Hi Ginny,
wenn Fragen unbeantwortet bleiben sollten, dann ruhig fragen. Ich mag es sowieso, wenn die Leser miträtseln und ihre Vermutungen äußern - dazu wird es später noch genügend Gelegenheit geben.
Und was Dumbledore betrifft: Der ist ja ein mächtiger und angesehener Zauberer und da braucht es auch ein wenig Mut, ihm mal in die Karten schauen zu wollen. Die meisten werden wohl einfach hinnehmen, dass er wieder da ist, aber eben nicht alle, denn die stellen sich wie die Leser die gleiche Frage.
LG, Eve
005 Von Kuchen und Torten
Vor den Türen, die in den Krankenflügel führten, erstarrte Harry zur Salzsäule. Er hörte seinen Namen. Seinen Vornamen! Snape und Malfoy sprachen miteinander und nannten ihn in ihrer Unterhaltung „Harry“! Für die beiden war es nicht von Nöten, leise zu sprechen, denn Madam Pomfrey oder weitere Patienten waren nicht anwesend. Neugierig lauschte Harry und er hörte, dass Malfoy sehr niedergeschlagen klang. Dann nahm er die unverkennbare Bariton-Stimme von Snape wahr, die beruhigend wirkte und sämtliche Nerven striegelte, als er sagte: “Draco, du bist nicht allein. Ich hab dir das früher schon gesagt und kann es nur wiederholen...“ Etwas leiser sagte er, während eine kleine Drohung in den Worten mitschwang: „Fang ja nicht an zu weinen, Bursche! Deine Mutter wird schon wieder auftauchen. Jetzt beruhige dich! Es gibt keinen Dunklen Lord mehr! Es wird alles gut werden, dank Harry!“
Harry traute seinen Ohren nicht. Nach all den Jahren, in denen diese tiefe Stimme böse zischelte, gefährlich knurrte oder verachtend schnaubte, um seinen Nachnamen herauszuwürgen, hörte er jetzt seinen Vornamen in dieser besänftigenden Stimme. Harry fragte sich, ob es wohl möglich wäre, mit Professor Snape jemals eine so enge Vertrautheit aufbauen zu können, um den Zaubertränkemeister beim Vornamen nennen zu dürfen.
Auf Professor Snapes Worte hin erwiderte Draco erleichtert: „Ja, Harry hat’s wirklich geschafft! Er hat den Bastard ins Jenseits befördert. Er war echt gut! Schicker Patronus, den er da hat.“ Harry war froh, dass auch Draco ihn beim Vornamen nannte und nicht, wie früher üblich, einfach nur „Potter“ auf eine Art und Weise ausspuckte, als wäre der Name so eklig wie ein Schluck verdorbene Milch auf seiner Zunge.
Harry klopfte nicht, sondern öffnete leise die Tür. Keiner von beiden bemerkte, wie er eintrat, obwohl das Besteck auf dem Tablett nach seinem ersten Schritt klingelnde, metallene Geräusche von sich gegeben hatten. Er hörte, wie Snape sich besorgt bei Draco erkundigte: „Kannst du die Arme schon wieder bewegen? Der Trank von Madam Pomfrey sollte mittlerweile wirken. Heb einen Arm, Draco!“ Draco hob zu Snapes Zufriedenheit beide Arme, während Harry sich darüber wunderte, was Draco wohl im St. Mungos zugestoßen sein mochte. Die beiden Männer begannen wieder, über alles Mögliche zu reden.
Als Harry erneut seinen Vornamen hörte, riss er sich zusammen und sagte leicht verlegen: „Apropos Harry…“ Snape sprang von Dracos Bett und drehte sich blitzschnell um. Sein Umhang wehte noch Sekunden später seiner Bewegung nach. Dem samt Kleidung auf einem Bett liegenden Draco verschlug Harrys Besuch schlichtweg die Sprache. Harry hingegen war nur kurz erschrocken, fing sich schnell wieder und sagte schüchtern mit einigen Pausen: „Ich dachte… Sie würden gern… etwas Kuchen haben. Ich habe welchen mitgebracht!“ Keiner von beiden sagte ein Wort. Sie starrten ihn ungläubig an und schenkten der Kuchenplatte in seiner Hand nicht die geringste Beachtung.
