Harry Potter und die Schatten der Vergangenheit - BEENDET

Hier könnt ihr eure Fanfictions und Gedichte zu Harry und seiner Welt vorstellen.

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Muggelchen
EuleEule
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Beitrag von Muggelchen »

213 Kreuz und quer




In Unterwäsche saß Ginny vor einem altmodischen Frisiertisch, den man in ihr Zimmer gebracht hatte. Sie trug noch immer den Waschumhang, weil die Dame meinte, sie würde wenigstens auch die Spitzen schneiden wollen.

„Haben Sie einen besonderen Wunsch?“, fragte die junge Friseurin, die sich vorhin als Marlene vorgestellt hatte.
Ginny schüttelte den Kopf, warf dann einen Blick zu Hermine hinüber, um sich eine Anregung zu holen. „Hochgesteckt wäre ganz schön.“ Über eine Frisur hatte sie sich überhaupt keine Gedanken gemacht.
„Wird erledigt“, beteuerte Marlene und begann damit, Strähnchenweise die Spitzen des roten Haars zu schneiden, bevor sie mit dem Trocknen und Auftürmen beginnen würde. In der Zwischenzeit schaute Hermine aus dem Fenster. In Gedanken war sie bei Severus. Sie hoffte innig, dass es ihm gut ging.
Hermine hörte Ginny fragen: „Machen Sie mir auch das Make-up? Ich habe nämlich nichts dabei.“
„Keine Sorge“, beruhigte die Dame, „ich hab mein Köfferchen mit. Da ist alles drin, was man braucht.“
„Hermine?“ Sie drehte sich zu Ginny um, die mit frechem Grinsen fragte: „Ob Harry jetzt auch gerade die Haare gemacht bekommt?“
Es war Marlene, die die Antwort übernahm. „Mein Vater ist gerade bei ihm.“

Im Nebenzimmer saß auch Harry vor einer Friseurkommode und kam sich allein deswegen schon reichlich dämlich vor. Im Spiegelbild konnte er beobachten, wie Mr. Stiles hinter ihm in einer Hand eine Bürste, in der anderen eine Schere hielt, während er mit einem Ausdruck des absoluten Horrors auf Harrys wirre Haarpracht starrte.

„Ist eine echte Herausforderung, nicht wahr?“, fragte Ron den Friseur mit einem Schmunzeln.

Der Friseur ignorierte den Kommentar und wagte, die Haarbürste – angefangen von der Stirn – einmal von vorne bis hinten über Harrys Kopf zu ziehen. Nur für den Moment, indem die Bürste ihre Schuldigkeit tat und die Haare zwischen ihren Borsten glättete, sahen sie einigermaßen ordentlich aus, doch kaum hatte die Bürste den Kopf wieder verlassen, zwangen die vielen Wirbel das Haar in eine vorgegebene Position, die man nur als Chaos bezeichnen konnte.

„Man könnte mit etwas Haarcreme …“, murmelte Mr. Stiles.
Ron riet sofort davon ab. „Bloß nicht, Harry! Sonst siehst du aus wie Percy, als der noch bei Fudge geschleimt hat. Keine Haarcreme!“
Mr. Stiles verzweifelte. „Aber irgendetwas muss ich doch tun! Dafür werde ich schließlich bezahlt.“ Der Friseur blickte Harry durch den Spiegel in die Augen. „Irgendeinen Wunsch, der Herr?“
„Ich würde sagen, wir lassen die Haare einfach so, wie sie sind. Sie sind frisch gewaschen. Das reicht.“
„Man wird glauben, ich könnte meinen Job nicht anständig machen“, äußerte Mr. Stiles seine Bedenken.
„Dann könnten Sie vielleicht etwas Haar an der Stirn wegnehmen, damit jeder die Narbe sieht.“
Mr. Stiles beäugte besagte Stelle. „Was für eine Narbe?“
„Eben! Sie ist nicht mehr da!“, freute sich Harry und wurde gleich im Anschluss stutzig. „Sind Sie kein Zauberer?“
„Meine Tochter ist die Hexe in der Familie“, erklärte Mr. Stiles, der sich jetzt schon vorstellte, wie er hier und da die Schere ansetzen würde.
„Machen Sie die Stirn einfach etwas freier, wenn das möglich ist.“
Mr. Stiles nickte. „Ich werde mein Bestes geben.“ Ein Kamm setzte an, dann die Schere. „Kann ich den Herrn auch für dezente Kosmetik begeistern?“
Weil Harry wegen des Haareschneidens still sitzen musste, blickte er nur aus den Augenwinkeln zu Ron hinüber, der die Nase rümpfte und wie irre den Kopf schüttelte. Harry unterdrückte das Lachen, weswegen ihm nur ein Schnaufen entwich, bevor er antwortete: „Ich glaube nicht, dass ich mir etwas ins Gesicht klatschen möchte.“
„Oh, das machen aber viele junge Männer heutzutage.“ Eine weitere Strähne fiel zu Boden. „Man achtet eben auf ein gepflegtes Äußeres.“
Diesmal schnaufte Ron. „Was stimmt denn mit Harry nicht?“
„Es geht doch nur darum …“ Mr. Stiles unterließ es lieber, weiter auf Kosmetik für den Herrn einzugehen. Ein dritter Schnitt mit der Schere folgte und Harry schaute in den Spiegel. Die Stirn war frei.
„Das gefällt mir!“ Er wuschelte sich selbst durch die Haare, was einen ausgeprägten Ordnungssinn in Mr. Stiles aufkommen ließ. Sofort griff der Friseur zur Bürste und vertrieb die Unordnung bringenden Finger vom Kopf. Nach dem Bürsten standen auch diesmal wieder die Haare nach allen Seiten ab.
Rons Kommentar dazu war kurz: „Perfekt!“
„Na, ich weiß ja nicht“, sprach der von Selbstzweifeln geplagte Friseur.
„Das ist in Ordnung“, versicherte Ron. „So kennt man und so liebt man ihn.“
„Und was soll ich jetzt den Rest der bezahlten Zeit machen?“, wollte Mr. Stiles wissen.
Ron nahm die Sache gelassen. „Gehen Sie an die Bar und genehmigen Sie sich ein paar Drinks.“
„Wir haben nicht mal Mittag!“
Auch Harry hatte einen Vorschlag: „Gehen Sie doch rüber zu Ihrer Tochter und helfen Sie da.“
„Ja, das werde ich tun. Mr. Potter, Mr. Weasley“, der Friseur nickte ihnen zu, „wenn Sie meine Dienste doch noch benötigen, dann wissen Sie, wo Sie mich finden können.“

Mr. Stiles schien erleichtert, dass er doch noch etwas Arbeit bekam. Harry und Ron legten erst einmal die Beine hoch, als sie allein waren.

„Ich kann es immer noch nicht glauben“, begann Ron. „Meine kleine Schwester und du.“
„So klein ist sie aber nicht mehr, Ron.“
„Ach, du weißt, wie ich das meine. Sie wird für mich immer die kleine Schwester sein, die ich mit Brei gefüttert habe“, Ron grinste, „und die ich dazu angestachelt habe, die frischen Kekse von Mum zu klauen.“
Gelassen lachte Harry drauf los. „Du bist mir ja ein feiner großer Bruder.“
„Das haben Fred und George mit mir auch gemacht.“
„Was? Dich zum Kekse-Klauen vorgeschickt?“ Sein Freund grinste, was Antwort genug war. „Wie die Zeit vergeht“, kam Harry ins Schwärmen. „Eben noch habe ich deine Familie auf dem Bahnhof kennen gelernt und jetzt …“
„Eben noch?“, wiederholte Ron spöttelnd. „Du bist gut. Das ist auch schon wieder ein paar Jahre her. Mein Alter merke ich auch langsam.“ Theatralisch fasste sich Ron an den Rücken.
„Du bist dreiundzwanzig, genau wie ich!“
„Das Quidditchspielen lässt mich mein Alter fühlen, Harry. Glaub mir, so haben mir die Knochen nicht mal nach einer Auseinandersetzung mit Todessern wehgetan. Lass mal, Ginny wird es auch noch merken, wenn das Training für sie beginnt.“
„Was für ein Training?“, fragte Harry nach.
Für einen Moment schien Ron geschockt. „Ich hoffe, ich hab da nichts verraten. Hat Ginny dir nicht erzählt, dass sie nächste Woche ihr Probespiel bei Eintracht Pfützensee hat?“
„Nein.“ Weil Ron ganz blass wurde, lockerte Harry die Stimmung wieder ein wenig. „Vielleicht wollte sie mich damit überraschen?“
„Dann hast du wirklich nichts dagegen, dass sie professionell Quidditch spielt?“
„Warum um Himmels Willen soll ich was dagegen haben?“
„Weil du dann Zuhause bleiben und auf Nicholas aufpassen musst“, hielt ihm Ron vor Augen.
Harry konnte nicht anders, als diese Bedenken ins Lächerliche zu ziehen: „Was für eine Strafe.“
„Dann stehst du drauf?“
Harry kniff die Augen zusammen. „Auf was?“
„Na ja, den Hausmann zu spielen.“
„Den …“ Das Wort wollte Harry nicht wiederholen. „Wenn es so genannt wird, dann ja, ich stehe drauf.“
„Hörst du wirklich in Hogwarts auf?“ Ron konnte eine Menge Fragen stellen, dachte Harry, aber das konnte daran liegen, dass er seinen besten Freund nicht mehr jeden Tag zu Gesicht bekam. Gerade wollte er antworten, da schob Ron noch hinterher: „Du hast mal gesagt, du würdest gern mit kleinen Kindern arbeiten.“
Ron war ein aufmerksamer Zuhörer, denn oft hatte Harry seine Zukunftsträumereien nicht mitgeteilt. „Ja, so dachte ich mir das. Wird aber schwer werden. Soweit ich von Hermine erfahren habe, gibt es in der Zaubererwelt keine Kindergärten oder Vorschulen.“
„Es gibt Kinderheime“, warf Ron ein.
„Ja, und die gibt es auch nur wegen Voldemort.“
Die Stimmung drohte zu kippen, so dass Ron schnell ablenkte und fragte: „Wo ist Nicholas jetzt überhaupt?“
„Den habe ich mit meinem Elf in die Spiel-Zone geschickt, kurz bevor du gekommen bist.“
„Spiel-Zone? Hört sich nach Spaß an.“
Harry lachte. „Ich glaube, dafür bist du schon ein bisschen zu alt.“

Besagte Spiel-Zone befand sich im Erdgeschoss, ein wenig abgelegen vom Eingangsbereich. Ein Betreuer, Mr. Bennett, war schon anwesend und grüßte Wobbel und Nicholas freundlich. Der Elf ließ sich die aufblasbare Hops-Burg zeigen, die draußen auf der Wiese aufgebaut war. Kritisch suchte er sie nach möglichen Gefahren für Nicholas ab.

„Selbst wenn alle Kinder auf einer Stelle hüpfen“, erklärte Mr. Bennett, „bleibt dank eines Zaubers die Verteilung der Luft gleich. Es kann zu keinem Unfall kommen, bei dem alle Kinder auf einen Fleck zusammenpurzeln.“ Wobbel nickte zufrieden. Eine Sorge weniger. Nicholas durfte gleich als Test-Hopser fungieren. Der Junge nahm seine Aufgabe sehr ernst. Den Spaßfaktor brachte er derweil mit lautem Kreischen zum Ausdruck. Trotzdem war dem Elf nicht wohl bei dem Gedanken, die Aufsichtspflicht an einen Fremden abzugeben. Nicholas war das Kind seines Herrn und oblag seiner Fürsorge. „Weiter hinten haben wir ein kleines Karussell.“ Der Betreuer deutete in eine Richtung. „Schutzzauber sorgen dafür, dass die Kinder nicht aus den Fahrzeugen oder von den Besen und Einhörnern fallen können.“ Es drehte sich noch nicht, weil außer Nicholas noch kein anderes Kind hier war.
„Dürfte ich wohl in Erfahrung bringen“, begann Wobbel höflich, „ob hier nur Schutzzauber zum Tragen kommen oder man die Kinder auch wirklich im Auge behält?“
Der Mann schien ein wenig erbost. „Ich kann Ihnen versichern, dass jeder Spielbereich von einem Betreuer überwacht wird.“ Er musterte Wobbel abschätzig. „Dürfte ich im Gegenzug fragen, wessen Elf Sie sind?“
Stolz erwiderte Wobbel: „Harry Potters.“
„Oh.“ Ein Moment des Schweigens. Mit Harry Potter wollte sich der Betreuer nicht anlegen, auch nicht mit dessen Elf. „Dann darf ich Ihnen die anderen Spielgeräte zeigen?“, bot er mit zusammengebissenen Zähnen an.
„Aber gern doch.“

Wobbel ließ sich durch die Spiel-Zone führen und wagte es, über das Planschbecken zu nörgeln. Es wäre zu viel Wasser darin, meinte der Elf. Mr. Bennett schluckte daraufhin seinen eigenen Stolz hinunter und nahm sich die Beschwerde zu Herzen. Nicholas war den beiden immer gefolgt. Er hatte die hölzernen Pferde des Karussells gegrüßt, die in seiner lebhaften Fantasie freundlich wieherten und ihre Mähnen schüttelten. Dem Betreuer half er sogar dabei, das überschüssige Wasser aus dem Becken zu lassen, indem er kräftig mit den kleinen Händen auf die Oberfläche schlug.

„Was für ein süßer, kleiner Fratz“, sagte der Betreuer mit eingefrorenem Grinsen, während er seine Kleidung mit einem Trocknungszauber wieder richtete.
„Ja, das ist er“, bestätigte Wobbel. „Er wird sich hier sicherlich wohl fühlen.“

Manche Missverständnisse konnten so klein sein, dass man sie nicht einmal als solche erkannte. Die großen hingegen bargen Gefahren in sich. Wie es zu der Fehlinterpretation nach dem Gespräch zwischen Wobbel und dem Betreuer kam, konnte man im Nachhinein nicht mehr nachträglich rekonstruieren. Fest stand nur, dass Wobbel den Jungen schon jetzt in die Obhut von Mr. Bennett übergeben wollte, während Mr. Bennett glaubte, man würde den Jungen erst später bringen.

Nicholas versuchte gerade, die Rutsche verkehrt herum hinaufzuklettern, da sah er, wie Wobbel durch die Terrassentür wieder nach drinnen verschwand. Aus einem Instinkt heraus ließ Nicholas von seinem Spiel ab und folgte ihm.

Aus den Augenwinkeln sah Mr. Bennett, wie der Junge eine Tür aufstieß und dahinter verschwand. Er machte sich keine Gedanken, weil er der festen Überzeugung war, der Bub würde dem Elf nachgehen.

Für Kleinkinder bedeutete es bereits eine große Freiheit, wenn man sie in einem Laufgitter absetzte. Nicholas war im Moment jedoch von so überwältigend viel Freiheit umgeben, dass es ihm angst und bange wurde. Jeder seiner kleinen Schritte hallte in dem Gang wider, der zur Küche führte. Nicholas erschrak, als viele Leute mit Wagen und Tabletts aus einer Tür stürmten, also schlug er eingeschüchtert den entgegengesetzten Weg ein.

Nicht nur Nicholas lief alleine durchs Schloss, sondern auch Severus. Der Unterschied bestand lediglich darin, dass Severus schon ein großer Junge war und auf sich aufpassen konnte. Vorhin kamen ihnen Bill und Fleur entgegen, denen sich Remus angeschlossen hatte. Man wollte die eintreffenden Gäste zusammenhalten und darauf achten, dass sie sich nicht so sehr verstreuten. Er, so versicherte ihm Remus mit einem Schmunzeln, dürfte sich natürlich weiterhin umschauen. Alles war Severus Recht, wenn er damit verhindern konnte, irgendwelche Nachbeben von längst vergangenen Ereignissen zu spüren. Mit so einer ergreifenden Erschütterung rechnete er bei Albus, vielleicht sogar bei Black oder Lucius. Um einem solchen Treffen aus dem Weg zu gehen, schaute sich Severus im Schloss um, genauso wie ein kleiner Junge, der räumlich gar nicht mal so weit von ihm entfernt umherirrte.

Das Schloss war groß, die kleinen Beine längst erschöpft. Das erste Mal in seinem Leben war Nicholas mit der Situation konfrontiert, sich verlaufen zu haben. Allein zu sein. Es war ein grauenvolles Gefühl. In der Regel konnte man aus voller Kehle nur schreien, doch Kinder konnten in dieser Kombination auch sehr gut weinen. Ohrenbetäubend laut, fast schon sirenenartig echote in einem sonst stillen Teil des Schlosses das Weinen von Nicholas wider. Blind vor Tränen stolperte der Junge Schritt für Schritt weiter, bis der kindliche Notruf auch an Severus‘ Ohren drang.

Dem Geräusch folgend nahm Severus zwei Biegungen und drei Gänge, bis er auf Nicholas traf, der noch immer weinte, obwohl längst jemand bei ihm war – oder gerade deswegen? Ein Mann stand bei dem Knirps.

„Was machen Sie da mit dem Kind?“, blaffte Severus den jungen Mann an, der sich vorhin noch als Urenkel des Schlossbesitzers vorgestellt hatte.
Nicholas‘ Kopf fuhr herum. Den großen Mann in Schwarz kannte er. Ihm hatte Nicholas einmal einen Keks und eine Nierenschale geschenkt.
„Was ich mit dem Kind mache?“, wiederholte Van Tessel echauffiert. „Ich habe ihn weinen hören und wollte nur nachsehen.“

Beide blickten zu dem Jungen, dessen Gesicht knallrot und feucht war. Die Nase lief. Wie ein Bach rann ein durchsichtiges Sekret über die Lippen des todtraurigen Kindes. Eines gab Severus zu denken. Der Junge kam auf ihn zugelaufen, mit ausgestreckten Armen! Mit Nicholas näherte sich gleichzeitig die Gefahr, einem dieser schrecklichen Momente ausgesetzt zu sein – mit einem Fremden als Zeugen – und auf der anderen Seite war die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass Severus‘ Garderobe auf widerlichste Weise beschmutzt werden würde. Da stand er nun, der Junge, der nicht einmal mit Harry verwandt war und trotzdem einen wunderbaren Vater in ihm fand.

Und da war es auch wieder, das Abdriften in die Erinnerungen, die ihn in die eigene Kindheit zurückwarfen. Er durfte jetzt keinesfalls an seinen Vater denken; an jenes Übel in seinem Leben, das nach der Kennzeichnung durch Voldemort am zweitstärksten brannte. Sein Vater war ein trügerisch negatives Beispiel für einen Muggel, so dass es Severus in jungen Jahren nicht schwergefallen war, alle Muggel nach seinem Vater vorzuverurteilen. Mit dieser Einstellung war es auch leicht gewesen, sich dem Dunklen Lord anzuschließen. Gleich Gesinnte wurden von Voldemort durchaus empfangen, was nicht bedeutete, dass sie auch gleich behandelt wurden. Greyback war so ein Beispiel. Voldemorts Bluthund war nie ein Todesser gewesen. So dicht wollte der Dunkle Lord keine minderwertigen Geschöpfe an sich heranlassen. Bei Severus gab es eine Ausnahme. Vielleicht hatte er Voldemort sich an sich selbst erinnert. An jemanden, der seine Abstammung verfluchte und sie standhaft leugnete. Severus hatte sich so sehr von seinem Muggel-Vater distanziert, dass er ins gegenüberliegende Extrem geschliddert war.

Mental schwang Severus die Sense, um die vielen Erinnerungsfäden zu durchtrennen, die sich seiner Wahrnehmung bemächtigen wollten. Mit Herzrasen schaute er in das Gesicht eines besorgt dreinblickenden Schlossherrn.

„Sir, geht es Ihnen gut?“, wollte Richard Van Tessel wissen.
Severus nickte, um zu sehen, ob er wieder vollständig Herr seiner Sinne war und sein Körper ihm gehorchte. Jetzt testete er das Sprachzentrum: „Ich habe nur überlegt“, ein Schlucken sollte erlaubt sein, „wem ich das Kind in die Arme drücke.“
„Ach, wegen der Ähnlichkeit dachte ich …“ Van Tessel blickte auf. „Der Spatz gehört nicht Ihnen?“
Spätestens nach diesem Satz war Severus sich darüber bewusst, dass er auch wieder klare Entscheidungen treffen konnte und eine davon war, dass er sich mit diesem Mann nicht mehr länger unterhalten wollte. Das ging am besten mit einer Prise Spott. „Ich versichere Ihnen: Mr. Potter besitzt zwar eine Eule und einen Phönix, aber keinen einzigen“, Severus verzog das Gesicht und betonte: „Spatz.“
„Das ist der Sohn von Mr. Potter?“, fragte Mr. Van Tessel freudestrahlend.
Nur als Gedanke formte sich die Frage ‚Was habe ich denn gerade gesagt?‘. Severus holte für eine hörbare Antwort gerade Luft, da zupfte etwas an seinem Umhang. Ein Blick nach unten brachte den unglücklichen Jungen zum Vorschein, der wegen irgendetwas wieder kurz davor war, mit an- und abschwellenden Heultönen die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
„Ich glaube, er möchte auf den Arm genommen werden“, kommentierte Van Tessel das Offensichtliche, denn Nicholas streckte schluchzend die Arme empor – erneut oder immer noch. In den Augen des Kindes war ein Flehen zu sehen. Solche Blicke, die er von einem sehr jungen Draco kannte, konnte man in zwei Worten zusammenfassen: Hilf mir! Die Not des Jungen war aus Severus‘ Perspektive nicht groß, für Nicholas selbst jedoch gewaltig, geradezu katastrophal. Eine Sache hielt ihn davon ab, dem Jungen die Hilfe zu gewähren.

„Mr. Van Tessel, hätten Sie vielleicht ein Taschentuch?“ Sein eigenes Stofftaschentuch würde er für so eine schmutzige Kindernase nicht hergeben.
Der Schlossherr nahm drei kleinen Stoffservietten, die neben ihm auf einem Tisch lagen und reichte sie Severus. „Die tun es sicherlich auch.“

Severus entfaltete eine Serviette und bückte sich. Nicholas ging davon aus, endlich auf den Arm genommen zu werden und verschränkte in Sekundenschnelle seine Finger hinter Severus‘ Nacken. Erschrocken richtete sich der Tränkemeister auf und fand sich plötzlich mit dem Jungen auf dem Arm wieder. Die Verabschiedung von Van Tessel war kurz. Severus stabilisierte den Jungen mit einem Arm und stürmte um die nächste Ecke. Das Malheur stand kurz bevor. Aus Nicholas Nase hing sogar schon ein Faden, und vom Kinn auch. Im nächsten Gang nahm Severus eine der Servietten zu Hilfe und drückte sie dem Kind zaghaft aufs Gesicht, tastete im Anschluss nach der kleinen Nase, die sich irgendwo unter dem Tuch befinden musste. Die Nase lief und lief und auch Tränen kullerten vereinzelt über die roten Wangen.

„Wehe, wenn auf meinem Umhang auch nur ein einziges …“ Severus‘ Drohung, noch bevor sie ausgesprochen war, wurde von einer Träne aus den Kinderaugen mit Füßen getreten. Sie war gefallen und versickerte im schweren Stoff des teuren Umhangs. Zum Glück nur eine Träne. „Das lass ich gerade noch so durchgehen“, rügte Severus mit ungewohnt sanfter Stimme. Endlich fing das rettende Taschentuch das bereits Blasen schlagende Sekret ab. Severus hielt inne, als er bemerkte, dass Nicholas kräftig ausatmete. Man hatte ihm bereits beigebracht, leuchtete es Severus ein, ein wenig zu schnauben. Rechts und links blickte der Retter in der Not über seine Schultern, um sich zu vergewissern, dass niemand zuschaute, während der Junge unter höchster Kraftanstrengung versuchte, die Nase freizubekommen.

Auf unerklärliche Weise fühlte sich Severus besänftigt, weil Nicholas bei ihm ruhig war, die Gefahr vorüber glaubte. Was wäre es für ein Drama gewesen, hätte Nicholas bei seinem Auftauchen nur noch mehr geschrien? Für ein Kind stellte Severus höchstwahrscheinlich den personifizierten, bösen schwarzen Mann dar. Vermutlich waren weit über achtzig Prozent seiner ehemaligen Schüler der gleichen Meinung. Der Junge auf seinem Arm sah das anders. Severus blickte an sich herab.

Nach dem äußerst Kraft raubenden Akt des Naseputzens seufzte Nicholas, der seine Wange bereits auf Severus‘ Schlüsselbein gelegt hatte und einzudösen drohte. Severus tat es ihm gleich und seufzte, blickte dabei aus dem Fenster. Hier und da erschienen Gäste auf dem Rasen. Er erkannte Poppy. Von hier aus konnte er auch den weißen Pavillon zwischen den Bäumen sehen. Plötzlich wieder – wie schon vorhin – nahm Severus eine blitzschnelle Bewegung wahr. Nicht nur an den Bäumen, sondern auch direkt vorm Fenster. Klein und flink. Rauf zum Dach, runter zur Wiese. Severus konnte sich nicht erklären, was das war. Zu schnell flog „es“ an ihm vorbei, um es erkennen zu können, aber bedrohlich wirkte es auf keinen Fall.

Mit dem schläfrigen Kind im Arm machte sich Severus langsam auf den Weg zur Eingangshalle. Irgendwer würde sich schon finden, dem er den Jungen in den Arm drücken konnte. Remus oder Arthur, Molly oder überhaupt einer von den Weasleys. Immerhin waren sechs Onkel des Kindes vor Ort. Einem von denen würde er die Verantwortung übergeben. Er hoffte innig, er könnte sich danach vor Gesprächen mit anderen Gästen wenigstens solange drücken, bis in den Festsaal gebeten wurde. Während einer Trauung sprach man nicht, was ihm sehr entgegenkam. Auf diese Weise könnte er in Ruhe die anderen Gäste beobachten. Das wiederum, stellte er gerade erschrocken fest, könnte in der so gefürchteten Zerstreutheit enden. Ob es jemand bemerken würde, wenn er während der Zeremonie mit glasigem Blick auf den Boden starrte und sich nicht rührte? Böse Zungen könnten behaupten, er würde sich über Miss Lovegood lustig machen. Severus hatte, das musste er zugeben, Angst. Er konnte nicht im Geringsten einschätzen, wie er während der Hochzeitsfeierlichkeiten auf bestimmte Menschen oder Situationen reagieren würde – und das war es, was ihm Angst machte. In den letzten Tagen war er nicht mehr Herr seiner Sinne, was ihn verletzlich machte. Aber gleich nach der Trauung wäre Hermine wieder stärkend an seiner Seite. Dieser Gedanke machte ihm wiederum Mut.

„Wau!“ Severus wurde durch diesen Laut aus seinen Gedanken gerissen. Mit ausgestrecktem Arm deutete der Junge auf die Wand und wiederholte dabei: „Wau!“
Dem Kinderfinger folgte Severus mit dem Blick, bis er das Gemälde an der Wand bemerkte, in welchem ein betagter Bluthund den Kopf drehte. „Genau“, bestätigte Severus, „das ist ein Hund. Dazu noch einer mit einer hässlichen Pinselführung.“
„Wau!“, verbesserte Nicholas.
„Hund!“ Ein bisschen Hoffnung schwang mit, dem Kind in der gerade erst fünf Minuten anhaltenden Freundschaft das Sprechen beizubringen. Nicholas zeigte weiterhin fröhlich auf das Gemälde und bellte dabei. Die portraitierte Variante des Vierbeiners beschwerte sich über die Beleidigung bezüglich der Pinselführung und kläffte im Takt mit. Der Junge und der gemalte Hund stachelten sich gegenseitig an, bis es Severus zu viel wurde. „Es reicht!“, sagte er ein wenig lauter, damit man ihn bei dem hohen Geräuschpegel überhaupt noch hören könnte.

Abrupt herrschte Stille. Der gemalte Bluthund fiepte eingeschüchtert, drehte sich dann einmal im Kreis und nahm auf seiner Decke Platz, während Nicholas mit großen Augen zu Severus aufblickte. Angst zeigte der Junge keine, höchstens Respekt vor der lauten Stimme, denn er blieb ganz ruhig auf Severus‘ Arm. Keine Tränen, kein Schreien. Alles war in Ordnung.

Seinen Weg hatte Severus fortgesetzt. Gerade war er durch die Tür gegangen, hinter der schon eine Menge Hochzeitsgäste versammelt waren, da griff Nicholas ihm völlig unerwartet an die Nase, nahm die andere Hand noch zur Hilfe, und er lachte dabei. Es musste ausgerechnet Black sein, dem er als Erster begegnete, und der musste sich unbedingt zu dem Szenario äußern. Im Subtext glaubte Severus die alt bekannte, gehässige Art herauszuhören.

„Ja“, sagte Sirius schelmisch grinsend zu dem Jungen, „die packt man nur mit beiden Händen.“
Hohn und Spott zu ernten machte Severus rasend. In Windeseile blickte er sich um, damit er sehen konnte, wer alles anwesend war – wer über den Scherz lachen würde. Dank Nicholas schlug die angespannte Situation von einer Sekunde zur anderen um.
Der Junge zeigte breit grinsend auf Sirius und sagte wiederholt: „Wau!“
„Ja, du hast Recht“, lobte Severus die Äußerung des Kindes mit sanfter Stimme. „Das ist auch ein Hund.“

Mit halbseitigem Grinsen nickte Severus seinem damaligen Feind zu, bevor er mit dem Kind im Arm an ihm vorbeiging. Diesmal hatte Nicholas‘ Ablenkungsmanöver ihm aus der Patsche geholfen, auch wenn es keine Absicht war. An den vielen Menschen vorbei flüchtete Severus nach draußen auf die Seitenterasse. Zu seinem Bedauern war er hier nicht allein. Vom Regen in die Traufe. Ein alter Bekannter hielt sich ebenfalls draußen auf, um sich vor den anderen Gästen in Sicherheit zu bringen. Eines hatte dieser Freund sogar mit ihm gemeinsam: Er trug ein Kind auf dem Arm, ein rotblondes.

Lucius schaute zu Severus hinüber, erblickte das Kind in dessen Arm und sah weg, als wollte er mit niemandem reden. Einen Moment später schaute Lucius nochmals zu Severus hinüber, doch diesmal war es nur das Kind, das er musterte. Die Muskeln in Lucius Kiefer spannten sich an. Er blickte nochmals weg, schüttelte resignierend den Kopf.

