle.“

Stille trat ein. Frank und Alice versuchten, die Zusammenhänge zu erkennen, doch ihnen fehlten zu viele Informationen, um ein klares Bild zu erhalten. Die Vermutung lag nahe, dass sich Draco von der eigenen Familie abgewandt hatte – von Lucius Malfoy abgewandt hatte, von dem damals jeder wusste, dass er ein Anhänger von Voldemorts finsterer Vorstellung war, eine Zukunft zu schaffen, in der Muggel unterjocht werden sollten.

„Und was sagt Lucius dazu?“, war das Einzige, was Frank noch hervorbrachte.
Es sprach die Schadenfreude aus Alastor, als er antwortete: „Lucius hat gar nichts mehr zu sagen! Ich glaube, das ist das Schönste an der gesamten Situation.“
Frank setzte sich, sofern seine Beine es erlaubten, etwas aufrechter im Bett hin. „Wenn ich das mal zusammenfassen darf: Severus war ein Todesser.“ Alastor nickte. „Ich wusste es! Ich habe ihm damals schon ins Gesicht gesagt, dass er sich in diese Richtung entwickeln wird, wenn er weiterhin mit Malfoy zu schaffen hat.“ Wenigstens hatte Frank, wenn auch etwas spät, gerade die Genugtuung erfahren, Recht zu behalten. „Severus hat seinem besten Freund Lucius also den Sohn geraubt und ist mit ihm auf und davon?“
„Ja“, bestätigte Alastor. „So steht es auch in den Akten.“
„Ich habe nie geglaubt“, warf Alice mit sanfter Stimme ein, „dass Severus durch und durch ein schlechter Mensch sein soll.“
„Ach komm, Alice. Severus war schon immer ein Schlitzohr“, wiedersprach Frank. „ Er hat sich nur rechtzeitig auf die Gewinnerseite geschlagen, als er merkte, dass es mit Voldemort bergab geht.“
„Mmmh“, machte Arthur in einem hohen Tonfall. „Das möchte ich so nicht bestätigen. Snape hat Voldemort all die Jahre ausspioniert. Das Leben, das er führte, war für ihn außerordentlich gefährlich.“
Frank blinzelte einige Male. „Severus, ein Spion für uns?“
„Das ist eine lange Geschichte“, warnte Arthur vor. „Das sollte am besten Albus erzählen.“
„Ja“, stimmte Frank zu, „Professor Dumbledore kann uns gern besuchen kommen.“ An Alastor gewandt fragte er: „Könntest du auch James Bescheid geben? Ich würde ihn zu gern sehen. Ist er am Ende doch noch Auror geworden?“ Frank lachte. „Nötig hatte er es ja nie, irgendeinen Beruf zu ergreifen.“

Es war an der Zeit, dass jemand die beiden über bestimmte Dinge aufklärte, doch weder Arthur noch Alastor wollten derjenige sein. Augusta lenkte ein und versicherte ihrem Sohn, dass Harry Potter bald noch einmal zu Besuch kommen würde. Von ihm würden sie eine Menge erfahren.

Besagter Harry Potter saß gerade aufgeregt auf einer der Lehrertribünen, die das Quidditchfeld überblickten. Das letzte Spiel der Saison: Gryffindor gegen Slytherin. Er war uneins, für welche Mannschaft er jubeln sollte, also applaudierte er bei jedem Tor. Ginny war in Höchstform. Sie schien dieses Spiel als Übung für ihr Vorspiel bei Eintracht Pfützensee zu sehen, denn sie gab alles. Der Ravenclaw Linus Korrelian, der für Dracos Quidditch-Mannschaft einen der beiden Treiber darstellte, hatte einen Schlag drauf, vor dem selbst die Zwillinge Respekt hätten. Seit dem sechsten Lebensjahr Cricket zu spielen zahlte sich offenbar doch aus, dachte Harry. Zusammen mit Enid, ebenfalls aus Ravenclaw, machte er den Gryffindors das Leben zur Hölle. Vor dem Erstklässler nahmen sich alle Spieler der gegnerischen Mannschaft in Acht. Meredith Beerbaum, eine 14jährige Hufflepuff, konnte als Hüterin bisher noch jeden Quaffel halten. Drei Jäger – drei Häuser. Ginny aus Gryffindor, Draco aus Slytherin und Arturo aus Hufflepuff schossen ein Tor nach dem anderen. Verwirrungstaktik. Die ständigen Ansagen, dass Slytherin wieder ein Tor gemacht hätte, zermürbte Gryffindor, obwohl der goldene Schnatz bisher noch den Punktesieg bringen konnte. Hinter dem goldenen Ball war Gordian Foster her. Auf dem Besen verhielt sich der Slytherin äußerst graziös. So manches Mal befürchtete Harry, der Junge würde fallen, doch jedes Mal versetzte er die Zuschauer mit seinen gewagten und daher spannenden Flugmanövern in Erstaunen. Harry musste zugeben, dass es für Gryffindor schlecht aussah. Bisher stand es 120:40 für Slytherin. Dem goldenen Schnatz war man schon dreimal hinterhergejagt, doch immer wieder entzog er sich den Blicken der beiden Sucher.

„Und?“ Remus kam gerade von der Toilette und setzte sich wieder neben Harry. „Was habe ich verpasst?“
Seine Augen wandte Harry nicht ein einziges Mal von dem Spielgeschehen ab, als er erwiderte: „Es steht jetzt 120 zu 40 für Slytherin.“
„Wie bitte? Als ich gegangen war, stand es noch 60 zu 40!“
„Du hast sechs Tore verpasst. Jeder Jäger aus Slytherin hat je zwei Treffer gelandet. Ich glaube, der Hüter von Gryffindor leidet gerade unter heftigen Selbstzweifeln.“ Harry grinste einen Moment schadenfroh, verkniff es sich jedoch, weil er als Lehrer parteilos sein sollte. Das fiel ihm sehr schwer. Er stand auf Ginnys Seite, egal in welcher Lebenslage.
Remus setzte sich mit geradem Rücken hin und schaute über die Balustrade, um die momentanen Positionen der Spieler auszumachen. „Hat man nochmal den Schnatz gejagt?“
„Nein, aber es wird Zeit, dass er bald wieder auftaucht.“

Plötzlich kam der Schnatz sichtbar an der Zuschauertribüne vorbeigejagt. Aus reinem Instinkt sprang Harry auf und streckte die Hand nach dem goldenen Ball. An seiner anderen Hand verspürte er einen Ruck. Remus hielt ihn fest.

„Das ist nicht dein Spiel, Harry“, sagte Remus mit warmem Lächeln. „Lass den anderen ihren Spaß.“

Durch Harrys Aktion waren beide Sucher auf den Schnatz aufmerksam geworden. Sie visierten ihn an und jagten ihm in Windeseile hinterher. Die Menge begann zu pfeifen und zu klatschen, als Gordian und Shaun, die beiden Sucher, zielsicher dem Ball folgten. Shaun Smith war der Gryffindor, der Draco anfangs hin und wieder gepiesackt hatte. Die Rivalitäten waren nach dem Vorfall während des Halloweenfestes verflogen. Draco und Shaun waren zwar keine Freunde, aber auch keine Feinde. Das Spiel verlief entsprechend fair.

Harrys Blick haftete auf Gordian Foster, der dem Schatz immer näher kam. Mit einem Male hatte Harry das Gefühl, selbst auf dem Besen zu sitzen. Möglicherweise lag es an seinem empathischen Wesen. Andererseits hatte Harry oft genug am eigenen Leib erfahren, was für ein berauschendes Gefühl es war, mit dem Besen in irrsinniger Geschwindigkeit hinter dem neckischen Ball herzujagen. Sein Herz begann schneller zu schlagen, als er sah, wie Gordian die Hand ausstreckte. Harry wusste, was Gordian jetzt durchmachte. So dicht dran. So nahe am Sieg. Shaun war nur wenige Zentimeter hinter dem Slytherin und holte langsam auf, doch es war zu spät. Gordian trieb seinen Besen ein letztes Mal an – und griff zu.

Der tosende Beifall war lauter als Madam Hoochs Abpfiff. Harrys Hände klatschten von ganz allein. Mit allen Spielen zusammengerechnet, die von der gemischten Mannschaft gewonnen wurden, gehörte wenigstens der Quidditch-Pokal Slytherin.

„Wenn bis morgen nichts mehr passiert“, sagte Harry laut, damit der ebenfalls klatschende Remus ihn überhaupt verstehen konnte, „wird es zwischen Gryffindor und Slytherin knapp.“
Unerwartet schüttelte Remus den Kopf. „Nicht mehr. Slytherin liegt jetzt hinter Gryffindor, selbst mit den Punkten für den Sieg beim Quiddtich.“
„Wie bitte?“
„Ja!“, beteuerte Remus. „Gestern muss irgendein Lehrer zehn Punkte an Gryffindor vergeben haben.“
„Ich war’s nicht.“
„Ich auch nicht. Bisher habe ich auch nicht herausfinden können, wer das gewesen ist.“

In den letzten Monaten hatte Slytherin sich von dem Minus erholt. Durch Nachhilfeunterricht bei Mitschülern, freiwilligen Arbeiten für Lehrer und durch schulische und sportliche Leistungen war die Anzahl der Smaragde im Stundenglas angestiegen. Kein Lehrer würde jetzt noch wagen, dem einen oder anderen Haus Anerkennungspunkte zu geben. Man liefe Gefahr, das neutrale Bild zu zerstören, das einen Lehrer ausmachte. Trotz persönlicher Favoriten musste man objektiv bleiben. In solchen Situationen waren sich alle Lehrer einig: der Direktor sollte sich darum kümmern. Ihm allein stand es zu, letzte Punkte zu vergeben.

Die letzte nach dem Quidditch folgende Doppelstunde sollte heute bis 15 Uhr gehen. Wie Severus es sich bereits gestern überlegt hatte, wollte er sich den Tag verkürzen, demnach auch den Schülern. Keinesfalls wollte er weichherzig wirken oder vielleicht sogar großzügig. An diese Freistunde sollten die Schüle noch eine Weile denken.

Vor versammelter Klasse baute er sich in voller Größe auf. Auf diese Weise, das wusste er, wirkte er bedrohlich und das nicht nur auf Schüler. Sein Blick schweifte wie der eines Adlers umher, der sich ein Opfer suchte. Als alle Augen auf ihn gerichtet waren, atmete er tief durch.

„Was würden Sie jetzt gern tun?“, fragte er die Schüler, die sich daraufhin untereinander irritierte Blicke zuwarfen. Noch nie hatte er diese Frage gestellt. Weil keine Antwort kam, wiederholte er die Frage und deutete danach wahllos auf einen Schüler, der ganz hinten saß.
„Ähm, ähm“, der Schüler machte sichtlich eine schwere Zeit durch, als er unerwartet zur Beantwortung der Frage bestimmt wurde. „Einen Aufpäppeltrank brauen, Sir?“
„War das eine Frage?“

Der Junge war wie versteinert, brachte keine Antwort hervor, konnte nicht einmal nicken oder den Kopf schütteln, sondern nur angsterfüllt nach vorn blicken. Severus kommentierte das Benehmen des Schülers mit einer hochgezogenen Augenbraue, bevor er sich ein nächstes Opfer suchte.