Draco war etwas bleich, aber er schien nicht verletzt zu sein. Offensichtlich benötigte er lediglich etwas Ruhe. Zögernd, weil allein Snapes Anblick immer etwas Beängstigendes an sich hatte, was Neville jederzeit gern bestätigen würde, näherte sich Harry dem Bett, neben dem Snape stand. Mit zittrigen Händen stellte er das Tablett mit der Kuchenauswahl auf die Ablage, die sich am Fußende des Krankenbettes befand. Den bohrenden Blicken der beiden Männer wenig standhaltend sagte Harry erklärend und leise: „Ich habe von jeder Sorte etwas mitgebracht. Ich wusste ja nicht…“ Haryr hielt inne denn das beharrliche Starren wurde ihm mittlerweile zu viel. Sein Hals war ganz trocken geworden und das Schlucken wurde zur Qual. Sie starrten ihn an, als würde er Voldemorts Wiedergeburt verkörpern. Verlegen hustend begann Harry seinen Satz erneut: „Ich wusste ja nicht, was Sie mögen.“
Aufgrund der Stille war Harry sehr verunsichert. Angestrengt überlegte er, was er sagen konnte, um diese unangenehme Atmosphäre zu vertreiben. Er wusste einfach nicht, was von ihm erwartet wurde. Sein Frohsinn und sein überschwängliches Glücksgefühl nach dem Sieg hatten ihn glauben lassen, er könne locker und selbstbewusst mit einer Situation wie dieser umgehen, aber er hatte sich ganz offensichtlich geirrt. Gegen intelligente Konversation schien sein Gehirn sich zu sträuben. Sollte er erwähnen, dass Sirius am Leben war? Diese Information würde Snape mit Sicherheit aus seiner Lethargie reißen. Auf der Stelle würde er hinunter in die große Halle stürmen, um zu vollenden, was der Schleier nicht geschafft hatte.
Der Moment kurz nach Voldemorts Tod kam ihm ins Gedächtnis zurück. Möglicherweise, so glaubte Harry, wäre Snape einfach nur peinlich berührt, weil sein Ex-Schüler vor einigen Stunden Zeuge seines Gefühlsausbruches gewesen war. Harry fühlte sich nicht mehr sicher in seiner eigenen Haut und fragte sich, ob die beiden ihn womöglich doch noch hassten. Als er Snape das letzte Mal gesehen hatte, hatte er ihn einen Feigling genannt. Mit Draco war es schon im ersten Schuljahr problematisch gewesen, aber spätestens ab der sechsten Klasse hatte der Blonde einen wirklich guten Grund, ihn zu verabscheuen, denn durch Harrys Eingreifen im Ministerium war Lucius Malfoy nach Askaban gekommen. Harry fragte sich, ob seine Anwesenheit den beiden zuwider sein könnte. Dann erinnerte er sich daran, wie Snape und Draco ihm heute während des letzten Kampfes zur Seite gestanden hatten. Zudem hatten sie vor wenigen Minuten über ihn geredet, als wäre sie stolz auf ihn. Sie waren stolz auf ihn! Das wusste Harry durch die Unterhaltung, die er belauscht hatte. Aber was sollte er sagen? Sollte er beide wegen der Dementoren danken, die sie vertrieben hatten? Er könnte vielleicht fragen, wie es den beiden in den letzten fünf Jahren ergangen war oder woher sie gewusst hatten, dass die Schlacht heute vor Hogwarts stattfinden würde.