„Lucius.“ Es hatte Severus viel Mühe abverlangt, die Stimme so kühl zu halten.
Als er sich ihm näherte, blickte Lucius wieder auf das Kind. „Ich denke nicht“, er klang enttäuscht und erbost zugleich, „dass eine kleine Auseinandersetzung zwischen dir und mir“, Lucius spielte auf die gebrochene Nase an, „damit enden muss, dass du mir so etwas verschweigst.“ Er nickte zu Nicholas.
Severus benötigte einen Augenblick, um sich zu fassen, bevor er aufklärte: „Das ist das Kind des Brautpaars!“
Ein verlegenes „Oh“ entwicht Lucius‘ Lippen, bevor er nochmals das schwarzhaarige Kind mit den braunen Augen betrachtete. „Ich dachte schon …“
„Das hätte ich dir bestimmt mitgeteilt“, versicherte Severus. Lucius war ein Freund, auch wenn er nicht immer mit ihm einer Meinung war. Das Kind in Lucius‘ Armen hatte Severus eine Weile nicht gesehen. Charles war ganz schön gewachsen. „Warum hältst du dich hier draußen auf?“
„Die Frage kann ich wohl an dich zurückgeben.“

Lucius hatte sich seinem Schicksal ergeben. Das jedenfalls konnte Severus sehen – und vor allem fühlen. Der Reinblüter würde eine gute Miene zum bösen Spiel machen. Vielleicht würde Lucius sogar mit jemandem Konversation betreiben, doch innerlich wären ihm die anwesenden Halbblüter und Muggelstämmigen, der Werwolf und die Blutschänder noch immer ein Gräuel. Offensichtlich war Lucius aber lernfähig. Sein Enkel bekam kein bisschen von dieser Abneigung zu spüren. Das Gegenteil war der Fall, denn er trug seinen Enkel liebevoll im Arm, obwohl der ein Produkt dieser Blutschande war.

Beide Männer beobachteten, wie Charles und Nicholas sich die Hände entgegenstreckten. Ein kindlicher Gruß, der unschuldiger nicht sein konnte. Der Spielkamerad für später war gefunden. Die Spiel-Zone konnte kommen. Die Jungen grinsten sich an, ihr noch nicht sehr ausgeprägtes Erinnerungsvermögen versicherte ihnen, sich schon einmal begegnet zu sein. Plötzlich ging die Tür zur Terrasse auf. Gleichzeitig blickten Lucius und Severus sich um, und im gleichen Moment dachten sie dasselbe: ‚Bitte nicht der!‘ Lucius wollte sich keinesfalls in ein unangenehmes Gespräch mit Dumbledore verwickeln lassen, und Severus hatte nicht vor, vor diesen beiden Männern eine geistige Kernschmelze zu erleben. Aus diesen beiden Gründen war Albus‘ Anwesenheit im Moment nicht erwünscht. Beide Männer hofften innig, Albus würde verschwinden.

„Oh, guten Tag, Severus“, Albus kam näher, „und Mr. Malfoy.“ Der alte Zauberer stand nun genau zwischen den beiden und streckte Lucius die Hand entgegen. Nachdem Lucius das Gewicht des Kindes im Arm verlagert hatte, ergriff er die Hand und schüttelte sie verbissen. Gleich darauf bückte sich Albus ein wenig, um das Kind anzusprechen. „Und da ist ja auch der ganz kleine Mr. Malfoy“, sagte er mit warmer Stimme zu dem Kind, der mit großen Augen zuhörte und dabei bis über beide Ohren grinste. An Lucius gewandt fragte Albus: „Charles war der Name, nicht wahr?“
„Ja“, erwiderte Lucius mit arroganter Miene, bevor er vervollständigte, „Charles Erasmus.“
„Ah“, machte Albus weise und richtete sich wieder auf. „Sofern ich mich recht entsinne, war Erasmus auch der Name von Arthurs Weasleys Vater.“
„Wirklich?“ Missgelaunt rümpfte Lucius die Nase und hoffte, somit als Gesprächspartner uninteressant zu wirken.
„Und ich habe das starke Gefühl, er wird einmal in das gleiche Haus kommen wie sein Vater und sein Großvater.“
Lucius schnaufte, nicht aber wegen der Frage, sondern wegen der Tatsache, dass Albus gerade im Versuch war, ihm wie befürchtet ein Gespräch aufzudrängen. „Da kann man sich jetzt ja nicht mehr so sicher sein“, wagte Lucius zu entgegnen. Immerhin war die Mutter eine Hufflepuff.
Über seine Halbmondbrille hinweg schauend hielt Albus dagegen. „Das würde ich nicht sagen. Die Mutter hat ein paar sehr ausgeprägte Eigenschaften, die man in der Regel den Slytherins zuschreibt.“ Von Charles ließ er seinen kleinen Finger greifen, bevor Albus beide informierte: „In etwa zehn Minuten wird zur Trauung hineingebeten. Ich wollte nur Bescheid geben.“ Ein Blick zu Nicholas, der sich offensichtlich wohl fühlte. „Dann werde ich auch gleich drinnen die Kunde verbreiten, dass Nicholas wohlauf ist. Er ist nämlich dem Kinderbetreuer entwischt.“
Severus stutzte und beteuerte im Anschluss: „Ich versichere, es liegt in diesem Fall keine Entführung vor.“
„Das hat auch niemand behauptet. Es lag wohl ein Missverständnis vor. Gut zu wissen, dass nichts passiert ist.“

Zu Lucius‘ Erleichterung ging Dumbledore nach diesen Worten wieder hinein. Stumm blickten sich die beiden Männer mit den Kindern im Arm kurz in die Augen. Sie duldeten sich gegenseitig, obwohl jeder von ihnen allein sein wollte. Bei Lucius fühlte sich Severus aus unbekannten Gründen sicher. Von der Terrasse aus betrachteten sie die letzten Gäste, die per Portschlüssel anreisten und auf der Wiese vor dem Schloss landeten. Lucius stellte sich plötzlich auf die Zehenspitzen, um an einem Blumenkübel vorbei die neusten Ankömmlinge zu betrachten. Seine Augen war auf ein Paar gerichtet, das von einem Kind, aber auch einem jungen Mann mit Krücken begleitet wurde.

„Severus?“ Lucius nickte in die Richtung des Paares. „Ist das da hinten bei Miss Parkinson etwa …“
Bei dem Paar handelte es sich tatsächlich um Miss Parkinson, die wegen der Nervenschädigung durch Schlafes Bruder noch eine Gehhilfe benötigte, und Mr. Zabini nebst Tochter. Der Mann neben ihnen war ihm ebenfalls bekannt. „Wie es aussieht, ist Mr. Goyle aus seinem Schlaf erwacht“, kommentierte Severus die Gäste.
„Warum ist er eingeladen worden?“, fragte Lucius mit hörbarem Staunen. Der junge Mann hatte lange Zeit bei ihm im Krankenzimmer gelegen. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass er gut Freund mit Potter ist.“
Severus warf ihm einen Blick zu, der verdeutlichte, dass Lucius in dieselbe Sparte von Gästen gehörte, bevor er mit den Schultern zuckte und laut vermutete: „Mr. Zabini wird gefragt haben, ob Mr. Goyle sie begleiten darf. Wie ich vorhin gehört habe, war Mrs. Weasley bei der Gästeliste nicht unbedingt kleinlich.“ Er erinnerte sich an Rons Aussage, dass Krums Frau ihre Cousine mitbringen wollte, was Molly auch gestattete. „Entspann dich, Lucius“, gab Severus als Ratschlag. „Je mehr Gäste anwesend sein werden, desto weniger wird man auf dich aufmerksam.“

Während Severus und Lucius sich unterhielten, sprachen auch die Jungen in einer gurgelnden Kindersprache miteinander, fast so, als wollte Nicholas dem anderen Jungen klarmachen, dass sie nachher die Hops-Burg gegen alle anderen Kinder gemeinsam verteidigen müssten.

„Wir gehen besser rein“, sagte Severus, der zur Terrassentür hinüberblickte. „Ich muss vor der Trauung noch das Kind loswerden.“
„Meinst du nicht, man würde es vermissen?“ Lucius war der Einzige, der über seinen Scherz lachte. „Von mir aus“, Lucius wandte sich bereits ab, „dann gehen wir rein.“
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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Rest von Kapitel 213

Severus ließ seinen ehemaligen Schulfreund vorgehen, der drinnen gleich von seinem eigenen Sohn in Beschlag genommen wurde. Draco war zu ihm hinübergegangen.

„Da bist du ja, Vater. Ich dachte schon, du hättest …“
Lucius unterbrach mit Spott in der Stimme: „Diese wunderbare Feier einfach verlassen? Das würde ich mir nie erlauben.“
Dass sein Vater sich einen besseren Zeitvertreib vorstellen könnte als Gast auf der Hochzeit eines Mannes zu sein, den er nicht ausstehen konnte, war Draco nichts Neues, aber er sprach es nicht an. Stattdessen blickte er zu Severus, der Nicholas im Arm hielt. Von dort oben konnte der Junge wenigstens die Gäste überblicken. „Hallo Severus“, grüßte Draco seinen Patenonkel. „Wie geht es dir?“
„Es geht mir gut, danke der Nachfrage.“

Im Moment war Severus damit beschäftigt, jemanden ausfindig zu machen, dem er Nicholas geben konnte. Molly schwirrte hier herum, aber Zeit für ihren Enkel hatte sie momentan nicht. Wo waren die ganzen Onkel? Systematisch suchte er den Eingangsbereich nach roten Haaren ab und fand welche. Susan. Sie stand direkt neben Narzissa und blickte zu ihm hinüber. Höflichkeitshalber nickte er zum Gruß, bevor er seine Suche fortsetzte. In der Menge machte er nochmals rote Haare aus, doch diese gehörten Tonks. Sie war dafür verantwortlich, die Gäste in den Saal zu bitten. Der Stress schlug sich in ihrer Haarfarbe nieder und war somit für jeden sichtbar. Keiner wagte es, ihr ein Widerwort zu geben. Remus war ganz in der Nähe. Auch er gab den Gästen Bescheid, dass die Trauung gleich beginnen würde und man bitte hineingehen sollte. Einige Meter weiter stand ein Mann, den Severus vorhin noch meiden konnte.

Black.

Böse Erinnerungen an damalige Streiche kamen zum Glück nicht auf, weil Black kreidebleich war und in eine ganz andere Richtung schaute. Der Eingangsbereich war dank Tonks und Remus immer leerer geworden, so dass auch Severus sehen konnte, welcher Anblick so eine Reaktion bei Black auslöste. Durch eine der vielen Türen trat gerade Augusta Longbottom und eine junge Frau, die die bekannte Krankenhauskluft des Mungos trug. Den beiden Damen folgten Luna und Neville, die beide jeweils einen Rollstuhl vor sich herschoben. Nevilles Eltern. Severus kannte sie aus der Schule. Es war eine Ewigkeit her, dass er die beiden gesehen hatte. Spinnefeind waren sie sich nie, auch wenn besonders Frank ihn damals misstrauisch im Auge behalten hatte. Severus schaute nochmals zu Black hinüber, der bei dem Anblick der beiden Cruciatus-Opfer ein Gesicht machte, als würde er selbst mit einem Unverzeihlichen malträtiert werden. Überraschend verließ Black seine Frau und flüchtete ins Freie.

„Warum hat man die beiden hergebracht?“, fragte Lucius abschätzig. Es war ihm unangenehm, mit den Opfern seiner Schwägerin konfrontiert zu werden. „Die bekommen doch sowieso nichts mit.“
Severus machte seinen Standpunkt klar, indem er einen Vergleich zog. „Warum hat man dir im Mungos ein Zimmer mit Fenster gegeben, wo du doch blind warst?“
„Vater“, Draco beugte sich zu ihm vor, „bitte halt dich mit solchen Äußerungen zurück.“ Zurechtgewiesen vom eigenen Sohn verstummte Lucius beleidigt. Draco zeigte auf Charles. „Soll ich ihn nehmen?“
„Nein, ich kümmere mich um ihn“, versicherte Lucius noch immer gekränkt.
„Aber wenn er mal während der Trauung raus muss?“
Severus konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Das käme deinem Vater wohl sehr gelegen.“
„Ich würde sagen“, Lucius blickte sich im fast leeren Eingangsbereich um, „wir können geschlossen hineingehen und Platz nehmen.“ Ein Blick zu Severus und Nicholas. „Was ist mit dir? Begleitest du uns?“
„Nein, ich möchte das Kind vorher abgeben.“
Lucius schnaufte. „Versuch es an der Rezeption. Die verwalten sicherlich auch ein Fundbüro.“
„Vater …“
„Was?“, blaffte Lucius seinen Sohn an. „Ich darf doch wohl noch Scherze machen!“
„Ich wollte dich auch nur bitten, mir zu folgen. Severus, wir sehen uns später.“

Seinem Patensohn nickte Severus bestätigend zu. Er sah der Familie Malfoy noch hinterher, die den Raum betraten, in welchem die Trauung stattfinden sollte. Lucius blieb – unbeabsichtigt oder nicht – dicht bei Narzissa. Zusätzlich klammerte er sich an Charles. In dem Jungen sah er die einzige Möglichkeit, die Hochzeit kurzfristig unter dem Vorwand zu verlassen, die Wasch- oder Windelräume aufsuchen zu müssen.

Weiter hinten stand Remus, der sich im Eingangsbereich umschaute. Er hatte Severus registriert, überließ es jedoch voll und ganz ihm, wann oder ob er hineingehen würde. Stutzig wurde er nur, weil Severus den Knaben hielt.

„Wo hast du ihn denn gefunden?“, wollte Remus wissen. „Hier war für eine halbe Stunde lang Panik ausgebrochen, weil Harrys Elfs den Jungen in der Spiel-Zone nicht gefunden hat.“
„Er irrte im Schloss umher.“
Voller Mitleid blickte Remus den Jungen an. „Was denn, etwa ganz allein?“
„Nicht lange. Würdest du ihn nehmen?“
Remus betrachtete Nicholas, der sehr schläfrig wirkte. „Sieht aus, als hättest du alles fest im Griff. Ich muss mal eben nach Sirius schauen.“ Remus warf einen besorgten Blick zur Doppeltür, hinter der besagte Person verschwunden war. „Ich glaube, Alice und Frank haben ihm ein wenig zugesetzt.“ Ein Seufzer, bevor Remus zugab: „Geht mir nicht anders. Ich habe auch nicht gewusst, dass ich ihnen heute begegnen werde. Das weckt Erinnerungen.“ Viele schöne und natürlich auch einige schlimme.

Remus machte sich auf den Weg, seinen Freund zu suchen. Als er die Tür nach draußen öffnete, stand er zwei Damen gegenüber, denen er den Vortritt ließ. Die eine war Mrs. Figg, die er herzlich begrüßte. Die andere Frau kannte Remus nur flüchtig. Ihm rutschte das Herz in die Hose, als er sie erkannte. Wenige Meter entfernt erging es Severus genauso. Mrs. Figg hatte Petunia Dursley untergehakt, was auch notwendig war. Allein der Gesichtsausdruck von Petunia bezeugte, dass sie bereit zur Flucht war. Sie fühlte sich in der Magischen Welt nicht wohl, hatte Angst.

Nachdem die beiden Damen eingetreten waren, ging Remus vor die Tür. Er musste nicht lange suchen. Sirius stand direkt neben dem Eingang und wandte den Kopf, als er Schritte hörte.

„Remus“, grüßte er mit flatteriger Stimme. Er blickte zur Tür. „Hast du gesehen, wer da eben gekommen ist?“
„Ja. Ich hoffe nur, dass Harry davon weiß. Es könnte sonst … Na ja, unangenehm werden.“ Er legte eine Hand auf Sirius‘ Schulter. „Warum bist du hier draußen?“, fragte er, obwohl er den Grund kannte. Weil Sirius sich nicht äußerte, formulierte Remus seine Vermutung aus und sagte: „Wegen Frank und Alice.“
Sirius nickte. „Das hat mich sehr überrascht, sie zu sehen.“
„Wohl eher überwältigt“, verbesserte Remus mit einem Schmunzeln. „Das ist in Ordnung. Mich hat es auch sehr mitgenommen. Trotzdem finde ich es schön, sie nach all den Jahren mal wiederzusehen. Nachher werde ich mich zu ihnen gesellen und sie begrüßen.“
„Die beiden erkennen doch niemanden!“ Sirius musste einmal kräftig durchatmen. „Sie so zu sehen …“
„Ich weiß, was du meinst. Andere sind da weniger befangen als wir. Hast du gesehen, wie Alastor die beiden begrüßt hat?“ Remus musste lächeln. „Er hat Frank auf die Schulter geklopft und ihm gesagt, dass der Haarschnitt ihm gar nicht steht.“
„Frank kann auch schwerlich mitteilen, was für ein Haarschnitt ihm gefallen würde“, hielt Sirius dagegen. Gleich darauf schloss er die Augen und legte eine Hand über sie. Sein kleiner Finger zitterte.
„Sirius …“ Diesmal seufzte Remus.
Gerade wollte er Sirius einen gut gemeinten Rat geben, da fuhr der ihm verzweifelt klingend über den Mund. „Ich weiß einfach nicht, wie ich mich ihnen gegenüber verhalten soll. Soll ich mit ihnen reden? Soll ich ihre Hand nehmen? Ich weiß nicht, wie ich mit Frank und Alice umgehen soll, Remus.“
Diese offen gelegte Unsicherheit verblüffte Remus, denn es lag nicht in Sirius‘ Natur, sich selbst als schwach darzustellen. Eine Antwort hatte er für Sirius parat. „Sei Ihnen einfach ein Freund.“
Der Satz wirkte nach. Sirius verstand, was Remus im Grunde damit aussagen wollte. Er grinste frech, als er das Beispiel gab: „Dann soll ich Frank auch einfach auf die Schulter klopfen und mir von Alice einen Kuss stibitzen? Ganz wie früher?“
Remus lachte gedämpft. „Bei Alice solltest du dich lieber zurückhalten. Ihre Schwiegermutter ist auch hier.“
Die beiden hörten, wie sich die Tür öffnete und drehten sich zeitgleich um. Annes Kopf lugte hervor. Sie hielt Ausschau. „Ah, Sirius. Hier steckst du.“ Sirius und Remus kamen auf sie zu. „Wollen wir nicht auch langsam reingehen?“, fragte sie besorgt. Warum er vorhin so abrupt gegangen war, konnte sie sich nicht erklären. „Es sind nicht mehr viele Leute in der Halle.“
Seine Unsicherheit wegen Frank und Alice überspiele er mit einem breiten Lächeln. „Dann sollten wir uns beeilen, sonst verpassen wir noch etwas.“

Remus folgte den beiden in den Eingangsbereich, nicht jedoch in den Festsaal. Stattdessen blickte er sich um. Noch immer trug Severus den Jungen, hielt sich ansonsten von den anderen fern. Mit Tonks und ihm wollte Remus ganz zum Schluss gemeinsam eintreten, wenn Harry startklar war. Vorher aber würde er sich noch um Mrs. Figg kümmern. Die fächelte momentan einer schwächelnden Petunia Luft zu. Harrys Tante hatte sich auf einen der gut gepolsterten Sessel gesetzt. Eine Hand war auf das Brustbein gelegt. Sie atmete heftig.

Bei den Damen angekommen fragte Remus höflich: „Darf ich Ihnen irgendwie behilflich sein?“ Petunia kannte er nur von Bildern und vom Sehen, doch gesprochen hatte er mit ihr noch nie. Sie würde mit seinem Gesicht nichts anfangen können. Trotzdem oder gerade weil sie ihn nicht kannte, reagierte sie ängstlich.
Mrs. Figg griff ein, wedelte derweil mit einer Stoffserviette vor Petunias Gesicht herum. „Ach, meiner Bekannten ist nur ein wenig flau.“
„Oh, das tut mir leid“, richtete Remus das Wort an Petunia. „Darf ich Ihnen etwas dagegen bringen?“
Erschrocken riss Petunia nicht nur die Augen auf, sondern Mrs. Figg auch noch die Serviette aus der Hand, die sie sich vor den Mund hielt, bevor sie mit bebender Stimme erwiderte: „Ich nehme nichts von Ihren seltsamen Tränken.“
Remus lächelte weiterhin freundlich, schüttelte den Kopf. „Ich dachte eher an einen Sherry?“

Auf einem kleinen Wagen in der Nähe warteten einige alkoholische Getränke bereits darauf, von den Gästen vernascht zu werden. Remus nahm die dunkelrote Flasche, auf deren Etikett eine runde Kirsche zu sehen war und schenkte ein kleines Glas davon ein. Er reichte es Petunia.

„Ein Schlückchen Alkohol beruhigt die Nerven“, versicherte er ihr, als sie zaghaft an dem Inhalt des Glases roch und den Duft als bekannt und darüber hinaus genießbar einstufte. Den Sherry trank sie auf ex. „Besser?“
Petunia nickte und holte Luft. „Mein Herz rast“, gab sie zu und schloss dabei einen Moment die Augen.
„Keine Eile, Madam.“ Mit einem Lächeln wollte Remus ihr zeigen, dass sie nichts zu befürchten hätte. „Gehen Sie erst rein, wenn Sie sich wohl fühlen.“
Mrs. Figg tätschelte Petunias Unterarm. „Keine Sorge, ich kümmere mich schon um sie.“

Langsam schlenderte Remus zu Severus hinüber. Als er dicht bei dem Tränkemeister stand, fiel ihm eine Sache sofort auf.

„Nicholas schläft!“, bemerkte er leise.
„Kannst du ihn nicht …“
„Oh nein, er würde sonst aufwachen.“ Remus presste einen Zeigefinger auf die Lippen. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Mrs. Figg Petunia auf die Beine half und beide im Saal verschwanden.

Die Tür ging nochmals auf und eine bekannte Persönlichkeit trat ein. Es war nicht Slughorn, der war schon im Saal. Es handelte sich um keinen Geringeren als Viktor Krum samt Familie. Der Lautstärkepegel war wegen der vielen, aufgeregten Kinder in null Komma nichts von zehn auf hundert Dezibel gestiegen. Nicholas‘ Kopf bewegte sich im Schlaf, als seine Ohren die Kinderstimmen vernahmen. Krums jüngste Kinder, die Zwillinge, waren nicht viel Älter als Nicholas. Bei Krum untergehakt sah Severus dessen Ehefrau, die Schwester des Hüters Zograf. Um deren Beine herum tollten sechs Jungen und Mädchen. Hinter ihnen stand ein anderes Paar. Die junge Frau glaubte Severus schon einmal gesehen zu haben – im Krankenhausflügel von Hogwarts, aber sie war keine von Poppys Schwestern. Neben der jungen Frau stand ein schwarzhaariger Mann, der sich unsicher umblickte. Beide wurden von Molly begrüßt.

„Mr. Krum.“ Sie reichte ihm die Hand, die er nahm und schüttelte.
„Wie oft muss ich noch darauf bestehen, dass Sie mich Viktor nennen?“ Er lächelte. „Freut mich, Sie zu sehen.“ Severus fiel auf, dass Krum kaum noch einen Akzent hatte. Das konnte natürlich an der festen Zusammenarbeit mit der Firma Nimbus Rennbesen liegen, für die der ehemalige Sportler unter anderem Werbung machte und neue Besen entwarf. „Darf ich vorstellen?“ Krum zeigte auf die junge Dame hinter seiner Frau. „Das ist die Schwester meiner Cousine, Marie Amabilis.“
Die Dame, die eben vorgestellt wurde, reichte Molly die Hand und lächelte freundlich. „Vielen Dank, dass ich kommen durfte. Es ist schön, dass ich so einen einzigartigen Moment wie heute zusammen mit meiner Familie erleben darf.“
„Sie sind herzlich willkommen, Miss Amabilis“, beteuerte Molly, die den Zusammenhalt einer Familie sehr zu schätzen wusste.
Krum deutete auf den Herrn daneben: „Das ist Mr. Duvall. Marie hat selbst uns damit überrascht, dass sie den Hinweis wahrgenommen hat, eine Begleitung mitbringen zu dürfen.“ Diese Stichelei ließ Marie nicht auf sich sitzen, denn sie knuffte ihn für diese Bemerkung am Oberarm.

Severus wusste es endlich. Lange genug hat er der Dame ins Gesicht geschaut, damit sein mentales Gesichtswiedererkennungsprogramm eine Antwort ausspuckte. Wenn er diese Miss Amabilis aus dem Krankenflügel kannte, konnte es nur die Dame gewesen sein, die vom Mungos gekommen war, um seinen Arm zu retten. Die Ärztin oder die Schwester, eine von beiden. Der Rückblick auf diesen unendlichen Schmerz barg das Risiko, wegen der Erinnerung ans dunkle Mal auch in den gesamten Horror einzutauchen, den dieses schwarze Zeichen symbolisiert hatte.

Mit aller Kraft wehrte sich Severus gegen die Schandtaten, die er selbst begehen oder denen er beiwohnen musste. Er dachte, wie Hermine es einmal erwähnt hatte, lieber ans Heute. Ein guter Ratschlag. Es ging ihm sofort besser. Das Mal war Vergangenheit. Nur noch wenig Schorf war der letzte Beweis für sein Dasein als Verbrecher gegen die Menschheit. Mit dem letzten Trank, der seine Seele vervollständigen würde, wäre er endgültig geläutert. Morgen wäre es soweit, es sei denn Hermine würde sich gleich nach der Feierlichkeit spät abends ins Labor stellen, um den siebten Trank zu brauen. Severus freute sich jetzt schon auf das Leben, das vor ihm lag. Es versprach geregelt zu verlaufen, entspannend und inspirierend, vor allem aber nicht einsam.

Vor Severus stand plötzlich ein Mann.

„Mr. Granger?“ Natürlich, dachte Severus. Harry würde auch Hermines Eltern einladen. Einmal hatte er erwähnt, dass sie bei ihnen untergeschlüpft waren, als sie den Tipp bekommen hatten, die Todesser wollten den Grimmauldplatz Nr. 12 beim nächsten Ordenstreffen überfallen.
„Wir waren schon bei den Vornamen angekommen“, erinnerte Joshua Granger ihn.
Zu den dreien gesellte sich Remus. Severus fühlte sich genötigt, das Wort zu ergreifen. „Kennen Sie sich?“ Als alle drei verneinten, deutete Severus mit einer Geste seiner Hand auf Jane. „Mrs. Granger und Ihr Gatte.“ Hermines Vater räuspert sich, so dass Severus anfügte: „Oder auch Jane und Joshua, Hermines Eltern. Das“, Severus nickte zu seinem Freund, „ist Remus Lupin.“
„Ah, wir haben uns ganz kurz mal gesehen“, erinnerte sich Remus, der die beiden herzlich begrüßte. „Das war auf Hermines Geburtstagsfeier.“
Jane nickte. Sie erinnerte sich an ihn. „Wir konnten leider nicht so lange bleiben. Heute feiern wir aber bis in die Puppen.“
„Das ist wunderbar, dass Sie beide kommen konnten. Darf ich Ihnen schon den Weg nach drinnen zeigen? Es dauert nicht mehr lange bis zur Zeremonie.“

Tonks hatte gerade die Familie Krum, samt der zwei eigenen Kindermädchen in den Trausaal geführt und hielt für Jane und Joshua noch höflich die Tür auf. Severus blickte sich um. Molly ging irgendeine Liste durch. Kellner waren anwesend, doch keine Gäste mehr.

Als der freiwillige Helfer wieder bei ihm war, fragte Severus. „Wann beginnt die Trauung?“
Remus nickte in Richtung Treppen. „Wenn Harry runterkommt. Er geht als Erster, gefolgt von Arthur, der ihm Ginny überreicht.“
„Ah, also die altmodische ‚der Vater übergibt die Braut an den Bräutigam‘-Zeremonie.“
„Ganz recht“, stimmte Remus leise zu, um Nicholas nicht zu stören.

Die Wange des Jungen lag auf dem weichen Stoff von Severus‘ neu aussehendem, blauem Umhang. Remus stutzte. Blau? Dann hatte er vorhin gleich nach der Landung mit dem Portschlüssel doch richtig gesehen, als die Garderobe bei Sonnenlicht bläulich aufblitzte, durch die vielen Falten im Stoff aber weiterhin schwarz wirkte.

Severus blickte hinauf zur Treppe. „Harry kommt“, verkündete er, so dass auch Molly und Tonks es hörten.

In seinem reich verzierten Festgewandt eilte Harry die Treppen hinunter. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck der totalen Zufriedenheit.

„Harry, mein Schatz. Alles bereit?“, fragte seine sehr baldige Schwiegermutter. Im gleichen Moment kam Ron die Stufen wenig graziös hinuntergepoltert. Glücklicherweise gehörte dieser Teil noch nicht zur Zeremonie.
„Ich muss nur noch ganz schnell eine Sache erledigen! Eine Minute bitte“, bat Harry und grinste dabei übers ganze Gesicht.

Harry ging in eine Ecke und bückte sich. Gleich im Anschluss stand Wobbel plötzlich bei ihm, der ganz offensichtlich gerufen worden war. Leicht vorgebeugt flüsterte er seinem Elf eine Frage ins Ohr und erwartete eine Antwort, die Wobbel ihm mit einem kräftigen Nicken gab. Der Elf winkte ab, schien Harry damit zu beruhigen. Alles – was auch immer von Harry als Überraschung geplant war – würde heute perfekt ablaufen. Das Gespräch könnte sich allerdings auch um Windeln für den Jungen gedreht haben. Severus verlor sich nicht in Überlegungen über Harrys Machenschaften. Diesmal, obwohl er Überraschungen nicht ausstehen konnte, vertraute er das erste Mal nach langer Zeit einer Person blind. Er vertraute Harry.

Es war Arthur, der die Aufmerksamkeit aller auf sich zog. Der stolze Brautvater zeigte mit seiner Kleidung erstmalig, dass er als Zaubereiminister ordentlich verdiente. Ein Blick zur Treppe verriet Severus, dass die Braut bereits am von hier unten aus nicht gut sichtbaren Absatz wartete. Da war auch Hermine, die sich von der Treppe aus im Eingangsbereich umschaute und ihn erspähte. Sie flüsterte jemandem – vermutlich der Braut – etwas zu, bevor sie die Treppe ganz hinunter ging und sich ihm näherte. Im gleichen Moment ging Arthur wieder nach oben zu seiner Tochter. Ganz aufgebracht war Molly, die Harry zu sich heranpfiff und wie beim Quidditch das Startzeichen gab. Der Bräutigam umarmte Molly und dann, ganz unerwartet, stand jemand mit einer Hochsteckfrisur vor Severus und versperrte ihm die Sicht auf das Geschehen.