„Mr. Winter?“
Der angesprochene Schüler bekam ganz große Augen, aber er schien sich schnell eine Antwort zu überlegen. „Etwas Theorie lernen.“ Er hatte sich Mühe gegeben, seine Antwort nicht ebenfalls als Frage zu betonen.
„Theorie? Dann greifen Sie sich Ihr Lehrbuch.“ Als plötzlich alle Schüler damit begannen, in ihren Taschen zu wühlen, verschaffte sich Severus nochmals Gehör. „Halt!“ Jeder hielt mit seiner Bewegung inne. „Mr. Winter wird sich sein Lehrbuch vornehmen“, er schaute zu besagtem Schüler, „und sich die letzten beiden Kapitel vornehmen.“
„Aber Sir, das sind beinahe hundert Seiten!“
„Sie wollten Theorie“, säuselte Severus selbstzufrieden und sah dabei zu, wie Mr. Winter sein Buch aus der Tasche nahm und das vorletzte Kapitel aufschlug. Trotzdem folgte er mit einem Ohr dem weiteren Verlauf des mehr als nur seltsamen Unterrichts. „Miss Fringe?“ Ihr Kopf schnellte hoch. „Was würden Sie jetzt gern tun?“
Die Ravenclaw spielte verlegen mit ihren Fingern, bis sie sehr leise, beinahe unhörbar erwiderte: „Ich würde mit meiner besten Freundin gern ein bisschen Karten spielen.“
„Was war das bitte?“, hakte Severus nach.
Miss Fringe seufzte, wiederholte aber ihre Antwort, die sie selbst wahrscheinlich für viel zu gewagt hielt. Unsicherheit war herauszuhören. „Ich würde gern Karten spielen, mit meiner besten Freundin.“
„Dann nehmen Sie Ihre Sachen und verlassen Sie mein Klassenzimmer.“ Bewegungslos blickte Miss Fringe ihn an. „Na, wird’s bald?“

Eine Mischung aus Bedauern und Erleichterung war in ihrem Gesicht zu sehen. Offensichtlich rechnete sie mit Punkteabzug, der jedoch ausblieb. Gerade als sie die Tür öffnen wollte, hielt Severus sie noch auf.

„Miss Fringe?“
Sie zuckte zusammen, erwartete jetzt den befürchteten Punkteabzug, zumindest aber eine Strafarbeit. „Ja, Sir?“
„Sitzt Ihre beste Freundin in dieser Klasse?“ Severus bemerkte den flüchtigen Blick, den Miss Fringe zu Miss Bradley warf. „Miss Bradley, Sie werden für ein Kartenspiel benötigt“, sagte er mit monotoner Stimme. „Begleiten Sie Miss Fringe.“

Die Verwunderung in der Klasse wurde immer größer, als auch Miss Bradley den Raum verlassen durfte, ohne dafür bestraft zu werden. Mr. Winter schien sich innerlich dafür zu Ohrfeigen, dass er ein Buch lesen musste. Einige Schüler, das las Severus an ihren Gesichtern ab, schienen den Braten langsam zu riechen. Eine Hand wurde gehoben, wenn auch zögerlich.

„Mr. Stirling?“
„Ich würde gern schon meine Sachen für die morgige Abreise packen“, Mr. Stirling schluckte laut, „und mir danach nochmal die Tiere bei Hagrid ansehen.“ Von der zittrigen Stimme her klangen Stirlings Worte wie die letzten eines zum Tode Verurteilten.
„Allein?“, fragte Severus nach.
„Psst“, hörte man leise hinter Mr. Stirling, der daraufhin zusammenfuhr, sich aber nicht umdrehte, obwohl er sich der Aufforderung seines besten Freundes bewusst war.
Nach dem zweiten Psst sagte Mr. Stirling: „Vielleicht zusammen mit Mr. Keating, Sir, wenn es nichts ausmacht?“
„Was machen Sie beide dann noch hier? Packen Sie Ihre Sachen und gehen Sie!“

So schnell wie diese beiden Jungen waren Schüler noch nie aus seinem Klassenzimmer gestürmt. Severus unterdrückte den Impuls zu lachen. Mr. Winter war offensichtlich gar nicht zum Lachen zumute. Er hockte über dem Zaubertränkebuch und schien mit sich ringen. Mit einem Male schnellte sein Arm in die Höhe.

„Mr. Winter?“
„Ich hab’s mir überlegt, Professor Snape. Ich würde viel lieber ein paar Kürbistörtchen essen. Meine Mutter bekommt die einfach nicht so gut hin wie die Hauselfen.“
„Dann werden Sie wohl die Küche aufsuchen müssen.“ Mr. Winter strahlte über das ganze Gesicht. Das Lächeln verschwand abrupt, als Severus warnte: „Aber übertreiben Sie es ja nicht! Ich möchte nicht, dass Madam Pomfrey oder ich einen Trank brauen muss, nur weil Sie Bauchschmerzen bekommen.“
„Keine Sorge, Sir.“

Mr. Winter warf den restlichen Schülern einen sicheren Blick zu, bevor er in den Flur hinaustrat. Davon animiert hoben alle verbliebenen Schüler gleichzeitig ihre Hände.

Severus hatte die restlichen Schüler auf einen Schlag vom Unterricht befreit. Ein wenig konnte er über den Verlauf der letzten zehn Minuten schmunzeln. Leicht hatte er es ihnen nicht gemacht, trotzdem konnte er beweisen, dass auch er anders sein konnte. Severus stutzte, als er sich darüber klar wurde, dass sein Verhalten möglicherweise als nett eingestuft werden könnte. Zum Glück war morgen der Tag der Abreise. Er würde nicht in die Verlegenheit kommen, vor den Schülern seinen guten Ruf zu verlieren.

Auf dem Weg zu Albus passierte Severus einen der überdachten Gänge, die rund um einen der Schulhöfe führten. Mitten auf dem Rasen saß Harry mit seiner Klasse – und mit seinem Sohn. Einige Schüler beschäftigten sich mit ihren Freunden, andere suchten das Gespräch mit ihrem Lehrer. Mittendrin sorgte Nicholas für Abwechslung. Besonders die Mädchen waren von dem Jungen angetan.

Als Harry seinen Kollegen sah, entschuldigte er sich kurz bei seiner Klasse und rannte zu ihm. Er blieb unten auf dem Rasen stehen, während Severus leicht erhöht im Gang innehielt.

„Severus, ist irgendwas passiert?“, fragte Harry irritiert, denn es war noch Unterrichtszeit.
„Was soll passiert sein? Ich habe meinen Schülern frei gegeben und suche jetzt nach Albus, um mich für heute zu entschuldigen.“
Harry grinste. „Ab in die Apotheke, hä?“ Nach einem Nicken von Severus riet Harry: „Versuch es bei Filch. Vor einer halben Stunde war Albus auf dem Weg zu ihm.“
„Dann kann ich gleich wieder kehrtmachen. Danke, Harry.“ Severus schaute über Harry hinweg zu den Schülern, die im Gras saßen, lachten und sich gelassen unterhielten. „Heute mal ein etwas unkonventioneller Unterricht, wie ich sehe.“
Harry schaute hinter sich, dann wieder zu Severus hinauf. „Die Prüfungen sind vorbei, die Noten vergeben. Was sollte ich heute schon anderes machen, als den Schülern eine letzte, angenehme Erinnerung an Hogwarts mitzugeben?“

Severus fehlten die Worte. Er brachte es nur fertig zu nicken, bevor er zurückging, um Albus aufzusuchen. Mr. Filchs Büro befand sich im Erdgeschoss.

In der Nähe von Mr. Filchs Büro hörte Severus bereits Stimmen, weshalb er an einer Ecke stehenblieb. Nicht um zu lauschen, aber er konnte es nicht verhindern, ein paar Worte zu vernehmen.

„Argus“, hörte er den Direktor sagen, bevor ein leiser Seufzer folgte, „du bist nicht mehr der Jüngste. Ich habe dir lediglich das Angebot gemacht, eine Hilfe für dich einzustellen.“
„Arrgh“, knurrte der Hausmeister zurück, was Severus als negative Meinungsäußerung deutete.
„Du bleibst hier der Hausmeister, das nimmt dir niemand“, versicherte Albus dem Squib.

Stille. Argus Filch schien zu überlegen. Der Direktor wollte das Gespräch beenden, Argus aber versichern, dass der nichts zu befürchten hätte.

„Überleg es dir. Du kannst mir jederzeit Bescheid geben, solltest du dich umentscheiden.“

Die dem Gespräch folgenden Schritte kamen nicht auf Severus zu, sondern entfernten sich langsam. Sein Zeitpunkt, um die Ecke zu biegen, war gekommen. Weiter hinten sah er den Direktor.

„Albus?“ Laut musste er nicht rufen. In den leeren Gängen echoten die leisesten Geräusche. Albus blieb stehen, so dass Severus aufholen konnte. Im Vorübergehen grüßte er Filch mit einem Nicken. Bei Albus angelangt erklärte er seine plötzliche Anwesenheit. „Harry hat mir gesagt, ich würde dich hier finden.“
„Was kann ich für dich tun, Severus?“, fragte Albus mit freundlich leuchtenden Augen.
„Wäre es möglich, mich für heute zu entschuldigen? Ich würde gern …“
Albus schien seine Pläne durchschaut zu haben. „Ja ja, der Wolfsbanntrank. Harte Arbeit.“ Eine Hand auf Severus’ Schulter. „Heute wird man den Kindern kaum noch etwas beibringen können, was nicht schon im vergangenen Schuljahr untergekommen ist. Geh ruhig, aber morgen findest du dich noch einmal ein, ja?“
„Was ist denn morgen noch? Die Schüler reisen ab, mehr nicht.“
„Nein“, widersprach Albus, „denn morgen früh wird der Hauspokal verliehen.“
„Ich dachte, das wäre heute Abend“, nörgelte Severus, der davon ausgegangen war, diesem Trara fernbleiben zu können. „Warum morgen?“
Eine Antwort umging Albus mit seiner Aufforderung: „Als Lehrer wirst du natürlich an dieser Begebenheit teilnehmen.“ Severus presste die Lippen zusammen, nickte jedoch. „Gut, dann morgen in alter Frische.“

Diesmal war es Severus, der knurrte, als er dem Direktor hinterherschaute. Mittlerweile konnte er es gar nicht mehr erwarten, die Schule hinter sich zu lassen und endlich das zu tun, wozu er Lust hatte. Er war nicht einmal beim Quidditchspiel gewesen, hatte aber im Nachhinein erfahren, dass Slytherin als Sieger hervorgegangen war.

Aus seinem leer geräumten Büro flohte Severus hinüber in die Apotheke. Einzig sein Hund begrüßte ihn im Wohnzimmer. Hermine war sicherlich im Labor beschäftigt, also marschierte Severus gleich hinunter. Im Flur roch es bereits nach dem Wolfsbanntrank, der noch nicht mit dem Vanille-Aroma verfeinert worden war. Hinter der Tür, die zum Verkaufsraum führte, hörte Severus ein Stimmenwirrwarr. Ein paar Leute schienen aufgebracht zu sein. Er hörte Daphnes Stimme, die die Menge beruhigen wollte – und Hermines Stimme, die jemanden dazu aufforderte zu gehen.

Kurz entschlossen öffnete Severus die Tür. Seine bloße Anwesenheit sorgte für sofortige Ruhe. Jeder kannte ihn, jeder wusste, was er damals war. Es war ein beruhigendes Gefühl, so eine Wirkung auf Menschen haben zu können.

„Was, wenn ich fragen darf, ist hier los?“, wollte er wissen. Sein Blick fiel auf Hermine – und auf den Mann neben ihr. Severus’ Augenlider verengten sich. „Mr. Fogg, Sie haben hier Hausverbot. Was tun Sie hier?“
„Ich …“
Ein anderer Kunde – ein Werwolf – mischte sich ungefragt ein und zeterte: „Sie können nicht einfach Ihre Kundschaft selektieren und manche von uns wegschicken!“
Gelangweilt schaute Severus zu dem Kunden hinüber. „Vielen Dank für Ihre Meinungsäußerung.“ An Mr. Fogg gerichtet sagte Severus: „Wenn Sie mir bitte folgen möchten? Wir klären das unter vier Augen.“
„Sechs!“, warf Hermine ein. Die Wut stand ihr ins Gesicht geschrieben. Ihre Wangen waren rot und sie atmete aufgeregt.

Daphne war so freundlich, die anwesenden Kunden abzulenken, so dass sich jeder in die Liste für den Trank eintragen konnte.

Severus öffnete den Tresen, indem er das Brett hochklappte und Mr. Fogg hindurchließ. Hermine folgte ihm. Der Flur sollte für ein persönliches Gespräch ausreichen. Es lag nicht in Severus’ Absicht, Mr. Fogg gastfreundlich zu bewirten, sondern nur, die restliche Kundschaft nicht an dieser Auseinandersetzung teilhaben zu lassen.