Auf jeden Fall wollte Harry endlich diese eisige Stille brechen, egal wie. So nahm er zunächst einen tiefen Atemzug, bevor er einfach drauf los plapperte, wie er es oft tat, wenn er sich unsicher fühlte. Er sagte etwas befangen: „Das hier ist Schokoladenkuchen! Der ist richtig lecker!“ Er versuchte ungezwungen zu lächeln, was seine Verlegenheit nur noch untermalte. Was er eben gesagt hatte, war Meilen entfernt von dem, was er eigentlich hatte sagen wollen, aber konnte einfach nicht die richtigen Worte finden. Dracos Mund verzog sich zu einem unterdrückten Schmunzeln, aber Snape blickte griesgrämig drein wie immer. Harry wusste nicht, wie er reagieren sollte. Er fühlte sich jetzt schon wie ein Vollidiot und trotzdem konnte er sich selbst nicht bremsen, als er mit dem Zeigefinger auf ein anderes Kuchenstück deutete und schüchtern erklärte: „Und das ist Erdbeere…“
Höhnisch schnaufend, sich ein Schmunzeln jedoch nicht mehr verkneifen könnend, entgegnete Draco spöttisch: „Das ist ja wohl offensichtlich!“
Endlich sprach Snape. Seine Tonlage war nicht so erschreckend oder gefährlich wirkend wie im Unterricht, als er etwas gleichgültig klingend sagte: „Danke für das Backwerk, Mr. Potter. Warum gehen Sie jetzt nicht und machen ein Nickerchen. Sie sehen müde aus, was nach dem heutigen Tage durchaus nachvollziehbar ist.“
Die Worte enttäuschten Harry. Kurz und knapp hätte Snape auch sagen können „Danke und jetzt verzieh dich, Potter!“ Auch konnte Harry sich gut vorstellen, wie Snape ihm noch hinter herrufen würde „Ach ja: zehn Punkte Abzug für Ihr unaufgefordertes Erscheinen!“
Die Worte, die aus ihm herausgesprudelt kamen, konnte er nicht zurückhalten. In einer Schnelligkeit, die es dem Zuhörer schwer machte, folgen zu können, sagte Harry: „Ich will Sie morgen sehen. Beide! Können wir uns dann unterhalten?“ Snape hob elegant eine Augenbraue an; das einzige Indiz seiner Überraschung.
Draco hingegen sagte ein wenig arrogant und gleichzeitig belustigt klingend: „Sicher, aber ich nehme an, dass auch das Ministerium morgen mit uns reden möchte. Vielleicht nehmen sie uns fest und…“
Harry unterbrach ihn kopfschüttelnd und versicherte Draco: „Nein, keine Sorge, das werden sie nicht tun. Der Minister ist vor einigen Wochen ums Leben gekommen. Das Ministerium ist völlig unorganisiert. Die haben sogar mich um Hilfe gebeten… gerade mich! Und jetzt, nachdem Vol…“, Harry stoppte und drückte sich Professor Snape zuliebe anders aus, „der Dunkle Lord nicht mehr ist, wird Professor Dumbledore für das Ministerium sicherlich die Aufgabe eines Ratgebers übernehmen und dabei helfen, einen neuen Minister zu finden. Einen, der all dies verstehen wird. Ich meine, Professor Snape hat Dumbledore nie getötet; hat mich niemals verraten.“ Harry errötete, als er erkannt hatte, was er da gerade laut gesagt hatte. Das wollte er niemals sagen! Harry machte sich Sorgen darüber, was Snape jetzt von ihm denken würde. Die erboste Zurechtweisung, die Harry von Snape geduldig erwartete, blieb jedoch aus. Dracos Schmunzeln wurde zu einem schmalen Lächeln, während Harry versuchte, das Thema der Unterhaltung wieder auf den Kuchen zu lenken, indem er mit glühenden Wangen und seine letzten Worte bereuend empfahl: „Sie sollten wirklich den Schokoladenkuchen probieren. Ich hatte drei Stücken!“ Um seine Worte zu untermalen, strich er kreisförmig über seinen Bauch.