Erstaunt blickte er sich herab. „Hermine.“ Sie lächelte zufrieden und betrachtete dabei Nicholas, der im Halbschlaf ein Auge rieb. Der Junge blinzelte und streckte verschlafen eine Hand nach ihr aus.
„Bekomme ich ein Küsschen?“, fragte sie ihren Patensohn, der gleich darauf die Lippen spitzte und zu einem feuchten Kinderkuss ansetzte. Gleich danach lehnte sich Nicholas wieder an den weichen Umhang. „Oh, du bist ja ganz müde“, erkannte Hermine richtig.
„Hermine, willst du ihn nicht nehmen?“
In dieser Bitte glaubte sie Panik zu hören. „Geht es dir gut, Severus?“
„Ja, ich möchte nur nicht mit ihm auf dem Arm …“ Er presste die Lippen zusammen. „Alle werden starren.“
„Ich begleite gleich die Braut“, rief sie ihm ins Gedächtnis zurück. „Vielleicht könnte Molly ihn nehmen.“
Zeitgleich blickten beide hinüber zu Ginnys Mutter, die gerade von Arthur gestützt wurde, weil ihr schwindelig war. Severus wollte Molly nicht noch mehr aufbürden. „Sie hat sich für heute genug vorgenommen.“
Hermine nickte und dachte dabei nach, wie sie zaghaft nachfragen konnte, ob Nicholas eine negative Auswirkung auf ihn hätte. „Wäre es so schlimm, wenn du ihn nimmst? Ansonsten könnte ich ihn auch in die Spiel-Zone bringen lassen. Es wäre aber schöner, wenn er dabei ist.“
„Ich kann nicht gut mit Kindern umgehen“, offenbarte er das, was sowieso jeder wissen dürfte.
Hermine musste wegen seiner Worte lächeln und blickte auf das dösende Kind auf seinem Arm, welches sich offensichtlich geborgen fühlte. „Der ist doch aber genau so, wie du dir deine Schüler immer gewünscht hast. Er ist ruhig“, scherzte sie. „Es dauert doch nur knapp eine halbe Stunde, Severus.“
Er stutzte. „Nur eine halbe Stunde? Also keine schwülstigen Reden und Liebesschwüre?“
„Darauf hatten beide keine Lust. Gleich wird Arthur ein paar Worte sagen, wenn er Ginny an ihn übergibt. Dann kommt eine kurze Rede von dem Herrn, der die Trauung durchführt und danach …“
„Danach?“
„Danach wird gefeiert. Zwischendurch möchte der ein oder andere sicherlich auch noch ein paar Worte loswerden, aber ansonsten“, sie zuckte mit den Schultern, „war es das.“
Severus kam es nicht einmal in den Sinn, nach Harrys Elf zu fragen, der für Nicholas ebenfalls die Verantwortung hatte. „Wenn es nur eine halbe Stunde ist …“
„Danke, Severus. Ist nicht mehr lange, dann bin ich bei dir“, versprach sie, während sie eine Hand auf seinen Arm legte. „Ich werde mal für dich einen Blick auf die freien Sitzplätze werfen. Irgendwie hat sich nämlich die Platzordnung in Wohlgefallen aufgelöst.“

Schon war Hermine bei der Tür und öffnete sie einen Spalt. Weil sie von dort keinen großen Überblick hatte, ging sie hinein. Nicht mal eine Minute später stand sie wieder bei ihm.

„Also, vierte Reihe von hinten sitzen auf der linken Seite Ted und Andromeda, gleich davor die Malfoys. Neben Lucius ist noch ein Platz, direkt am Gang. Sieht aus, als würde er ihn freihalten“, schilderte Hermine. „Auf der rechten Seite ist ein Platz neben Poppy. Allerdings liegt der mittig.“ Severus verzog das Gesicht. Er hatte keine Lust darauf, dass zwanzig Gäste aufstehen mussten, nur um ihn vorbeizulassen. „Hinten rechts hat man einige Stühle entfernt, damit die Rollstühle Platz haben. Außerdem steht Alastor gleich dahinter an der Wand neben dem Eingang. Du würdest ihn direkt im Nacken haben.“ Als sie hinter sich die Tür hörte, schloss sie kurz die Augen, weil sie ahnte, was jetzt kommen würde. Ihre Eltern. Die hatten nämlich gesehen, wie Hermine den Raum abgesucht hatte.
„Schatz“, ihr Vater drückte ihr einen Kuss auf. „Du siehst fantastisch aus. Lass dich mal richtig anschauen.“ Geduldig ließ sie sich von ihrem Vater einmal drehen, damit er sie mustern konnte. „Wirklich hübsch!“ Joshua winkte seine Frau heran. „Stell dich bitte hier hin.“ Der Aufforderung kam Jane nach. „Und jetzt du, Mine.“
„Ich bin schon aufgeregt genug. Es fängt jede Sekunde an!“ Sie sah Harry und Ron durch die Tür treten, die beide bis zum Altar gehen würde. Gleich danach waren Ginny, Arthur und sie an der Reihe. „Ich möchte jetzt nicht fotografiert werden.“
„Ich habe doch gar nicht vor, dich zu fotografieren. Ich möchte deine Mutter ablichten. Du bist nur ein Accessoire, also wenn ich bitten darf?“
Ihr Vater forderte sie mit einem Nicken auf, sich zur Mutter zu stellen, die sie mit offenen Armen erwartete und versprach: „Dauert nicht lange.“

Hermine grinste. Besonders ihr Vater konnte ihr immer die Aufregung nehmen. Deswegen war sie damals, als man sie im Mungos abgelehnt hatte, auch zu ihren Eltern gegangen, um sich von ihnen aufheitern zu lassen. Die Fotos waren mit der Digitalkamera schnell geschossen.

„Und jetzt zusammen mit Severus.“
„Bitte was?“ Die Erwähnung seines Namens hatte ihn aufgeschreckt.
„Ein Foto“, erklärte Joshua knapp.

Joshua winkte ihn zu Hermine hinüber. Es war nur ein Foto, dass Joshua mit einem extrem kleinen Muggelfotoapparat schießen wollte, dachte Severus. Wozu aufregen? Der Begriff Bild ließ ihn an das Foto denken, das auf der Rückseite eine Botschaft von Hermine enthielt. Er hatte ihr eine Menge Körbe gegeben, das stimmte. Severus nahm sich ganz fest vor, Hermine heute für die vielen Absagen und das lange Warten zu entschädigen. Hoffentlich entschädigte sie ihn im Gegenzug für die Nötigung ihres Vaters, für ein Foto stillstehen zu müssen.

„So!“ Remus klatschte in die Hände. „Ich würde sagen, dass alle, die nicht mit der Braut zusammen nach vorn gehen, jetzt drinnen einen Sitzplatz einnehmen.“ Er wandte seinen Kopf. „Du auch, Molly.“

Zusammen mit Tonks, Remus und Molly betrat Severus mit einem fest schlafenden Nicholas den Saal. Die Augen der Gäste waren durchweg nach vorn gerichtet, so dass Severus die freien Plätze begutachten konnte. Er fand alles vor, wie Hermine es beschrieben hatte. Ein Platz neben Lucius war frei.

„Bei Mr. Malfoy ist etwas frei“, wies Remus ihn auf den Stuhl hin. „Ich sitze mit Tonks gleich hinter dir, wenn das in Ordnung ist.“

Severus nickte. Zielsicher steuerte er die Malfoys an. Lucius nahm auf der Stelle seinen Gehstock vom Nebenstuhl, so dass sich Severus setzen konnte. In dieser halb sitzenden Position konnte Nicholas noch viel entspannter schlafen. Offensichtlich erging es Charles auf dem Schoß seines Großvaters ganz ähnlich. Es war nun einmal ihre Mittagsschlafzeit und daran hielten sie rigoros fest. Neugierig schaute sich Severus um. Die Kinder von Krum waren bestens erzogen, bemerkte Severus. Keines nörgelte oder machte Lärm. Natürlich könnte er sich umdrehen und Remus oder Tonks fragen, ob einer von ihnen den Jungen nehmen wollte, aber Severus sah keine Veranlassung. Es war keine Frage der Bequemlichkeit, er hatte es sogar sehr bequem. Der leichte Junge störte kein bisschen. Unter den anderen Gästen fand Severus eine Menge bekannter Gesichter. Molly schien die Hälfte der damaligen Mitschüler von Harry eingeladen zu haben, egal welchem Haus sie angehört hatten. Rosmerta von den Drei Besen war hier, genauso wie die Ordensmitglieder. Sogar Mundungus Fletcher lümmelte sich auf einem Stuhl. Der Langfinger wurde dabei von Alastor misstrauisch beobachtet. Selbst die Lehrer von Hogwarts waren anwesend, nur Filch fehlte, was sicher keine böse Absicht war. Hätte der eine Einladung bekommen, dann war die Wahrscheinlichkeit groß, dass er den Brief zerrissen hatte, sein Squib-Dasein verfluchte und sich mit einer Flasche Feuerwhisky, vielleicht auch zweien, tröstete.

Ganz vorn bei dem Herrn vom Ministerium stand Harry, den Blick gespannt auf die Tür gerichtet, durch die seine Braut jeden Moment treten würde. Die Vorfreude stand ihm ins Gesicht geschrieben. Sein Freund und Trauzeuge flüsterte ihm manchmal mit einem Schmunzeln auf den Lippen ein paar Worte ins Ohr, woraufhin Harry noch viel breiter grinste. Severus fiel sofort die Stickerei auf den beiden breiten Kragen auf, die in ihrer Verzierung die Buchstaben H und G sehr gut verbargen, aber nicht gut genug für ein so geschultes Auge wie das seine.

Die Tür öffnete sich im gleichen Moment, in dem die Musik erneut zu spielen begann. Es war schwierig, mit einem Kind auf dem Schoß über die eigene Schulter zu blicken, aber das war an diesem Abend nur die kleinste Hürde, die er zu nehmen hatte. Severus‘ Blick fiel nicht sofort auf die Braut, sondern auf Arthur. Dessen sichtbare Freude war so ungewohnt für Severus, dass es einer kurzen Observation bedurfte. Der Zaubereiminister in seinem edlen Gewand hatte den Arm seiner Tochter um den eigenen geschlungen, damit er den ganzen Weg nach vorn ihre Hand streicheln konnte. Hinter der Braut fand er Hermine, die einen Strauß Blumen in der Hand hielt, was ihr ganz recht war. Ihre nervösen Finger fummelten beinahe unerkannt das Grünzeug vom Stil des Gebindes, doch auch das entging Severus nicht. Sie hatte ihn gesehen und lächelte nur für ihn.

„Sie ist hübsch, nicht wahr?“, flüsterte Remus, der sich zu Severus nach vorn gebeugt hatte.
„Mmmh“, gab Severus als bestätigende Antwort.
Erst als Remus klar wurde, dass er missverstanden worden war, fügte er schelmisch hinzu: „Und die Braut selbstverständlich auch.“

Severus äußerte sich nicht zu Remus‘ Worten, weil die drei gerade im Takt der Musik direkt an ihnen vorbeigingen. Als Arthur seinen friedlich schlafenden Enkel bei Severus bemerkte, stieß er seine Tochter unmerklich an, damit auch sie dieses ungewöhnliche Bild sehen konnte. Ihr Gesichtsausdruck war dem von Harry sehr ähnlich. Sie war glücklich.

Vorn angelangt schlug Arthur Harry auf die Schulter, drückte väterlich zu und überreichte ihm die Hand seiner Tochter.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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214 Punkt, Punkt, Komma, Strich




Die Zeremonie war voll im Gange. Harry und Ginny hielten sich an den Händen, während der Herr vom Ministerium die aufgehübschten, bürokratischen Worte sprach, die für eine Vermählung im rechtlichen Sinne vorgeschrieben waren. Severus hatte diese Worte damals schon bei der Hochzeit von Lucius und Narzissa vernommen, was ihm vor Augen hielt, dass es sich um eine vorgegebene Rede handelte. Was für den Herrn vom Ministerium lediglich einen Job darstellte, nämlich Leute zu verheiraten, war für die Betroffenen natürlich ein – hoffentlich – einzigartiger Moment im Leben. Für solche Anlässe war der einzige Kompromiss der Bürokratie der, dass die Paragraphen nicht einfach heruntergeleiert wurden. Eben weil Severus diese Worte schon kannte, blickte er gelangweilt zu dem Jungen auf seinem Schoß, dessen Kopf an seiner Brust lehnte. Nicholas wachte gerade auf. Es irritierte den Jungen, so viele Menschen auf einmal um sich herum zu sehen und trotzdem so eine Stille zu vernehmen. Mit großen Augen blickte er zu dem blonden Mann neben sich. Lucius fühlte sich durch die Observation durch Kinderaugen gestört. Er schaute zu Nicholas hinüber und widerstand der Versuchung, kurzerhand die Zunge herauszustrecken, bevor er den gleichgültigen Blick erneut nach vorn aufs Paar richtete.

Nicholas schaute verschlafen umher. Über Severus‘ Schulter hinweg erspähte er ein bekanntes Gesicht. Er hatte sich damit abgefunden, dass die Menschen so leise waren. Das bedeutete keinesfalls, dass er sich der Masse anschließen musste. Mit gurgelnden Lauten streckte der Kleine die Hand über Severus‘ Schulter hinaus nach hinten.

„Bist du wohl still“, murmelte Severus leise. Es fehlte ihm noch, dass der Junge zu krakeelen beginnen würde. Durch einen seit Urzeiten angeborenen Instinkt, der durch den Kinderlaut ausgelöst wurde, drehten sich die wenigen Mütter, die es gehört hatten, um. Der Anblick, den Severus mit dem Jungen im Arm bot, war so harmlos, dass sie ihn als ungefährlich einstuften und sich wieder nach vorn wandten. Bevor Nicholas noch mehr Geräusche von sich geben würde, kam Hilfe von hinten. Remus hatte sich zu dem Jungen gebeugt und den kindlichen Wiedererkennungsgruß erwidert. Nicholas grinste breit, war wieder still und schaute sich um. Die Leute waren nicht länger interessant. Wie hingesetzte Puppen rührten sie sich nicht, während sie alle gemeinsam in eine Richtung schauten. Die großen Knöpfe an Severus Gehrock waren viel spannender. Mit beiden Händen befühlte Nicholas die Knöpfe, bevor er sich einen vornahm und an ihm drehte. Severus ließ den Jungen gewähren, weil der sich momentan vorbildlisch ruhig verhielt. Solange die Tätigkeit von Nicholas keine Aufmerksamkeit auf sie zog, konnte der Junge machen, was er wollte. „Den bekommt du sowieso nicht ab“, flüsterte Severus, woraufhin Nicholas schnaufte und sich nur noch mehr Mühe zu geben schien.

Severus schaute sich um. Von den Leuten vor ihm sah er nur die Hinterköpfe, also blickte er zu Seite. Gleich hinten saßen die Longbottoms. Luna flüsterte Alice unentwegt etwas ins Ohr, blickte derweil nach vorn und lächelte. Auf Severus machte das den Eindruck, als würde sie das Geschehen schildern, weil Alice ihren Blick nicht lange auf einem Fleck halten konnte. Augusta tupfte erst sich eine Träne von den Augen, bevor sie mit dem gleichen Taschentuch den Mund ihres Sohnes von Speichel befreite, der sich langsam einen Weg zum Kinn bahnen wollte. Ein Handgriff, der für Augusta Longbottom nach vielen Jahren normal war.

Mitleid war eines der Gefühle, das Severus seit über zwanzig Jahren nicht zu spüren imstande war, aber dieser Anblick berührte ihn. Schnell wandte er sich ab, um dieses ziehende Gefühl im Brustbereich zu unterdrücken. Sein Blick fiel auf Petunia. Auch sie saß mit Mrs. Figg weit hinten und hielt sich ein Taschentuch unter die Nase. Entweder, dachte Severus amüsiert, trocknete auch sie Tränen oder sie war kurz davor, sich wegen der ganzen widerlichen Zauberer und Hexen in ihrer Nähe zu übergeben. Petunia war alles andere als locker. Stocksteif saß sie auf ihrem Stuhl, wagte kaum, sich zu rühren.

In derselben Reihe, direkt am Gang, saß sein Kollege Filius Flitwick. Weil er über die Köpfe hinweg nichts sehen konnte, lehnte sich der Kleinwüchsige in den Gang, um wenigstens einmal einen Blick auf das Brautpaar zu erhaschen. Filius war ohne Begleitung hier.

Vorn am Altar gaben sich Harry und Ginny gerade das Ja-Wort, weshalb Severus seine Aufmerksamkeit wieder der Trauung schenkte. Besonders gut konnte er sie von hier hinten nicht sehen, aber Hermine fiel ihm sofort auf. Sie beobachtete ihre beiden Freunde mit zufriedenem Gesichtsausdruck. Harry vervollständigte die Zeremonie mit seinem Ja. Die beiden gaben sich einen Kuss, bei dem Hermine unbewusst zu Severus hinüberschaute. Weil sich ihre Blicke sofort trafen, durchfuhr ihn ein wohliges, wärmendes Gefühl in der Bauchgegend, das bis zum Herzen ausstrahlte. Dass es ihr genauso erging, konnte er nicht ahnen.

Den Blickkontakt löste Severus erst, als er das Geräusch von reißendem Garn vernahm. Gleich darauf hörte er, wie Lucius ein Lachen unterdrückte, was sich mit einem schnaufenden Laut äußerte. Ungläubig blickte Severus auf den runden Knopf in den Kinderhänden. Nicholas schien von dem Erfolg im ersten Moment genauso erstaunt, bevor er seine Beute breit lächelnd und triumphierend in die Höhe hielt.

Einige Damen schluchzten, wie es wohl bei jeder Hochzeit der Fall war. Minerva biss die Zähne zusammen und tupfte sich mit einem Taschentuch erst die Nase, dann unauffällig die Augen, als das Brautpaar an ihr und Albus vorbeischritt. Sibyll Trelawney brachte es fertig, vor lauter Freude für Harry und Ginny zu applaudieren, hielt sich dann aber schnell zurück, weil sie die Einzige war. Das kam davon, dachte Severus, wenn man so selten unter Menschen ging. Selbst er wusste, dass man bei einer solchen Zeremonie nicht klatschte. Viele putzten sich die Nase. Hagrid war dabei am lautesten. Er vergrub das bärtige Gesicht in ein riesiges Taschentuch, das andere Menschen mit Leichtigkeit als Tischdecke für einen Beistelltisch verwenden könnten. Olympe Maxime war bei ihm. In Severus‘ Augen war sie genauso ansehnlich wie früher. Die seidigen, schwarzen Haare waren wie bei vielen der weiblichen Gäste hochgesteckt, womit ihre dunklen Augen gut zur Geltung kamen. Wäre sie keine drei Meter groß, würden die Männer ihr zu Füßen liegen.

Gleich nach dem Brautpaar begannen die Gäste damit, den Saal ebenfalls zu verlassen. Einer der Ersten von ihnen war Severus. Im Nu war er durch die Flügeltür in den Eingangsbereich geflüchtet. In sicherem Abstand suchte er sich eine Wand, von der aus er einen guten Blick auf die Tür des Saals werfen konnte, in dem die Trauung eben stattgefunden hatte. Mit dem losen Knopf in einer Hand und dem Kind auf dem Arm wartete er in der Eingangshalle auf zwei Dinge. Erstens auf Hermine und zweitens auf irgendjemandem, der ihm dieses Kind abnehmen könnte, bevor er es noch lieb gewinnen würde. Dafür war es wahrscheinlich schon längst zu spät. Nicholas verhielt sich ruhig, womit er Severus wirklich beeindruckte. Für ihn waren Kinder stets ein Synonym für unerträgliche Lautstärke und widerlichen Schmutz gewesen. Der Junge beguckte sich die Menschen, die aus der Türe traten. Bei dem einen oder anderen Gesicht, das er kannte, gluckste er und hob die Hand, so auch bei dem einen Rothaarigen, der sich sofort den beiden näherte.

Es war Charlie.

„Guten Tag, Professor Snape“, grüßte der zweitälteste Weasley. Seine langen Haare hatte er auch zur Hochzeit nur mit einem schwarzen Lederband zu einem Pferdeschwanz gebunden. Bevor Severus den Gruß erwidern konnte, bot Charlie hilfsbereit an: „Darf ich Ihnen etwas abnehmen?“ Mit einem Nicken deutete er zu Nicholas.
„Das wäre außerordentlich freundlich von Ihnen.“
„Dann komm mal her, mein Kleiner.“ Charlie streckte seine Hände aus. Die Geste verstand Nicholas ganz richtig, denn sie bedeutete „Jetzt nehm ich dich.“. Nicholas ahmte die Geste nach und streckte dem Onkel die kleinen Arme entgegen, so dass man ihn besser greifen konnte.
„Passen Sie auf Ihre Knöpfe auf, Mr. Weasley.“ Der gut gemeinte Ratschlag versetzte Charlie ins Staunen, so dass Severus zur Erklärung den Knopf zeigte und die leere Stelle am Gehrock, von der Nicholas ihn abgedreht hatte.
„Danke für die Warnung.“

Das Brautpaar war längst verschwunden, wahrscheinlich um sich kurz zu erholen, damit sie zur rechten Zeit wieder dazustoßen konnten. Severus bemerkte einige Angestellte, die die Gäste höflich dazu aufforderten, in einen bestimmten Raum zu gehen. Severus fasste sich an den Bauch. Ein wenig zu essen könnte er jetzt wirklich vertragen. Er hatte so ein ungewohntes Flattern im Magen.

Charlie winkte jemandem zu, wandte sich danach an Severus und sagte: „Nachher würde ich gern ein wenig mit Ihnen plaudern. Unser Reservat sucht einen Abnehmer für einige der Dracheneier.“
„Oh, tatsächlich?“, fragte Severus interessiert nach.
„Der Erste, der mir eingefallen ist, waren Sie.“ Mit etwas Schwung setzte Charlie seinen Neffen bequemer in den Arm. „Ich stürze mich erst einmal zurück in die Menge. Wir sehen uns nachher.“ Schon war Charlie verschwunden.

Auf einmal fühlte sich Severus von den anderen Gästen ausgeschlossen, was seine eigene Schuld war. Auch er könnte sich in die Menge stürzen und mit Horace ein Schwätzchen halten, vielleicht sogar mit Remus. Letzteren sah Severus gerade, wie der Ausschau nach jemandem hielt. Endlich hatte er denjenigen gefunden – Severus. Wie schon vor der Trauung kam Remus auch diesmal auf ihn zu, vielleicht um ihm mitzuteilen, dass man sich zum Essen nun in den großen Saal begeben müsste.

„Ich weiß Bescheid“, sagte Severus noch bevor Remus den Mund aufgemacht hatte.
„Über was?“, kam als Gegenfrage.
„Dass nun zum Schmaus gebeten wird.“
Remus nickte. „Deswegen bin ich aber gar nicht …“ Sein Blick fiel auf den fehlenden Knopf. Aus der Stelle ragten noch ein paar gerissene Fäden. „Was ist denn mit dir passiert?“
Wie aus dem Nichts war Narzissa bei ihnen und hörte zu, als Severus erklärte: „Der Junge hat es geschafft, den Knopf so oft zu drehen, dass der Zauber für die Reißfestigkeit nicht mehr anschlagen konnte.“
Narzissa hob die Augenbrauen. „Die Standard-Zauber der Schneider sind für zwanzig Umdrehungen vorgesehen.“
„Dann wird der Junge ihn einmal mehr gedreht haben. Er war äußerst konzentriert bei der Sache.“
„Hast du den Knopf?“ Als Severus ihm den Knopf zeigte, bot Remus an: „Ich mach ihn dir an. Dauert nicht lange.“
„Nein“, wollte sich Severus herauswinden, „das ist nicht notwen…“
Narzissa fuhr ihm über den Mund. „Remus hat im letzten Jahr die Hose von Dracos Schuluniform geändert. Das ging sehr schnell.“
„Komm mit“, schon führte Remus ihn etwas weiter weg, „wir suchen uns eine ruhige Ecke und …“ Beide rannten in Alastor hinein, weshalb Remus grinsen musste. „Diese Ecke ist wohl schon besetzt.“
„Kann ich euch helfen?“, fragte der Auror skeptisch. „Ich glaube, die Gäste werden gerade zum Essen gebeten.“

Remus forderte von Severus den Knopf. Alastor und Severus staunten über die Geschwindigkeit, in der Remus den Knopf wieder per Zauber anbrachte. Er saß bombenfest. Severus schloss die Lücke im Gehrock und wandte sich Remus zu.

„Erst überraschst du mit kulinarischen Genüssen und jetzt entpuppst du dich auch noch als Nähtalent.“ Aus Severus Mund war das ein eindeutiges Kompliment.
„Das kommt davon, wenn man jahrelang seine alte Kleidung ausbessern muss. Außerdem muss einer diese Dinge ja tun.“ Verträumt schaute Remus zu seiner Verlobten hinüber. „Tonks kann nämlich nicht nähen und auch nicht kochen.“
„Mein herzliches Beileid“, scherzte Severus, „das Problem kenne ich nur zu gut.“
Niemand hatte mit Hermines Stimme gerechnet, die gleich konterte: „Zumindest versalze ich das Essen nicht.“ Alle drehten sich zu ihr um. Da stand sie, Hermine, mit ganz rosigen Wangen und einem zarten Lächeln auf den Lippen, das sehr wahrscheinlich den ganzen Tag und auch den Abend über anhalten würde. Und wenn nicht, dann wollte Severus das ändern. Ihre Augen waren ein wenig glasig. Sie musste geweint haben, vor Freude. Hermine hielt ihm die Hand entgegen, die er aus einem Reflex heraus nahm. Sie nickte zu dem Eingang des großen Saals hinüber. „Molly hätte es sich sparen können, Platzkarten drucken zu lassen. Jeder sitzt so, wie er möchte.“ Stolz fügte sie hinzu: „Wir beide haben übrigens das Privileg, am Tisch des Brautpaares zu sitzen.“
„Na, was für ein Glück dass ich keine Aufmerksamkeit erregen wollte“, nuschelte Severus, bevor er sich von Hermine führen ließ. Er hörte Remus noch sagen, dass die Farbe ihm stehen würde, was er nicht kommentierte, denn er tat es als nicht sehr originellen Scherz ab.

Alastor blickte den beiden verdutzt hinterher, bevor er Remus fragte: „Ist mir da irgendetwas entgangen?“
„Alastor!“ Remus klang schockiert, doch der amüsierte Gesichtsausdruck lockerte die Stimmung. „Du siehst mehr als jeder andere hier“, er spielte auf das magische Auge an, „aber das ist dir nie aufgefallen?“
„Sie arbeiten zusammen“, grunzte Alastor beleidigt, weil seine Beobachtungsgabe offenbar nicht mehr die Beste war.
Freundschaftlich schlug Remus ihm auf die Schulter. „Lass uns reingehen. Ich habe für dich einen Platz neben Albus organisiert.“ Gerade wollte der Auror im Ruhestand Einspruch einlegen, da versicherte Remus: „Der Stuhl steht direkt mit dem Rücken zur Wand.“

Damit ließ es sich leben, dachte Alastor und folgte Remus in den großen Saal. Und der Saal war riesengroß.

Als Remus die Malfoys passierte, hörte er Susan sprechen.

„Ich glaube, Charles braucht neue Windeln.“ Die junge Mutter schnüffelte dezent an dem Jungen, der noch immer von seinem Großvater gehalten wurde. „Sogar definitiv.“
Sie wollte ihn nehmen, da winkte Lucius ab. „Ich mach das schon.“
Mit einem Deut ihres Fingers zeigte sie in eine bestimmte Richtung. „Der Wickelraum ist …“
„Vielen Dank, ich kenne den Weg bereits.“

Lucius verschwand. Die Stille im Wickelraum nutzte er zum Aufatmen, was wegen der vollen Windeln nicht sehr angenehm war. Vorsichtig öffnete er die Hosen seines Enkels, der seelenruhig auf der Fläche lag und die bekannte Prozedur über sich ergehen ließ. Gerade hatte er die volle Windel geöffnet, da ging die Tür auf. Sofort drehte sich Lucius um. Ein Weasley. Der Zweitälteste der Söhne mit dem Kind im Arm, das vorhin noch einen Knopf bei Severus gelöst hatte.

„Guten Tag“, grüßte der Rothaarige angemessen freundlich. Lucius nickte dem jungen Mann lediglich zu und entschloss, die Windel schneller zu wechseln, als er anfangs dafür eingeplant hatte, um dem Fest ein paar Minuten fernbleiben zu können. Wenn er hier nicht ungestört war, wollte er nicht länger hier verweilen als notwendig. Einen geflüsterten Zauberspruch später und die neue Windel war mit Magie angezogen. „Wie haben Sie denn das gemacht?“, wagte der Weasley-Balg zu fragen. Lucius war drauf und dran, den jungen Mann zu ignorieren, wofür er sich später vielleicht eine Rüge seiner Frau einfangen könnte.
„Haben Ihre Eltern Ihnen gar nichts beigebracht?“
„Ich habe ganz nett gefragt, Mr. Malfoy.“
„Und ich habe …“ Das Gespräch war kurz davor zu eskalieren, so dass sich Lucius zusammenriss. „Incunamuta lautet das Zauberwort. Der Spruch und die dazugehörige Stabbewegung wurden von meinem Urgroßvater entwickelt und später ausgebaut. Es bedeutet nichts anderes als Windeln wechseln.“
Charlie setzte Nicholas neben dem liegenden Charles ab und vermutete laut: „Er wollte sich wohl nicht die Hände schmutzig machen.“
Über die Bemerkung wurde er einen Moment lang von Lucius schräg angesehen. Der Reinblüter schien mit sich zu kämpfen. Am Ende riss er sich zusammen und erwiderte lediglich: „Wer würde das schon wollen.“
„Ja, da haben Sie Recht.“ Einen Moment später forderte Charlie: „Zeigen Sie mir die Stabbewegung?“
Entweder zählte Lucius innerlich bis zehn oder er malte sich aus, was es für Konsequenzen haben könnte, sollte er den jungen Mann barsch zurechtweisen. „Meinetwegen.“ Er klang genervt, zeigte Charlie jedoch die Bewegung. „Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden?“ Sein Enkel mit der sauberen Windel fühlte sich ganz offensichtlich wieder wohl, so wie er grinste. Sofort wollte Lucius wieder gehen, doch er rechnete nicht mit einer weiteren Frage.
„Das ist der kleine Charles?“ Charlie nickte zu dem rothaarigen Jungen, der erneut Kontakt zu Nicholas suchte und ihm in geheimer Kindersprache irgendwelche geheimen Tipps gab. Erwachsene hörten ihn nur brabbeln, aber Nicholas beherrschte den Code und brabbelte zurück.
„Ganz Recht, das ist Charles Erasmus.“
Charlie benutzte den neu erlernten Incunamuta-Spruch, der auf Anhieb funktionierte und erwähnte nebenher. „Mein Großvater hieß Erasmus.“
Lucius zwang sich zu einer netten Äußerung. „Wie wunderbar. Wenn Sie mich jetzt …“
„Wir können gleich zusammen hineingehen.“ Charlie schien die Situation sichtlich zu genießen. „Wie ich erfahren habe, sitzen die Tonks‘ und Malfoys ebenfalls am Tisch des Brautpaares.“
Ein Seufzer entwich Lucius, bevor er wenig begeistert wiederholte: „Wie wunderbar …“

An einem Tisch mit Potter und den Weasleys. Verkehrte Welt. Lucius ertrug es seiner Gattin zuliebe, doch die sollte sich hüten, seinen Geduldsfaden noch weiter zu strapazieren. Er konnte eine ganze Menge ertragen. Immerhin hatte er mit Leuten wie Voldemort zu tun. Der war im Piesacken allerdings weniger zurückhaltend gewesen, sondern hatte ihm den Rücken mit einem Cruciatus gekrümmt. Lucius erinnerte sich daran, dass seine jetzige Schwiegertochter ihm damals in Askaban einen Heiler wegen des Rückenleidens geschickt hatte. Wo er gerade daran dachte: Der Rücken tat ihm weh. Möglicherweise war es keine gute Idee gewesen, den Jungen die ganze Zeit über zu tragen. Als er abwägen wollte, was schlimmer war – die beginnenden Rückenschmerzen oder eine Konversation mit einem Weasley – da war der junge Mann schon fertig und hielt ihm die Tür auf.