„Mr. Fogg …“
Hermine unterbrach Severus und giftete den Mann an: „Ich könnte die Polizeibrigade holen, wenn ich wollte! Ich habe hier das Hausrecht und Sie haben seit dem letzten Mal ein Hausverbot. Suchen Sie sich gefälligst einen anderen Tränkemeister!“
„Das habe ich ja versucht“, erklärte Mr. Fogg äußerst ruhig. In Severus’ Augen schien der Mann sehr versöhnlich, keinesfalls auf einen Streit aus. „Keine der Apotheken in der Nähe stellt noch den Wolfsbanntrank her.“

Als Fogg in seine Innentasche griff, blickte er plötzlich auf die Spitze eines Zauberstabs aus Weißbirke. Severus war vorsichtig. Langsam klappte Mr. Fogg seinen Umhang auf und zog nur mit Daumen und Zeigefinger etwas aus seiner Innentasche. Papiere. Die hielt er Severus entgegen, doch Hermine war neugieriger und riss sie dem Mann aus der Hand. Mit strengem Blick überflog sie die Schreiben von verschiedenen Apotheken.

„Warum stellen die alle keinen Wolfsbanntrank mehr her?“, murmelte sie, erinnerte sich jedoch an die Aussagen von Kunden, die ihr genau das schon letzten Monat mitgeteilt hatten.
„Glauben Sie mir, Miss Granger“, Mr. Fogg schaute auf den Zauberstab vor sich, schielte deshalb, „es lag mir fern, absichtlich gegen das Hausverbot zu verstoßen. Mein Fluch zwingt mich dazu. Ich brauche den Trank.“
„Was ist mit der Liste der Tränkemeister, die das Ministerium verteilt?“, gab Severus als Anreiz, es woanders zu versuchen.
„Die dort“, Fogg nickte zu den vielen Schreiben, „standen alle auf der Liste.“
Hermine wollte es nicht glauben. „Es muss doch noch einen anderen geben!“
„Es ist jetzt sowieso zu spät, Miss Granger. Ab heute kann der Trank genommen werden. Ich würde nur Gefahr laufen, nicht rechtzeitig …“

Hermine drückte die Papiere an Foggs Brust, der sie erschrocken mit den eigenen Händen festhielt. Wütend stürmte sie zur Tür, die ins Labor folgte, drehte sich jedoch nochmal zu den beiden um. Sie schaute Severus an.

„Regel du das bitte!“
Schon hatte Hermine die Tür geschlossen und überließ es ganz Severus, wie er mit Mr. Fogg umgehen wollte. Schüchtern lächelte Fogg, schüchtern und ängstlich. „Und, Mr. Snape? Bekomme ich hier einen Wolfsbanntrank?“
Severus strafte den Mann mit einem unheilschwangeren Blick. „Ist der Ausweis denn wenigstens echt oder laufen Sie noch immer mit dem Papier für magische Fernverständigung herum?“
Fogg blinzelte ein paar Mal. „Woher …?“
„Die Herstellung solcher Pergamente ist mir geläufig, Mr. Fogg.“
„Oh …“ Beschämt blickte Fogg zu Boden. „Hören Sie, Mr. Snape. Das alles tut mir wirklich furchtbar leid. Ich meine, die gesamte Situation mit dem Vielsafttrank und …“ Ein leiser Seufzer. „Ich möchte wirklich keinen Ärger machen.“
Obwohl Severus seinen Stab wieder einsteckte, lockerte sich die Spannung zwischen den beiden Männern nicht. „Dafür ist es längst zu spät, Mr. Fogg. Der Ärger ist da.“
Fogg stopfte die Schreiben der Apotheken in seine Tasche. „Ich werde versuchen, es wiedergutzumachen.“
„Das können Sie nur, wenn Sie sich hier nicht mehr blicken lassen.“
Mit flatterhaftem Blick schaute Fogg umher, vermied dabei tunlichst, Severus direkt in die Augen zu sehen. Fogg hatte ein wenig Mut zusammengekratzt und sagte: „Sie sind laut Ministerium dazu verpflichtet, mir den Trank auszuhändigen.“
„Was würde das Ministerium dazu sagen, wenn wir den Fall mit dem Vielsafttrank nachträglich zur Anzeige bringen, mmmh?“ Severus legte den Kopf schräg. „Dabei würde sich gleichzeitig herausstellen, wer den besseren Draht zu Regierungsmitarbeitern hat.“
„Ich …“ Fogg schluckte laut hörbar. „Ich möchte wirklich nur den Trank haben.“ Mit zittrigen Händen griff er abermals in die Innentasche. Diesmal zog er einen Geldbeutel heraus. „Ich sagte bereits, ich möchte es wiedergutmachen. Hier …“, er hielt Severus den Sack entgegen, doch der griff nicht zu. „Das ist alles, was ich habe.“
„Gestohlen, nehme ich an.“
Fogg schüttelte den Kopf. „Ehrliche Gelegenheitsarbeiten. Glauben Sie mir bitte. Die gesamte Situation hat mich zum Nachdenken angeregt. Ich …“ Fogg umfasste den abgewiesenen Geldsack mit beiden Händen und knetete ihn, so dass man die aneinanderreibenden Münzen hören konnte. „Bitte geben Sie mir den Trank.“ Severus hörte deutlich die Priorität heraus, doch Fogg nannte von sich aus den Grund, warum er sich trotz der unangenehme Situation nicht zurückweisen ließ. „Ich will nicht“, begann der Werwolf leise, „dass ich irgendetwas Schlimmes anstelle, wenn …“

In diesem Moment fand in Severus’ Geist ein Prozess statt, den er damals nie zugelassen hatte. Er versuchte, sich in den Mann hineinzuversetzen. Dabei scheiterte er kläglich, denn er konnte sich nur schwer vorstellen, wie es denen erging, die einmal im Monat zum Werwolf wurden. Und weil er sich nicht in Foggs Situation einfühlen konnte, hielt er eine innerliche Unterhaltung mit einem imaginären Remus. Remus verstand beide Seiten. Er verstand, warum Hermine und Severus dem Mann keine Hilfe bieten wollten, aber – und das leuchtete selbst Severus ein – die Gefahr war zu groß, dass Fogg woanders keinen Trank bekommen würde. Was das nach sich ziehen würde war klar und auf keinen Fall zu verantworten. Severus schüttelte sich.

„Tragen Sie sich in die Liste ein“, säuselte Severus bedrohlich leise. „Holen Sie sich Ihre Tränke und danach verschwinden Sie wieder.“
Fogg amtete erleichtert aus. „Danke, Mr. Snape. Vielen …“
„Und Sie bleiben nie länger hier als notwendig!“

Den Hinweis hatte Fogg verstanden. Ohne ein weiteres Wort ging er zurück in den Verkaufsraum. Severus lugte durch die Tür und nickte Daphne zu, damit sie wusste, dass Fogg das Einverständnis hatte.

Im Labor traf er auf Hermine, die mit dem großen Löffel etwas heftiger im Kessel rührte als notwendig.

Als sie die Tür hörte, blickte sie auf. „Hast du ihn rausgeworfen?“
„Ich werde nicht die Verantwortung für einen wilden Werwolf übernehmen, Hermine. Er bekommt die Tränke.“

Nur kurz schien ihre Wut nochmals aufzubrodeln, genau wie der Inhalt des Kessels, an dem sie arbeitete. Ein oder zwei Sekunden später schluckte sie ihren Ärger hörbar hinunter und widmete sich dem Wolfsbanntrank. Die letzte Zutat war im Kessel gelandet, so dass sie auf kleine Flamme stellen konnte. Hermine ging an einen Tisch und nahm einen Stapel Briefe, den sie Severus überreichte.

„Da ist Post für dich gekommen.“
Verdutzt nahm er die versiegelten Briefe entgegen. „Die hättest du öffnen können.“
„Das Postgeheimnis gilt selbst bei verheirateten …“
„Ich habe dir soeben die Erlaubnis erteilt, meine Post öffnen zu dürfen“, unterbrach er sie. „Das sind alles Händleranfragen und Antworten auf meine Schreiben.“ Er überflog die Absender. „Zudem Werbung, wie es aussieht. Da ist nichts dabei, von dem du nichts wissen darfst.“
„Wie beruhigend“, schäkerte sie. „Was ist, wenn Linda dir mal wieder schreibt?“
„Dann kannst du dich an den belanglosen Schilderungen ihres Alltags erfreuen, wenn es dir Spaß macht.“
„So schlimm?“ Hermine setzte sich neben Severus, der einen der Briefe öffnete.
„Sie ist langweilig“, gab er Hermine zu verstehen, während er seine Aufmerksamkeit dem Brief widmete. „Sie hatte immer gute Noten in Verwandlung und hätte auf diesem Gebiet Fuß fassen können. Stattdessen arbeitet sie beim“, er dachte kurz nach, aber es fiel ihm nichts Genaues mehr ein, „Ministerium.“
Hermine hingegen konnte sich noch sehr gut an das erste Treffen mit Linda erinnern. „Beim Besenregulations-Kontrollamt.“
„Ja, genau. Ist mir entfallen.“ Severus legte den einen Brief weg und öffnete den nächsten.
„Das ist dir entfallen?“, fragte Hermine nach.
„Es klingt schon so langweilig. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Prüfen von Besen auf ihren Zustand und ihre Flugtauglichkeit in irgendeiner Form intellektuell anregend oder gar produktiv sein kann.“
„Sie bekommt es bezahlt, und außerdem muss es irgendjemand tun.“
Severus nickte, legte dabei den zweiten Brief auf den ersten und öffnete den nächsten. „Und ich bin froh, dass weder du noch ich für diese Aufgabe herangezogen werden.“

Hermine beobachtete ihn einen Moment lang, als er den Brief las und mit ihm einen neuen Stapel begann. Werbung.

„Konntest du dich für morgen freimachen?“
Severus schüttelte den Kopf. „Ich bedaure. Albus ist auf die geniale Idee gekommen, morgen erst den Hauspokal zu vergeben. Er hat sehr deutlich gemacht, dass er auf meine Präsenz besteht.“
„Der Hauspokal wird doch sonst immer am Vorabend vergeben?“
„Nicht immer, aber meistens, da hast du Recht. Wer weiß, was“, Severus grinste schief, „der alte Kauz sich hat einfallen lassen.“
„Wie stehen die Stundengläser?“
„Momentan liegt Gryffindor vorn. Ich befürchte, Slytherins Sieg beim Quidditch stellt keine Garantie für den Hauspokal dar. Trotz der zusätzlichen Punkte würde Gryffindor immer noch knapp über Slytherin liegen.“
„Abwarten! Für uns sah es auch mal ziemlich düster aus, aber am Ende hat sich das Blatt gewendet.“
„Albus ist dummerweise ein Freund der Gryffindors.“
„Er muss sich als Direktor unparteiisch geben und das weiß er auch“, hielt Hermine dagegen, um Severus ein wenig aufzuheitern.
„Hier“, er hielt ihr den nächsten Brief entgegen. „Der Preis ist mehr als nur passabel. Bestell demnächst dort die neuen Phiolen. Auch die für die Verhütungstränke.“
„Was stimmt denn mit den alten nicht?“, fragte sie und überflog gleichzeitig die Preisliste. „Die sind ja richtig günstig.“
„Somit hast du dir deine Frage selbst beantwortet. Sie garantieren luftdicht schließende Phiolen, sind trotzdem beinahe die Hälfte preiswerter als der andere Lieferant.“

Es klopfte an der Labortür. Nach einem lauten Herein von Severus öffnete sich die Tür und Daphne lugte hinein.