Argwöhnisch beobachtete Snape, wie Harry sich den Bauch rieb. Sein ehemaliger Schüler verhielt sich seiner Meinung nach äußerst seltsam. Er kam zu dem Schluss, dass Harry tatsächlich nur müde zu sein schien. Warum sonst sollte der junge Mann so viel Unsinn über Kuchen von sich geben? Vielleicht war es aber auch normal, wirres Zeug von sich zu geben, wenn man einen mächtigen Dunkelmagier ins Jenseits befördert hatte, denn Albus erzählte auch gern Stuss, besonders wenn die Erstklässler willkommen geheißen wurden. Severus war zudem aufgefallen, dass Draco in sich hineingrinste. Offenbar hatte Harrys unangemeldeter Besuch ihn aufgemuntert, was der Professor dankend guthieß.
Während der letzten Wochen bis hin zum heutigen Finale am frühen Mittag war Draco so niedergeschlagen, dass er einige Male vermutet hatte, sein Patensohn würde die Schlacht als willkommene Möglichkeit eines schnellen Todes begrüßen. Und jetzt grinste Draco und zwar nur aufgrund Harrys amüsant unbeholfener Konversation. Er bemerkte zusätzlich, dass Harrys Wangen eine tiefrote Farbe angenommen hatten, nachdem ihm herausgerutscht war, dass er ihn nie verraten hatte. Überraschend stellte er fest, dass ein angenehmes Gefühl in ihm aufgestiegen war, als er diese Worte direkt aus Harrys Mund vernehmen konnte. Severus hatte eigentlich damit gerechnet, dass man ihn ohne Umschweife direkt nach dem Sieg über Voldemort festnehmen würde, doch Albus’ plötzliche Anwesenheit hatte sämtliche Anklagepunkte zunichte gemacht.
Nachdem er tief ein- und ausgeatmet hatte, sagte Snape mit langsam fließender Stimme: „Mr. Potter, wenn Sie uns den Kuchen schon schmackhaft machen möchten, warum nehmen Sie sich nicht ein Stück und leisten uns Gesellschaft?“
Mit großen Kulleraugen starrte Draco seinen Paten an, während er sich fragte, ob er da eben richtig gehört hatte. Harry imitierte unbewusst Dracos weit aufgerissene Augen, denn die Worte seines ehemaligen Zaubertränkelehrers hörten sich wie eine Einladung an. Snape selbst schien für einen Moment ebenfalls über seine eigenen Worte erstaunt. Einen Augenblick später fing sich Harry wieder. Etwas verlegen, weil er mit seiner Antwort die erste Nettigkeit, die Professor Snape ihm je entgegengebracht hatte, ausschlagen würde, antwortete er: „Ich hatte gerade drei Stücken. Ich bin wirklich pappsatt!“ Draco hingegen bediente sich selbst und nahm ein Stück vom Schokoladenkuchen, Snape hingegen griff bei der Erdbeersahnetorte zu. Während die beiden aßen, Draco weniger geräuschlos, Snape hingegen manierlich und vorbildlich, nahm Harry all seinen Mut zusammen und gab stotternd und abgehackt zu: „Ich bin wirklich froh, dass Sie beide… dass alles so gekommen ist… na ja, dass es Ihnen beiden gut geht!“ Er konnte schwerlich dafür danken, dass die beiden ja doch keine miesen Todesser waren, wie er es jahrelang befürchtet hatte.
Harry schien einen Kloß im Hals zu haben, den er nicht zu schlucken vermochte. Snape ließ seinen Happen Erdbeerkuchen im Mund zergehen, während er den ihn seelenruhig betrachtete. Hitze stieg in Harry auf und in seinem Kopf begann sich alles zu drehen. Es schien, als würde jemand die Farberegelung seiner Augen runterdrehen, denn alles um ihn herum wurde grau. Er spürte noch, wie sein Herz schneller zu schlagen begann und wie er plötzlich hechelnd nach Luft schnappte, bevor ihm schwarz vor Augen wurde.