„Nach Ihnen, Mr. Malfoy.“ Nachdem Lucius an ihm vorbeigegangen war, grinste Charlie in sich hinein. Ein handzahmer Lucius Malfoy, dachte er schmunzelnd. Dass er das einmal erleben durfte.

Einige Gäste waren an die frische Luft gegangen, wie zum Beispiel George. Es ging ihm gegen den Strich, dass seine Brüder der Meinung waren, er wäre nur mit einer Frau an seiner Seite ein ernst zu nehmendes Familienmitglied. Er war davor geflohen, zwangsverkuppelt zu werden, dabei hatte der Tag erst begonnen. Von der Balustrade der Terrasse aus überblickte er die hübsche Gegend. Viele Bäume, gepflegter Rasen, weiter hinten ein kleiner See. Schnell wie der Blitz huschte plötzlich etwas Georges Gesicht vorbei. Sein Kopf drehte sich von ganz allein, um dem schnellen Etwas nachzusehen, doch einen Flügelschlag später konnte er nichts mehr ausmachen. Eingebildet hatte er es sich nicht, da war er sich ganz sicher.

„Oh, guten Tag“, grüßte eine unbekannte Stimme. „Ich habe nicht damit gerechnet, jemanden hier anzutreffen.“
George zuckte mit den Schultern. „Sie können sich ruhig zu mir gesellen. Es ist ja nicht meine Terrasse.“
Ein gut aussehender Herr trat an George heran. „In gewisser Weise ist es sogar meine Terrasse“, scherzte der Herr. „Mein Name ist Richard Van Tessel, der Schlossbesitzer.“
„George Weasley.“ Er schüttelte die Hand des Schlossbesitzers. Noch während er Van Tessel die Hand schüttelte, sauste abermals etwas so schnell an George vorbei, dass er sich erschrak. „Was war das?“
„Das, Mr. Weasley, war ein …“ Er beugte sich zu George und flüsterte ihm die Antwort ins Ohr.
George traute seinen Ohren kaum. „Nein, das gibt es nicht!“
„Oh doch, wenn ich es Ihnen doch sage! Sie fühlen sich wohl hier. Ihre Population ist in den letzten Jahrzehnten enorm angestiegen.“

Die beiden unterhielten sich eine Weile über das Schloss, über den Namen des Schlosses und über bauliche Mängel, die dank der Einnahmen von der Hochzeitsfeier behoben werden konnten. Am Ende redeten sie über das Brautpaar, bis George auf die Uhr blickte.

„Ich denke, ich gehe langsam hinein.“
„Ich werde Sie begleiten, Mr. Weasley.“

Auf dem Weg fand Van Tessel noch einiges, über das er ein, zwei Worte verlor. Er zeigte auf eine Statue und erklärte, wen sie darstellte und wann das Werk hergestellt wurde. Trotz der allgemeinen Ächtung, die der alten Zaubererfamilie wegen der zurückliegenden Blutschande von vielen Reinblütern noch entgegengebracht wurde, hörte George deutlich heraus, wie stolz Van Tessel auf die eigene Herkunft und das Schloss war.

Im großen Saal musste sich George zunächst orientieren. Unzählige, meist runde Tische mit Plätzen für bis zu vierzig Personen bauten sich vor ihm auf. Massen von Menschen mit fröhlichen Gesichtern erschwerten ein Vordringen zum eigenen Tisch. Die Kellner waren startklar und warteten nur auf ein Handzeichen, um die Gäste zu bewirten.

„Ich glaube, dort hinten“, Van Tessel zeigte auf einen Tisch, an dem viele Rothaarige saßen, „haben wir Ihre werte Familie.“ Der Hausherr war so freundlich, ihn bis an den Tisch zu begleiten, wo er von seiner Familie und auch der Familie Tonks und Malfoy gegrüßt wurde. Ein paar Plätze waren noch frei.
Seine Mutter erspähte ihren Sohn und die Begleitung und sprang vom Stuhl auf. Mit breitem Lächeln grüßte sie: „Oh, Mr. Van Tessel.“
„Mrs. Weasley.“ Galant pflanzte er ihr einen trockenen Kuss auf den Handrücken. „Ich hoffe, alles ist zu Ihrer Zufriedenheit?“
Molly errötete. „Alles bestens. Der Ort ist himmlisch“, lobte sie in den höchsten Tönen.
„Falls Sie irgendetwas benötigen, ich halte mich immer in der Nähe auf.“
Wie ein schüchternes Schulmädchen blickte Molly zu Boden und nickte. „Das ist sehr aufmerksam von Ihnen.“
„Dann wünsche ich einen guten Appetit.“

Van Tessel hielt ihren Stuhl, bis sie sich gesetzt hatte. Nachdem er gegangen war, blickte nicht nur Molly ihm schmachtend hinterher, sondern alle Damen am Tisch, selbst Narzissa.

„Hach“, machte Molly geistesabwesend, womit sie Arthurs Aufmerksamkeit erregte.
Sofort beschwerte er sich: „Wann hab ich das letzte Mal ein ‚Hach‘ aus dir herausgekitzelt?“
Ein paar Stühle weiter zeigte sich ein ähnliches Bild. Angelina blickte dem Schlossbesitzer hinterher und schwärmte: „Uh, der ist ja zum Anbeißen.“
Ron wedelte mit etwas vor ihrer Nase herum und empfahl bissig: „Wirf doch mal einen Blick in die Karte. Vielleicht steht er ja mit drauf.“
Besagte Karte studierte Hermine bereits, als Severus sie antippte. Sie blickte auf und bekam die Frage gestellt: „Kein Kommentar deinerseits?“
„Was? Zu dem Herrn?“ Hermine blickte sich um und sah Van Tessel, wie der gerade mit Remus redete, ihm dabei freundlich auf den Oberarm schlug. Beide lachten. Sirius stand direkt daneben und hörte mit ernster Miene zu. „Er sieht nett aus“, war Hermines einziger, desinteressiert klingender Kommentar, bevor sie wieder in die Karte schaute.

Zwischen Severus und Tonks waren zwei Plätze frei. Neben Tonks saß Anne, gefolgt von Ted und seiner Gattin Andromeda. Gleich darauf begann es mit den Malfoys – Narzissa machte den Anfang. Jeder hatte sich so platziert, dass er nicht direkt neben einer Person sitzen musste, die er nicht ausstehen konnte. Remus und Sirius steuerten auf die freien Plätze zu, was viel Zeit in Anspruch nahm, denn überall standen noch Gäste herum, die miteinander sprachen oder Fotos schossen. Colin und Dennis waren mit ihren Kameras mittendrin.

„Ist neben dir noch frei?“, fragte Remus höflich. Severus nickte, so dass Remus Platz nahm. Tonks rutschte auf, damit sie neben ihrem Verlobten sitzen konnte und überließ ihren vorgewärmten Stuhl Sirius. Auf diese Weise saß jeder neben seinem Liebsten. Platzkarten waren nicht notwendig. Die Sitzreihenfolge organisierte sich von ganz allein.
Sirius kicherte, weshalb Tonks fragte, was los wäre. Er offenbarte den Grund seiner Belustigung und erklärte in einer Lautstärke, damit wenigstens auch Remus seine Worte hörte: „Da versuchte gerade jemand, zarte Bande mit Remus zu knüpfen.“
Davon irritiert legte Remus die gerade aufgenommene Menükarte beiseite. „Wie bitte? Das wäre mir doch wohl aufgefallen. Wer soll das gewesen sein?“
Tonks stimmte mit ein, wenn auch hörbar eifersüchtig: „Das würde ich auch gern wissen.“

Severus hörte nur mit einem Ohr zu, blickte derweil in die Speisekarte, die Hermine aus freien Stücken mit ihm teilte. Dort waren einige Köstlichkeiten aufgelistet, bei denen ihm jetzt schon das Wasser im Munde zusammenlief. Pot-au-feu und Coq au vin waren ihm bekannt, aber unter den anderen ausländischen Bezeichnungen konnte er sich nichts vorstellen. Er war sich sicher, dass sich ein paar umwerfende Leckereien hinter den Namen verbergen mussten.

Er beugte sich zu Hermine und fragte geradeheraus: „Kannst du Französisch?“
„Natürlich“, sie blätterte zur nächsten Seite und wurde leiser, „nur mit der Sprache hapert es ein wenig.“

Wie versteinert wiederholte Severus in Gedanken die Antwort und er fragte sich, ob sie es so meinte, wie er es verstanden hatte. Ungläubig betrachtete er ihr Gesicht, von dem er nur die Seite sehen konnte, weil sie noch immer in der Karte las. Sie bemerkte seinen Blick und schaute auf. Die Farbe auf ihren Wangen, vor allem aber das kecke Lächeln und freche Glitzern in den Augen waren Antwort genug. Sie meinte es genau so. Ihm wurde plötzlich ganz schwummerig.

Neben sich hörte Severus einen Protest von Remus, der beteuerte: „Das ist überhaupt nicht wahr.“ Sirius feixte in sich hinein, während Tonks um Aufklärung bat, die ihr Verlobter sofort gab. „Mr. Van Tessel hat mir nur ein Kompliment über den Umhang gemacht.“
„Ja, sicher.“ Sirius beugte sich an Tonks vorbei. „Aber du hättest stutzig werden sollen, als er meinte, die Farbe passt zu deinen Augen.“
„Das tut sie doch auch! Die Verkäuferin hat das Gleiche gesagt. Und Sirius?“ Remus drosselte die Lautstärke, als er seinem Freund klarmachte: „Selbst wenn andere Absichten dahinter gestanden haben mögen, was ich nach wie vor bezweifle, dann habe ich im Gegensatz zu dir kein Problem damit.“
Sirius wollte gerade zurückschießen, da lenkte Anne ihn gekonnt mit einer Frage ab. Sie nickte in eine Richtung und fragte: „Ist das nicht der Herr, mit dem du zusammenarbeitest?“
„Wer? Sid? Warum sollte der hier sein?“ Den Gesuchten hatte er sehr schnell gefunden. „Tatsächlich! Was hat der mit Harry zu tun?“
„Und wer ist das da bei ihm?“, wollte Anne wissen.
Einige Plätze weiter hatte Lucius die gleiche Beobachtung gemacht. Er wandte seinen Kopf zu Narzissa, ohne seinen Blick von dem Paar einen Tisch weiter abzuwenden. „Ist das nicht die gute Marie?“ Wenigstens war ein Gesprächspartner für später gefunden.

Am Tisch von Marie und Sid saßen nicht nur Maries Verwandten, die Krums, sondern auch ein paar der DA-Mitglieder sowie Mrs. Figg und Petunia. Letztere zitterte so stark an den Händen, dass sie aus Verlegenheit ihre Serviette genommen hatte, um sie zu kneten. Vor allem und jedem hatte sie Angst, obwohl sie zu ihrem Erstaunen sehr wenig Magie gesehen hatte. Kein Einziger hatte seinen Stab in der Hand, höchstens ein Glas Wasser. Verstohlen betrachtete Petunia die Menschen. Nicht zu übersehen war der Riese, der Harry an seinem elften Geburtstag entführt hatte. Jedenfalls hatte Vernon es immer als Entführung bezeichnet, auch wenn Harry freiwillig mitgegangen war. Einen Augenblick lang fragte sich Petunia, ob es richtig gewesen war, ohne ihren Mann hier aufzukreuzen. Andererseits hätte der allein beim Anblick der Gäste längst einen Herzinfarkt erlitten – das wäre dann der dritte in seinem Leben. Dudley hätte sich wie üblich mit den falschen Leuten angelegt, dachte Petunia. Ihr kleiner Spatz sollte nicht noch einmal einen Ringelschwanz angehext bekommen. Schüchtern betrachtete sie die Gäste, die direkt bei ihr am Tisch saßen. Viele von ihnen trugen ungewöhnliche Kleidung, was sie als Zauberer entlarvte. Das Pärchen direkt neben ihr war jedoch so gekleidet wie sie. Der Mann zu ihrer linken bemerkte, wie sie die Serviette malträtierte.

„Sie sind offenbar sehr aufgeregt“, stellte der Herr mit warmer Stimme fest. „Wenn ich mich vorstellen darf: Granger ist mein Name.“
Jetzt war Petunia an der Reihe. Sie ahnte, dass allein ihr Name für Aufruhr sorgen könnte, dennoch gebot es die Höflichkeit, dem Herrn zu antworten: „Dursley.“
„Mrs. Dursley, freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen.“ Mr. Granger deutete auf die Dame neben ihm. „Das ist meine Frau.“
Petunia atmete schnell und flach, rang sich jedoch ein Lächeln ab, als sie anmerkte: „Sie sehen beide nicht wie Zauberer aus.“
Mr. Granger lachte. „Das liegt daran, weil wir keine sind.“
„Sind Sie nicht?“ Das Ehepaar verneinte. „Oh“, machte Petunia erleichtert. Ein wenig Normalität zwischen der Andersartigkeit.
„Wenn ich fragen dürfte, sind Sie von seitens des Bräutigams oder der Braut eingeladen worden?“
Gerade überlegte Petunia noch, wie sie ihre Identität verschleiern könnte, da musste ausgerechnet Mrs. Figg sich in das Gespräch einmischen. „Mrs. Dursley ist die Tante des Bräutigams.“
„Tatsächlich?“ Mrs. Granger blickte sich um. Das Brautpaar fehlte noch, aber am entsprechenden Tisch saßen bereits die Verwandten und die engsten Freunde. „Müssten Sie dann nicht an dem anderen Tisch sitzen?“
„Nein, nein“, beteuerte Petunia. „Das ist schon in Ordnu…“
„Aber es gehört sich doch so. Ich könnte hinübergehen und …“
„Nein, bitte!“, flehte Petunia. Die Panik war nahe. „Ich möchte einfach nur hier sitzen.“ Mr. Granger nickte und unterließ weitere Hilfsangebote, weil seine Tischnachbarin aussah, als würde sie jeden Moment tot umfallen, so bleich war sie. „Ich würde am liebsten gehen.“ Petunias Worte waren leise gesprochen, blieben aber nicht ungehört.
Mrs. Figg tätschelte ihren Unterarm und erklärte: „Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass wir beide zusammen den Portschlüssel nehmen müssen und wenn wir das tun, dann komme ich alleine nicht mehr hierher zurück.“
Petunia saß in der Falle. Sie war voll und ganz von Mrs. Figg abhängig und erst, wenn die genug von der Feier hatte, würde sie endlich wieder nachhause gelangen. Sie seufzte. „Ich weiß gar nicht, warum ich überhaupt hergekommen bin.“

Natürlich wusste sie, was sie hergetrieben hatte. Die pure Neugierde. Von ihrem Sohn wusste sie, dass der mit Harry in Kontakt stand, ihm regelmäßig zu Weihnachten und zum Geburtstag einen Brief schrieb, obwohl sie es anfangs verboten hatte.

Die Aussage von Petunia versetzte die Grangers in Staunen, aber sie fragten nicht nach, warum die Tante des Bräutigams keine Freude bei der Hochzeit ihres Neffen empfand. Harry hatte in all den Jahren wenig von seinen Verwandten erzählt und auch nur widerwillig. Die Grangers wussten gerademal, wo die Dursleys lebten, wie viele Personen es im Haushalt gab und was der Onkel arbeitete, aber das war es schon gewesen.

Einer der Tische war nahe am Eingang positioniert. Hier saß das Personal von Hogwarts. Obwohl man es Albus angeboten hatte, hatte er sich nicht an den Tisch von Harry gesetzt. Womöglich wollte er sich nicht in den Vordergrund drängen. Oder er ahnte, denn Albus wusste vieles, dass Severus sich momentan in seiner Gegenwart nicht wohl fühlen würde. Neben Albus saß ein tattriger Mann mit schlohweißem Bart, dessen Kopf und Hände von einer Krankheit gebeutelt unentwegt zitterten. Es handelte sich bei dem betagten Herrn um Albus‘ alten Schulfreund, dem Urgroßvater des jungen Schlossbesitzers. Man hatte sich eine halbe Ewigkeit nicht gesehen. Vielleicht war der Freund der Grund, warum Albus nicht bei Harry saß. Jedenfalls nahm es ihm niemand übel.

„Wir müssen ein paar Stühle wegnehmen“, sagte Neville zu seiner Großmutter, als er die Sitzmöglichkeiten überflog. Besorgt musterte er seine Eltern. „Oder wir bringen sie besser wieder ins Mungos zurück.“
„Papperlapapp! Es ist Mittagszeit. Deine Eltern haben bestimmt genauso großen Hunger wie ich“, winkte Augusta ab. „Und essen können wir auch hier.“
„Aber wenn es ihnen zu viel wird …“
„Unsinn, Neville.“

Nevilles Sorgen wurden wieder einmal von Luna weggefegt, die ihm versicherte, es würde nichts geschehen. Hagrid war so freundlich, drei Stühle vom Tisch zu entfernen. Er schob sie sich mit der offenen Rückenlehne wie Handtaschen über einen Arm, um sie fortzubringen. Die beiden Rollstühle hatten somit genügend Platz. Innig hoffte Neville, dass sich niemand von seinen Eltern belästigt fühlen würde. Ihm war nicht entgangen, wie schockiert Harrys Patenonkel gewesen war, als er die alten Schulfreunde erblickte. Berührungsängste hatte Neville nie gehabt, aber er wusste, dass andere Menschen oft hilflos reagierten, wenn sie mit den beiden Pflegefällen zu tun hatten. Er kannte seine Eltern gar nicht anders, höchstens von beweglichen Bildern.

Fast alle Lehrer kannten Alice und Frank persönlich, entweder aus der Schule oder vom Orden. Damals, nachdem bekannt geworden war, dass die beiden Bellatrix zum Opfer gefallen waren, hatte Minerva sie im Krankenhaus besucht. Der Anblick war schockierend gewesen. Minerva erinnerte sich noch gut an das grausame Bild, das beide abgegeben hatten. Die aufgeplatzten Adern im Weiß der Augen und die vielen Blutergüsse an Hals und Schläfen, wo die zarten Gefäße den Cruciatus-Flüchen nicht standhalten konnten und zerbarsten, waren der Lehrerin noch gut im Gedächtnis. Nach über zwanzig Jahren waren diese Wunden längst verheilt. Alice war ein Naturtalent in Verwandlung gewesen. Ein Mädchen mit einem sehr freundlichen und hilfsbereiten Wesen, erinnerte sich Minerva, als sie mit einem weinenden Auge auf die Frau im Rollstuhl blickte, die so viel an Lebendigkeit hatte einbüßen müssen.

„Alice, meine Gute.“ Allein schon Hagrids angenehm brummende Stimme ließ die Angesprochene lächeln. „Gut siehst’e aus, die Haare ‘n bisschen zu kurz.“ Über Luna hinweg strich er Alice mit seiner riesigen Hand ungeahnt zaghaft über den Kopf. Wie eine Katze drückte dagegen und gluckste, strahlte dabei noch fröhlicher. Neville ließ sich von der guten Laune seiner Mutter anstecken und lächelte. „Und sie freut sich“, stellte der Riese zufrieden fest. „‘s ist ja auch ein großer Tag für uns’ren Harry, nicht wahr?“
„Ja“, stimmte Luna verträumt zu, „das ist es.“ Aufmerksam, wie sie war, entging ihr nicht der trockene Mund von Nevilles Mutter. Das kaum hörbare, schnalzende Geräusch mit der Zunge bedeutete, dass Alice Durst hatte. Mit einem Schwung ihres Stabes und einem gesprochenen Zauber, den sie von den Schwestern im Mungos gelernt hatte, verwandelte Luna das Wasserglas auf dem Tisch in eine Schnabeltasse, um ihr etwas zu trinken zu geben.

Am Tisch des Brautpaares fragte man sich derweil, wo die beiden Glücklichen abblieben. Ron wurde beauftragt, seiner heutigen Pflicht als Vertrauter des Bräutigams nachzukommen und nach den beiden zu sehen. Es dauerte einen Moment, durch den großen Saal wieder in den Eingangsbereich zu gelangen, weil er von allen Seiten angesprochen wurde. Alte Freunde grüßten ihn und wollten ihn in ein Gespräch verwickeln, das er auf später verschieben musste.

Nach etwa fünf Minuten war er auf dem Weg nach oben, wo Harry und Ginny ihr Zimmer hatten. Erst klopfte er zaghaft, aber als er nichts hörte, glaubte er das Zimmer verlassen. Möglicherweise hatte er sie verpasst und die beiden saßen bereits unten und würden nun auf ihn warten. Um sich zu vergewissern, öffnete Ron die Tür und …

„Bei Merlin, Entschuldigung!“ Sofort knallte er sie wieder zu, doch was er gesehen hatte, ließ ihn durch die geschlossene Tür hindurch aufgebracht meckern: „Mann, das ist ja so, als würde man bei seinen Eltern reinplatzen! Ihr hättet wenigstens abschließen können.“ Ron hörte es rascheln, gefolgt von ein paar Schritten, bevor jemand die Tür öffnete.
„Sorry, Ron“, brachte Harry mit hochrotem Gesicht heraus, während er sich noch schnell das Hemd in die Hose stopfte. Ginny hingegen musste sich nur das Kleid glattzupfen.
Wegen der peinlichen Situation, in die man Ron gebracht hatte, erklärte er lehrerhaft: „Was ihr da gemacht habt, tut man während der Hochzeitsnacht, klar? Und wisst ihr, warum? Weil dann alle Gäste schon fort sind und solche Situationen erst gar nicht eintreffen können.“
Ginny nahm das Ganze viel gelassener. „Nun krieg dich mal wieder ein, Ron.“
Beleidigt verzog er das Gesicht. „Die Gäste warten.“
„Wir sind fertig“, bestätigte seine Schwester.
„Für das Ding benennt ihr euren nächsten Sohn nach mir!“, forderte der Rotschopf mit drohendem Zeigefinger, bevor er vorausging.
„Ist gebongt!“ Ein freches Grinsen legte sich auf Harrys Gesicht. „Vielleicht hat es sogar schon geklappt.“
Demonstrativ hielt sich Ron die Ohren zu. „Bitte keine Details!“

Sie folgten Ron, der als Erster die Stufen hinunterging. Mittendrin blieb er stehen und wandte sich an Harry.

„Deine Tante ist hier“, waren vier harmlose Worte, die Harry einen kleinen Schock verpassten.
„Tante Petunia?“ Ron nickte. „Sind mein Cousin und mein Onkel auch hier?“
„Die habe ich nicht gesehen und so, wie du sie immer beschrieben hast, kann man die gar nicht übersehen. Ich habe kein Nilpferd und keinen Elefanten ausmachen können, nur das Pferd.“
„Sitzt sie an meinem Tisch?“ Harrys Hände kontrollierten wie von selbst die Kleidung. Saß der Kragen richtig? Waren alle Knöpfe korrekt geschlossen?
Ginny bemerkte sein seltsames Verhalten. „Du willst doch wohl keinen Eindruck schinden?“
„Nein, natürlich nicht. Sie ist mir egal, richtig?“, versuchte er sich einzureden.

Er war kein Kind mehr, war schon längst aus der Gewalt der Dursleys entwischt, doch trotzdem weckte allein der Name der Familie, bei der er sechzehn Jahre lang leben musste, Erinnerungen an die Besenkammer, an Bestrafungen für Spontanzauber, an die Drohungen von Onkel Vernon, auf keinen Fall zaubern zu dürfen, sonst …

„Harry?“
Bei seinem Namen schreckte er auf. „Was ist?“
Ron bot hilfsbereit an: „Ich kann mich um sie kümmern, wenn du willst.“ Es klang beinahe so, als würde Ron anbieten, der ungeliebten Tanke Betonschuhe zu verpassen und sie im nächsten Fluss zu versenken.
„Um Himmels willen, nein! Wir machen das lieber wie bei Hopkins, verstanden? Wir zeigen ihr, dass Zauberer und Hexen nichts sind, wovor man sich fürchten muss.“ Es würde daneben gehen, dachte Harry. Petunia war unverbesserlich. „Oder?“
„Oder was?“, fragte Ginny nach. Ihr frisch angetrauter Ehemann schien etwas durch den Wind zu sein.
„Schon gut, lass uns reingehen.“ Kurz vor der Tür zum großen Saal hielt Harry nochmals inne und strich sich durchs wirre Haar.
„Harry“, sagte die sanfte Stimme seiner Frau. Er lächelte zufrieden. Harry Potter war jetzt verheiratet. Ginnys Hand strich mit kreisenden Bewegungen beruhigend über seinen Rücken. „Du musst dich nicht lange mit ihr befassen und auch keinesfalls allein. Du möchtest ihr im Laufe des Abends sicher deine Frau vorstellen.“
„Ja, aber erst nach dem Essen.“ Seine Hand legte sich auf den Magen. „Ich weiß nicht, ob ich überhaupt etwas runterbekommen werde.“
„Das wird schon, Harry.“ Ginny nahm ihn an die Hand und ganz plötzlich fühlte er sich, als könnte er Bäume ausreißen. Einmal atmete er tief und langsam durch, bis er bereit war. „Lass uns reingehen.“

Die Menge applaudierte, als das Brautpaar eintrat. Harry überlegte einen Moment, ob er winken sollte, entschied sich aber dagegen, weil er nicht wie ein König wirken wollte, der seine Untertanen grüßte. Seine Frau war, wie in vielen Dingen, viel gelassener als er. Sie hatte sich bei ihm untergehakt und winkte fröhlich in die Menge hinein, während Harry sich von ihr leiten ließ. Ein paar Freunden nickte er nur zu, um nicht unhöflich zu erscheinen. Großveranstaltungen dieser Art, auch wenn es seine eigene Hochzeit war, lagen ihm nach all den Jahren noch immer nicht.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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Rest von Kapitel 214

Den kurzen Weg zum Tisch bekamen Ginny und er so viele Glückwünsche ausgesprochen wie kurz nach dem Sieg über Voldemort. Da war Slughorn, der das Glas hob und ihm breit grinsend zunickte. Dabei wuchs dem fülligen Ex-Lehrer für Zaubertränke neben seinem Doppelkinn noch ein drittes. Alle von Harrys Freunden waren hier. Dean, Seamus, die Patil-Schwestern – eine hübscher als die andere – und auch Tante Petunia. Harry schluckte, als sich ihre Blicke trafen. Der von Petunia war unsicher. Sie blinzelte häufig. Aus lauter Hilflosigkeit grüßte sie ihn mit einem zaghaften Nicken, das Harry bestätigte. Zum Glück war er endlich am Tisch angelangt. Sein Schwiegervater überfiel ihn mit der Bitte, ein paar Worte an die Gäste zu richten. Zu diesem Zweck hielt er Harry den Zauberstab vors Gesicht, der mit einem Sonoruszauber für gute Hörbarkeit sorgen sollte.

Harry zog Ginny zu sich heran und legte einen Arm um ihre Schulter. Sie missinterpretierte diese Geste nicht falsch. Er benötigte ihre Hilfe. Nie war es ein Problem gewesen, bei Ordenstreffen Reden zu halten oder Anweisungen zu geben. Selbst bei der Verleihung des Merlinordens hatte Harry aus dem Stegreif einige tiefgründige Worte von sich gegeben, aber hier, bei der Erfüllung seines Herzenswunsches, war er um Worte verlegen. Ginny nahm die Hand ihres Vaters und übernahm die Aufgabe, der sich Harry unerklärlicherweise nicht gewachsen fühlte.

„Wir möchten uns herzlich bei allen bedanken, die heute gekommen sind, um diesen wunderbaren Moment mit uns zu teilen.“ Ginny und Harry blickten sich einen Moment tief in die Augen, bevor sie noch einige Worte von sich gab. „Es ist schön, mit so vielen Menschen, die einem etwas bedeuten, heute vereint zu sein.“ Ihr Blick fiel zufällig auf Rosmerta, einer der vielen Helferinnen in Kriegszeiten. „Mit manchen teilen wir ein wertvolles Stückchen Vergangenheit, das uns zusammengeschweißt hat.“ Nicht nur die Besitzerin der Drei Besen fühlte sich angesprochen. „Andere haben für uns Kopf und Kragen riskiert, sonst würden wir heute nicht hier stehen.“ Ginny wagte es nicht, zu Severus zu blicken. Diese Aufgabe nahm ihr Harry ab, während sie die Gäste überblickte und am Tisch von Neville verweilte. „Besonders schön ist es, Menschen zu sehen, die so sehr an das Gute glauben, dass sie es fast mit ihrem Leben bezahlen mussten.“ Ein Kloß formte sich in ihrem Hals, so dass sie schnell woanders hinschaute. Harrys Tante. Sie saß stocksteif an ihrem Tisch. Anstatt wie alle anderen zum Brautpaar zu blicken, schaute sie starr auf ihr Wasserglas. „Und mit dem einen oder anderen Gast haben wir nicht im Geringsten gerechnet.“ Petunia zuckte zusammen und brachte die Courage auf, zu Harry zu schauen. Sie war gemeint. Ihr Neffe blickte sie an. Mit einem Lächeln wollte Ginny das Wort an ihren Mann weitergeben. „Harry, möchtest du noch etwas sagen?“ Freundlich, wie Arthur war, hielt er wieder seinem Schwiegersohn den Zauberstab vor das Gesicht.
„Meine Frau“, Harry grinste, weil er sie das erste Mal öffentlich so betitelte, „hat mir aus der Seele gesprochen. Eine Sache möchte ich noch anmerken.“ Ein Blick zu Molly. „Zum Glück haben wir gesagt, dass wir eine Hochzeitsfeier im kleinen Rahmen haben möchten.“ Die Menge lachte amüsiert. „Ich bin davon überzeugt, es geht vielen im Moment so wie mir.“ Mit einer Hand schlug er sich vorsichtig auf den Bauch. „Ich habe Hunger und ich denke, wir können mit dem Festmahl beginnen.“

Die Gäste klatschten selbst noch, als auf den Tischen bereits einige der Speisen – die Beilagen – aus dem Nichts erschienen. Der Applaus war so stark, dass kaum jemand Petunias angsterfüllten Aufschrei hörte. Sie wollte aufspringen und davonlaufen, doch Mrs. Figg hielt sie zurück. Besorgt fragte Mr. Granger nach dem Wohlbefinden seiner Tischnachbarin. Auch jemand anderes war aufmerksam geworden. Mr. Van Tessel beugte sich zu Petunia.