„Entschuldigen Sie, wenn ich störe. Wir haben jetzt schon 148 Voranmeldungen für den Wolfsbanntrank. Liegt das noch im grünen Bereich?“ Mitleidig blickte Daphne zu Hermine hinüber. „Bitte sag nicht, dass das schon zu viele sind.“
„Herrje“, schimpfte Hermine leise. Es waren zu viele, doch wenn es allen so erging wie Mr. Fogg, dann durfte sie niemanden zurückweisen. „Wir kriegen das schon irgendwie hin“, versicherte Hermine der Angestellten. „Dann muss ich eben die Nacht durchbrauen.“
„Drei Nächte hintereinander?“, fragte Severus skeptisch. „Wir sollten uns eventuell für die drei Tage jemanden zur Aushilfe holen. Ich werde mich heute noch umhören.“
„Du willst freiwillig jemand Fremdes hier haben?“, stichelte Hermine.
„Wenn du der Meinung bist, du hältst das Brauen durch, dann lasse ich es. Wie ich schon sagte, ich werde morgen noch in Hogwarts sein. Ich weiß nicht, wann ich hinzustoßen werde.“
„Nein, frage ruhig jemanden. Bin gespannt, wer das sein wird.“
„Ich werde mich kurz ins Wohnzimmer zurückziehen und einen Brief schreiben.“

Im Wohnzimmer war nichts von der vielen Arbeit im Labor zu spüren. Harry döste auf einem Sessel. Vom Kniesel war weit und breit nichts zu sehen. Wahrscheinlich, vermutete Severus, erfreute er sich an ein paar Singvögeln. In einer der Kisten, die seine Habseligkeiten beherrbergten, suchte Severus nach seinem alten Notizbuch, in welchem er auch Namen und Adressen festgehalten hatte. Er benötigte einen Zaubertränkemeister. Anderen Personen war es nicht erlaubt, an einem so heiklen Trank wie dem Wolfsbanntrank mitzubrauen. Als Erstes musste Severus – wie sollte es anders kommen – an Horace Slughorn denken. Dem betagten Tränkemeister lag allerdings mehr an Konversation und das wollte Severus weder Hermine noch sich selbst antun. Gedankenverloren fiel sein Blick auf die Aufgaben der Erstklässler: die Verbesserungsvorschläge. Die wollte er seinem Nachfolger Georgi Popovich zukommen lassen. Da war sie, die Idee. Severus kannte den Ravenclaw aus der Schule. Fähig war der Mann allemal, wo er doch jahrelang im Ministerium als Prüfer für die angehenden Tränkemeister fungierte. Man könnte zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Popovich bekäme die Vorschläge der Schüler und gleichzeitig würde Severus ihn um Hilfe bitten. Natürlich nicht zu offensichtlich.

Für den Brief benötigte Severus nicht lange. Kurz und knapp hatte er die Pergamente der Schüler erklärt, ein wenig Honig ums Maul geschmiert – eine Sache, die Lucius ihm beibrachte – und durchsickern lassen, dass die Apotheke für den aktuellen Wolfsbanntrank dringend eine helfende Hand benötigen würde. Georgi würde zusagen. Severus wusste, dass sein alter Schulkamerad immer gern gebraut hatte, aber als Prüfer nicht mehr dazu gekommen war.

Aus dem Flohbuch suchte er die korrekte Adresse von Popovich, die er auf den dicken Umschlag schrieb. Als Absender nannte er Granger Apotheke, schrieb gleich darunter seinen Namen. Mit diesem Umschlag ging Severus ins Labor, um sich für einen Augenblick zu verabschieden. Da sie keine eigenen Eulen besaßen, was sie demnächst ändern wollten, musste er den Brief zum Postamt bringen.

„Ich bin gleich wieder da, Hermine.“
„Bringst du mir was Süßes mit? Ein Schokoladeneis von Fortescues?“
„Ich wollte eigentlich nur zum Postamt.“
Hermine schien gestresst, denn sie bekam kleine Falten auf der Stirn. „Aber ohne etwas Schokolade halte ich die nächsten Tage nicht durch!“
Ihr Tonfall ließ keine Absage gelten. „Meinetwegen“, seufzte Severus. Es würde ihn nicht umbringen, bei Florean Fortescues Eissalon vorbeizuschauen.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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Kapitel 221 - 2/3

Die Winkelgasse war nicht überfüllt, dennoch waren hier und da Kunden unterwegs. Die meisten von denen besuchten die Apotheke. Severus schritt vorbei an Madam Malkins und warf nur einen flüchtigen Blick auf eine schwarze Herrengarderobe, die ihn daran erinnerte, sich demnächst etwas neue Kleidung zuzulegen, da seine zehn bis zwanzig Jahre alten Stücke schon allein wegen des Unterrichts mit tollpatschigen Kindern sehr gelitten haben.

Auf der anderen Straßenseite kam einer der Zwillinge entgegen. Bei der Entfernung war nicht auszumachen, ob es sich um George oder Fred handelte. Severus ging davon aus, dass man gerade die Einnahmen des Scherzartikelladens zur Bank gebracht hatte. Fred – oder George – nickte ihm zu, was Severus erwiderte. Nachdem der Zwilling aus dem Blickfeld verschwunden war, bemerkte Severus auf der gegenüberliegenden Seite das Sportgeschäft Qualität für Quidditch, welches gut besucht war. Er war so abgelenkt, dass er nicht bemerkte, wie jemand Flourish und Blotts verließ, als er schnellen Schrittes gerade die Eingangstür passierte.

Severus fühlte, wie sich etwas in seine Rippen bohrte. Eine fremde Schulter prallte gegen seine. Irgendetwas landete auf dem Boden. Bücher. Das war es, was Severus an seinen Rippen gespürt hatte. Beinahe hätte er den Fremden mit einer Schimpftirade bedacht, da wurde er wieder einmal Zeuge dessen, was das Leben für Überraschungen parat hielt.

„Mr. Snape“, sagte der rundliche Mann.
„Mr. Popovich, entschuldigen Sie …“
„Nein, ich muss mich entschuldigen.“

Die Bücher auf dem Boden waren schnell aufgesammelt, weil Severus half. Die Titel waren ihm nicht entgangen.

„Wie ich sehe“, er betrachtete eines der Bücher, „bereiten Sie sich jetzt schon auf den Umgang mit Schülern vor.“
Popovich lächelte, nickte dabei. „Ich habe noch nie mit Kindern gearbeitet, da möchte ich vorbereitet sein.“
Severus las den Titel eines der Bücher leise, bevor er den Rat gab: „Sie sollten sich lieber einen Sack Flöhe kaufen und mit dem üben. Da haben Sie mehr von.“
Popovich lachte. „Das glaube ich gern.“ Er hatte nun alle Bücher aufgehoben.
Während Severus ihm die anderen beiden reichte, die er vom Boden aufgelesen hatte, sagte er: „Nach dem ersten Schultag werden diese Bücher sicherlich im Kamin enden.“
Sichtlich desillusioniert verzog Popovich das Gesicht. „Wie soll ich mich denn sonst vorbereiten?“ Ein verzweifelter Seufzer folgte. „Ich wünschte, jemand könnte mir ein paar Ratschläge geben. Jemand vom Fach.“

Sein ehemaliger Mitschüler warf ihm einen Blick zu, den Severus richtig deutete. Offenbar kannte auch Popovich das Spiel mit den angedeuteten Hilfegesuchen, das eigentlich Severus beginnen wollte.

„Nun, ich würde Ihnen zu gern für Fragen zur Verfügung stehen“, als das Gesicht seines Gegenübers zu strahlen begann, unterbreitete Severus im Gegenzug sein Hilfegesuch, „aber die Arbeit in der Apotheke ist momentan äußerst aufreibend, so dass ich gezwungen bin, mich nach einem Tränkemeister umzusehen, der beim Wolfsbanntrank helfen könnte.“
„Oh …“, machte Popovich, entschied sich aber in Sekunden. „Wie Sie ja wissen, habe ich meinen Meister und wie der Zufall es will, bin ich vom Ministerium beurlaubt, bis ich im September in Hogwarts beginne. Resturlaub, Sie verstehen?“
Severus erlaubte seinen Mundwinkeln, ein sanftes Lächeln zu formen. „Ich glaube, ich verstehe sehr gut. Ab wann dürfte ich mit Ihnen rechnen?“
„Geht es nicht schon heute los?“
„Sie sind gut informiert. Ich wollte nur nicht so dreist sein …“
„Ach i wo! Ich habe Zeit“, beteuerte Popovich. „Von mir aus kann es losgehen. Ich habe eine halbe Ewigkeit keinen Wolfsbanntrank mehr gebraut.“
Popovich freute sich sogar, bemerkte Severus angenehm überrascht. Offenbar ging es seinem damaligen Mitschüler wie ihm selbst. Die Arbeit war gleichzeitig ein Steckenpferd. „Dann folgen Sie mir bitte.“ Nach nur drei Schritten hielt Severus inne. „Ach, beinahe vergaß ich … Ich muss noch etwas besorgen.“ Er blickte Popovich in die Augen. „Interesse an einem Eis?“
„Von Fortescues? Gern!“

In der Apotheke war eine Menge los, als Severus mit Popovich im Schlepptau sich einen Weg zur Theke durchkämpfte, um nach hinten in die privaten Räume zu gelangen.

„Ihre Bücher können Sie gern hier ablegen.“ Severus deutete auf einen Beistelltisch im Flur. Der Gast nahm den Vorschlag gern an. „Das Labor befindet sich hier.“ Popovich zog sich den Umhang aus und hängte ihn an einen ungenutzten Garderobenständer, bevor er Severus ins Labor folgte.
Kaum hatte Severus die Tür geöffnet, sagte Hermine, die mit dem Rücken zu ihm stand: „Bin ich froh, dass mein Eis jetzt da ist. Ich glaube, ich drehe hier bald am Rad.“ Als sie sich umdrehte, verschwand ihr fröhlicher Gesichtsausdruck und wechselte zu überrascht, als sie den Gast bemerkte. „Oh, Besuch.“
„Miss Granger, wir kennen uns ja bereits.“ Mit ausgestreckter Hand kam ihr ehemaliger Prüfer auf sie zu und schüttelte ihr die Hand. „Wie wäre es, wenn Sie Ihr Eis essen und ich mache einen Augenblick allein weiter?“
„Das ist ja … Wenn Träume wahr werden!“ Die Falten an ihrer Stirn verschwanden abrupt. Severus hielt ihr das Eis entgegen. Während Popovich sich an ihrem Kessel zu schaffen machte, flüsterte sie Severus zu: „Eines muss man dir lassen: Wenn du etwas in Angriff nimmst, dann kommt auch was bei raus.“
„Vielen Dank und jetzt verschwinde mit deinem Eis.“
„Bitte?“
„Du willst es doch wohl nicht hier im Labor essen? Was habe ich euch immer über das Essen am Arbeitsplatz eingetrichtert?“
Hermine musste schmunzeln, als sie ihr Eis nahm. „Ich bin im Garten und entspanne einen Moment.“

Gegen 17 Uhr nahmen die ersten Kunden den Wolfsbanntrank ein. Der Andrang in der Apotheke erstaunte Popovich im ersten Moment, doch er erinnerte sich schnell daran, dass er während Hermines Prüfung Unterlagen vom Mungos in der Hand gehalten hatte, die von eben jener geschmacklichen Verbesserung berichtet hatten. Vanillearoma.

Als es an die Tür zum Labor klopfte, vermutete Severus nochmals Daphne, doch es war Remus, der vorsichtig ins Zimmer schaute.

„Remus, komm rein“, bat Hermine.
Als sich Remus umschaute, erblickte er den Gastbrauer. Popovich zeigte mit dem Finger auf Remus, kniff dabei die Augen zusammen, bevor die Konzentration von seinem Gesicht fiel und er sagte: „Remus Lupin, Gryffindor! Ich wusste doch, dass ich Sie kenne.“
Remus betrachtete den Mann mit ebenso aufmerksamer Miene, bevor auch bei ihm der Groschen fiel. „Georgi Popovich, Ravenclaw.“
Die beiden Männer begrüßten sich per Handschlag. „Ich wusste gar nicht“, begann Remus, „dass du …“ Er hielt kurz inne. „Entschuldigung, ich meine, dass Sie …“
„Ach, lassen wir das Formelle einfach weg. Wir sind im nächsten Schuljahr sowieso Kollegen, wie ich das sehe.“
„Das siehst du richtig“, bestätigte Remus breit lächelnd. „Ich wusste gar nicht, dass du hier aushilfst.“ Ein fragender Blick zu Severus, doch der überließ die Konversation dem Ravenclaw.
„Hat sich kurzfristig ergeben. Bin ich auch ganz froh drüber, mal wieder an den Kessel zu kommen. Dann stehen die Chancen gut, dass ich mich während meiner ersten Schulstunde nicht so blamiere.“
„Du kannst keinen schlechteren Eindruck hinterlassen als ich“, widersprach Remus. „Als ich Severus einmal vertreten habe, ist mir doch glatt der Kessel geschmolzen.“
Endlich ein Thema, wo Severus etwas einwerfen konnte. „Und dabei hat Remus auch noch ein Loch in den Tisch gebrannt.“
„Ist das so?“ Georgi war über die Schilderung amüsiert, genau wie Remus.
„Das hat den Vorteil“, begann Severus gelassen, „dass Mr. Popovich mit neuen Arbeitsmittel gesegnet wurde.“

Die Unterhaltung zwischen Remus und Georgi unterbrach Severus nur ungern, denn es war unterhaltsam, den schönen Erinnerungen zu lauschen, die die beiden austauschten. An ein paar Dinge konnte sich auch Severus erinnern.