Professor Snape hatte bemerkt, dass Harry mit seinen Augen nichts mehr fixieren konnte. Zudem war nach den anfangs erröteten Wangen die plötzliche Blässe in Harrys Gesicht schwerlich zu übersehen. Als der Held des Tages wie ein Hund in der Sonne zu hecheln begann und seine Hände verzweifelt etwas zum festhalten suchten, war dem Professor klar, dass Harrys Kreislauf schlappmachte. Er warf seinen Kuchenteller auf das Tablett und erreichte Harry gerade rechtzeitig, als er in sich zusammensackte. Nicht gerade sehr behutsam hievte er mit wenigen Handgriffen den Ohnmächtigen in Dracos Nachbarbett. Snape leistete jedoch gewissenhaft erste Hilfe, während Draco aufgescheucht in seinem Bett saß und Harry mit besorgtem Gesichtsausdruck betrachtete. Wenn Harry hier und jetzt etwas zustoßen sollte, würde man sicherlich ihm und Snape die Schuld geben, befürchtete Draco.
Sein Pate eile zu einem der Schränke neben der Eingangstüre, richtete seinen Zauberstab auf die verschlossene Vitrine und sagte: „Alohomora!“ Die Glastüren blieben verschlossen. Snape stöhnte genervt, denn er hätte sich denken können, dass er an die Tränke des Krankenflügels nicht so leicht herankommen würde.
In diesem Moment eilte Madam Pomfrey in den Krankensaal und schimpfte: „Was erlauben Sie sich? An den Heilmitteln vergreift sich niemand ohne mein Wissen!“
Snape blieb gelassen und entgegnete: „Dann haben Sie bitte die Freundlichkeit, sich um Mr. Potter zu kümmern!“
Harry war bereits wieder wach und hörte Snape mit Madam Pomfrey sprechen. Seine Augen hielt er jedoch weiterhin geschlossen, denn ihm war noch schwindelig. Madam Pomfrey sagte aufgebracht, während sie die Vitrinentüren öffnete und nach Tränken suchte: „Herrje, ich habe Albus gesagt, dass es für die meisten viel zu anstrengend sein würde, sich gleich in eine Feier zu stürzen.“ Sie ergriff drei Flaschen und eilte an Harrys Bett, während sie empört erklärte: „Sie glauben gar nicht, wie viele in der großen Halle zusammengebrochen sind. Sogar Professor McGonagall hatte einen Schwächeanfall, aber zum Glück nichts Ernstes. Ich hab alle ins Bett geschickt, deren Gesichtsfarbe mir zu blass war. Mr. Black zum Beispiel ist so unglücklich gefallen, als er…“
Ein Wutanfall würde folgen, zumindest aber eine zynische Bemerkung, dachte Harry, doch Snape, der Black schon seit seiner Schulzeit abgrundtief gehasst hatte, sagte lediglich: „Mr. Black? So so, also ist Albus nicht der einzige, der von den Toten auferstanden ist.“
Zu Madam Pomfreys Erleichterung öffnete Harry die Augen und richtete sie sofort auf Snape, der neben ihr mit hinter dem Rücken verschränkten Armen an seinem Bett stand. Harry fühlte sich noch immer nicht wohl. So war seine Stimme sehr schwächlich und leise, als er an Professor Snape gewandt ehrlich zugab: „Ich wollt’s Ihnen sagen, aber ich dachte, es wäre Ihnen sowieso egal.“
Snape erinnerte sich daran, wie niedergeschmettert Harry gewesen war, nachdem man Black für tot erklärt hatte. Er zog in Gedanken Parallelen zu Dracos Depressionen der letzten Jahre und empfand sogar ein wenig Mitgefühl für Harry, was ihn selbst etwas erstaunte. Im Gegensatz zu Draco, der seine verschwundene Mutter wahrscheinlich nie wieder sehen würde und dessen Vater in Askaban schmoren müsste, hatte Harry zumindest seinen Paten zurück, dachte Snape. Er konnte es sich nicht verkneifen, gespielt überrascht zu sagen: „Oh, Mr. Potter, Sie kennen mich besser als ich dachte! Sie haben ganz Recht: ich ziehe ein Stück Erdbeertorte Mr. Black vor.“ Snape wollte bissig klingen, aber seine Worte waren ruhig und wirkten amüsiert. Sie brachten Harry sogar zum Schmunzeln, was Snape dazu veranlasste, erstaunt eine Augenbraue in die Höhe zu ziehen. Er war jedoch eher verwundert darüber, dass sich sein Sarkasmus in Harrys Gegenwart offensichtlich eine Auszeit gegönnt hatte.