„Alles in Ordnung, Madam?“ Der Schlossherr rieb sich verlegen die Hände.
Mrs. Figg winkte gelassen ab und tätschelte Petunias Hand. „Sie ist Zauberei nur nicht gewöhnt.“
„Ah“, machte er erleuchtet. „Keine Sorge, es wird nicht wieder vorkommen.“ Ein Fingerschnippen später stand einer der Kellner bei ihm. „Es wird ohne Zauberei bedient. Teilen Sie das den anderen Kellnern mit.“ Die Anweisung wurde in Windeseile umgesetzt. Wieder zu Petunia gebeugt entschuldigte sich Van Tessel für das unsensible Verhalten der Mitarbeiter und wünschte einen guten Appetit, bevor er den Tisch verließ.
Mr. Granger war noch immer verdutzt über die Reaktion seiner Tischnachbarin. „Sagen Sie, wenn Harry Ihr Neffe ist, warum erschreckt es Sie dann, wenn gezaubert wird?“ Sie brachte kein Wort heraus, woraufhin er anfügte: „Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich weiß, dass die Kinder nicht außerhalb der Schule zaubern durften, aber waren Sie nie mit ihm in der Winkelgasse?“
Petunias Kopf schnellte hoch. „Wo?“
„In der Winkelgasse! Das ist ein fantastischer Ort. Meine Frau und ich sind dort das erste Mal bewusst mit Magie in Berührung gekommen“, schilderte er mit einem Lächeln, das Petunias Lippen niemals formen könnten, wenn es um das Thema Zauberei ging. „Einiges hat auch mich erschrocken, aber nur, weil es unbekannt war. Man gewöhnt sich schnell daran.“ Die blonde Dame mit dem langen, blassen Gesicht schüttelte hysterisch den Kopf, sagte jedoch kein Wort. Mr. Granger beließ es dabei. Sie war ihm nicht sympathisch genug, um ihr die Angst nehmen zu wollen.

Am Tisch des Brautpaares wurde gelacht, gratuliert und die Speisekarte studiert. Hermine und Severus hatten erneut den Kopf gemeinsam in eine der Menükarten gesteckt, um sich etwas auszusuchen. Die Auswahl fiel schwer.

„Was nimmst du? Das Hühnchen?“, wollte Severus wissen.
„Das ist mir herzlich egal. Ich könnte ein halbes Pferd verschlingen, so einen Hunger habe ich.“
„Tut mir leid, steht nicht auf der Karte“, musste er ihr mit Bedauern mitteilen. Plötzlich stand Nicholas mit schüchternem Lächeln bei ihnen. Er wollte einmal um den Tisch gehen, um jeden persönlich zu grüßen. Dabei hielt er sich an den Stühlen fest. Molly und Ginny hatten ihn immer im Auge.
„Hallo“, grüßte Hermine einige Oktaven höher, „wer ist denn da?“
„Vielleicht möchte er uns bei der Auswahl helfen?“ Severus hielt dem Jungen die Karte entgegen, der auch prompt auf eine Stelle tippte, die Severus sich genauer ansah. „Dann also Geflügel. Gute Wahl.“
Sein gelassener Umgang mit Nicholas erstaunte Hermine. „Dein neuer Freund?“
Severus musterte den Jungen, der nach der Karte griff, die er gerade weggelegt hatte. „Du kannst von Glück reden, Hermine, dass an deinem Kleid nur Haken und Ösen zu finden sind.“
„Wieso denn dass?“, fragte sie erstaunt nach. Weil Remus direkt neben Severus saß, hatte er das Gespräch unfreiwillig mitgehört und erklärte ihr die Situation mit dem abgedrehten Knopf. Hermine grinste. „Und du bist nicht böse geworden?“
Mit Bedacht hob und senkte Severus die Schultern, bevor er erwiderte: „Es war ja nur ein Knopf, der abgegangen ist.“

Die Kellner arbeiten mit kleinen Wagen, die sie mit versteckter Magie im Saal umherschoben, damit sie weder umfallen noch das Essen kalt werden konnte. Sie fragten nach der Wahl der Gäste und taten entsprechend einen Teller auf. Jeder Gast bekam sein Essen sehr schnell und dann wurde es still. Fast totenstill. Die Stimmen verstummten und wurden durch das Klirren von Gläsern und dem Geklapper von Besteck ersetzt. Wenige murmelten während des Essens, bis jeder zu der Ansicht kam, dass man bei dieser Feierlichkeit nicht zwingend ruhig sein musste. Man begann langsam wieder damit, ein wenig zu plaudern. Selbst Petunia unterhielt sich mit Mrs. Figg und Mr. Granger, nachdem drei Sherry ihre Zunge gelockert hatten. Lucius hingegen sprach höchstens mit seiner Frau und seinem Sohn, doch die meisten Worte sprach er zu Charles.

„Hier, mein Kleiner“, Lucius hielt seinem Enkel einen Löffel mit einem kleinen Stück vom Hirschbraten vor den Mund. „Hier kommt der Besen geflogen.“ Charles öffnete seinen Mund ganz weit. Während der Junge kaute, nahm sich Lucius selbst etwas vom Teller. Auf diese Weise musste er sich nicht an den Gesprächen beteiligen, die am Tisch geführt wurden. Gleich ihm gegenüber saßen die Weasleys. Unter den Brüdern schien Unruhe zu herrschen, doch er konnte die Worte nicht genau vernehmen.

„Ich sagte“, zischte George durch zusammengebissene Zähne, „dass ich meine Ruhe haben möchte.“
„Sieh sie dir wenigstens an!“, drängte Bill und deutete mit einem Kopfnicken zu dem Tisch, an dem die Krums saßen.
George wagte einen Blick. Die Dame war hübsch, schätzungsweise nur wenige Jahre älter als er. Neben ihr saß ein Herr mit schwarzen Haaren. George drehte sich zu seinem Bruder um und erklärte vorwurfsvoll: „Sie ist in Begleitung. Wenn du schon Vorschläge machst, dann achte bitte auf sowas.“
„Hey“, kam es plötzlich von Gegenüber. Sirius schaute Bill strafend an. „Lasst die Finger von ihr. Ich habe mir einiges einfallen lassen müssen, um die beiden …“ Erschrocken biss sich Sirius auf die Zunge, doch die Anspielung genügte bereits.
„Du hast die beiden verkuppelt?“ Niemand hätte ihm das zugetraut.
„Ich habe sie lediglich näher miteinander bekanntgemacht, das war alles“, redete sich Sirius heraus. Wenig ernst zu nehmend drohte er noch: „Wehe, ihr interveniert, dann gibt’s was auf die Finger.“

Sein dampfendes, wohl riechendes Essen hatte Harry noch nicht angerührt. Er lehnte sich erst einmal gemütlich zurück und atmete durch. Die Gespräche am Tisch konnte er verfolgen, wenn sie in normaler Lautstärke geführt wurden. Nicht schlau wurde er aus der kurzen Flüsterei, die Lucius und seine Frau austauschten. Narzissa schien über etwas missgestimmt zu sein, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen. Remus und Tonks hielten sich oft an den Händen und tuschelten sich Liebeleien zu. Wie schön wäre es, dachte Harry, wenn die beiden auch endlich heiraten könnten. Manchmal hatte er das Gefühl, sie warteten nur auf einen Startschuss – auf das neue Gesetz. Dann würde man nur noch eine Staubwolke sehen, weil sie wie der Blitz zum Ministerium eilen würden. Zwischen Tonks und Anne stand Nicholas, der von beiden einen Happen zu essen bekam. Sirius rückte ein wenig vom Tisch ab und nahm den Jungen auf seinen Schoß.

„Gib ihm ruhig was zu essen“, erlaubte Harry. „Ihr könnt ihn auch gern reihum reichen, aber Severus lassen wir besser aus. Er hatte ihn heute schon lange genug.“
„Ach“, Severus schüttelte kurz den Kopf, „ich empfand ihn nicht als störend.“ Einige am Tisch sahen aus, als wollten sie ihm an die Stirn fassen, um sich davon zu überzeugen, dass er im Fiebertraum sprach. „Wirklich, er fiel mir nicht zur Last“, beteuerte er. „Andere Kinder haben mir in meinem Leben viel mehr zu schaffen gemacht. Es gab Nervensägen, Besserwisser und tollkühne Draufgänger.“ Ein demonstrativer Blick folgte, der ganz allein Harry gewidmet war, der daraufhin eine unschuldige Miene aufsetzte und so tat, als könnte er gar nicht gemeint sein. Draco lachte, so dass Severus sich angespornt fühlte, auch ihn mit einzubeziehen. „Du, Draco, warst auch kein Engel.“
„Wie bitte?“ Er tat erbost. „Ich habe mich immer vorbildlich verhalten.“
Severus schnaufte belustigt. „Und warum hast du von Professor McGonagall Punkteabzug und Strafarbeit erhalten?“
Hier mischte sich ein verdutzter Lucius ein. „Das hast du mir nie erzählt. Ist das wahr?“
Draco biss sich auf die Lippe. „Vielleicht ein bisschen.“
Strafend schnalzte Lucius mit der Zunge. „Meine Güte, dabei dachte ich, ich hätte mich klar und deutlich ausgedrückt als ich sagte, man dürfte sich bei seinen Schandtaten nie erwischen lassen.“
Charlie klang enthusiastisch, als er fragte: „Werden jetzt alte Jugendsünden ausgegraben?“
„Bloß nicht“, kam es ausgerechnet von Susan.
Fragend schaute Draco sie an, doch weil sie nichts sagte, musste er ihr auf die Sprünge helfen. „Was kannst du denn schon auf dem Kerbholz haben?“
„Ach, nichts“, winkte sie ab.
Nach drei Gläsern Wein war Ron danach, ehemalige Mitschüler auf humorvolle Weise bloßzustellen. „Also, Hermine hat damals …“
„Ron!“ Mit zusammengekniffenen Augen wies sie ihn in seine Schranken. „Dass ich Severus‘ privaten Vorratsschrank geplündert habe, habe ich ihm längst gebeichtet.“
„Echt? Und Sie haben sie dafür nicht übers Knie gelegt?“ Eine Antwort wartete Ron nicht ab. „Ich meinte eigentlich was ganz anderes. Damals, in der zweiten Klasse“, sie ahnte Böses, aber hörte weiterhin zu, „da hat sie so sehr von Lockhart geschwärmt …“
„Ron!“
„Sie hat ihr ganzes Heftchen voll gemalt mit seinem Namen – in Schnörkelschrift! Und beim Vornamen hat sie über dem i…“
„Ron!“, mahnte sie erneut, verkniff sich dabei das Lachen. „Du bist kurz davor, eine Essenschlacht zu provozieren.“ Demonstrativ nahm sie ein paar Erbsen auf ihren Löffel und tat so, als würde sie ihn anvisieren, was Ron wiederum zum Lachen brachte.
„Sie hat über dem i immer ein Herzchen gemalt!“
Peinlich berührt bedeckte Hermine mit einer Hand ihre Augen, während fast der ganze Tisch prustete. Etwas zur eigenen Verteidigung fiel ihr nicht ein, so griff sie zur einzigen Möglichkeit, die ihr noch blieb – sie zog weitere Personen mit hinein, um die eigene Schmach zu mindern. Mit ausgestrecktem Zeigefinger deutete sie auf eine bestimmte Frau am Tisch. „Susan war da nicht besser als ich. Wir saßen in Verteidigung oft nebeneinander und ich hatte einen guten Blick auf die Dinge, die sie in ihr Heft gemalt hat.“
Vorgetäuscht schockiert blickte Draco seine Frau an, die sich zu rechtfertigen versuchte. „Das war nur eine kindische Schwärmerei.“
Draco zog eine Augenbraue in die Höhe. Seine Stimme war voller Unverständnis. „Gilderoy Lockhart? Bei Merlin“, vorwurfsvoll schüttelte er den Kopf, „ich kenne dich nicht mehr.“

Das Thema war schnell wieder vergessen, denn andere Jugendsünden wurden ausgegraben und nicht nur die der jüngeren Anwesenden. Hermine verfolgte die Anekdoten und war erleichtert, dass keine Einzige – auch nicht die, die Sirius von sich gab – Severus beinhalteten. Das hätte ihn sonst sehr wahrscheinlich in Raserei gebracht. Oder er wäre in die Vergangenheit abgetaucht. Erleichtert beobachtete sie, wie Severus hier und da schmunzeln musste, als auch Narzissa und Andromeda ein paar von ihren Missetaten preisgaben. Lucius hingegen hielt sich bedeckt.

Am Tisch von Petunia wurde ihr kaum Beachtung geschenkt, denn die DA-Mitglieder und einige andere, ehemalige Schulfreunde waren zu sehr von der Tatsache abgelenkt, dass nicht nur Blaise und Pansy ein Paar waren und eine gemeinsame Tochter hatten, sondern dass Gregory Goyle bei ihnen war. Der Sohn eines Todessers. Dracos damalige Bulldogge. Heute war er nur noch ein vernarbter Strich in der Landschaft, den es offensichtlich nicht störte, den Tisch mit einem Haufen Gryffindors zu teilen. Gespräche kamen nur schwer ins Rollen. Kaum einer wagte es, ihn direkt auf sein Schicksal anzusprechen, aber jeder starrte ihn an. Wenn Gregory aufblickte, schauten sie weg.

Parvati sprang über ihren Schatten. Da sie neben ihm saß, fragte sei freiheraus: „Warum musst du mit Krücken gehen?“ Besagte Krücken standen dank eines Zaubers gerade wie eine eins hinter seinem Stuhl.
Im ersten Moment war Gregory erstaunt, dass man mit ihm sprach. Beinahe hätte er sich damit abgefunden, von allen ignoriert zu werden. „Ich musste lange im Krankenhaus liegen. Meine Muskeln sind verkümmert.“
„Oh“, machte sie mitleidig. „Wirst du sie immer benutzen müssen?“
„Nein, ich werde noch behandelt. Irgendwann werde ich sie nicht mehr brauchen.“
Das Eis war gebrochen. Seamus fragte weniger dezent: „Was ist denn mit dir passiert, dass du ins Krankenhaus gekommen bist.“
Gregorys Hand zitterte. Auf ihr trug er alte Wunden, die aussahen, als hätte man ihm Löcher durch die Hand gebohrt. Betroffen blickte er auf die Suppe, die er mit dem Löffel rührte. „Das ist jetzt kein angemessenes Gesprächsthema.“
„Was ist mit deinen Eltern?“, platzte es versehentlich aus Seamus heraus.
Die Frage traf Gregory tief, was man an seinem bekümmerten Gesichtsausdruck ausmachen konnte. Dennoch beantwortete er die Frage. „Mein Vater verstarb kürzlich in Askaban, wie fast jeder“, ein kurzes Zögern, „Todesser.“ Ein Seufzer. „Den Stab meiner Mutter hat mir ein Auror überreicht. Man sagte, sie wäre mit großer Wahrscheinlichkeit einem fanatischen Muggel zum Opfer gefallen.“

Jeder war erstaunt, dass Gregory sich anständig artikulieren konnte, anstatt wie früher nur dumm aus der Wäsche zu schauen, während sein Hirn über ein paar einfache Worte nachdachte, die als Antwort genügen sollten.

„Ein fanatischer Muggel?“, wiederholte Seamus mit ernster Miene. „Mit so einem hatten wir neulich erst zu tun. Er war ein“, jetzt dämmerte es ihm, „Hexenjäger.“ Das letzte Wort hatte er geflüstert. Jedem brannte die Frage auf der Zunge, ob Gregory diesem Mann in die Hände gefallen war.
„Ich denke, wir meinen denselben“, brachte Gregory heraus, bevor er ein Stück Brot nahm und daran knabberte, um nicht weiter reden zu müssen.

Wegen des großen Tisches konnte Dean nicht verstehen, was Gregory von sich gab. Er unterhielt sich lieber mit einem alten Bekannten, der direkt neben ihm saß.

„Dann erzähl mal, Wobbel: Wie ergeht es dir so bei Harry?“ Scherzhaft fügte er mit mitleidiger Stimme hinzu: „Hast du noch immer so unangenehm wenig Arbeit?“
„In gewisser Weise schon, Sir. Mr. Potter hat mir jedoch freie Hand gegeben. Ich darf selbständig arbeiten und muss nicht für jede Aufgabe sein Einverständnis einholen.“
Dean grinste. „Dann hat mein Beschwerdeschreiben mit dem offiziellen Stempel vom Amt für die Neuzuteilung von Hauselfen offenbar geholfen.“
„Das war nicht notwendig gewesen“, winkte Wobbel ab. „Zum Glück hat Mr. Potter sich nicht gekränkt gefühlt.“
„Um Harry zu verärgern, braucht es etwas mehr, als eine nicht ernst gemeinte Beschwerde von einem alten Freund, der seine Dienststempel zweckentfremdet.“
„Jetzt, wo der Kleine etwas aktiver ist“, Wobbel schaute sich um und sah Nicholas, wie der um die Tische ging und von jedem, den er anstrahlte, den Kopf getätschelt bekam, „macht die Arbeit noch mehr Spaß.“
„Du warst ein echtes Sorgenkind, Wobbel. Ich bin froh, dass du dich endlich wohl fühlst.“ Zu oft war der Elf wegen ungebührlichen Benehmens zurückgegeben worden. „Und wenn ich dich so ansehe“, Dean ließ seinen Blick über Wobbel schweifen, „dann muss ich feststellen, dass dein Anzug kostspieliger ist als meiner.“
„Der hier?“ Wobbel rückte seine Fliege gerade. „Das ist nur Arbeitskleidung, Sir. Sie wissen doch, dass ich Mr. Potter repräsentiere und nicht in Lumpen daherkommen soll.“
„Ich habe gut Lust, mich bei Harry zu bewerben, wenn ich dann auch solche Kleidung gestellt bekomme.“
Wobbel schüttelte den Kopf. „Es geht doch gar nicht um die Kleidung, Mr. Thomas. Sie, Sir, waren mein erster Freund unter den Menschen. In Mr. Potter habe ich einen weiteren gefunden. Ich“, Wobbel wirkte plötzlich verlegen, „bin auch davon überzeugt, dass es keinen Ärger gibt, wenn ich ihm von der bevorstehenden Veränderung erzähle.“
Dean wurde neugierig. „Was denn für eine Veränderung.“
„Meine Frau …“ Wobbel legte eine Hand auf die von Shibby, die schüchtern neben ihm saß und noch gar nicht glauben konnte, als Gast auf der Hochzeit ihres Herrn eingeladen worden zu sein. „Sie ist in anderen Umständen.“

Am Tisch der Lehrer von Hogwarts, gleich gegenüber von Neville und seine Eltern, fanden sich Pomona Sprout mit ihrer Ziehtochter Meredith und deren Freund Gordian. Sein Tischnachbar war Filius Flitwick, der kleinwüchsige Lehrer für Zauberkunst, der das Gespräch mit dem jungen Mann suchte.

„Mr. Foster, Sie werden die Schule ja nun vier Tagen verlassen. Haben Sie sich beruflich bereits orientiert?“, fragte Filius mit hoher Piepsstimme.
„Ja, Sir, das habe ich. In etwa jedenfalls.“
„Und in welche Richtung geht Ihr Berufswunsch? Ich frage, weil Sie nicht nur in meiner Klasse ausgesprochen beeindruckende Fähigkeiten bewiesen haben.“
Aufgrund des Kompliments lächelte Gordian. „Ich möchte auf jeden Fall meinen Meister machen, ich bin mir nur noch nicht über das Fach klar.“
Filius nickte nachdenklich. „Für was immer Sie sich auch entscheiden, Mr. Foster, wählen Sie den besten Lehrmeister und sparen Sie nicht an der eigenen Ausbildung. Ich weiß, vielen Schulabgängern wird die Wahl einer Stelle durch die teuren Vertragsformen vermiest. Heutzutage muss man nicht selten als Auszubildender draufzahlen. Finden Sie einen Weg, um die Ausbildung, die Ihnen vorschwebt, zu finanzieren. Es wäre auch keine schlechte Idee, einen der Lehrer um eine Referenz zu bitten.“
Auch hier musste Gordian lächeln. „Das, Sir, habe ich schon getan.“
Erstaunt riss der kleine Mann die Augen auf. „Tatsächlich? Das ist wunderbar. Wer hat Ihnen eine gegeben? Professor Sprout? Professor McGonagall?“ In beiden Fächern hatte Gordian ebenfalls ein Ohnegleichen.
„Nein, Professor Snape war so freundlich“, offenbarte Gordian.
„Das haut ja den stärksten Flieger vom Besen“, scherzte Filius überrascht. „Ich habe noch nie gehört, dass Professor Snape Referenzen ausstellt.“ Er hob und senkte die Schultern. „Aber vielleicht ist er zuvor auch nie gefragt worden?“
„Das ist gut möglich“, erwiderte Gordian. „Er schien sehr überrascht, als ich an ihn herangetreten bin.“
Filius kam ins Grübeln. „Ist Ihnen eigentlich bewusst, Mr. Foster, dass Sie trotz Ihres jungen Alters in die siebte Klasse gesteckt wurden, weil Professor Snape es bei einer Lehrerversammlung vorgeschlagen hat?“
Diese Erleuchtung kam überraschend. „Nein, Sir. Das wusste ich nicht.“
„Dann behalten Sie diese Information vielleicht im Hinterkopf, wenn Sie Bewerbungen schreiben“, riet Filius, der dem jungen Mann einmal zuzwinkerte, bevor er sich seinem Essen widmete.

Unauffällig schaute sich Gordian im Saal um, bis er seinen Lehrer für Zaubertränke und dessen Partnerin fand, die sich gerade gegenseitig etwas ins Ohr flüsterten.

„Die Weasley-Zwillingen haben etwas vor“, sagte Severus so leise, dass nur Hermine es wahrnehmen konnte.
Sie blickte zu den beiden hinüber, die ebenfalls die Köpfe zusammengesteckt hatten und tuschelten. „Die beiden haben immer was vor, Severus.“
„Nein, ich denke, die haben wirklich etwas für heute geplant.“

Zeitgleich blickten Hermine und Severus zu Fred und George hinüber und betrachteten sie einen Augenblick skeptisch. Als die zwei bemerkten, dass sie beobachtet wurden, grinsten sie breit und legte in unschuldiger Geste die Hände zusammen.

„Du hast Recht“, bestätigte Hermine, „da ist etwas im Busch. Hätte mich aber auch verwundert, wenn Sie sich keinen Streich für heute ausgedacht hätten.“ Den leeren Teller schob Hermine gerade von sich, da stand schon einer der Kellner hinter ihr, der nach der verneinten Frage, ob sie etwas nachhaben wollte, das Geschirr abräumte. „Ach“, rief sie den Herrn zurück, „ich habe in der Karte etwas von Karamellpudding gelesen.“
Sofort bekam Hermine ein Schälchen mit lecker duftendem Pudding. Der Kellner richtete das Wort an Severus. „Darf es bei dem Herrn auch ein Nachtisch sein?“
„Nein, danke.“
„Nimm ruhig etwas, Severus. Es schmeckt bestimmt alles fantastisch“, wollte Hermine ihn animieren.
Er hielt dagegen. „Es ist nichts nach meinem Geschmack auf der Karte.“
Der Kellner ließ nicht locker. „Die Küche des Schlosshotels hat noch anderes zu bieten.“
„Irgendwas mit Nougat?“, fragte Severus hoffnungsvoll.
„Ein Stück Nougattorte. Kann ich sehr empfehlen. Zählt zu meinen persönlichen Favoriten.“
Severus nickte. „Ein Stück.“
„Kommt sofort.“

In Harrys Ecke war man gerade beim Thema stablose Zauber angelangt. Arthur war aufgefallen, dass viele Kellner einfache Zaubersprüche unauffällig nur mit der Hand erledigten, wie das Abräumen von Geschirr oder das Einschenken von Getränken – nicht jeder Kellner konnte das, aber einige.

„Ich habe mich auch an stablosen Zaubern versucht. Ich kann sogar schon eine Serviette zum Einsturz bringen“, versicherte Harry mit heftigem Kopfnicken und Lausbubenlächeln.
Severus hatte es gehört und lächelte einseitig, bevor er einwarf: „Na, da gratuliere ich doch herzlichst.“
Von der Information waren besonders Fred und George sehr angetan. „Du kannst stablos zaubern?“
„Noch nicht besonders gut.“ Harry kratzte sich am Kinn. „Ich lerne noch.“ Die Zwillinge blickten voller Respekt zu Severus hinüber, so dass Harry klarstellte: „Nicht von Severus.“ Er selbst schaute zum Tränkemeister hinüber. Die Frage, die sich in seinem Kopf formte, stellte Harry unverzüglich: „Kannst du stablos zaubern?“
Severus wankte unentschlossen mit dem Kopf hin und her. „Es gibt einige Zaubersprüche, die mir im wahrsten Sinne des Wortes leicht von der Hand gehen. Ohne Stab kann ich die Seiten eines Buches umblättern oder kleine Dinge per Accio aufrufen, aber bei komplizierten Sprüchen muss ich passen.“
Fred wollte mehr erfahren und richtete das Wort an Harry. „Von wem lernst du das? Dumbledore?“
„Nein, von meinem Elf.“ Harry grinste. „Er ist ein sehr strenger Lehrer, aber er ermutigt mich auch.“

Es leuchtete jedem ein, dass ein Elf, vielleicht sogar ein Kobold, der beste Lehrer für stablose Magie war, wo sie selbst doch keine Zauberstäbe benutzen durften.

Das Mittagessen war bald vorüber, aber das Unterhaltungsprogramm sollte bald beginnen. Die Gäste konnten entweder im Raum sitzen bleiben oder sich die Beine vertreten, mit den Kindern zur Spiel-Zone gehen oder sich die Zeit anderweitig vertreiben, bis Molly den ersten Programmpunkt starten wollte. Viele nutzten die Zeit, um dem Brautpaar ihre Glückwünsche persönlich auszusprechen und Geschenke zu überreichen.

Mit einem Auge hatte Harry immer seine Tante im Visier. Sie blieb mit Mrs. Figg am Tisch sitzen und schien unschlüssig. Manchmal schaute sie zu ihm hinüber, dann wieder sprach sie mit Mrs. Figg. Über irgendetwas waren sich die beiden Frauen uneins. Einmal trafen sich die Blicke von Harry und Petunia. Einen Moment später stand sie auf und hielt sich ihre große Handtasche wie einen Schutzschild vor den Oberkörper. Jetzt war der Moment gekommen, dachte Harry. Der Moment, in dem er mit ihr reden müsste. Er hatte sich getäuscht. Seine Tante ging erst zu einem Tisch hinüber, an dem die Gäste ihre Geschenke abgelegt hatten. Es war ein weißer Umschlag, den sie dort niederlegte, bevor sie den Ausgang ansteuerte.

Harry brach die Unterredung mit Slughorn ab. „Entschuldigen Sie mich bitte kurz, Sir.“ Im Nu war er bei Mrs. Figg, die nun allein am Tisch saß. Sie stand gerade auf, als er bei ihr ankam. „Mrs. Figg.“
„Oh, Harry. Meinen Glückwunsch zur Hochzeit.“
„Vielen Dank.“ Weil Mrs. Figg ihre leichte Jacke überzog, wurde er skeptisch. „Wollen Sie schon gehen?“
„Ich glaube ich muss.“ Sie schaute zur Tür hinüber, die Petunia gerade durchschritt. „Sie möchte gehen.“

Ohne ein Wort wollte sie sich aus dem Staub machen und das, obwohl Harry sich die ganze Zeit während des Mittagessens Worte zurechtgelegt hatte, die bei einer Unterhaltung mit ihr angemessen wären. Wenn sie schon hier war, wollte er sie auch sprechen. Am meisten interessierte ihn, warum sie überhaupt gekommen war.

„Bleiben Sie noch einen Augenblick, Mrs. Figg. Ich werde zu ihr gehen.“
„Ich weiß nicht, ob das …“
„Ich werde ihr nur guten Tag sagen.“

Zuerst ging Harry zu dem Gabentisch hinüber und nahm den Umschlag, den seine Tante dort hinterlassen hatte. In ihm befand sich ein Geschenkgutschein von Tiffany’s. Der Betrag war mit 200 Pfund angegeben. Mit dem Umschlag in der Hand ging er vor die Tür. Es tat ihm leid, viele der Gäste abwimmeln zu müssen, als sie ihn aufhalten wollten. Petunia sollte nicht entkommen.

Draußen hatten sich einige der Geladenen zu einem Schwätzchen in der Sonne zusammengefunden. Auch im weißen Pavillon bei den Bäumen saßen ein paar Leute. Petunia stand unten, ein wenig abseits von den Stufen, die ins Schloss führten. Sie blickte in die Ferne und wartete offensichtlich auf Mrs. Figg.

Harrys Schritte waren auf dem Kies nicht zu überhören. In der Hoffnung, es würde ihre Begleitung kommen, drehte sich Petunia um. „Na endl…“ Die Worte erstarben in ihrer Kehle, als sie Harry erkannte. Mehr als zwei Meter wagte er sich nicht an sie heran. Der Schreck stand ihr ins Gesicht geschrieben. Sie konnte sich nicht rühren, auch wenn der Fluchtinstinkt groß war. Mit ihm hatte sie nicht gerechnet. Vorsichtig wurde er von ihr gemustert – nicht zu aufdringlich, um den Geist aus der Vergangenheit nicht heraufzubeschwören.