„Remus, auf ein Wort.“
Remus kam auf Severus zu. „Miss Greengrass hat schon gesagt, du wolltest mit mir sprechen.“
„Ganz recht. Es geht um … Wir sollten das Gespräch unter vier Augen führen.“

Als Freund genoss Remus das Privileg, ins Wohnzimmer gebeten zu werden, wo er gleich den Hund streichelte, der auf ihn zugelaufen kam.

„Es geht um Freitagnacht“, fühlte Severus vor. Das Thema Verwandlung bereitete ihm noch immer ein gewisses Unbehagen, das er wohl nie ganz ablegen könnte. „Ich möchte dich bitten, am Tag der Metamorphose hier zu bleiben.“
„Ich weiß nicht …“
„Es ist von wissenschaftlichem Interesse, falls das Elixier des Lebens Resultate aufweisen sollte, die bis dato völlig unbekannt sind.“
Remus strahlte. „Dann glaubst du also doch, ich wäre den Fluch womöglich los?“
„Nein, das habe ich nie gesagt. Die Ungewissheit bleibt bis zuletzt bestehen.“
„Warum soll ich dann hier bleiben? Reicht es nicht, wenn ich euch mitteile, ob ich mich verwandelt habe oder nicht?“

Wie Hermine schon sagte war Remus in Bezug auf seine Verwandlung äußerst zurückhaltend. Er sträubte sich.

„Es wird niemand zugegen sein, wenn du dich verwandelst.“
„Dann verstehe ich noch weniger, warum ich bei euch bleiben soll.“
Severus atmete einmal tief durch. „Ich meinte damit, dass wir nur zum tatsächlichen Zeitpunkt der Metamor…“
„Severus!“ Mit leicht erhobener Stimme hatte sich Remus Gehör verschafft. „Um was du mich da bittest greift enorm in meine Privatsphäre ein.“
Severus legte den Kopf schräg. „Sofern ich mich entsinne, warst du bereits einmal in deiner, ähm, anderen Gestalt mit Hermine zusammen, auch wegen eines wissenschaftlichen Experiments.“
„Nimm es mir nicht übel, Severus, aber Hermine kenne ich auch schon etwas besser als dich.“
Die Aussage traf Severus, obwohl er sich nicht erklären konnte, warum. „Dann hätte sie dich darum bitten müssen, wie ich es ihr vorgeschlagen habe. Sie war dennoch der Ansicht, ich sollte dich persönlich fragen, weil wir beide“, Severus wurde leiser, „ebenfalls befreundet sind.“
Nach diesen Worten wurde Remus’ Gesichtsausdruck milde. „Falls ich nach dem letzten Trank hierbleiben sollte, wo würde ich dann unterkommen?“
„Im Keller.“ Bevor Remus fragen würde, ob er die Örtlichkeiten besichtigen dürfte, erklärte Severus: „Der wird noch hergerichtet.“
Remus haderte mich sich. „Ich werde es nicht versprechen, Severus. Ich überleg es mir.“
Severus nickte. „Danke, Remus. Es würde mir wirklich viel bedeuten, Zeuge einer eventuell heilenden Auswirkung zu sein. Und falls etwas Unvorhergesehenes geschehen sollte, dann ist immer noch Hermine hier, als Heilerin.“
Remus schnaufte. „Von einem anwesenden Veterinär hätten wir drei aber mehr.“

Es war für Severus unmöglich, das Lächeln aufzuhalten, dass sich freimütig auf seinem Gesicht abzeichnete, aber das Beste war, dass er es gar nicht unterdrücken wollte. Einem Freund gegenüber musste er nichts verbergen.

„Dann sehen wir uns morgen in der Schule – und abends zum Trank.“ Remus schlug bereits den Weg zum Kamin ein, da hielt Severus ihn auf.
„Warte!“ Remus drehte sich um. Diesen Moment nutzte Severus für eine spontane Entscheidung. „Ich möchte dir etwas zeigen.“

Mit hochgezogenen Augenbrauen wartete Remus geduldig. Er rechnete damit, dass Severus ihm vielleicht ein Buch zeigen würde, ein altes Foto oder irgendetwas anderes. Nicht im Traum hätte er geglaubt, dass Severus ihm aus freien Stücken ein wenig Persönlichkeit preisgeben würde. Vor Remus stand mit einem Male ein großer, grauschwarzer Vogel mit rot umrandeten Augen. Er kannte ihn aus einem Buch, das Severus ihm eines Nachts in der Bibliothek gezeigt hatte. Von Severus’ Animagusgestalt wusste Remus, doch gesehen hatte er sie nie.

„Das ist ganz schön imposant, weißt du das?“, lobte Remus grinsend, als er den riesigen Vogel betrachtete.

Sein erstes Mal hatte Severus nie vergessen. Die Freiheit, die Lebendigkeit, die er gespürt hatte, als er während des Unterrichts bei Minerva im wahrsten Sinne des Wortes ausgeflogen war. Die anderen Verwandlungen waren nur dazu dienlich gewesen, die Trankzutaten für Hermines Heilmittel zu liefern. Federn vom Sekretär. Severus nahm sich fest vor, öfters seine Gestalt zu wechseln und die Lüfte zu genießen. Schweren Herzens verwandelte er sich zurück.

„Ich dachte, da du es schon weißt, dass du die Gestalt auch mal zu Augen bekommen solltest.“
Remus nickte, grinste noch immer. „Ein wirklich beeindruckendes Tier, Severus.“

Diese Darbietung von Vertrauen machte Remus die Entscheidung leichter. Er würde sich bereiterklären, am Freitag im Keller der Apotheke auf seine monatliche Verwandlung zu warten.

Nachdem Remus gegangen war, gesellte sich Severus wieder zu den beiden ins Labor. Zwei große Kessel Wolfsbanntrank wurden nach und nach von den ersten Kunden geleert.

Am Abend nutzte Severus die Verabschiedung, um Popovich die Pergamente der Schüler in die Hand zu drücken. Sein persönliche Schreiben und den Umschlag hatte er weggeworfen. Von den Verbesserungsvorschlägen völlig überwältigt bedankte sich Popovich und versprach, Hermine morgen ab sieben Uhr in der Frühe zu helfen. Möglicherweise fand sie deshalb den notwenigen Schlaf, weil sie sich keine Sorgen mehr machte, ihre Arbeit womöglich nicht zu schaffen.

Wie selbstverständlich legte sich Hermine in Severus’ Bett und begann schon zu dösen, als sie neben sich eine Bewegung auf der Matratze verspürte. Hermine drehte sich um und sog erschrocken Luft ein, weil Severus mit seinem Gesicht plötzlich ganz dicht bei ihr war, sich auf seinem Ellenbogen abstützte.

„Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken“, flüsterte er. „Ich wollte mich lediglich an einer romantischen Annäherung versuchen.“
„Oh“, machte sie verlegen. Gleich im Anschluss warf sie die Hände über den Kopf und versicherte: „Nur zu, ich bin ganz dein.“

Im Bett hatten sie sich noch nie geküsst, vielleicht weil beide die Befürchtung hatten, eines würde zum anderen führen. Hermine wäre für alles bereit, dachte sie, als sie in der Dunkelheit seinen Atem an ihrer Wange spürte und erwartungsvoll die Lippen öffnete. Es war alles andere als ein Gutenachtkuss, den er ihr gab, denn dafür war er zu feurig, aber nicht feurig genug, um in zügelloser Leidenschaft zu enden.

Nach wenigen Minuten entfernte sich Severus von ihr, was sie mit einem brummenden Geräusch kommentierte.

„Noch nicht aufhören“, nörgelte sie.
„Wir müssen um sechs aufstehen“, hörte sie ihn flüstern. Einen Augenblick später fügte er hinzu: „Es ist schon drei durch.“

Sie hatte offenbar nicht nur gedöst, sondern tatsächlich schon mindestens zwei Stunden geschlafen. Hermine seufzte. Für ihre Wünsche wäre erst nach dem Wolfsbanntrank Platz. Dennoch ließ sie es sich nicht nehmen, sich an ihn zu schmiegen, um die letzten drei Stunden der Nacht nicht nur ihren wohl verdienten Schlaf zu finden, sondern auch die Nähe zu spüren, die sie schon so lange misste.

Als sie aufwachte, lag sie noch genauso da wie zuvor. Einen Arm hatte sie über Severus dünne Taille geworfen. Ihr Kopf lag in seiner Armbeuge und seine Hand ruhte auf ihrer Schulter – zumindest beinahe, denn während des Schlafens war seine Hand näher zu ihren Rippen gerutscht. Sie genoss das Gefühl, mit dem sie nachts eingeschlafen war. Ein Single zu sein machte ihr nichts aus, aber in einer Beziehung zu leben und noch immer keusch nebeneinander zu liegen war nervenaufreibend. Hermine bemerkte eine minimale Veränderung in seiner Atmung, die ihr verriet, dass Severus langsam erwachte. Beide verfügten über einen inneren Wecker, auf den man sich verlassen konnte.

„Hermine?“
„Mmmh?“
„Ich fühle meinen rechten Arm nicht mehr.“
Sie grinste. „Der ist noch da. Ich liege auf ihm.“
„Dann bin ich ja beruhigt“, murmelte er verschlafen. Er begann erst zu Grummeln, als der Wecker klingelte. „Scheußliches Geräusch“, beschwerte er sich mürrisch.
Hermine drehte sich und stellte den Wecker aus. „Morgenstund hat …“
„Verschone mich bitte. Ich möchte in Ruhe erwachen.“
„Ich mach Frühstück.“ Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange und schwang sich aus den Federn.

Mit dem Frühstück waren beide fertig, als pünktlich um sieben Uhr Mr. Popovich an die Tür klopfte. Die drei begannen zusammen zu brauen. Erstaunlicherweise fand Severus die Unterhaltung, die Georgi anregte, interessant. Severus wurde einiges gefragt, was den Unterricht mit den Schülern betraf. Die Verbesserungsvorschläge war Georgi noch gestern Abend durchgegangen.

„Ich denke“, begann Georgi, „dass ich eine Arbeitsgruppe ins Leben rufen werde. So wie wir damals eine bei Slughorn hatten.“
Severus erinnerte sich daran und fragte sich, warum er nie auf die Idee gekommen war, die intelligentesten Köpfe seiner Klassen zusammenzuführen und zu fördern. „Die Schüler werden begeistert sein.“ Ein Blick auf die Uhr. „Ich muss leider los. Heute ist der letzte Schultag.“
Hermine blickte von ihrem Schneidebrett auf. „Ich drück die Daumen, dass Slytherin den Pokal gewinnt.“
„Sie waren in Slytherin?“, fragte Georgi vorsichtig nach.
„Nein, in Gryffindor.“
„Und dann wünschen Sie alles Gute für Slytherin?“
„Sie hätten es verdient“, gab sie als ehrliche Antwort.
Severus reichte seine geschnittenen Zutaten an Georgi weiter und ging zu Hermine hinüber. „Ich weiß nicht, wie lang es dauern wird. Die Schüler fahren heute ab. Ich hoffe innig, dass danach die Lehrer auch entlassen werden.“
„Viel Glück“, flüsterte sie und gab ihm unverhofft einen Kuss auf die Wange, wie sie es oft tat, wenn er nach Hogwarts aufbrach. Zu spät wurde sie sich darüber bewusst, dass dieser Gewohnheit heute ein Zeuge beiwohnte. Nach Severus’ Gesichtsausdruck zu urteilen war es ihm unangenehm, doch er verlor kein Wort darüber, sondern nickte ihr zu und verschwand. Georgi unterließ es, sie auf die Beziehung anzusprechen, doch sie konnte einmal sehen, dass er lächelte, als sich ihre Blicke zufällig trafen.