Zunächst bekam Harry einen Vitamintrank und gleich darauf einen Trank, der seinen Kreislauf stabilisieren würde. Madam Pomfrey hielt ihm ein kleines Fläschchen unter die Nase und sagte: „Das hier ist ein leichter Schlaftrunk. Er beruhigt sehr gut. Wenn Sie möchten…?“ Sie stellte das Fläschchen auf seinen Nachttisch. Harry wollte aufstehen, aber Madam Pomfrey sagte: „Es wäre besser, wenn Sie hier bleiben, Mr. Potter! Ich möchte nicht, dass Sie auf dem Weg zum Gryffindorturm die Besinnung verlieren und sich den Kopf aufschlagen wie Ihr werter Pate.“ Harry protestierte nur kurz, denn kaum hatte er sich im Bett aufgerichtet, wurde ihm wieder schwindelig. Madam Pomfrey erklärte Harry auf seine Frage, wie es Sirius gehen würde: „Mr. Lupin kümmert sich um ihn. Mr. Black ist wohlauf, aber – wie alle hier in Hogwarts – völlig überanstrengt!“ Säuerlich murmelte sie, während sie das Krankenzimmer wieder verließ: „Wie kann man nur völlig erschöpfte Menschen zu einem Fest animieren?“
Wegen eines persönlichen Gesprächs mit Albus ließ Snape Draco im Krankenflügel zurück. Ohne Schlaftrunk hatte Harry bereits das Land der Träume betreten. Draco hingegen konnte nicht schlafen. Es störte ihn nicht im Geringsten, sich mit Harry in einem Zimmer aufzuhalten, was zu Schulzeiten noch undenkbar gewesen wäre. Es war seine innere Unruhe, die ihn wach hielt. Er wälzte sich hin und her, bis er letztendlich resignierend aufstand und eine Weile lang aus dem Fenster hinaus in die Dunkelheit schaute. Er fragte sich, wie jetzt alles weitergehen würde. Würde man ihn am Ende doch noch verhaften? Was wäre mit seiner Mutter? Und könnte er seinen Vater wieder sehen?
Nach einem schönen Traum war Harry kurzzeitig wach geworden und er hörte, wie sich sein Zimmergenosse im Raum bewegte. Er lauschte, wie Draco sich ihm näherte und er fragte sich für einen kurzen Moment, ob er etwas von ihm zu befürchten hätte. Harry selbst hegte keinen Gräuel mehr gegen Draco, was er auf seinen Seelenfrieden zurückführte. Als sein ehemaliger Erzrivale neben seinem Bett stand, öffnete Harry die Augen. Wie angewurzelt blieb Draco stehen, als er bemerkte, dass Harry wach war. Auch sein Arm verweilte erstarrt in der Luft. Schnell bemerkte Harry, dass Draco seine Hand nach dem unangerührten Schlaftrunk auf Harrys Nachttisch ausgestreckt hatte. Murmelnd sagte Harry: „Kannst nicht schlafen, wie? Nimm ihn ruhig. Ich brauche ihn nicht…“ Draco griff nach dem Fläschchen und ging ohne ein Wort des Dankes zurück zu seinem Bett.