Wie er es Mrs. Figg gegenüber erwähnt hatte, sagte Harry zu seiner Tante: „Guten Tag.“
Petunia atmete heftig. „Guten Tag“, echote es leise von ihr zurück. Mit den Worten, die er genutzt hatte, konnte sie keinen Fehler begehen. Die Sonne schien ihr direkt ins Gesicht und blendete sie. Wie ein Verhör sollte sie das Gespräch nicht im Gedächtnis behalten, dachte er. So entschloss sich Harry dazu, seine Position zu verändern und sich neben sie zu stellen, damit die Sonne von der Seite schien.
Er hob den weißen Umschlag. „Danke für das Geschenk.“
Seine Tante zitterte wie die Baumwipfel rundherum, die von kleinen, dunklen Schatten bewegt wurden. „Gern geschehen.“ Sie war auf der Hut, wollte kein falsches Wort von sich geben.
„Du möchtest jetzt schon gehen? Der Tag fängt doch erst an.“

Nervös blinzelte Petunia einige Male. Vielleicht war es der Sherry, oder aber ihr neu aufflammender Fluchtinstinkt, denn sie wankte kurz. Ihr Gesicht war so weiß wie eines der Laken, die sie perfekt stärken konnte. Mit ihrer Furcht passte sie nicht ins Gesamtbild. Überall waren die Menschen gelassen, unterhielten sich und lachten. Die Sonnenstrahlen schmeichelten dem uralten Schloss und ließen über bauliche Mängel hinwegsehen. Der Rasen war gepflegter als die in den Vorgärten in Little Whinging. Sie mochte solche romantischen Gegenden, das wusste Harry, doch sie war die Einzige, die einen dunklen Schatten sehen wollte, wo keiner war.

„Es hat mich überrascht, dass du gekommen bist“, versuchte es Harry erneut mit etwas Konversation.
„Ich“, sie schluckte, „war überrascht, dass du uns eingeladen hast.“ Die vorgetäuschte Gleichgültigkeit in ihrer Stimme konnte er nicht ernst nehmen, denn Harry konnte sehen, wie bewegt sie war.
„Wie geht es Onkel Vernon und Dudley?“ Es interessierte ihn nicht im Geringsten, aber höflichkeitshalber fragte man solche Dinge.
„Gut, sehr gut.“ Zögerlich begann sie zu berichten. „Grunnings konnte gut expandieren.“ Die Firma, in der Vernon Direktor war. „Und Dudley hat sich in seiner Gewichtsklasse im Nu hochgeboxt.“
‚Kein Wunder‘, dachte Harry, ‚er hat bereits in der Schule damit angefangen, andere zu verprügeln.‘
Sie blickte ihm nur kurz in die Augen, bis sie eine Veränderung registrierte. „Deine Narbe …“ Petunia biss sich auf die Zunge. Mit solchen Äußerungen könnte sie ihrer Meinung nach ein böses Ende nehmen.
Aus einem Reflex heraus strich sich Harry über die Stelle, an der einst die Narbe zu fühlen war. „Sie ist verschwunden, als ich das letzte bisschen Magie von dem Mann vernichtet habe, der sie mir zugefügt hat.“

Petunia nickte. Sie wusste, von wem die Rede war. Es folgte betretenes Schweigen. Harry hatte seine Tante noch nie so verlegen erlebt, so verängstigt. Glaubte sie wirklich, er würde sie vor allen anderen Gästen niedermachen oder ihr gar etwas antun?

„Dudley hat mir gesagt“, begann sie vorsichtig, „dass er dir regelmäßig schreibt.“
Harry schnaufte. „Ja, das tut er. Hat er dir auch gesagt, was er mir Nettes schreibt?“ Ihr Zittern wurde wieder stärker. Angespannt schüttelte sie den Kopf. Ihm war nicht danach, sie für die bösen Worte und ärgerlichen Geschenke, von denen sie offensichtlich nicht einmal etwas wusste, zur Rechenschaft zu ziehen. Harry atmete einmal tief durch, um die ganzen Gemeinheiten des Cousins hinunterzuschlucken. „Richte ihm doch bitte von mir aus, wenn er nichts Nettes zu sagen hat, dann soll er es gleich ganz lassen.“ Petunia schien zu ahnen, was ihr Sohnemann getan haben könnte. Viele Ideen der damaligen Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke stammten von ihm, wie das Taschentuch und die auf ein Stück Papier geklebte Münze.
Mit einem Male begann Petunia, in ihrer großen Handtasche zu wühlen. „Ich habe noch etwas für dich.“

Jetzt war Harry wirklich gespannt. Solche Dinge vergaß seine Tante nicht, was bedeutete, sie wäre gegangen, ohne ihm noch etwas zu geben. Es war eine dunkelgraue Mappe, die sie aus der Tasche zog. Sie hielt sie ihm entgegen. Nur widerwillig nahm er sie. Er hatte keine Idee, was er in dieser dicken Mappe finden würde. Vielleicht eine Rechnung für sechszehn Jahre Kost und Logis? Sie hatten ihn immer spüren lassen, dass er ihnen nur auf der Tasche lag. Mit Zeigefinger und Daumen öffnete er die Schleife, die die Mappe zusammenhielt und klappte den Deckel auf. Mit dem, was er jetzt betrachtete, hatte er nie im Leben nicht gerechnet. Ein Clown grinste ihn an. Ein Clown, den er als Kind selbst gezeichnet hatte. Große, rote Lippen, skurrile Gesichtsbemalung und grüne, krause Haare. Es war der Clown, den Vernon damals für eine Geburtstagsfeier von Dudley engagiert hatte. Vom Fenster aus hatte Harry ihn zum Glück gut sehen und malen können, denn hinunter durfte er nicht. Das Bild glaubte er verloren. Neugierig blätterte Harry weiter. Ein bunter Fisch, mit einer großen „1“ am unteren Rand, die ihm die Grundschullehrerin für die farbenfrohen Schuppen gegeben hatte. Jede einzelne Schuppe hatte eine andere Farbe bekommen. Da war auch der schwarze Strich am Maul, der entstanden war, als Dudley ihn aus einer Laune heraus getreten hatte. Kaschieren konnte Harry den Ausrutscher mit ein paar Luftblasen, die aus dem offenen Maul des Fisches emporstiegen.

„Mann“, Harry verspürte ein Ziehen am Herzen, „ich habe gedacht, die habt ihr alle weggeworfen.“ Er blätterte weiter und bemerkte etwas Geschriebenes auf der Rückseite seines meeresbiologischen Kunstwerkes. Er drehte es um, um es lesen zu können. Dort stand Dudley Dursley. Eine Lüge! Er hatte das Bild gemalt, Harry Potter! „Warum …?“
„Ich hab es damals meinen Freundinnen gezeigt. Dudley hat immer nur so scheußlich schwarze Bilder gemalt und ich …“ Beschämt schaute sie zu Boden. Harry verstand. Seines war schöner gewesen, also hat sie es für Dudleys ausgegeben. „Es tut mir leid“, flüsterte sie.

Für Harry war nicht klar, ob sie sich nur für dieses Plagiat entschuldigte oder für alles. Er drücke ein Auge zu und blätterte weiter. Das nächste Bild hatte er wirklich vernichtet geglaubt. Noch gut konnte er sich daran erinnern, wie Onkel Vernon sich wegen der kindlichen Darstellung seiner Person aufgeregt und ihm das Bild aus der Hand gerissen hatte. Die Knicke waren noch zu sehen. Das Bild stellte etwas dar, was jedes Kind mindestens einmal im Leben zu Papier brachte. Drei der vier Figuren waren dünn, fast nur Striche. Der vierten Person hatte Harry einen Kreis als Torso gegeben. Es war seine erste, künstlerische Erfahrung in Bezug auf räumliches Denken und Dreidimensionalität. Außerdem traf er somit seinen beleibten Onkel viel besser. Die vier gemalten Personen – Tante Petunia, Harry, Dudley, Onkel Vernon – standen nebeneinander auf einer blühenden Wiese, hielten sich an den Händen und lächelten ihren Betrachter an, als wollten sie aus alten Tagen einen Gruß neu vermitteln. Dieses Bild sah sich Harry sehr genau an, bevor er es umdrehte, damit Petunia es sehen konnte.

„Das hier“, er tippte drauf, „war immer mein größter Traum.“
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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Re: Harry Potter und die Schatten der Vergangenheit (214)

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Muggelchen
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215 Der hellste Stern von allen




Noch einen kurzen Augenblick betrachtete Harry sein frühes Meisterwerk, in welchem er den harmonischen Zauber der Familienbande festgehalten hatte. Es gab Wunden, die waren tiefer als die des Krieges – sie brannten auch stärker, ebenso diese eine Frage, die sich ihm stellte.

„Warum?“ Die Frage war kurz, das musste er selbst zugeben. Einen Moment ging er in sich, bevor er seiner Tante schilderte, was ihm auf dem Herzen lag. „Warum bist du gekommen? Bitte versteh mich nicht falsch. Ich bin überrascht – positiv überrascht –, dass du hier bist, zwischen all den Zauberern und Hexen und das freiwillig. Ich weiß sehr wohl, was das für eine Überwindung für dich gewesen sein muss. Die Magische Welt war euch immer ein Dorn im Auge. Ich war euch …“ Beinahe hätte er sich in Rage geredet, da fühlte er an seinem Finger den Ring. Eine zufriedenstellende Bestätigung, dass sein Traum von einer Familie längst in Erfüllung gegangen war. Harry atmete einmal tief durch, beruhigte sich. „Ich möchte es nur verstehen können. Warum bist du hier, wenn ich die ganze Zeit doch nur ein Klotz am Bein war?“

Petunias Lippen zitterten, aber nicht vor Angst. Es tat immer weh, die eigenen Fehler an den Kopf geworfen zu bekommen. Sie konnte ihm nicht einmal mehr in die Augen sehen, weil sie in ihnen den Vorwurf der verstorbenen Schwester sehen würde. Die geliebte Schwester. Lily. Allein der Brief von Hogwarts hatte die beiden entzweit. Der Abschied zum Schulantritt war schmerzhaft gewesen, weil ihm böse Worte vorausgegangen waren. Nicht besser wurde es mit dem neuen Freund aus der anderen Welt. Petunia hatte James einen Tunichtgut geschimpft, während Lily kein gutes Haar an dem beleibten Vernon lassen wollte. Wenn sie zu Besuch kam, hatte sich Petunia stets zu ihrem Verlobten zurückgezogen. Das Pendeln zwischen beiden Welten hörte nach dem Tod der Eltern abrupt auf. Erst Jahre später hörte die zu dem Zeitpunkt hochschwangere Petunia wieder etwas von ihrer Schwester. Lily lud zur Hochzeit mit James ein. Vernon war ebenfalls willkommen. Zu dem Zeitpunkt war es längst zu spät gewesen. Petunias Rechthaberei war von Vernon von Anfang an nur noch gestärkt worden. Am Ende waren sie nicht zur Feier gegangen. Petunia wollte nicht nachgeben, wünschte sich aber insgeheim, ihre Schwester würde – überdramatisiert dargestellt – vor der Haustür auf den Knien rutschend um Verzeihung bitten. Es war jedoch nicht ihre Schwester gewesen, die sie auf den Stufen ihrer Haustür fand, sondern …

„Harry.“ Der Kummer um die Schwester war ohne die gehässigen Zwischenbemerkungen des Ehemanns nicht zu unterdrücken.
„Warst du nur neugierig?“, fragte er ohne jeden Vorwurf nach. „Das würde ich verstehen. Mich würde auch interessieren, wen Dudley mal ehelicht.“
Petunias Mund formte ein bebendes Lächeln. „Dann sorge ich dafür, dass du beizeiten eine Einladung erhältst.“ Ein Versprechen, das ihr leicht über die Lippen kam, denn das würde noch sehr lange dauern. Dudley war nicht unbedingt ein Charmeur. Petunia war wieder ruhiger geworden. Sie war bereit, einen Grund zu nennen. „Die Hochzeit deiner Mutter habe ich nicht miterlebt“, gestand sie, überließ die Deutung der Worte jedoch Harry. „Dudley hätte jeden Moment kommen können.“ Die halbe Wahrheit. Petunia hätte die Einladung trotzdem wahrnehmen können. Der glasige Blick ließ Harry glauben, seine Tante würde gerade in Erinnerungen abtauchen. „Sie hat ihn nie gesehen.“ Der Sohn, der Petunia so viel bedeutete, war ein Stolz gewesen, der von allen unbeachtet blieb. Die Eltern waren tot, die beiden Schwestern unversöhnbar.
„Da fällt mir ein: Du hast meinen Sohn auch noch nicht gesehen“, sprudelte es aus Harry heraus. Das Überraschungsmoment war voll und ganz auf seiner Seite. Petunia entgleisten die Gesichtszüge.
„Du hast einen …?“ Er hatte es gerade gesagt, warum sollte er lügen?
„Ich stelle ihn dir vor, einen Moment.“

Harry blickte sich um. An den Stufen stand Ron. Er schien die beiden beobachtet zu haben. Womöglich hatte Ron längst den Beton angerührt, falls Harrys Tante sich danebenbenehmen würde. In Windeseile war er bei seinem besten Freund, nur wenige Meter von Petunia entfernt.

„Ron, du musst mir einen Gefallen tun!“
„Soll ich sie für dich erledigen?“, fragte er ernst.
„Quatsch nicht, Ron. Such Ginny und sag ihr, sie möchte mit Nicholas herkommen.“
Sein Freund stutzte. „Meinst du, das ist eine tolle Idee?“
„Ron!“
„Schon gut, ich geh schon.“

Zurück bei Tante Petunia überbrückte Harry die Wartezeit mit ein paar erklärenden Worten.

„Das ist mein bester Freund und ab heute auch mein Schwager.“
„Das habe ich mir gedacht“, merkte sie an. „Er war ja einer der Trauzeugen.“
„Ja, richtig. Eigentlich logisch, dass man seinen besten Freund darum bittet.“ Das Warten wurde unerträglich. Seichte Konversation mit seiner Tante lag ihm überhaupt nicht. „Ich kenne ihn seit der ersten Klasse.“ Petunia blinzelte einige Male, bis sie verstand, dass er die erste Klasse von Hogwarts meinte und nicht die der Grundschule, die er besucht hatte. „Und die Trauzeugin war …“
„Die beste Freundin deiner Frau?“, vervollständigte Petunia unsicher.
„Nicht nur die meiner Frau, auch meine. Ich kenne sie genauso lange wie Ron.“

Seine Tante war plötzlich abgelenkt und blickte über seine Schulter hinweg, so dass sich Harry umdrehte. In ihrem schulterfreien Hochzeitskleid sah Ginny traumhaft aus. Mit Nicholas im Arm schwebte sie geradezu die Treppen hinunter. Zielsicher näherte sie sich Harry. Derweil suchte sie selbstbewusst den Blickkontakt zu seiner Tante. Als sie bei ihm war, musste Harry erst einmal lächeln. Nicholas lutschte an einem Schokoladenmännchen am Stil. Sein Mund war völlig verschmiert, aber in seinen Augen spiegelte sich wider, wie sehr sich der Kleine an der Süßigkeit ergötzte. Harry hatte keine Ahnung, wen man in solchen Situationen zuerst vorstellte, also hielt er sich an das Sprichwort „Alter geht vor Schönheit.“

„Das ist meine Tante, Petunia Dursley.“ Während sich die beiden Frauen bereits die Hände reichten, erledigte er den zweiten Teil der Vorstellung. „Das ist meine Frau Ginevra und mein Sohn Nicholas.“ Nichtigkeiten wie die Erklärung bezüglich der leiblichen Vaterschaft ließ Harry absichtlich außen vor.
Ginny machte gute Miene zum bösen Spiel. „Freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen.“ Es freute sie nicht, denn sie kannte die Geschichten von Besenkammern und Gittern vor den Fenstern.
„Freut mich ebenfalls.“ Petunias Neugierde war auf einen Schlag gestillt. Die Braut war wunderschön. Mit so einer hübschen Schwiegertochter dürfte Petunia nicht rechnen, denn Dudley konnte niemals so viel Glück haben. Wie von selbst musterte sie den Knaben auf Ginnys Arm. Die pechschwarzen Haare waren auffällig, doch die Augen hatten einen warmen, bräunlichen Ton. „Er sieht aus wie du, wo du noch klein warst“, rutschte es Petunia heraus. Keinesfalls wollte sie auf Harrys Kindheit zu sprechen kommen. Zum Glück ging niemand darauf ein, weil sie zur Ablenkung dem Jungen den kleinen Finger entgegenhielt.

Oben, in dem Gang zwischen Treppe und Eingangstür, hielten sich trotz des frischen Schattens überrachenderweise einige Personen auf. Durchweg standen diese Menschen hinter den Säulen, um dann und wann ein Blick auf Harrys Tante zu werfen. Der Erste, der sich die Säule mit dem besten Blick gesichert hatte, war Ron. Ihm lag viel an dem Wohl seines Freundes, vor allem aber daran, dass der heutige Tag von niemandem gestört werden durfte. Es reichte schon, dass Fred und George offensichtlich einen Scherz geplant hatten, in den man ihn nicht eingeweiht hatte. Angelina stand bei Ron, doch sie schien gelangweilt, weil er jedes Mal, wenn sie sich mit ihm unterhalten wollte, hinter die Säule lugte.

Hinter der zweiten Säule hatten sich Remus und Tonks positioniert. Hier waren es beide, die Schlimmes befürchteten, doch bisher schien Harry mit seiner Tante kein Problem zu haben. Die Unterhaltung blieb ruhig, aber die eisige Kälte dieser Begegnung schien bis zu ihnen auszustrahlen. Es könnte jedoch auch an dem Wind liegen, der auf diesem schattigen Gang besonders kühl empfunden wurde.

Weiter hinten, wo kaum noch Licht vordringen konnte, bewegte sich etwas. Severus hatte sich den dunkelsten Platz ausgewählt. Von hier aus konnte er die Situation gut überblicken. Streng musterte er Petunia. Sie war mit ihren perfekt hergerichteten Haaren, dem vornehmen Kostüm und dem gestrengen Gesichtsausdruck genauso unsympathisch wie früher. Zu gern hätte er Petunia für all die bösen Worte, mit denen sie ihn als Kind geärgert hatte, zurechtgewiesen, doch dann würde er den Anschein erwecken, er wäre nachtragend.

Als Hermine von der Eingangshalle hinaus auf den überdachten Gang trat und nach rechts schaute, schüttelte sie schmunzelnd den Kopf. Dass Ron hier anzufinden war, hätte sie nicht überraschen sollen. Heute war sein Beschützerinstinkt gegenüber seiner Schwester und Harry besonders ausgeprägt. Vor wenigen Minuten noch, als Hermine mitgehört hatte, wie er Ginny auf Harrys Wunsch hin nach draußen schickte, hatte er seiner Mutter gegenüber geäußert, dass es „eine blöde Idee war, Harrys Tante einzuladen“ – so ähnlich war sein Wortlaut gewesen. Die Menschen im Umkreis von etwa sieben Metern konnten das hören. Viktor fragte, nachdem Ron gegangen war, zaghaft bei Molly nach, was damit gemeint wäre. Auch Hermines Eltern hatten diese Bemerkung vernommen und wollten von Hermine wissen, was er mit dieser Tante auf sich hatte. „Später“, wurden sie von Hermine vertröstet. Nicht heute sollten die Gäste von Harrys Vergangenheit erfahren – vor allem aber nicht von Dritten, sondern von ihm persönlich und nur, wenn er dazu bereit war. Hermine hatte ihre Eltern mit denen von Seamus bekanntgemacht, dessen Vater ein Muggel war. Der Draht war sofort da, was bei ihren Eltern in der Regel keine Schwierigkeit darstellte. Sie waren umgänglich.

Jetzt stand Hermine hier und betrachtete Ron, der während seiner Observation nicht einmal mitbekam, dass es Angelina zu langweilig wurde und sie zurück ins Schloss ging, dabei mit den Augen rollte, als sie an Hermine vorbeiging. Ein wenig weiter waren sich Tonks und Remus einig bei ihrer Beschäftigung. Hermine ließ Ron in Ruhe und näherte sich der Aurorin und ihrem Verlobten.

„Hallo Hermine“, grüßte Remus ertappt. Die beiden machten wenigstens kein Geheimnis daraus, Harry zu beobachten, während sie sich nebenher ein wenig unterhielten. Ron hingegen fehlten nur noch das Fernglas und ein hochgeschlagener Kragen, dann wäre seine Motivation für jedermann sichtbar.
„Hallo Remus.“ Demonstrativ blickte Hermine an der Säule vorbei und sah Harry Tante, wie die zu Nicholas sprach. „Und? Alles noch im grünen Bereich?“
Remus grinste. „Nichts Besorgniserregendes. Als ich Petunia vorhin sah, machte sie einen verängstigten Eindruck. Im Moment sehe ich davon gar nichts mehr.“
„Dann noch viel Spaß euch beiden“, wünschte Hermine, die im Anschluss das Ende des Ganges ansteuerte. Sie hatte sich nicht geirrt. Im dunkelsten Fleck des überdachten Ganges hielt sich Severus auf. Als sie bei ihm war, grinste sie. „Die Anwesenheit von Harrys Tante scheint große Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.“
„Das kann man so sagen.“ Er wandte seine Augen von besagter Person ab. „Ich hätte gut Lust, ihr für all ihre damaligen Beleidigungen die Meinung zu sagen.“
Hermine sah aus, als hätte sie einen Geist gesehen. Vorsichtig fragte sie nach: „Löst ihr Anblick bei dir etwas Negatives aus?“
„Natürlich, was denkst du denn?“
„Ich meinte eigentlich …“ Sie stoppte sich selbst, führte stattdessen eine Hand an die Stelle, an der ihr Herz schlug.
Severus schien verlegen. „Nein, glücklicherweise hält sich das in Grenzen, aber der Tag ist noch jung. Ich – Möchtest du mit mir zum Pavillon gehen?“

Verdutzt über den schnellen Themenwechsel nickte Hermine. Sie hakte sich bei ihm unter und ließ sich den Gang zurückführen, vorbei an Remus und Tonks. Ron war verschwunden. Der Weg zum Pavillon führte am Brautpaar und somit an Harrys Tante vorbei. Severus suchte den Blickkontakt zu Petunia, nur um böse dreinzuschauen. Für dem einen Moment, in welchem Petunia ihn erkannte, schüttelte sie sich. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Der Junge in Ginnys Arm lenkte mit seinem monotonen Sprechgesang ab, denn während er mit einem Finger auf Hermine und Severus zeigte, sagte er immerfort „dadada“.

„Ich frage mich, wann er beginnt zu sprechen.“ Ein wenig Konversation konnte nicht schaden, dachte Hermine. „Wenn ich meinen Eltern glauben darf, habe ich sehr früh damit angefangen.“
„Das glaube ich deinen Eltern aufs Wort“, kommentierte er ihre Aussage.

Am Pavillon angekommen betraten sie die Stufen. Zwei Pärchen hielten sich hier auf. An den Gesprächsfetzen hörte Hermine heraus, dass sie wieder nach drinnen gehen wollten, was sie wenige Minuten später in die Tat umsetzten. Hermine und Severus hatten das runde Gebäude für sich allein. Auf einer der kunstvoll verzierten Bänke nahmen sie Platz. Gerade drehte sich Hermine zu Severus, um etwas zu fragen, da fiel ihr Blick auf eine fette Spinne, die nur wenige Zentimeter von ihren nackten Armen an der Balustrade entlangschlich. Severus bemerkte ihren Gesichtsausdruck.

„Das ist ein Nachteil, wenn man sich im Freien befindet.“
Hermine schüttelte den Kopf. „Ach, die stört mich eigentlich gar nicht. Ich bin nur froh, dass Ron nicht hier ist.“ Sie musste sich ein Grinsen verkneifen. „Der würde sofort aufspringen und das Weite suchen.“
„Wegen einer kleinen Spinne?“
„Er hasst die Viecher. Ich habe nie herausgefunden, warum. Keiner von den Weasley hat Angst vor Spinnen. In der Regel wird so ein Verhalten von klein auf abgeschaut. Woher Ron aber seine Abneigung hat …?“ Sie zuckte mit den Schultern. Angst vor Spinnen hatte Ron schon weit vor seiner Begegnung mit Aragogs Nachkommen.
„Die einzigen Tiere, die ich persönlich widerlich finde, sind freilebende Ratten.“ Bei seinen Worten horchte Hermine auf. „Ich spreche hier keinesfalls von zahmen Haustieren“, stellte er schnellstens klar. „Ratten sind Überträger todbringender Krankheiten, darüber hinaus vollkommen nutzlos. Selbst Kellerasseln haben eine Aufgabe: Sie ernähren sich von organischen Abfällen, von toten Insekten.“
Hermine nickte. „Wenn ich also eines Tages meine Animagusgestalt suchen sollte, darf es weder eine Ratte noch eine Spinne werden.“
„Spinnen sind nützliche Tiere“, warf er ein. Ihm würde es nichts ausmachen.
„Mag sein, aber ich habe keine Lust, dass Ron immer mit einer gerollten Zeitung hinter mir her ist, sollte ich in meine Animagusform wechseln.“
„Hast du es vor?“, fragte er interessiert. Ihre mögliche Tiergestalt machte ihn neugierig.
„Ich weiß nicht. Wenn Harry es macht, dann werde ich mich ihm anschließen.“
„Dann kann ich dir versichern, dass du keinesfalls zur Spinne wirst.“ Besagtes Insekt hatte die Balustrade endlich erklommen und ruhte sich von den kraftraubenden Strapazen ein wenig aus. „Die Eigenschaften dieser Tiere weichen enorm von deinen ab.“
„Ich weiß, dass die Animagusform, ganz ähnlich wie ein Patronus, der Persönlichkeit des Menschen entspricht. Trotzdem könnte es eine negative Überraschung geben. Da mache ich mir nichts vor.“
„Ach, das glaube ich nicht. Ich habe eher das Gefühl, dass die Animagusform der eines Patronus‘ gleicht. Sicherlich nicht in jedem Fall hundertprozentig, aber im Grunde sind sie sehr ähnlich.“
Hermine wurde hellhörig. „Hast du in dieser Hinsicht mal Nachforschungen angestellt?“
„Nein, dazu kenne ich zu wenig Menschen, die eine Animagusgestalt haben. Aber es wäre durchaus ein Projekt wert. Man müsste Vergleiche ziehen. Nimm Minerva als Beispiel: Patronus sowie Animagusgestalt sind bei ihr eine Katze. Vielleicht ist das kein Zufall?“
Sie stimmte ihm zu. „Dein Patronus ist ein Vogel, genau wie dein Animagus.“
„Ganz recht. Daher kam mir die Überlegung.“
Hermine ging einen Moment in sich, bevor sie enthusiastisch offenbarte: „Mit einem Otter als Animagus könnte ich gut leben. Ich werde später mal mit Harry sprechen. Dann können wir zusammen bei Minerva Unterricht nehmen.“ Sie machte eine kurze Pause, bevor sie etwas aufgriff, was er zuvor angesprochen hatte. „Von wem kennst du noch die Animagusgestalt?“
„Neben Minerva kenne ich natürlich die von Black und Konsorten“, er verzog das Gesicht. „Aber auch die von Lucius ist mir bekannt.“
„Der hat eine Animagusform? Welche ist das?“
„Das, Hermine, kannst du am heutigen Tag gern versuchen herauszubekommen. Ich habe mich schon damals verpflichtet zu schweigen. In Kreisen wie den seinen zählen solche Informationen zu den sehr privaten Dingen.“
„Ich habe keine Lust, mich heute damit zu befassen“, nörgelte sie.
„Schade, denn ich würde als Gegenleistung einen Tanz anbieten, aber wenn du nicht …“
„Höre ich richtig? Du verknüpfst das Normalste auf so einer Hochzeitsfeier mit einer Aufgabe?“
Severus lächelte einseitig. „Sieh es als Herausforderung an.“ Selbst wenn sie es nicht herausbekommen sollte, wollte er sich am Abend gütig zeigen.
„Kann ich seinen Animagus auch erraten? Ich hätte da einige Ideen …“
„Bösartige Ideen, wie ich vermute?“
„Stachelschwein, Skorpion, Stinktier … Ist das bösartig?“ Ein fieses Lächeln legte sich auf ihr Gesicht. „Hast du wenigstens einige Hinweise?“
„Durchaus! Da wäre die Tatsache, dass seine Animagusform genauso auffällig ist wie meine, sprich: Sie passt nicht in die hiesige Landschaft.“
„Schau mal!“ Hermine zeigte unerwartet zum Schloss. Offensichtlich wollte Harrys Tante doch noch bleiben. „Sie gehen wieder rein.“
Die Spinne neben Severus und Hermine hatte genug geruht und machte sich auf den Weg, die Balustrade am anderen Ende hinunterzuklettern, was Severus nicht entgangen war. „Vielleicht ist das ein Zeichen und wir sollten auch wieder hineingehen. Ich befürchte, dass noch einige alberne Programmpunkte folgen und …“
„Mach nicht alles nieder, Severus. Es gibt Menschen, die durchaus Spaß an kleinen Spielchen haben. Wollen wir reingehen?“
„Nein“, ein Arm legte sich um ihre Taille, „lass uns noch ein wenig hier sitzen.“

Im Schloss war George gerade dabei, seinem Bruder das Verkuppeln auszutreiben. Warum Fred so einen Spaß daran hatte, ihn auf diese Weise auf den Arm zu nehmen, war ihm ein Rätsel.

George zeigte auf Charlie, der neben den beiden stand und den brüderlichen Twist grinsend verfolgte: „Da, der ist auch noch Single. Geh ihm auf die Nerven!“
„Der hat seine Drachen. Da hat keine Frau mehr einen Platz“, erwiderte Fred.
„Dann kaufe ich mir eben auch einen.“ George seufzte. „Lass es einfach. Ich möchte hier meinen Spaß haben.“
„Es kann doch aber nicht schaden, wenn du dir die Mädels mal anschaust, die ich dir empfehle“, hielt sein Zwillingsbruder dagegen.
„Deine Empfehlungen sind aber überhaupt nicht durchdacht! Zwei von den dreien waren in Begleitung hier und die eine“, George verzog das Gesicht, „konnte ich früher schon nicht ausstehen, also lass es gut sein.“
„Aber …“

Fred kam nicht mehr dazu, etwas zu entgegnen, denn George suchte das Weite. Im Nu war er in der Menschenmenge untergetaucht. Sein Weg führte ihn nach draußen. Auf der überdachten Terrasse bog er nach links, hinten an der Ecke nochmal nach links. Prompt stieß er mit jemandem zusammen. Das Erste, das ihm auffiel, war der angenehme Duft. Es war eine junge Frau, die er angerempelt hatte. Bevor sie das Gleichgewicht verlieren würde, hielt er sie an den Oberarmen fest.