Hogwarts. Die Schule für Hexerei und Zauberei in Schottland.

Als Severus am heutigen Tag aus dem Kamin heraus in die Kerker trat, verspürte er ein paradoxes Gefühl. Ein Gefühl aus Wehmut, weil er diese Umgebung verlassen würde, und Freude aus genau demselben Grund. Von diesem Gefühl wollte er sich nicht ablenken lassen. Sein Weg führte ihn direkt ins Lehrerzimmer. Albus wollte am Tag der Abreise immer alle Lehrer versammelt wissen. Hoffentlich, dachte Severus, würde man ihm nicht noch kurzfristig die Aufsichtspflicht auf die Nase binden. Er hatte keine Lust, mit zum Bahnhof nach Hogsmeade zu gehen.

„Ah, guten Morgen, Severus“, grüßte der kleinwüchsige Lehrer, als Severus den Raum betrat.
„Guten Morgen, Filius.“ Im Raum blickte sich Severus um. „Pomona.“ Er nickte auch ihr grüßend zu.
Gleich nach Severus trat noch jemand ins Lehrerzimmer. Es war Neville, der das stetig sanfte Lächeln auf seinen Lippen gar nicht zu bemerken schien. „Einen wunderschönen guten Morgen alle miteinander.“

Pomona stürmte gleich auf ihn zu, rieb ihm den Rücken und war selbst den Tränen nahe. Aufgrund von Filius’ fragendem Gesichtsausdruck ging Severus davon aus, dass noch nicht alle von den guten Neuigkeiten wussten. Severus gönnte sich eine Tasse von dem starken Kaffee. Gerade nahm er einen Schluck, da wurde die Tür abermals geöffnet. Die Lehrerin für Arithmantik, Septina Vektor, trat ein. Im Schlepptau hatte sie ihre Freundin und Kollegin Aurora Sinistra, die Astronomie unterrichtete. Als sie Severus erblickten, hielten beide Frauen einen Augenblick inne, bevor sie die Köpfe zusammensteckten und – Severus traute seinen Augen kaum – flüsterten. Über ihn? Beide sahen nochmals zu ihm hinüber, was sein Gefühl nur noch bestätigte, dass die Kolleginnen über ihn sprechen mussten. Er wurde abgelenkt, als Harry eintrat. In der Hand hielt er einen dicken Katalog. Zielstrebig steuerte Hogwarts’ jüngster Lehrer auf Severus zu und nahm neben ihm Platz. Harry hielt ihm eine aufgeschlagene Seite des Katalogs entgegen.

„Tu mir einen Gefallen. Lies das“, er tippte auf den Text, der neben einem abgebildeten Haus stand, „und sag mir danach, was du denkst.“ Von der Bitte zwar überrascht kam Severus ihr dennoch nach. Er nahm den Katalog und begann zu lesen. Las den Text sogar noch ein zweites Mal, samt Bildunterschriften und anderer Angaben. „Und?“, fragte Harry.
Severus blickte auf. „Wenn du damit liebäugeln solltest, das Haus zu kaufen“, hier nickte Harry, „dann solltest du fragen, warum es so günstig zu haben ist.“
„Was hat dich stutzig gemacht?“ Harry zeigte auf die Seite. „Die Beschreibung? Oder vielleicht das Bild?“
Severus schüttelte den Kopf. „Es ist die Tatsache, dass der Preis für dieses Haus ganz offensichtlich aus dem Rahmen fällt.“
„Vielleicht bedeutet dem Besitzer Geld einfach nicht so viel.“ Wegen seiner Theorie erntete er einen ungläubigen Blick von Severus. „Mir bedeutet Geld auch nicht viel.“
„Das sagen immer diejenigen, die am meisten davon haben.“

Harry nahm den Katalog zurück und versank in der himmlischen Landschaft, von der sein Traumhaus umgeben war. Bald ging Harry alle Kollegen durch und stellte die gleiche Frage. Währenddessen beobachtete Severus nochmals die beiden Kolleginnen. Mit Septina hatte er für einen Moment Blickkontakt, doch anstatt den abzubrechen nahm sie das als Anlass, sich ihm zu nähern und sich auf den Stuhl neben ihm zu setzen. Sie schaute ihn nochmals an. Severus wartete geduldig, bis sie ihr Anliegen loswerden würde, doch er täuschte sich, denn sie blickte auf den Tisch vor sich. Ihr Verhalten konnte er nur als seltsam bezeichnen. Als sie wiederholt zu ihm sah, wurde es ihm zu viel.

„Ich würde sagen, Sie reden freiheraus oder setzen sich wieder hinüber zu Aurora, die uns beide offenbar die ganze Zeit nicht aus den Augen lässt.“
„Es ist nur“, Septina seufzte. „Ich möchte nicht, dass Sie denken, ich wollte in Ihre Privatsphäre eindringen.“
„Werden Sie bitte genauer.“
„Die Berechnungen …“

Septinas Worte erstarben in ihrem Hals, als sie mit ansehen musste, wie sich eine geisterhafte Blässe auf seinen Wangen niederschlug. Würde noch mehr Blut aus seinem Gesicht entweichen, würde seine Physiognomie der von Sir Nicholas gleichen.

„Ich wollte nur wissen, ob wir eine Hilfe waren“, hauchte sie. Septina bereute ihre Worte. „Es tut mir leid, dass ich Sie damit behelligt habe. Nichts für ungut, Severus.“
Sie wollte bereits aufstehen, da hielt Severus sie zurück. Er brachte es nicht übers Herz sie anzusehen. „Ich verstehe gut“, begann er leise, „dass Sie eine Bestätigung Ihrer Fähigkeiten bezüglich dieser außergewöhnlich schweren Aufgabe haben möchten.“
„Darum geht es mir wirklich nicht“, beteuerte sie, während sie ihm einen mitleidigen Blick schenkte, der ihm zuwider wäre, hätte er ihn gesehen. „Ich möchte nur wissen, ob es erfolgreich war.“

Severus wusste, dass sie aufgrund der reinen Berechnung von Hermine sehr wohl wusste, um was es bei der ganzen Sache ging. Es war kein belangloses Schulprojekt von irgendeinem Schüler gewesen, das Sinistra korrekturgerechnet hatte. Ihr war klar, dass Hermines Bestreben darin bestand, einen Weg zu finden, Severus zu einer intakten Seele zu verhelfen. Der Gedanke um die Mitwisser war ihm damals schon gekommen, als er das erste Mal von Hermines Helfern hörte. Auch Remus hatte seinen Teil dazu beigetragen sowie Neville. Severus hätte nur nie damit gerechnet, dass sich jemand nach seinem Wohlbefinden erkundigen würde; dass jemand fragen könnte, ob er wieder eine Seele sein Eigen nennen durfte. Ein wenig Anerkennung könnte er diesen Menschen ruhig entgegenbringen. Nicht weil er es ihnen schuldig war, sondern weil er selbst entscheiden konnte, wem er danken wollte.

„Aurora und Sie haben großartige Arbeit geleistet, Septina.“ Es war ein erleichterndes Gefühl, einem Menschen seinen aufrichtigen Dank auszusprechen, ohne dabei deutlich werden zu müssen. Damit hatte er Septina sogar glücklich gemacht, wie man es an ihrem strahlenden Lächeln sehen konnte.
„Das freut mich“, sie schaute kurz zu Aurora hinüber und nickte. „Uns“, verbesserte sie. „Es war eine umwerfend genaue Berechnung, die Hermine da erstellt hat.“ Stolz für die ehemalige Schülerin schwang in Septinas Worten mit, den Severus gern mit ihr teilte. „Es wäre bedauerlich, wäre das alles umsonst gewesen.“
„Es hatte den gewünschten Erfolg“, versicherte Severus.
„Dann bin ich froh.“ Septina legte, obwohl Severus’ Abneigung gegen Berührungen jeglicher Art bekannt war, eine Hand auf seine Schulter. „Das freut mich wirklich sehr.“

Gleich darauf stand sie auf und ging zu Aurora zurück, die ihr eine Tasse Kaffee reichte. Die beiden sprachen wieder in normaler Lautstärke über alles Mögliche. Severus war sich sicher, dass beide sich zurückziehen würden, bevor man ihn als Gesprächsthema wählte.

Bald waren alle im Lehrerzimmer versammelt. Albus stellte klar, dass Hagrid, Harry und Filius nach dem Frühstück die Kinder zum Bahnhof begleiten sollten. Was Severus stutzig machte war die Aufforderung, sich nach der Abreise der Kinder nochmals hier im Lehrerzimmer einzufinden, doch es gab keine Widerrede. Albus’ Worte waren in Hogwarts Gesetz.

Gemeinsam schlenderte man zur großen Halle, in der sich bereits einige Schüler ausgelassen miteinander unterhielten. Die Aufbruchsstimmung kannte Harry, und sie hatte ihm nie gefallen. Alle Mitschüler um ihn herum hatten sich immer auf Zuhause gefreut: auf die Eltern und Geschwister, auf das eigene Zimmer, die eigenen Spielsachen oder auf Freunde, die zurückbleiben mussten. All das hatte Harry nie gehabt. Nur wenn er in den Fuchsbau eingeladen war, hatte er sich riesig gefreut. Das war seine Familie gewesen. Auf die Weasleys konnte er sich immer freuen. So einen Ort, den er Heim nennen wollte, suchte Harry nun für seine Familie. Albus hatte ihm versichert, dass sie in Hogwarts bleiben konnten, bis er etwas Passendes gefunden hätte. Einen Hauskauf sollte man nicht übers Knie brechen. Das, was ihm am meisten zusagte, wurde jedoch von allen anderen mit gerümpfter Nase betrachtet. Sein Traumhaus mit dem unsichtbaren Haken. Den Besichtigungstermin hatte Harry für morgen ausgemacht.

Als alle Schüler endlich anwesend waren, erhob sich der Direktor und richtete das Wort an sie.

„Ich kann mir gut vorstellen, wie groß die Vorfreude auf die Heimreise ist.“ Durchweg alle Schüler trugen ein Lächeln im Gesicht. „Doch ich kann euch schwerlich gehen lassen, ohne vorher den Hauspokal zu vergeben.“

Severus schaute zu Minerva hinüber, die sich ihrer Sache sehr sicher schien. Das verriet ihr gelassener Gesichtsausdruck, der sogar einige Falten verschwinden ließ. Ihm selbst war es egal, wer gewinnen würde. Für Severus zählte nur noch die Apotheke. Er fühlte sich jetzt bereits fehl am Platz.

„Der Sieg beim letzten Quidditchspiel hat für ein paar weitere Smaragde im Stundenglas der Slytherins gesorgt. Gryffindor liegt noch knapp an erster Stelle.“ Albus strich sich über seinen weißen Bart. „Ich habe noch ein paar Punkte zu vergeben.“ Severus seufzte. Der Direktor hatte das damals fast jedes Jahr gemacht, um die Spannung zu steigern. „Zwanzig Punkte für Hufflepuff. Miss Meredith Beerbaum war gestern so freundlich“, alle Blicke waren mit einem Male auf die Schülerin gerichtet, „den ganzen Tag lang Professor Sprout selbstlos ihre Hilfe in den Gewächshäusern anzubieten.“ Die Schüler klatschten, aber nicht wegen der zusätzlichen Punkte, sondern weil Hufflepuff mit ihnen Ravenclaw überholt hatte, die jetzt den vierten Platz belegten. „Außerdem zehn Punkte für Miss Ginevra Weasley aus Gryffindor, die nicht nur den Schülern ihres Hauses das ganze Jahr über uneigennützig Nachhilfe leistete.“ Mit dem Anstieg der Punkte für Gryffindor stieg auch die gute Laune von Minerva, wie Severus feststelle. „Ebenfalls zehn Punkte für Slytherin, weil Mr. Draco Malfoy so frei war, jedem Schüler Nachhilfeunterricht in Zaubertränken anzubieten.“ Der Applaus für Ginny ging über in den Applaus für Draco. „Und nicht zuletzt sechzig Punkte für ein Haus, das sich am meisten dafür einsetzte, der Botschaft zu folgen, die unser Sprechende Hut zum Schulbeginn vermittelt hat.“

Bei sechzig Punkten wurde es sogar Minerva zu viel. Aufgebracht schaute sie zu Albus hinüber, während sie sich an das Lied des Sprechendes Hutes zu erinnern versuchte – wie jeder andere auch.