Das leere Fläschchen stellte er auf seinen Nachttisch, bevor er sich zudeckte. Harry drehte sich um, so dass er Dracos Silhouette im Mondlicht sehen konnte. Nach einem Moment legte er dem Blonden auf nette Art und Weise nahe: „Weiß du, es soll helfen, wenn man zum Schlafengehen die Augen schließt! Hab ich jedenfalls mal gehört.“ Draco schnaufte verächtlich durch die Nase. Aus dem Bauch heraus wusste Harry, dass dieses Schnaufen nicht ihm galt.
Etliche Minuten später rechnete Harry längst nicht mehr mit einer Erwiderung und er wäre beinahe schon wieder eingeschlafen, da offenbarte Draco ihm flüsternd und entkräftet klingend: „Wenn ich die Augen schließe, sehe ich meinen Vater vor mir.“
Harry war angenehm überrascht darüber, dass Draco von sich aus mit gedämpfter Stimme zu erzählen begann. Er sprach so leise, dass Harry sich sehr konzentrieren musste, um seine Worte zu verstehen. Um ihn nicht zu stören, gab er keinen Mucks von sich.
Leise schilderte Draco von der Begegnung mit seinem Vater auf dem Schlachtfeld und er beschrieb, was er dabei empfunden hatte. Auch das Ereignis, welches zum Tod seiner Tante Bellatrix geführt hatte, gab er mit einem Hauch von Schuld in der Stimme wieder. Harry lauschte ihm, ohne ein einziges Mal, ohne ins Wort zu fallen. Er bewegte sich nicht einmal. Nur kurz schweifte Draco ab und erzählte, wie er seine Zeit mit Snape empfand. Was Draco alles von sich gab, war nicht im Geringsten chronologisch geordnet.
Manchmal benötigte Harry einige Augenblicke, um zu begreifen, dass Draco über Erlebnisse sprechen musste, die drei oder vier Jahre zurück lagen. Der einst so arrogante Slytherin offenbarte auch seine Befürchtung, seine Mutter nie wieder sehen zu können. Niemand wüsste, wo sie sich aufhalten würde oder ob sie überhaupt noch am Leben wäre. Mit zittriger Stimme erzählte Draco sogar von den wenigen, aber furchtbaren Stunden im St. Mungos. Ein Heiler hatte ihm einen Trank verabreicht, der die gesamten Muskeln gelähmt hatte und als Draco sich nicht mehr hatte bewegen können, hätte der Mann mit einem fiesen Grinsen erörtert, was er seinem wehrlosen Opfer alles antun wollte: wie er ihm den Bauch aufschlitzen und in seinen Gedärmen herumwühlen würde und währenddessen hatte er immer wieder die Malfoys als Todesserpack beschimpft. Der Heiler wäre, wie Draco erzählte, von drei Schwestern überwältigt worden, bevor der mit dem bereits angesetztem Zauberstab Wunden an seinem Bauch hatte zufügen können. Er driftete wieder ab zu seiner Zeit mit Snape und verlor lobende Worte über seinen Paten, weil der sich so gut um ihn gekümmert hätte.
In der Annahme, dass Harry längst wieder fest schlafen würde und nichts von dem, was er sagte, mitbekäme, schüttete Draco sein Herz aus, doch Harry lauschte weiterhin interessiert, ohne einen Laut von sich zu geben. Der Blonde spürte, dass es ihm besser ging, während er sich alles von der Seele redete.
Als der Schlaftrunk langsam zu wirken begann, fügte Draco am Ende noch leise hinzu: „Weißt du, ich fühle mich wie ein lebender Toter. Es ist irgendwie nichts mehr hier drin…“
Harry blinzelte und sah, wie Draco sich ans Herz fasste und in dem Augenblick empfand er Mitleid mit Draco. Nach einem Moment der Stille fragte Draco kaum vernehmbar in den Raum hinein: „Harry? Schläfst du?“
Es überraschte ihn zu hören, wie Harry flüsternd, aber hellwach erwiderte: „Nein, ich hab dir zugehört!“