„Du ‘ast es aber eilig“, sagte die junge Frau mit einem leichten, französischen Akzent.
„Sag mal, kennen wir uns nicht?“ Die Wiedererkennung in Georges Gehirn funktionierte mit wenigen Sekunden Verspätung. „Du bist Gabrielle!“ Sie lächelte. Ihre Nase kräuselte sich dabei. „Wo hast du denn gesessen? Beim Essen habe ich dich gar nicht gesehen.“
„Neben meiner Schwester gehe ich meistens unter“, gab die junge Frau zu.
George konnte gar nicht glauben, dass sie mit am Tisch gesessen haben soll. Andererseits hat er auch Fleur nicht wahrgenommen, aber die hatte ihren Platz definitiv neben Bill gehabt. „Gehst du eigentlich noch zur Schule?“, wollte er wissen.
„Die Schule ‘abe ich letztes Jahr beendet.“
Im Kopf rechnete George nach und kam zu einem Ergebnis, dessen Bestätigung er mit einer Frage suchte. „Du bist jetzt achtzehn, oder?“ Sie nickte. „Mensch, wie die Zeit vergeht. Ich erinnere mich noch an …“
„Das Trimagische Turnier? Das werde ich auch nie vergessen“, beteuerte sie. Noch heute war sie Harry für ihre Rettung dankbar. „Gehst du ein Stück mit mir?“

Diese Bitte wollte er ihr nicht abschlagen. Gabrielle wollte weiter nach vorn laufen, zu dem Balkon, von dem aus man einen guten Ausblick auf den prächtigen See hatte. Auch wenn Veelablut in ihren Adern floss, fühlte er sich nicht magisch zu ihr hingezogen. Seinen klaren Kopf hatte er behalten. Am Balkon mit seinem steinernen Geländer machten sie Halt. Gabrielle betrachtete die herrlichen Gartenarbeiten. Jetzt, Ende Juni, standen viele der Blumen in voller Blüte.

„Mit dem Scherzartikelladen läuft alles?“, fragte sie interessiert.
„Ja, er läuft bombig. Kennst du unsere Produkte?“
„Nur das, was Bill ab und zu mitbringt, wenn er uns in Frankreich besucht. Besonders schön finde ich die Tagtraumzauber.“ Sie lächelte. „Dabei kann man so schön entspannen.“
„Und was machst du jetzt so nach der Schule?“
„Ich bin in der Ausbildung. Die wird noch acht Jahre dauern.“
George stutzte. „Jahre? Was für eine Ausbildung machst du denn?“
„Zauberstab-Herstellung. Es kann sein, dass Fernandi nach drei oder vier Jahren zu der Erkenntnis kommt, dass der Job nichts für mich ist, aber das wird sich noch ‘erausstellen. Ich bin einfühlsam genug für diesen Beruf und die Kenntnisse werde ich erwerben.“
„Fernandi? Das ist der Ollivander Frankreichs, oder?“
Gabrielle lachte. „Ja, der Vergleich hinkt nicht. Jedes Land hat seine Meister. Er ist bei uns der Beste. Unsere ganze Familie hat die Stäbe bei ihm machen lassen. Eine besondere Beziehung haben wir zu ihm, seit er Fleurs Stab hergestellt hat. Es gab anfangs Probleme mit dem Kern, bis er auf die einzigartige Idee kam, ein Haar unserer Großmutter einzuarbeiten. Das gab es vorher noch nie, musst du wissen. Ich glaube, deswegen will er mir eine Chance geben.“
„Du wirst das schon schaffen“, beruhigte George, der seltsamerweise der festen Überzeugung war, Gabrielle könnte den Stabmacher gar nicht enttäuschen. Aus dem Augenwinkel sah er etwas Großes unten auf dem Rasen. Es waren Olympe und Hagrid. „Sag mal, ist Hagrid einen Kopf größer geworden?“
Gabrielle blickte in die Richtung. Sie kicherte, als sie mit eigenen Augen sah, was er meinte. „Nein, er trägt ein Kind auf den Schultern.“

Besagtes Kind wedelte mit den Armen und quiekte vor Freude. So weit oben war es noch nie gewesen. Nicholas ließ sich von Hagrid tragen. Das Ziel war die Spiel-Zone. Viele Eltern brachten ihre Sprösslinge in die Obhut der Betreuer, bevor das Programm beginnen würde. Berenice tollte bereits mit einem anderen Mädchen umher, während Charles sich unter dem Umhang seines Großvaters versteckte.

Lucius lugte unter seinen Umhang und fragte mit freundlicher Stimme: „Willst du denn nicht spielen?“ So viele Kinder auf einen Haufen hatte der Junge noch nie gesehen. „Dann gehen wir mal zur Schaukel. Komm.“ Mit unsicherem Gang tapste Charles seinem Großvater hinterher. Als der Kleine ein Glucksen hörte, drehte er sich um. Charles sah seinen neuen Freund auf den Schultern des Riesen. „Was hast du denn?“, fragte Lucius, sah aber gleich darauf den Grund für die strahlenden Augen seines Enkels. Der Riese trug Potters Kind auf den breiten Schultern. „Na ja, fürs Ponyreiten als Amüsement hat es wohl nicht gereicht“, murmelte er zu sich selbst. Er hielt Charles fest, als der zu Hagrid laufen wollte, um auch hochgenommen zu werden. Seinen Unmut darüber tat Charles lauthals kund, denn er begann zu schreien und zu weinen. „Na, na, na, wer wird denn gleich so traurig sein. Schau mal“, versuchte er ihn abzulenken, „ein Karussell!“

Harry war Hagrid nachgegangen. Als er vor ihm stand, schaute er hinauf zu Nicholas, der fröhlicher gar nicht sein konnte.

„Vielen Dank, Hagrid, jetzt wird er immer enttäuscht sein, wenn ich ihn mal auf die Schultern nehme, weil es nicht so hoch sein wird wie bei dir.“ Der Riese winkte ab, griff dann blind nach oben, um Nicholas zu fassen zu kriegen, damit er ihn auf dem Boden absetzen konnte. Harry musste die ganze Zeit über grinsen. „Mich hat nie jemand auf seinen Schultern getragen“, erinnerte er sich mit plötzlich aufkommender Wehmut. Hagrid hatte ihn gehört. Mit einem Male wurde Harrys schlanker Oberkörper von zwei mülltonnendeckelgroßen Händen umfasst. „Was …?“ Die Luft, die er für den Rest des Satzes benötigte, entwich ihm bei dem Druck auf den Brustkorb, den beide Hände ausübten, als sie ihn hochhoben. „Nicht doch …!“ Harry musste lachen, weil er wusste, was Hagrid vorhatte. Der Halbriese hatte keine Probleme, Harry auf seine Schultern zu setzen. „Hagrid!“ Vor lauter Lachen konnte Harry nichts anderes mehr sagen. Oben angelangt hielt er sich an Hagrids Stirn fest, damit er Halt hatte.
„Was denn, Harry? Jetzt kannst’e nich‘ mehr sagen, du wärst nie auf die Schultern genommen worden.“
Harry giggelte genauso vergnügt wie sein Sohn zuvor. „Bin ich nicht zu schwer?“
„‘n Fliegengewicht bist‘e. Und? Wo soll es hingehen?“

Voller Staunen blickte Nicholas zu Hagrid auf, weil sein Vater dort oben saß und zu ihm hinunterwinkte. Auch Lucius schaute hinüber und schüttelte verachtungsvoll den Kopf. In seinen Augen machte Potter sich mit diesem kindischen Verhalten nur lächerlich. Hagrid lief mit Harry ein wenig umher, was Wobbel und Shibby amüsiert verfolgten. Manch einer schoss ein Foto von diesem seltsamen Anblick, der es wert war, festgehalten zu werden. Die Grangers winkten Harry zu, damit er in ihre Richtung schauen würde und sie ein gutes Bild von ihm machen konnten. George und Gabrielle hatten sich derweil zur Spiel-Zone begeben.

„Harry?“ Ginny klang überrascht. „Was machst du denn da oben? Du wolltest Nicholas doch nur herbringen.“
„Ich, ähm …“
Wobbel schritt helfend ein. „Mr. Potter wird nur die Sicherheit testen, so wie ich es vorhin bei den Spielgeräten getan hat. Falls Nicholas nochmals auf seine Schultern …“ Er deutete zu Hagrid.
Ginny wurde ganz bleich. „Nicholas war auf Hagrids Schultern? Meine Güte, wenn da was passiert wäre.“
„Ich war ja die ganze Zeit hier“, spielte Wobbel die Sache hinunter. „Und Mr. Potter hält sich auch gut, auch wenn er im Gegensatz zu Nicholas ein paar Probleme mit der Balance hat.“
„Das kommt davon, wenn man das Besenfliegen vernachlässigt“, spottete Ginny mit zwinkerndem Auge. An Harry gewandt fragte sie: „Wollen wir nicht langsam rein? Nevilles Großmutter hat irgendwas Gemeines für uns geplant.“
„Was?“, fragte er von oben zurück. „Du musst schon lauter reden. Man versteht hier kaum etwas.“

Aus etlichen Metern Entfernung zeigte Hermine in eine Richtung. Mit dem Ellenbogen stieß sie Severus an.

„Da schau! Das ist Harry, oder?“
Severus konnte gerade noch sehen, wie der Halbriese Harry wieder auf dem Boden absetzte. „Und?“
„Hast du es nicht gesehen? Harry saß auf Hagrids Schultern!“
Sie zerrte an ihm, damit er ihr folgen würde. Unsicher fragte er: „Muss ich dazu einen Kommentar abgeben?“
Sie lachte. „Nein.“ Bei Harry angelangt, der sich gerade noch über den edlen Hochzeitsumhang strich, damit der wieder saß, fragte Hermine grinsend: „Na, hat es Spaß gemacht?“
„Und wie!“ Von diesem völlig neuen Erlebnis war Harry hellauf begeistert. „Musst du auch mal machen!“
Hagrid wollte sich bereits anbieten, da verneinte sie. „Mein Dad hat mich früher oft genug herumgetragen. Ich weiß, wie toll das ist.“
Als Brautpaar waren Harry und Ginny natürlich ein begehrter Gesprächspartner. Mr. Granger und seine Frau näherten sich. Er fummelte an der Digitalkamera herum, bevor er das Bild auf dem Display hatte, das er Harry zeigen wollte. „Hier, sieh mal … Ach, verdammt.“
„Was ist denn los?“, fragte Hermine ihren Vater.
„Jedes Mal, wenn jemand in der Umgebung zaubert, geht die Kamera einfach aus. Gelöscht wird aber zum Glück nichts. Trotzdem nervt es.“

Alle sahen sich um und tatsächlich fanden sie eine Dame mit einem Stab in der Hand. Sie hatte den guten Anzug ihres Sohnes gegen Schmutz resistent gemacht, damit er spielen gehen konnte. Es waren Mr. und Mrs. Diggory. Wie an dem Tag, an dem seine Freunde ihm ein Quidditch-Spiel organisiert hatten, bemerkte Harry auch diesmal, dass der Junge Cedric wie aus dem Gesicht geschnitten war. Älter als acht Jahre konnte er nicht sein. Damals hatte er keine Zeit gefunden zu fragen, wer der Junge war, doch diesmal lag es auf der Hand. Er war der Sohn der Diggorys, der nach Cedrics Tod zur Welt gekommen sein musste. Severus war zu dem gleichen Schluss gekommen. Nach dem Trimagischen Turnier hatte er die Leiche des Schülers gesehen, den Harry auf dessen Wunsch mit nachhause gebracht hatte, doch erst jetzt empfand er das, was er damals hätte empfinden müssen.

Der Seufzer war Hermine nicht entgangen. Sie schaute neben sich und bemerkte, dass mit Severus etwas nicht in Ordnung war. Er atmete unruhig ein und aus, während sein Blick auf dem Ebenbild von Cedric verweilte. Vor seinem inneren Auge spielte sich die Szenerie ab, die damals auf dem Festplatz vor dem Labyrinth geherrscht hatte. Die Schüler hatten geschrien und geweint. Mr. Diggory war über dem toten Körper seines Sohnes unter Tränen zusammengebrochen. Mitfühlend hatte Albus ihm Trost spenden wollen, obwohl er selbst viel zu schockiert über den Tod des jungen Mannes war. Und Severus? Er hatte damals nichts gefühlt, hatte einen kühlen Kopf bewahrt, aber jetzt …

„Severus?“ Allein bei der Nennung seines Namens schwang die Frage mit, ob es ihm gut gehen würde. „Möchtest du reingehen?“ Er war nicht fähig zu antworten. „Du siehst traurig aus.“ Beschämt schloss er die Augen. Jetzt war es also schon so weit, registrierte er mit Unbehagen, dass er Gefühle dieser Art nicht mehr erfolgreich verbergen konnte. Innig hoffte er, dass sich dies nur während des Zeitraums des Heilprozesses zeigen würde und er später wieder mehr Kontrolle hätte. Er musste die Gewalt über sich zurückerlangen, sonst wäre er für den Rest seines Lebens nur noch ein bemitleidenswertes Häufchen Elend, das sich bei schlimmen Erinnerungen in eine Ecke zurückzog, um sich in Ruhe der Qual zu ergeben.

Mr. Granger hatte wieder die Kontrolle über seine Technik erlangt. „Hier, Harry!“ Er zeigte ihm eines der Bilder mit Hagrid, blätterte dann auf dem Display nach vorn, um auch von der Trauung welche zu zeigen. Somit war wenigstens Harry von dem Gedanken an Cedric abgelenkt.
„Ich hoffe doch, davon kann man Abzüge machen, wenn das alles digital ist.“
„Keine Sorge, Harry, ich lass die besten auf Fotopapier ausdrucken.“
Bei einem der ersten Bilder musste Harry grinsen. Hermine und Severus mit Nicholas im Arm. Ein Bild davor war noch Mrs. Granger dabei. „Davon möchte ich auch welche.“
„Ich sorge dafür, dass du dir alle vorher anschauen kannst“, versicherte Mr. Granger. Die Kamera stellte er wieder so ein, dass er weitere Bilder schießen konnte.

Unbemerkt hatte Severus Abstand zwischen sich und den anderen gebracht. Hermine wäre ihm gefolgt, hätte ihr Vater sie nicht dazu angehalten, sich mit Harry und Ginny zusammen fotografieren zu lassen. Gedankenverloren stolperte Severus über den Rasen. Ein Ziel hatte er nicht. Er wollte nur weg von dem, das ihn erinnerte. Weg von den Zündhölzern, die ihn entflammen könnten. Er wagte nicht aufzublicken, als ihm bewusst wurde, dass der Anblick von jedem einzelnen Gast wie Öl wirken könnte, dass man ins Feuer goss. Soweit seine wackligen Beine es hergaben, stürmte er die Stufen zum Schloss hinauf und stieß dabei jemanden versehentlich an. Das Geräusch von berstendem Glas ließ Severus unbewusst aufschauen. Sirius Black. Zorn. Name und Emotion waren eng miteinander verknüpft. Der ehemalige Rumtreiber betrachtete die Scherben des fallengelassenen Glases.

Sirius hob die Schultern und schnaufte vorwurfsvoll. „Das Leben ist einfach nicht fair.“
Die fehlende Kontrolle machte Severus noch rasender. „Nein, das Leben ist nicht fair“, keifte er aufgebracht. Über den garstigen Tonfall waren Sirius und Remus gleichermaßen verwundert. „Und sein Sie besser froh darüber, denn wenn es fair wäre, Black“, er spuckte den Namen aus wie einen alten Kaugummi, „würden Ihnen eine Menge schrecklicher Dinge widerfahren, die sie allesamt verdient hätten!“
Nach einer Schocksekunde feuerte Sirius im gleichen Tonfall zurück: „Hey! So lasse ich nicht mit mir reden, hörst du?“
Schlichtend ging Remus dazwischen und flüsterte mahnend: „Ich glaube, wir sollten den Ton ein wenig drosseln.“

Ein Blick über die Schulter bestätigte, dass ein paar Gäste bereits auf sie aufmerksam geworden waren. Auf keinen Fall wollte er als Störenfried auffallen, also unterließ Sirius es, die vielen bösen Worte zu verlieren, die bereits auf seiner Zunge tanzten. Es wäre auch längst zu spät, dem plötzlich wieder so griesgrämigen Tränkepanscher um die Ohren zu hauen, dass er hinter dem Bild mit Hermine und der auf der Rückseite befindlichen Notiz verantwortlich war. Das Gesicht hätte Sirius nur zu gern gesehen.

„Dem werde ich nochmal helfen“, murmelte Sirius verärgert.
„Was war das?“
„Ich sagte, ‚Dem werde ich helfen!‘“, schwindelte er. „Wenn er sich nochmal so benehmen sollte, dann …“
„Dann wirst du es schlucken, hörst du?“ Wenn Remus drohte, war etwas im Busch.
„Wieso?“
„Weil es … Es geht ihm heute nicht besonders, deswegen. Geht euch einfach aus dem Weg, dann ist alles in Ordnung.“
„Ich hab doch überhaupt nichts getan! Er hat mich angestoßen und nicht …“
„Es ist doch nichts geschehen, Sirius.“ Remus klatschte in die Hände und rieb sie, setzte dabei sein alles-wird-gut-Lächeln auf. „Lass uns heute feiern! Ohne Knatsch und Zank.“

Severus war längst über alle Berge. Vielleicht nicht ganz so weit, aber in seinem Herzen hatte er bereits die eisige Kälte von Oimjakon gespürt sowie die todbringende Hitze von Death Valley. Diese seelischen Temperaturschwankungen von minus siebzig Grad bis hinauf zu plus sechzig Grad Celsius konnte niemand ertragen. Für einen Augenblick fragte er sich, ob seine fast vollständige Seele bei dem ständigen Wechsel nicht Schaden erleiden könnte. Vielleicht würde sie erneut zerbersten wie dünnes Glas, wenn die Extreme von negativ und positiv so stark fluktuierten?

Er schlug den gleichen Weg ein, denn George vorhin genommen hatte, um vor seinen Brüdern zu fliehen. Als Severus um die Ecke bog, rannte auch er in eine Person hinein. Bei ihm war es keine reizende, junge Dame, sondern ein alter Freund.

„Albus …“ Severus‘ Befürchtung bewahrheitete sich. Ohne Hermine an seiner Seite war er den Erinnerungen ausgesetzt, die der alte Freund in ihm auslösen würde.

Anstatt mit Severus zu reden, lächelte Albus ihn freundlich an, schlug ihm zweimal ermutigend auf die Schulter und verschwand durch eine der Terrassentüren nach drinnen. Von dieser Reaktion völlig verdutzt vergaß Severus die aufwühlenden Erinnerungen. Möglicherweise hielt sich Albus absichtlich von ihm fern. So genau konnte man den alten Zauberer nie einschätzen. Zumindest hatte Severus diese Terrasse nun für sich allein. So konnte er entspannt die Augen schließen und die frische Luft atmen. Er roch den See, der nicht allzu fern lag, die feuchte Erde und die blühenden Gräser. Ein angenehmer Duft. Vögel zwitscherten ganz in seiner Nähe, doch als er die Augen öffnete, konnte er keine sehen, aber noch immer hören. Gelöst von üblen Gefühlen, die ihm vorhin noch den Verstand rauben wollten, schaute Severus gelöst gen Himmel. Ganz kurz blickte er in die Sonne, doch er schloss die Augen sofort, blinzelte dann einige Male. Die Flecken auf seiner Netzhaut verblassten nur langsam, da sah er dicht bei sich etwas Goldenes auf der Brüstung, direkt neben einem der Blumenkübel. Es war so groß wie eine Walnuss und kugelrund. Severus blinzelte nochmals. War ein Teil der Sonne zu Boden gefallen? Unmöglich! Vielleicht war es eine von Harrys Magiekugeln? Kaum machte Severus einen Schritt auf das glitzernde Etwas zu, um es unter die Lupe zu nehmen, da war es schon wieder lautlos verschwunden. Möglicherweise griff jetzt der Wahnsinn nach ihm. Es könnte ein Fehler gewesen sein, Hermine seinen persönlichen gordischen Knoten durchschlagen zu lassen. Er musste das Gesicht wahren, sich zusammenreißen. Trotzdem sorgte sich Severus, ob es das Richtige war, sich heute und hier mit so vielen Menschen konfrontiert zu sehen. Andererseits könnte gerade das wichtig für seine Genesung sein. Dank Hermines Farbtrank wussten sie, dass die Magie der anderen auf einen übergehen konnte.

„Severus?“ Wieder die besorgte Stimme. Hermine hatte ihn gefunden. „Du warst plötzlich nicht mehr da.“ Sie gesellte sich zu ihm, legte die Hände auf die Brüstung. „Ich habe von Remus gehört, es gab eine kleine Reiberei?“
„Nur eine klitzekleine, nicht der Rede wert.“
„Alles in Ordnung?“
„Ja.“ Wie aus der Pistole geschossen verbesserte er: „Nein, nichts ist in Ordnung. Ich glaube, ich habe Halluzinationen.“
„Tatsächlich? Wie äußern die sich?“
„Wie sollen sich Halluzinationen schon äußern?“, giftete er sie an, was ihm auf der Stelle leid tat. Viel ruhiger erklärte er: „Ich sehe Dinge, die nicht da sind.“ Goldene Lichtkugeln, die vom Himmel fallen. Würde er das sagen, fände er sich morgen in der geschlossenen Abteilung des Mungos wieder.
„Das kommt unerwartet …“, murmelte sie. „Möchtest du nachhause gehen?“
Das Angebot meinte sie ernst, doch er wollte sie nicht des heutigen Tages berauben, der nicht nur Harry und Ginny viel bedeutete. „Nein, das ist nicht notwendig. Wenn es schlimmer werden sollte, dann nehmen wir einfach ein Zimmer im Schloss und du bindest mich an einen Stuhl.“
„Wäre das Bett nicht bequemer?“, scherzte sie mit frechem Lächeln. „Keine Sorge, Severus. Ab jetzt lass ich dich nicht mehr allein.“
Vorgetäuscht erbost hielt er ihr vor Augen: „Das hört sich wie eine Drohung an! Vielleicht sollte ich lieber noch einmal die Waschräume aufsuchen, bevor du Ernst machst und mir wie eine Klette ...“
„An deiner Stelle würde ich aufpassen, was ich sage.“
„Schon wieder eine Drohung.“ Er schnalzte dreimal mit der Zunge. „Pass auf, dass ich dich nicht zu einem Duell auffordere.“
„Ach, es muss kein Duell sein. Ein Tanz genügt mir schon.“ Sie lächelte verlegen, bevor sie nochmals sein Problem ansprach. „Was hast du gesehen, dass du glaubst, zu halluzinieren?“
„Es war“, er deutete auf die Stelle neben Hermine, „dort. Ein kleines, goldenes Etwas. Es verschwand, als ich mich genähert habe.“
Hermine untersuchte die Stelle. „Vielleicht sind hier im Mauerwerk irgendwelche glitzernden Steine eingearbeitet?“ Sie fand nichts. „Womöglich nur eine Spiegelung?“ Ihr Blick verriet ihm, dass sie sich nun ernsthaft Sorgen machte.
Severus wollte sich einreden, die Sonne, in die er geblickt hatte, könnte damit zu tun haben, aber das würde nicht alles erklären. „Es fing vorhin schon an, als ich mit dem Jungen unterwegs war. Ich habe Schatten gesehen.“
„Severus, jetzt machst du mir richtig Angst! Was für Schatten und wo war das?“
„Im Erdgeschoss. Ich sah aus dem Fenster und bemerkte mehrere dieser kleinen Schatten, die vom Dach zum Boden huschten.“
Einmal musste Hermine kräftig schluckte. „Wie groß waren die?“ Severus führte Daumen und Zeigefinger zusammen. Das entstandene Loch zeigte die ungefähre Größe. „Meine Güte, das wird langsam gruselig. Aber zum Glück waren es keine Dementoren.“ Sie lachte befangen. „Allerdings weiß ich nicht, wie groß die sind, wenn die aus ihrem Ei schlüpfen.“
„Mal bitte den Teufel nicht an die Wand. Vielleicht sollten wir doch wieder hineingehen? Gehe ich nun Recht in der Annahme, dass man für Harry und Ginny einige peinliche Spiele organisiert hat?“
„Ja, das stimmt.“ Endlich kam ihr sanftes Lächeln wieder, das sie für den heutigen Tag gepachtet hatte. „Ich habe Mrs. Longbottom zugesagt, mich von Harry befingern zu lassen.“
„Wie bitte?“
„Das ist eines dieser peinlichen Spiele. Harry muss durch das Befühlen der Waden von fünf Frauen herausfinden, welche die von Ginny ist.“
„Ich glaube, ich bleibe doch lieber hier draußen. Auf diese Art sinnloser Pseudo-Unterhaltung kann ich gut verzichten.“
Sie nickte verständnisvoll. „Ich finde es auch albern, aber wenn man erst einmal dabei ist, macht es doch Spaß. Ich kenn mich doch. Außerdem sind nicht alle 450 Gäste gleichzeitig anwesend. Du kannst dich doch die Zeit lang an einen der Tische setzen. Ich stoße danach zu dir.“
Er stimmte zu.

Die Spiele waren nicht annähernd so unangenehm wie vermutet. Es wurde viel gelacht. Severus hatte sich auf den Platz gesetzt, den er vorhin schon zum Essen eingenommen hatte. Viele der Gäste hatten einige Habseligkeiten über ihre Stuhllehne gehängt oder auf dem Tisch liegen lassen. Auch Hermines Tasche war bei ihm – eine kleine Tasche, die nicht mehr als eine Packung Taschentücher und einen Lippenstift beinhalten konnte. Für Hermine, deren Tasche sonst immer vollgestopft mit Büchern, Notizen, Trankzutaten und unendlich vielen Kleinigkeiten war, musste es eine enorme Einschränkung darstellen, vermutete Severus. Zum Glück lag der Tisch des Brautpaares weit weg vom Geschehen, und außerdem hatte er ihn ganz für sich allein, weil die anderen entweder vorn beim Brautpaar standen oder sich noch immer die Beine vertraten. Manche nutzten welche von den Unterhaltungselementen, die man für Gäste bereitgestellt hatte. Welche das waren, wusste Severus nicht. Er wollte nur seine Ruhe.

„Darf es etwas sein, der Herr?“, fragte einer der zuvorkommenden Kellner.
„Nein, oder doch! Vielleicht noch ein Stück Nougattorte?“
„Kommt sofort.“

Lieber aß Severus noch etwas, bevor es auffiel, dass er sich die Zeit mit dem Zerfleddern einer Papierserviette vertrieb. Zum Kuchen verlangte Severus noch einen Kaffee. Nachdem der gekommen war, war sein Tag gerettet. Der Kaffee war göttlich. Beim zweiten Stück Torte, eigentlich dem dritten, wenn man das erste Dessert mitzählte, gesellte sich Lucius zu ihm. Er nahm den Stuhl, auf dem vorhin Remus gesessen hatte. Sein alter Schulfreund hob den Enkel auf den Schoß. Der Junge musste geweint haben. Die große Schürfwunde auf der Stirn war sicherlich der Anlass dafür gewesen, mutmaßte Severus. Lucius tunkte sein seidenes Taschentuch in ein Wasserglas und säuberte die kleine Wunde. Beim Anblick des Kuchens auf Severus‘ Teller war all der Schmerz offenbar wie weggefegt. Charles lehnte sich nach vorn und wollte nach dem angefangenen Stück Torte greifen.

„Nicht doch, du bekommst ein eigenes Stück“, versprach der stolze Großvater.
Als hätte der Kellner es gehört, kam er auf den Gast zu und nahm eine Bestellung auf. Lucius nahm das Gleiche wie Severus, dazu ein extra Stück Torte für den Jungen. „Und einen Tee. Fencheltee, aber bitte trinkwarm.“ Er blickte zu Charles. „Keinesfalls heiß!“ Nachdem der Kellner gegangen war, blickte Lucius das erste Mal seinem Tischnachbar ins Gesicht. „Amüsierst du dich auch so prächtig?“, spottete der alte Freund. Severus unterließ es, diesen Hohn auch noch mit entsprechender Antwort zu schüren, also erwiderte er nichts. „Hast du meine Schwiegertochter irgendwo gesehen?“
Severus ließ seinen Blick schweifen. „Ja, sie lässt sich vom Bräutigam gerade die Wade befühlen.“
Davon überzeugte sich Lucius selbst. Als er es mit eigenen Augen sah, wurde er wütend. „Und das in unserer Familie. Meine Güte, sind wir tief gesunken. Möchte mal wissen, was Draco dazu sagt.“
Erneut blickte sich Severus um und erspähte seinen Patensohn. „Der amüsiert sich köstlich darüber.“
„Na wunderbar, wenigstens einer hat Spaß an diesem Unfug. Ich frage mich, wie lange man die Gäste noch mit Langeweile quälen möchte?“ Lucius seufzte. „Kannst du mal bitte kurz auf ihn acht geben?“
„Auf den Jungen?“, fragte Severus schockiert nach.
„Auf wen denn sonst? Ich muss seine Flasche organisieren und die hat meine Schwiegertochter.“
„Warum nennst du sie nicht beim Namen? Susan. Ist doch gar nicht so schwer. Sind auch nur zwei Silben anstatt vier.“
Lucius schnaufte. „Soweit kommt es noch. Also, passt du kurz auf?“
„Ich … Nein, lieber nicht.“
Enttäuscht schaute Lucius ihn an, presste dabei die Lippen zusammen, als würde er eine Beleidigung zurückhalten. „Ach, aber auf den Potter-Balg hast du ein Auge geworfen.“
„Das war nicht beabsichtigt. Es hat sich so ergeben.“
Kaum hatte Severus zu Ende gesprochen, erhob sich Lucius und setzte den Jungen auf den Stuhl neben Severus. „Dann ergibt es sich jetzt auch gerade.“

Schon war Lucius gegangen und überließ Severus die Aufsichtspflicht. Noch war der Knabe still. Das Kuchenstück hypnotisierte Charles geradezu. Severus beobachtete, wie Lucius erst Draco etwas fragte, dann Susan. Derweil kam der Kellner und stellte die Bestellung auf dem Tisch ab. Sofort wollte Charles mit den Händen nach der Torte greifen, da hielt Severus ihn davon ab.