Von einer Seite hörte Severus Harrys Stimme, die leise sagte: „Mit Antrieb, Mühe und viel Kraft erlangt man große Brüderschaft.“
Severus Kopf schnellte herum. „Was war das bitte?“
„Das war ein Teil aus dem Lied. Das ist mir irgendwie hängengeblieben, genau wie ein anderer.“
„Und wie lautete der andere Teil?“
Harry grübelte, bevor er guten Gewissens wiedergab: „Die Türen der Häuser haltet offen, so könnt ihr auf neue Freunde hoffen.“
Severus schnaufte amüsiert. „Warum ist dir bei Zaubertränken nie so viel hängengeblieben?“
„Weil sich Affodillwurzel nicht auf Bezoar reimt“, hielt er frech dagegen.

Als der Direktor erneut das Wort ergriff, schaue jeder zu ihm auf.

„Es war in meinen Augen eine sehr eindrucksvolle Leistung, wie man sich den Ratschlag des Sprechendes Hutes zu Herzen genommen hat. Das Alter war egal, die Häuserzugehörigkeit, das Geschlecht. Über all das wurde hinweggesehen.“ Albus blickte einmal auf alle vier Tische. „Nur die gemeinsame Leidenschaft für eine Sache zählte: Sport. Dafür, dass ein einziges Haus es geschafft hat, nicht nur symbolisch alle Häuser zu vertreten, verdient sich Slytherin mit ihrer kunterbunt zusammengewürfelten Quidditch-Mannschaft sechzig Punkte hinzu.“

Die Menge applaudierte, selbst die Gryffindors, für die diese Punktevergabe am Ende doch den zweiten Platz bedeutete. Jedes Haus feierte diesen Sieg, denn die Quidditch-Mannschaft der Slytherin beherbergte Schüler aus allen vier Häusern.

Draco konnte es noch gar nicht glauben. Erst als der Direktor die große Halle umdekorierte und die roten Fahnen mit den Löwen den grünen mit ihrer sich windenden Schlange wichen, da wurde Draco bewusst, dass Slytherin nicht nur den Quidditch-Pokal gewonnen hatte, sondern auch den Hauspokal.

Am Lehrertisch wurde ebenso geklatscht wie an den Tischen der Schüler. Erst das auftauchende, üppige Frühstück ließ den freudigen Applaus versiegen. Man widmete sich dem Essen. Minerva, die neben Harry saß, beugte sich zu Severus.

Severus nahm sich die Freiheit, Minerva ein provokant freundliches Lächeln zu schenken, woraufhin sie vorgetäuscht grimmig zeterte: „Das wird im nächsten Jahr wieder anders aussehen, Severus.“
„Mag sein“, er nickte, „aber dann werde ich nicht mehr hier sein, um es zu sehen.“ Er deutete auf die grünen Symbole Slytherins. „Das hier wird das Letzte sein, das ich mit Hogwarts in Verbindung bringen werde.“
„Das lässt sich ändern“, sagte sie mit strengem Blick. „Ich werde dir nächstes Jahr ein Foto schicken, wenn alles wieder hübsch rot ist.“ Sie konnte ihre aufgesetzt strenge Miene nicht beibehalten und lächelte einseitig.

Das ganze Frühstück über nahm Severus den seltenen Anblick in sich auf, den die große Halle nun bot. Die Farbe seines Hauses stach hervor, genau wie das Symbol von Slytherin. Es hatte sich doch gelohnt, heute hier zu erscheinen. Severus war stolz auf sein Haus und nicht zuletzt auf seine Schüler, die das überhaupt ermöglicht hatten.

Nach dem Frühstück wollte Severus sich heimlich durch den Hintereingang der großen Halle verdrücken, doch Albus hielt ihn auf und verwickelte ihn in ein Gespräch, führte ihn dabei an den Tischen der Schüler entlang, um den Weg zur Eingangshalle einzuschlagen. Harry und Remus folgten dicht dahinter.

„Ich gratuliere, Severus.“
„Wofür?“
Albus lachte kurz auf. „Dafür, dass Slytherin den Hauspokal gewonnen hat.“
„Davon werde ich leider nicht sehr viel haben. Das ganze nächste Schuljahr wird es für Minerva eine Qual sein, in einer slytheringrün eingerichteten Halle zu essen – und ich werde das leider nicht miterleben können.“
„Sie gönnt es dir von Herzen.“

Severus fragte sich, ob Albus absichtlich so langsam ging, so dass beinahe alle Schüler sie bereits überholt hatten. Albus legte eine Hand auf seine Schulter, woraufhin sie kurz stoppten.

„Und morgen beginnt für dich die harte Arbeit in der Apotheke?“
„Hart ist die Arbeit bisher nur um Vollmond herum.“
„Ah, verstehe.“ Albus nickte geistesabwesend. „Ich werde euch gern mal besuchen kommen, wenn ich einen Halt bei Weasleys Zauberhafte Zauberscherze mache.“
Severus stutzte. „Du kaufst dort ein?“
„Zumindest erkundige ich mich über die neusten Artikel. Als Direktor muss ich auf dem Laufenden sein. Ich informiere mich darüber, mit was für Späßen man von den Schüler rechnen muss“, Albus schmunzelte, „und das ein oder andere kaufe ich mir auch.“
„Damit könntest du als schlechtes Beispiel vorangehen, Albus.“

Gerade hatten sie die große Flügeltür passiert, da blieb Severus verdutzt stehen, denn es hatten sich Schüler in der Eingangshalle versammelt. Das wäre normalerweise nicht ungewöhnlich, doch die Schüler verhielten sich ruhig, waren in Grüppchen aufgeteilt und blickten allesamt stumm auf Albus und Severus.

„Was ist denn hier los?“, hörte man hinter Severus. Es war Harry, der gemeinsam mit Remus gefolgt war. Harry schaute an Severus vorbei, erblickte ebenfalls die Schüler. „Was …?“

Von Hufflepuff kam Meredith Beerbaum auf die beiden zu. In ihren Händen hielt sie zwei Päckchen. Sie stellte sich vor Harry und Severus. Dass sie nervös war, konnte man an ihren Augen sehen, denn sie blinzelte oft. Ihr Lächeln war jedoch echt.

„Professor Snape, Professor Potter. Wir aus Hufflepuff möchten Ihnen beiden alles Gute für Ihren weiteren Lebensweg wünschen. Und wir möchten uns bei Ihnen für die vielen Stunden bedanken, die das Lernen angenehm gestaltet haben. Professor Potter sind wir besonders dankbar dafür, dass er die Schüler in den Ferien auf Ausflügen in die Muggelwelt begleitet hat.“ Meredith reichte Harry eines der beiden Päckchen. „Und bei Professor Snape bedanken wir uns dafür, dass er einen Schüler seines Hauses dazu ermutigt hat, Nachhilfeunterricht zu geben.“ Leiser, so dass zwar Albus, Harry und Remus es hören konnte, jedoch nicht die Schüler hinter ihr, sagte sie zu ihrem Professor für Zaubertränke: „Für Ihren ganz persönlichen Einsatz bin ich besonders dankbar, denn sonst hätte ich dieses Schuljahr gar nicht erleben können.“

Wegen ihrer Worte musste Severus hörbar schlucken, denn sie sprach den Moment auf dem Friedhof an, als sie Opfer eines Attentats wurde und er Schlimmeres verhindern konnte. Auch Severus bekam ein Geschenk überreicht. Er nahm es an, säuselte verlegen ein paar Worte des Dankes und hoffte, es wäre alles vorbei, doch weit gefehlt. Nachdem Meredith zurück zu ihren Mitschülern gegangen war, löste sich ein anderes Individuum aus der versammelten Schülerschaft. Linus Korrelian war ebenfalls mit zwei Geschenken bewaffnet und näherte sich den beiden Lehrern, um im Auftrag der Ravenclaws seinen Dank auszusprechen.

„Professor Potter, Professor Snape. Ravenclaw wird Sie beide sehr vermissen“, sagte der schmächtige Erstklässler. Linus blickte Harry an. „Sie haben den Unterricht immer sehr lustig gestaltet.“
„Lustig?“, warf Severus ein, als er zu Harry blickte. „Sie sollen den Schülern etwas beibringen, nicht sie unterhalten.“
Linus musste grinsen, genau wie Harry und alle anderen, die das gehört hatten. Der Junge richtete das Wort an Severus. „Und Sie, Professor Snape, haben immer gezeigt, dass man mit Zaubertränken nicht spaßen darf. Wir haben uns bei Madam Pomfrey erkundigt und erfahren, dass dies das erste Jahr war, in dem kein Schüler durch einen Zaubertränkeunfall verletzt wurde, was wir Ihrer strengen Aufsicht zu verdanken haben.“ Linus hielt den beiden Lehrern die Geschenke entgegen. „Für Sie beide ein Ausdruck unseres Dankes.“ Bevor Linus sich abwandte, sagte er leise: „Ach ja, und danke, dass Sie beide meine Schokofroschkarten signiert haben. Wenn die neue Edition herauskommt, darf ich dann nochmal bei Ihnen anklopfen?“
„Versuchen können Sie es ruhig“, entgegnete Severus gelassen, womit sich Linus bereits zufriedengab.

Albus und Remus waren so freundlich, die Geschenke für einen Moment zu halten, denn natürlich fehlten noch zwei Häuser. Innerlich rollte Severus mit den Augen, als Miss Clavick sich aus der Gruppe der Gryffindors löste. Wahrscheinlich hatte sie auch die Reden der anderen beiden Schüler geschrieben, vermutete er. Ihre Augen funkelten frech, als sie Harry und Severus anblickte.

„Im Namen von Gryffindor möchte ich Ihnen übermitteln, was für eine große Ehre es war, von Ihnen beiden unterrichtet zu werden. Zwei Träger des Merlinordens, denen …“
Severus hatte den spontanen Einfall, Miss Clavick aus dem Konzept zu bringen. „Ach, bitte überspringen Sie einfach den theatralischen Teil der Rede.“
Miss Clavick schien irritiert, blickte sich hilflos um. „Jetzt haben Sie mich doch tatsächlich rausgebracht!“ Im Hintergrund kicherten ein paar der Schüler, auch Miss Clavick musste grinsen. Sie fummelte an ihrem Umhang und zog ein Stück Pergament heraus, las sich kurz ein. „Jetzt weiß ich wieder.“ Das Pergament steckte sie weg, bevor sie nochmals die beiden Lehrer anschaute. Severus verschmitztes Lächeln war ihr nicht entgangen. „Zwei Träger des Merlinordens, denen der Ruhm nicht zu Kopf gestiegen ist.“ Sie legte den Kopf schräg und wartete auf Widerworte, doch die kamen nicht. „Ihre Unterrichtsmethoden standen beide im völligen Gegensatz zueinander, aber die Effektivität war die gleiche. Wir von Gryffindor werden noch lange an Sie beide denken müssen, und auch an die kleinen Scherze, die Sie miteinander trieben.“
„Was denn für Scherze?“, fragte Harry in die Runde hinein.
Bevor Severus sie stoppen konnte, sagte Miss Clavick: „Professor Snape hat mich dazu angestiftet, Sie mit Fragen zu löchern.“
Mit zusammengekniffenen Augen blickte Harry zu Severus. „Vielen Dank auch! Schade, dass ich Ihnen das im nächsten Jahr nicht mehr heimzahlen kann, Professor Snape. Ich konnte drei Fragen von Miss Clavick nämlich nicht beantworten!“
„Das waren Fangfragen, Professor Potter“, erklärte Miss Clavick mit neckischem Lächeln, „die hätte niemand beantworten können.“
„Wirklich? Jetzt fühle ich mich besser. Ich dachte schon, ich würde als Lehrer nichts taugen.“ Weil Severus ihn daraufhin anblickte und den Mund öffnete, um etwas zu sagen, verbat sich Harry: „Bitte kein Kommentar, werter Kollege.“

Die Schüler lachten amüsiert, während Miss Clavick den beiden Lehrern ein Geschenk überreichte und zurück in die Schülermenge trat. Fehlte noch Slytherin. Es war nicht Draco, von dem beide es erwartet hätten, sondern Gordian Foster, der sich Harry und Severus näherte.

„Professor Potter, im Namen von Slytherin möchten wir Ihnen für Ihre unvoreingenommene Herangehensweise danken. Wir wissen, dass Sie in Ihrer Kindheit nicht gut auf Slytherin zu sprechen waren.“
Severus schnaufte amüsiert. „Das ist noch untertrieben.“
„Lassen Sie sich nicht stören, Mr. Foster“, riet Harry freundlich lächelnd.
„Sie, Professor Potter, haben gleich zu Beginn Wert darauf gelegt, dass die Schüler sich untereinander kennenlernen. Das hat sehr viel zu unserer jetzigen Verbundenheit mit anderen Häusern beigetragen.“ Gordian reichte Harry das Geschenk. „Wir bedanken uns für den unterhaltsamen und zugleich lehrreichen Unterricht, Professor Potter.“ Nachdem Harry das Geschenk angenommen hatte, wandte sich Gordian an seinen Hauslehrer. „Professor Snape“, der Junge schien berührt – oder er war einfach nur aufgeregt –, denn er atmete schnell und schluckte mehrmals, bevor er seine Rede begann. „Auch wenn man Ihren Unterricht eher als streng klassifizieren würde, ist in Zaubertränken kein einziger Schüler unter ein Annehmbar gerutscht. Zu Beginn des Schuljahres wurden viele Tränen vergossen. Ins Haus Slytherin sortiert zu werden kam vielen von uns wie eine Strafe vor. Sie haben uns jedoch gezeigt, dass es kein Verbrechen ist. Allein Ihre gute Beziehung zu anderen Lehrern hielt uns vor Augen, wie viel Ansehen man als Slytherin erlangen kann.“ Gordians Blick huschte zu Harry, zu Remus, Albus, und zurück zu Severus. „Sie haben uns gezeigt, dass man nicht nur in der Gruppe Stärke zeigen kann, sondern auch als Einzelkämpfer, solange man nur das Richtige macht.“ Gordian überreichte seinem Hauslehrer das Geschenk, das Severus mit zittriger Hand entgegennahm. „Das Haus Slytherin hat es sich zur Aufgabe gemacht, an alle neuen Schülern unseres Hauses die Werte weiterzugeben, die Sie uns vermittelt haben, Sir. In diesem Sinne wird Ihr Name hier in Hogwarts noch sehr lange präsent bleiben.“

Severus hatte arge Mühe, seine Maske der Gleichgültigkeit aufrechtzuerhalten. Beinahe tat es ihm leid, die Schule zu verlassen. Die Aufrichtigkeit der Schüler hatte einen Fleck in ihm berührt, den er erst jetzt mit vollständiger Seele zu spüren imstande war. Da war wieder diese Wehmut, die er heute früh schon fühlte. Zum Glück, dachte Severus, nahm Albus es Harry und ihm ab, ein paar Worte an die Schüler zu verlieren.

„Im Namen von Professor Potter und Professor Snape danke ich Ihnen allen vielmals für die Aufmerksamkeiten, die Sie den beiden gemacht haben. Vor allem aber für die freundlichen Worte, die treffender nicht hätten sein können.“ Albus, der noch immer zwei Geschenke von Severus hielt, nickte der Schülerschaft zu. „Und nun steht die Abreise kurz bevor. Ihr Gepäck wurde bereits zum Bahnhof gebracht. Finden Sie sich bitte innerhalb der nächsten Stunde am Tor ein. Die Kutschen werden Sie nach Hogsmeade bringen.“

Das vertraute Durcheinander von Stimmen und fröhlichem Lachen setzte sofort ein. Die Schüler stürmten los, um den Rest ihrer Sachen zu holen, den sie im Hogwarts-Express zum Zeitvertreib benötigten. Severus drehte sich zu seinen Kollegen um begann bereits, sich zu verabschieden, da fiel ihm Harry ins Wort.

„Wäre es nicht ein wunderbarer Abschluss, wenn du mit zum Bahnhof kommst?“, fragte er Severus.
„Ich kann mir Schöneres vorstellen.“
„Harry hat Recht“, hielt Albus dagegen. „Lass den Tag in Ruhe ausklingen, bevor du dich sofort in Arbeit stürzt und alles vergisst, was heute geschehen ist.“
„Aber …“
„Severus“, Albus blickte über seine Halbmondbrille.
Severus resignierte. „Also gut, also gut! Ich gehe mit. Vorher habe ich ja doch keine Ruhe.“
„Die Geschenke bringen wir“, Albus nickte zu Remus, „für euch ins Lehrerzimmer.“

Beide ließen Harry und Severus allein. In der Eingangshalle blickte sich Severus um. Die Schüler waren wie vom Erdboden verschluckt. Schon jetzt war es menschenleer – und bedrückend ruhig.

„Ich hole noch schnell Nicholas und dann können wir …“ Harry hielt mitten im Satz inne, weil Wobbel um die Ecke bog. An der Hand hielt er Nicholas, der wiederum seine Lok umklammert hielt. Harry grinste übers ganze Gesicht. „Es geht doch nichts über Elfen, die mitdenken“, sagte er zu Severus. Als Wobbel und Nicholas bei ihnen standen, fragte Harry. „Wobbel, möchtest du auch mit zum Bahnhof kommen?“
„Nein, Sir, aber vielen Dank, dass Sie fragen.“
„Na dann, Severus … Auf geht’s!“

Hagrid und Filius fuhren in der ersten Kutsche. Harry und Severus stellten das Schlusslicht dar. Während der Fahrt kamen Gefühle in Severus auf, die ihn an seine eigene Schulzeit erinnerten. Als er nach dem Tod seiner Mutter das erste Mal die Thestrale sehen konnte, erschrak er so sehr, dass er nach einem Satz nach hinten auf dem Allerwertesten gelandet war. Natürlich waren Potter und Black anwesend, um sein Missgeschick schadenfroh und vor allem laut zu kommentieren.

Was James wohl dazu sagen würde, dass er jetzt freiwillig mit Harry in der Kutsche fuhr, sinnierte Severus. Die ganze Zeit über blieb Harry ruhig, als wollte er die Gedanken von Severus nicht stören. Oder aber er war selbst in Gedanken versunken, während Nicholas die Fahrt in der Kutsche lauthals genoss. Er zeigte in alle möglichen Richtungen, quiekte und giggelte und verlor dabei beinahe seine Spielzeuglok.

In Hogsmeade angelangt regelte sich anfangs alles wie von selbst. Die Schüler freuten sich auf Zuhause, denn überall sah man lachende Gesichter. Der Hogwarts-Express wartete längst, und als Nicholas das erste Mal das eiserne Ungetüm sah, fiel ihm doch noch die Spielzeuglok aus der Hand.

„Umwerfend, nicht wahr?“, sagte Harry zu seinem Jungen, bevor er das Spielzeug vom Boden auflas. Nicholas zeigte mit großen Augen auf den Express und überschlug sich mit Ausrufen, die seine Begeisterung kundtun sollten. „Ja, ich weiß“, Harry nickte, „geht mir auch so. Noch immer.“

Zwischen den ganzen Schülern bemerkte er eine Haarfarbe, die ihm vertraut war. Ginny war mit zum Bahnhof gereist. Sie verabschiedete sich von den Freundinnen, die sie das Schuljahr über kennengelernt hatte. Letzte Koffer und Taschen wurden von Schaffner untergebracht. Jetzt hatten die Vertrauensschüler der vier Häuser alle Hände voll zu tun, während die Lehrer das Spektakel mit einem lachenden und einem weinenden Auge verfolgten. Um genauer zu sein lachte Filius mit den Kindern mit, während Hagrid sich nicht zusammenreißen konnte und sich in Tränen auflöste.

„Hagrid weint jedes Mal“, hörte Severus neben sich sagen. Mit sanftem Lächeln auf den Lippen schüttelte Harry den Kopf. „Ich frage mich, warum er trotzdem immer wieder die Schüler begleitet.“
Mit seinem Blick verweilte Severus auf dem Halbriesen, der mittlerweile in sein riesiges Taschentuch schnäuzte. „Ich nehme an, es ist für ihn eine Art Ritual.“
Harry seufzte. „Mir wird auch schwer ums Herz.“ Weil Severus den Mund hielt, fragte Harry dreist nach: „Und was ist mit dir?“
„Erinnerungen kommen auf, wenn ich mir das so ansehe.“ Ungenau deutete er auf die vielen Schüler, die sich um den Hals fielen. Einige stiegen schon in den Zug.
„Ich habe mich nie gefreut, wenn das Schuljahr vorbei war“, gestand Harry.
„Nie?“
„Na ja, nur wenn ich wusste, dass ich einen Teil der Ferien bei den Weasleys verbringen durfte. Ansonsten …“ Harry seufzte nochmals, nur viel lauter. „Bei den Dursleys war ich nie Zuhause. Ich habe es dort gehasst.“
„Die Abreise hat auch mich nicht immer erfreut“, gestand Severus.

Weil Nicholas an Harrys Hand zog, um näher an den Hogwarts-Express zu gelangen, setzten sich beide Männer in Bewegung. Dabei führten sie die Unterhaltung fort.

„Warum nicht?“, fragte Harry nach.
„Manchmal bekam ich noch rechtzeitig vor Ferienbeginn einen Brief von meiner Mutter, in der sie mir riet, in der Schule zu bleiben.“
„Wirklich? Warum?“
„Zwischen den Zeilen ließ sie verlauten, dass ich in Hogwarts wenigstens etwas zu essen bekommen würde. Ein einziges Mal blieb ich während der gesamten Sommerferien hier.“
„Um Himmels Willen, muss das langweilig gewesen sein, so ganz ohne andere Schüler im Schloss.“
Severus hob und senkte die Schultern. „War es nicht. Ich habe mir die Zeit mit Lesen vertrieben. Oder ich habe Poppy beim Brauen geholfen. Manchmal durfte ich sogar allein nach Hogsmeade, was ich aber für mich behalten sollte.“
„Bei euch war oft das Geld knapp?“, fragte Harry zurückhaltend.
„Wenn meine Mutter arbeitete, ging es finanziell bergauf. Dann begann mein Vater sich unnütz zu fühlen. Er bestand darauf, zurück in die Muggelwelt zu ziehen, damit er die Brötchen verdienen konnte. Das bekam er, um es mal zur vorherigen Redewendung passend auszudrücken, nie gebacken.“
„Onkel Vernon hat immer sehr gut verdient, nur habe ich davon nie was gehabt. Nicht dass ich große Ansprüche gehabt hätte. Ich wäre schon froh gewesen, einfach mal Kleidung zu besitzen, die keine fünf Nummern zu groß für mich ist. Es ist wirklich nicht leicht, die Pullover des adipösen Cousins aufzutragen.“ Harry rümpfte die Nase, als er an die weiten T-Shirts, die elefantösen Hosen und vor allem an die verwaschenen Unterhosen denken musste.
„Ich war es ebenfalls gewohnt, Kleidung aus zweiter Hand zu tragen.“

Beide schlenderten zur Mitte des Zuges. Die Schüler, die Nicholas aus den offenen Fenstern des Zuges zuwinken, ließen den Jungen bis über beide Ohren grinsen. Fröhlich winkte er zurück.

„Es war erleichternd zu sehen“, begann Severus leise, „dass nicht nur ich gebrauchte Kleidung trug. Remus …“
Harry nickte. „Ja, ihm ging es da nicht anders. Und nicht nur in seiner Schulzeit.“

Ein schrilles Trällern ertönte. Nicholas Kopf schoss so schnell herum, dass sein kleiner Körper durch die Bewegung ins Wanken kam und er für einen kurzen Moment an der Hand seines Vaters baumelte.

„Das war die Trillerpfeife von dem Schaffner“, erklärte Harry, wurde dabei von großen Kinderaugen angestarrt. „Vielleicht lässt er dich ja auch mal pfeifen? Wir fragen nachher.“
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
~ Muggelchen.net ~

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