„Dein Großvater wird es bestimmt nicht gern sehen, wenn du dich überall beschmierst. Andererseits hätte er es verdient, dich wieder sauberzumachen.“ Charles blinzelte ein paar Mal, während er Severus anschaute. Verstehen konnte er ihn nicht, aber er wusste, dass der Mann mit ihm sprach. Nochmals versuchte Charles, an die Süßigkeit zu gelangen. „Nein!“ Wieder hielt er die kleinen Finger davon ab, sich in den Teig und die köstliche Füllung zu graben. Charles versuchte eine andere Taktik. Was er oft gesehen hatte, wollte er nachahmen, als er zur Gabel griff, doch auch die wurde ihm weggenommen. „Ich glaube nicht, dass du schon allein damit essen darfst.“ Der unbenutzte, kleine Löffel, der ihm zum Kaffee gereicht worden war, war in Severus‘ Augen ungefährlich genug, so dass er ihn an Charles weitergab, doch damit konnte der Junge nichts anfangen, außer sein Spiegelbild in ihm zu erblicken und fröhlich zu lachen. „Sag nicht, dass du noch nicht allein essen kannst.“ Hilfesuchend schaute sich Severus um. Zum Glück kam Lucius gerade zurück, durchstöberte aber erst ein paar Stühle weiter eine Tasche, aus der er eine leere Babyflasche nahm. In diese Flasche füllte er den Tee um, den der Kellner gebracht hatte.
„Na? War es so schlimm, für nicht einmal fünf Minuten auf ihn aufzupassen?“
„Du kannst dich gleich woanders hinsetzen“, drohte Severus, „wenn das die ganze Zeit so schnippisch weitergehen soll.“

Lucius hielt den Mund. Die beiden Freunde wussten, wie man den jeweils anderen handhaben musste, auch wenn sie sich ein wenig voneinander entfernt hatten. Ein bisschen sticheln war immer erlaubt. Nur die neu gesteckten Grenzen mussten nach all den Jahren neu abgegangen werden, um sie kennen zu lernen. Lucius gab erst Charles einen Happen Kuchen, bevor er selbst zur Tasse Kaffee griff.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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Rest von Kapitel 215

„Mmmh, wenigstens etwas an diesem Tag ist gut.“
Severus seufzte. „Wenn du nicht hier sein möchtest, was hindert dich daran, dich zu verabschieden und nachhause zu gehen?“
„Meine Frau“, war die knappe, aber ehrliche Antwort. Für Lucius gehörte es zu seiner Pflicht, seine Frau zu solchen Anlässen zu begleiten. „Ich hoffe nur nicht, dass die Nichte meiner Frau auch eines Tages heiraten wird.“
„Das wird sie mit Sicherheit. Ich weiß auch schon wen.“
Genervt rollte Lucius mit den Augen. „Das fehlte mir noch, dass so jemand in meine Familie einheiratet.“
„So jemand ist zufällig ein reinblütiger Zauberer. Ist es nicht das, was dich an der Hochzeit deines Sohnes am meisten störte? Dass Susans Mutter“, ein flüchtiger Blick zur besagten Dame, „ein Muggel ist?“
„Wir sollten dieses Gespräch auf der Stelle abbrechen, Severus, sonst wird es übel enden.“
„Ich frage mich nur ernsthaft, was du tun würdest, sollte Narzissa – Merlin bewahre – eines Tages von einem Werwolf angefallen werden. Würdest du sie verstoßen?“
„Was bezweckst du mit solchen unhaltbaren Horrorszenarien, Severus?“
„Du weißt ganz genau, auf was ich anspiele. Was ist mit der Dame, mit der du dich vorhin so lange unterhalten hast?“ Severus erntete einen unschuldigen Blick, ließ sich davon aber nicht verwirren. „Sie ist ein Halbblut, wie mir Mr. Krum mitgeteilt hat. Du schienst trotzdem bestens mit ihr auszukommen. Deshalb die gerechtfertigte Frage, wo – und vor allem warum – du Unterschiede machst.“
„Ich möchte gern in Ruhe meinen Kuchen essen.“ Vorher reichte er aber seinem Enkel noch die Flasche mit dem Gummisauger, die Charles bereits selbst halten konnte, auch wenn sie ihm manchmal aus den kleinen Händen gleiten wollte.
„Und wenn ich so darüber nachdenke, wie freundlich du mit deinem Enkel umgehst …“
„Severus!“, zischte Lucius bedrohlich leise. „Ich kann mich gern wegsetzen, wenn du es wünscht. Eigentlich erhoffte ich mir, wir beide könnten gemeinsam gegen die Langeweile angehen, aber ich habe keine Lust, mir irgendwelche Vorwürfe anhören zu müssen.“
„Es reicht mir, wenn ich diese Sache einmal angesprochen habe“, beteuerte Severus, der gewillt war, weitere zynische Bemerkungen zu unterlassen. „Vielleicht denkst du eines Tages mal darüber nach, aber wechseln wir jetzt lieber das Thema. Mit was vertreibst du dir so die Zeit, wo du nicht mehr im Ministerium arbeitest?“
„Interessiert dich das wirklich oder willst du nur wieder Giftpfeile in meine Richtung abschießen?“
„Es interessiert mich wirklich.“
„Nun, dann möchte ich gern antworten. Meine beiden Steckenpferde haben sich in Luft aufgelöst. Draco war so frei, meine kostbare Sammlung antiker“, er wurde leiser, „schwarzmagischer Gegenstände zu veräußern.“
„Ah, daran erinnere ich mich. Einen Gegenstand darf ich jetzt mein Eigen nennen.“
„Tatsächlich? Was hast du ihm abgeschwatzt?“, wollte Lucius wissen.
„Es war ein Geschenk. Der goldene Apfel.“
„Der Zankapfel!“ Ein fieses Grinsen breitete sich auf Lucius‘ Gesicht aus. „Du hast ihn nicht zufällig bei dir? Damit könnte man etwas Schwung in die lahme Gesellschaft bringen.“
„Ich habe nicht vor, ihn eines Tages zu benutzen. Ich möchte die Zauber ergründen, die auf ihm liegen.“
„Ach“, Lucius seufzte theatralisch, „du hast nie begriffen, dass man mit Magie dieser Art auch ein wenig Spaß haben kann. Aber egal, erzähl mir, was du so den lieben, langen Tag treibst.“
Severus wich aus. „Erst noch dein zweites Steckenpferd. Du hast nur eines genannt.“
„Meine andere Passion war ebenfalls eine imposante Kollektion. Ich sammelte Geheimnisse.“ Betrübt starrte Lucius auf seine Tasse Kaffee. „Die Sammlung ist jedoch unbrauchbar geworden. Ich kann keine Vorteile mehr daraus ziehen. Mein lieber Sohn hat mir in dieser Hinsicht einen Riegel vorgeschoben.“
„Was hast du jetzt für Hobbys?“
„Nein, Severus, erst du. Wir haben kaum miteinander gesprochen, nachdem …“ Voldemort besiegt worden war. „Da war doch etwas mit einer Apotheke, die dieser Granger gehört.“
Severus war sich sicher, dass Luicus davon wusste, aber vielleicht fragte er nur nach, um ein wenig Konversation zu betreiben. „Nun gehört sie zur Hälfte auch mir.“
Lucius war sichtlich erstaunt. „Oh, tatsächlich? Dann hörst du in Hogwarts auf?“
„Ab nächster Woche bin ich voll und ganz in der Winkelgasse anzutreffen.“
„Na ja, ich weiß zwar, dass dein Verhältnis zu Dumbledore im Vergleich zu meinem sehr gut war, aber ich finde es richtig, dass du nicht mehr tag ein, tag aus unter seiner Aufsicht stehst. Lehrer zu sein war nie deine Berufung.“ Nachdem Charles noch einen Happen Torte bekommen hatte, wollte Lucius wissen: „Wo wirst du wohnen? Die Winkelgasse ist sicherlich zu teuer.“
„Das ist zwar richtig, aber wir hatten das Glück, über der Apotheke noch die dazugehörige Wohnung zu erwerben.“
Die Tasse auf dem Weg zum Mund stoppte abrupt, als Lucius innehielt und große Augen machte. „Wir?“, wiederholte er ungläubig.
„Du hast richtig gehört. Wir teilen uns die Wohnung. Wozu soll ich mir etwas Eigenes suchen, wenn ich die meiste Zeit sowieso in der Apotheke verbringe? Die Gelegenheit war günstig und ich habe zugeschlagen.“
„Aber das gehört sich nicht!“
Severus runzelte die Stirn. „Was gehört sich nicht?“
„Zusammen in einer Wohnung! Meine Güte …“ Zufällig blickte Lucius zum Brautpaar hinüber. Potter hatte Ginny mit verbundenen Augen am Unterschenkel erkannt. „Aber wenn ich mir die jungen Leute so ansehe. Schon ein Kind haben und erst danach heiraten. Gewisse Reihenfolgen werden wohl schon lange nicht mehr eingehalten. Ich glaube, ich werde alt.“
„Du hast bald Geburtstag, nicht wahr?“ An Lucius‘ Gesichtsausdruck erkannte Severus, dass er richtig lag. „Dein fünfzigster.“
„Erinnere mich bloß nicht daran. Narzissa drängt mich, eine Feier zu organisieren. Wenn ich ehrlich bin, wüsste ich nicht, wen ich einladen könnte. Entweder sitzen diejenigen, die ich normalerweise geladen hätte, in Askaban oder sie sind …“ Er schluckte kräftig.
„Tot“, vervollständigte Severus ganz richtig. „Wie wäre es dann mit einer schlichten Familienfeier?“
„Ha! Dass ich nicht lache. Zu einer Familienfeier würden mittlerweile auch die Tonks’ und der dämliche Cousin meiner Frau zählen und die möchte ich nicht in meiner Nähe haben, wenn es sich vermeiden lässt.“ Eine neue Möglichkeit tat sich auf. „Würdest du kommen?“, fragte Lucius hoffnungsvoll. „Wir könnten einen Herrenabend veranstalten, mit ein wenig Billard und dem Schwelgen in der Vergangenheit.“
„Es gibt wenig, in dem ich schwelgen möchte. Außerdem würde ich nicht allein kommen und meine Begleitung dürfte deinen hohen Ansprüchen nicht genügen.“
Mit gesummten M-Lauten tat Lucius kund, dass er Severus‘ Standpunkt verstand. „Ist das wirklich was Ernstes?“ Severus nickte unbewusst, weil er die Frag ein Gedanken bejahte. „Dann werde ich mich in Zukunft mit Äußerungen zurückhalten, die dich verärgern könnten.“ Zur Hälfte hatte Charles seinen Kuchen verputzt. Der Tee hingegen war geleert. „So, mein Kleiner. Wollen wir uns frisch gestärkt noch einmal auf die Schaukel wagen?“ Charles grinste breit und schaute dabei seinem Großvater in die Augen. Hautnah erlebte Severus, wie sich sein alter Freund von dem Kind umgarnen ließ, denn Lucius lächelte glücklich zurück. „Severus, wir sehen uns bestimmt noch oder möchtest du uns in die Spiel-Zone begleiten.“
„Aus dem Alter bin ich raus.“
Ein amüsiertes Schnaufen entwich Lucius. „Dann bis später und danke für die abwechslungsreiche Unterhaltung.“

Eine halbe Stunde, nachdem Mrs. Longbottoms Spielchen ein Ende gefunden hatten, kämpfte sich Hermine durch die Menschenmassen. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie all den ehemaligen Mitschülern, denen sie begegnete, eine Antwort auf die vielen Fragen geben konnte, die man sich normalerweise stellte, wenn man sich einige Zeit nicht gesehen hatte. Im Moment benötigte Hermine eine Pause. Bei Severus angelangt fragte sie, ob er sie nach draußen begleiten wollte. Beide schlenderten zum See. Hermine kam dabei einige Male ins Straucheln. Den Grund dafür fand er, nachdem sie sich auf eine steinerne Bank gesetzt hatten. Hermine blickte sich um. Da niemand anderes in der Nähe war, nahm sie sich die Freiheit, ihren Füßen Freiheit zu schenken.

Die Schuhe waren kaum ausgezogen, da seufzte sie. „Himmel, das tut gut!“
„Nie wird ein Mann hinter das Geheimnis der Frauen kommen, warum sie Schuhe tragen, die ihnen Schmerzen bereiten.“
„Als ich sie gekauft habe, passten sie wunderbar, aber jetzt“, sie streckte die Beine von sich und wackelte mit den Zehen, „ist der Druck einfach zu groß geworden.“
„Sie sind geschwollen“, stellte Severus trocken fest. „Halt sie ins Wasser. Das ist sicher erfrischend.“ Er begleitete sie zum Ufer und blieb dann stehen, während sie noch zwei, drei Schritte hinein ins Wasser machte, dabei erleichtert ausatmete.
„Das tut wirklich gut. Ist angenehm, Severus. Solltest du auch machen!“
„Ich habe für den heutigen Tag ein angemessenes Schuhwerk gewählt und habe es sehr gemütlich.“
Sie lachte, deutete dann auf das Schilf in der Nähe. „Schau mal, Schwäne!“ Zwei Schwäne glitten über das Wasser. Einer von ihnen bemerkte Hermine und steuerte auf sie zu. „Sind die nicht schön?“, schwärmte sie. „Wie romantisch!“
„Hermine, du solltest besser …“
„Schau mal, da schwimmen ja auch die Kleinen!“ In ihrer Begeisterung war sie etwas zu laut, womit sie den Frieden auf dem Wasser störte.
„Komm besser raus, sonst …“
„Der kommt mir für meinen Geschmack etwas zu dicht heran“, bemerkte sie ganz richtig. Langsam ging sie zurück, doch der gut genährte, 15-Kilo-Höckerschwan hatte sie längst anvisiert. Er breitete seine Flügel und fauchte angriffslustig, bevor er auf sie zustürmte. „Hilfe!“ Hermine nahm die Beine in die Hand und verließ das Wasser in Windeseile. Freundlicherweise kümmerte sich Severus um das Tier. Er jagte ihm mit einem harmlosen Zauber einen kleinen Schrecken ein, so dass das weiß gefiederte Tier zurück ins Wasser ging. „Danke, Severus.“
„Hättest du mich nicht zweimal unterbrochen, wäre es mir möglich gewesen, dich über die Brutzeit von Schwänen zu unterrichten. Die Küken schlüpfen im April. Diese dort“, er zeigte auf die nun wieder friedlich auf dem Wasser schwimmende Familie, „sind in etwa zwei Monate alt. Da ist es verständlich, dass Schwäne ihr Revier gegen so einen großen Eindringling verteidigen.“
„Ich bin doch nicht groß.“
„Im Vergleich zu einem Schwan schon.“

Drinnen hörten viele Gäste der kurzen Rede von Albus Dumbledore zu, doch keinesfalls alle. Albus wollte die Worte, die er an Harry und Ginny richtete, nicht als festen Programmpunkt für die Feierlichkeit sehen. Er hätte die beiden auch in einem ruhigen Moment beiseite nehmen können. Es war ihm aber auch Recht, wenn Harrys engste Vertraute seine Glückwünsche für das gemeinsame Leben verfolgten.

Die Patil-Schwestern hatten sich derweil gut mit Blaise und Pansy unterhalten, selbst mit Gregory. Es gab Fragen, die sogar Seamus auf der Zunge brannte. Eine Sprechpause nutzte er für sich, um das Wort an Pansy zu richten.

„Sag mal, wie konntest du überhaupt den Hogwarts-Express verlassen?“ Seamus‘ Frage machten auch Parvati und Padma neugierig sowie Dean und einige andere Gryffindors. „Du bist mit uns allen eingestiegen, aber nie in King’s Cross angekommen. Wie geht das?“
Dean machte die erste Idee, die jedem durch den Kopf ging, zunichte. „Apparieren aus dem Zug ist nicht möglich. Der ist wie Hogwarts‘ selbst geschützt.“
„Das stimmt“, gab Pansy zu.
„Auf dem Bahnhof“, begann Pavarti, „war eine Menge los. Deine Mutter hat die Pferde scheu gemacht. Die Polizeibrigade hatte keine Spur. Du warst wie vom Erdboden verschluckt.“
Padma nickte heftig. „Es stand sogar in den Zeitungen. Man vermutete, du bist Todessern in die Hände gefallen.“
„Es war nicht leicht“, gab Pansy zu. „Den ganzen Sommer über habe ich mit meiner Mutter geübt.“
„Was geübt?“, wollte Seamus wissen.
„Die Apparation im freien Fall.“
„Was?“, fragten die Zwillinge zeitgleich. „Du bist aus dem Zug gesprungen?“
„Ja, ich musste untertauchen. Die Todesser waren noch nicht hinter mir her, wären es aber bald gewesen. Meine Mutter hat sie wieder und wieder vertröstet, bis sie ihnen nach meinem Verschwinden die Stirn geboten hat.“ Die Erinnerung ließ Pansy kräftig schlucken. Ihre Mutter war wahrscheinlich nicht mehr am Leben. Gefunden hatte man lediglich den Vater und der lag noch immer mit schweren Gebrechen im Mungos, seit die Todesser ein Exempel an ihm statuiert hatten. Niemand sagte „Nein!“ zu Voldemort. „Meine Mutter kam auf die Idee, bei einer der Brücken aus dem Zug zu springen und im Fall zu apparieren. Geübt haben wir Zuhause. Ich bin vom Balkon im zweiten Stock gesprungen, wieder und wieder, unzählige Male, bis es funktionierte. Das Schlimme ist nämlich, dass die Konzentration getrübt ist, wenn du dich in so einer Situation befindest. Der Bedacht geht flöten, wenn du fällst, aber wie heißt es so schön? Übung macht den Meister. Ich habe es geschafft und der Plan ging am Ende auf.“
„Und wohin wolltest du?“
Es war Gregory, der unerwartet antwortete. „Zu einem Gutshof in Peninver. Es hieß, es wäre ein Zufluchtsort für diejenigen, die Voldemort eine Abfuhr erteilt haben. Das Gebäude würde unter Fidelius stehen. Es hieß, wenn man sich lange genug in der Nähe aufhielt, würde eine Kontaktperson kommen.“
„Gregory hatte das gleiche Ziel wie wir“, erklärte Blaise. „Auf dem Weg dorthin haben wir uns zufällig getroffen. Apparation war nicht mehr möglich, weil sämtliche magische Aktivitäten überwacht wurden.“
Dean nickte verständnisvoll. „Dann war zaubern auch nicht mehr möglich?“
„Nein“, erwiderte Pansy. „Wir mussten wie Muggel leben und reisen. War nicht immer leicht, aber wir haben auf unserem Weg ein paar sehr hilfsbereite Menschen kennen gelernt.“

Die der Grund dafür waren, dachte sie, dass sich die Ansichten von Blaise und ihr geändert hatten. Muggel waren keine Idioten. Natürlich gab es auch unter ihnen ein paar zwielichtige Gestalten, aber die meisten stellten keine Fragen, wenn sie darum gebeten wurden, ihre Scheune für eine Nacht zur Verfügung zu stellen. Nicht selten wurde ihnen ein Gästebett im eigenen Haus angeboten. Manchmal hatten die beiden von einer erdachten Geschichte über eine familiäre Fehde berichtet, wegen der sie zusammen durchgebrannt wären. Bei dem einen oder anderen netten Ehepaar tat es ihnen leid, gelogen zu haben.

„Die Todesser hatten von dem Versteck erfahren und lagen in Kintyre auf der Lauer. Wir sind ihnen direkt in die Arme gelaufen, aber die waren gerade anderweitig beschäftigt“, erzählte Blaise, der sich noch sehr lebhaft an dem Kampf zwischen Todessern und Muggeln erinnern konnte. „Hätte nie gedacht, dass Muggel es den Todessern schwermachen könnten, aber so war es.“

Gregory hätte an dieser Stelle weitererzählen können. Hätte davon berichten können, wie er von Blaise und Pansy getrennt wurde, wie man ihn mit einem übel riechenden Taschentuch überwältigt hatte und in Ohnmacht versetzte. Wie er in dem Turm erwachte, angekettet an der Wand. Tagelang drangsaliert von einem Sadisten, der ihm Frage stellte über das Zaubereiministerium, über den Minister, über Harry Potter. Er könnte die Hitze schildern, die er unter sich wahrgenommen hatte, als man das Feuer entzündete. Der letzte Versuch der Flucht durch Apparation, dann ewige Dunkelheit. Das Erwachen kam von einem brennenden Schmerz, der ihn glauben ließ, noch immer auf dem Scheiterhaufen zu stehen, doch es war nur das dunkle Mal, das loderte und ihn aus der Besinnungslosigkeit holte. Das war eine andere Geschichte, die nicht dazu geeignet war, sie an so einem freudigen Tag wie heute zu erzählen. Später.

„Haben die Auroren es überprüft?“, fragte Dean neugierig.
Blaise stutzte. „Was überprüft?“
„Na, ob in Peninver tatsächlich ein Gutshaus mit Flüchtlingen steht?“
„Das ist eine gute Frage. Ich habe es in meiner Aussage erwähnt. Es liegt nahe, dass sie …“
„Da kommt gerade einer!“ Dean zeigte auf Kingsley, einen der Auroren, die Blaise verhört hatten. „Wir könnten ihn fragen.“

Gesagt, getan. Dean winkte Kingsley heran. Der wusste von Peninver, doch bisher mangelte es an Zeit für eine ausführliche Suche. Der Ort war leicht auszumachen, aber man wusste nicht, wo sich das alte Gutshaus befinden sollte. Für weitere Fragen verwies Kingsley kurzerhand an den Minister, damit er selbst nicht mehr Rede und Antwort stehen musste.

Grinsend marschierte Kingsley nach vorn zum Brautpaar, um wenigstens eine persönliche Gratulation loszuwerden, bevor sich 449 andere Gäste auf sie stürzten.

„Ginny, meinen Glückwunsch zur Hochzeit!“ Erst wollte er ihr die Hand geben, winkte aber seinem eigenen, formellen Ich ab und umarmte sie. „Und Harry, dir natürlich auch alles Gute für die Zukunft.“ Seinen Worten folgten ein kräftiger Händedruck und ein beruhigendes Klopfen auf die Schulter.
„Danke, King. Sag mal, wie war es eigentlich beim Boxen?“ Vergessen hatte Harry es nicht.
„Es war fantastisch. Geoffreys hat mich nochmal eingeladen, diesmal in ein Muggel-Fitnessstudio. Ich denke, das wird mir gefallen. Ach ja, Joel lässt schön grüßen und übermittel seine Glückwünsche zur Hochzeit.“
„Mensch, wenn hier sogar die Cousine von Krum und der verlorene Slytherin eingeladen sind, dann hättest du auch die beiden mitbringen können.“
King schüttelte den Kopf. „Geoffreys ist noch nicht so weit, Harry.“ Kingsley Stimme war sehr ernst. „Und Joel auch nicht. Das muss langsam beginnen.“
„Kein Problem. Würde mich freuen, Joel nochmal zu treffen“, gestand Harry.
„Wieso? Habt ihr die gleichen Hobbys?“
„Nein, aber er weiß nicht, was der Name ‚Harry Potter‘ alles mit sich bringt. Für ihn bin ich nur ein junger Mann, der zaubern kann.“
King lachte. „Er wird es im Laufe der Zeit aber rauskriegen.“
„Möglich, aber es wird keine Bedeutung mehr haben. Es ist alles vorbei.“
Jeder, der das Gespräch mithörte, verstand Harry sehr gut, allen voran Kingsley, von dem Harry damals einige Tipps und Tricks in Sachen körperliche Fitness erhalten hatte. „Übrigens“, Kingsley deutete auf Harrys Stirn und grinste, „schicker Haarschnitt!“

Aus einem Reflex heraus griff sich Harry mit einem Lächeln an die Stelle, an der ihn einst eine Narbe als letzte Hoffnung auf Frieden gekennzeichnet hatte. Bevor er sich den anderen Gästen stellte, entschuldigte er sich. Harry musste mal dringend auf die Herrentoilette, doch die wollte erst gefunden werden. Mit mächtigem Druck auf der Blase irrte er in einem Gang umher, bis ein Angestellter des Schlosses Mitleid mit ihm hatte und ihm den Weg zur Toilette nicht nur beschrieb, sondern ihn hinführte.

„Danke.“ Die Toilette hatte er bei der Menge an Gästen natürlich nicht für sich allein. Es war Draco, der eines der Becken belegte. Ein Anstands-Pissoir ließ Harry zwischen sich und Draco frei, bevor er endlich den Kaffee herauslassen konnte.

„Ist eine tolle Feier“, kam es von rechts.
„Danke, es ist aber verdammt anstrengend. Ich glaube, die Gäste haben am meisten Spaß. Irgendwie artet die Hochzeit in Arbeit aus.“ Harry stutzte, weil er so offen und ehrlich seine Meinung kundgetan hatte.
Draco war bereits fertig und ging zum Becken hinüber. Er wusch sich die Hände und antwortete, ohne Harry dabei anzusehen: „Es ist aber angemessen für einen Mann deines Kalibers. Mit dem heutigen Tag wird alles anders.“
„Hast du dich auch so gefühlt?“ Harry hatte sein Geschäft ebenfalls erledigt und ging der Hygiene nach.
„Offen gestanden: ja! Das war ein großer Schritt für mich. Ich habe mit den Traditionen gebrochen, die in unserer Familie gelehrt und gelebt wurden.“ Während sich Draco die Hände abtrocknete, musste er lächeln, doch es war ein trauriger Ausdruck, der in seinem Gesicht Überhand gewonnen hatte. „Das letzte Mal, als wir uns auf einer Toilette getroffen haben, sah die Sache noch anders aus.“

Brodelnde Wut. Zischende Flüche. Sectumsempra.

„Ich …“ Harry war verlegen. „Hermine hat mir erzählt, dass sie eine große Narbe bei dir gesehen hat.“ Mit einer Hand zeigte Harry vom Brustbein bis hinunter zur Leistengegend.
„Mach dir darüber mal keine Gedanken“, spielte Draco die alte Verletzung herunter. „Das liegt so lange zurück. Die anderen Wunden haben nichts hinterlassen und mit dieser einen Narbe kann ich leben.“ Draco erinnerte sich an ein Gespräch, das er eines Tages mit Susan gehabt hatte. „Susan sagte, dein Rücken sei übersät mit Narben.“
„Ja, so ein feiger Hund hat mich von hinten … Ach, Schwamm drüber. Sie sind ja auf den Rücken. Ich sehe sie nicht und sie tun auch nicht weh.“ Nachdem Harry sich die Hände getrocknet hatte, verließ er den Waschraum nicht sofort, denn draußen würde ihn wieder eine Menschenmenge erwarten. „Wie macht sich dein Vater hier so?“
Draco verzog den Mund, legte den Kopf schräg. „Ich glaube, er will sich langweilen.“
„Ihm ist langweilig?“
„Nein“, verbesserte Draco, „ich sagte, er will sich langweilen. Du könntest hier die beste Unterhaltung der Welt anbieten und er würde trotzdem sagen, es wäre öde.“
„Ah, verstehe. Ich kann es ihm nicht verübeln. Es sieht so aus, als wäre er gern überall, nur nicht hier.“
„Damit liegst du absolut richtig. Mein Sohn ist das Einzige, das ihn hier auf der Feier noch hält. Selbst meine Mutter kann ihn nicht aufheitern. Ich befürchte, sie werden heute nicht einmal zusammen tanzen, obwohl sie sich so darauf gefreut hat.“
„Nicht tanzen? Was für ein Partykiller“, beschwerte sich Harry mit einem Schmunzeln, womit er Draco ansteckte. Unerwartet ernst schlug Harry vor: „Ich kann ja mal mit ihm reden.“
„Du kannst es auch lassen. Die Wahrscheinlichkeit ist gering, dass er dir zuhören wird. Er hört auch nicht auf mich.“
„Und Severus? Kann der ihn nicht …?“
Draco schnaufte. „Vergiss es. Die beiden müssen erst wieder zueinander finden. Die Zeit ist eine Barriere, die viele Veränderungen mit sich bringt. Ich meine, schau dir Gregory an! Er vermeidet es, mit mir zu sprechen. Bei Blaise war es anfangs genauso. Nur Pansy hatte keine Berührungsängste. Sie kannte mich damals schon gut genug, um zu erkennen, dass ich heute anders bin.“
„Und ich erst!“ Harry lachte.
„Das ist der Knackpunkt, Harry. Ich hätte die gleichen Probleme wie mein Vater, wenn …“
Draco stoppte sich selbst, so dass Harry raten musste, wie der Satz ausgegangen wäre. Als Vorschlag nannte er: „…wenn ich dich noch genauso behandeln würde wie früher?“
„Ja, so in etwa. Ich kann es schwer in Worte fassen. Viele Menschen glauben, man könnte sich nicht ändern. Bei meinem Vater fällt selbst mir schwer zu glauben, er könnte eines Tages seine Ablehnung gegenüber Muggeln und Halbblütern vergessen.“
„Aber Charles …?“
„Das ist wieder etwas ganz anderes – und genauso schwer zu erklären. Mein Vater blendet es bei ihm absichtlich aus. Ich habe heimlich zugehört, wie Severus und er miteinander gesprochen haben. Alles habe ich nicht gehört, aber ich habe mitbekommen, wie mein Vater über bestimmte Dinge einfach nicht sprechen möchte, sich wahrscheinlich nicht mal Gedanken darüber machen will, sonst würde es nämlich Realität werden.“
Harry schaute völlig verdutzt drein. „Aber es ist doch Realität, dass Charles nicht mehr das ist, was dein Vater als reinblütig bezeichnet.“
„Und da beißt sich der Hund in den Schwanz, Harry. Mein Vater ist voller Widersprüche und versucht krampfhaft, sich seine Welt so zurechtzubiegen, wie er sie braucht. Ich lasse ihn gewähren, weil ich befürchte, ohne das würde er sich nicht mehr im Leben zurechtfinden.“
Lucius stellte sich für Draco als schwere Bürde heraus. „Wie kommst du mit ihm klar?“, wollte Harry wissen.
Die erste Antwort war ein Schulterzucken. „Es geht. Aber sobald Susan in der Nähe ist, bekomme ich zu spüren, was ich in seinen Augen für einen großen Fehler begangen habe. Wir sind dann beide gleichermaßen Opfer seiner Zwietracht.“
Harry atmete einmal durch und fragte sich derweil, wie er auf solche familiären Missstände reagieren würde. „Ich hoffe, das legt sich eines Tages.“
„Das wird es, da bin ich zuversichtlich. Die Zeit ist auf meiner Seite.“ Draco schlug Harry auf die Schulter und beließ sie dort, als er sagte: „Ich bin froh, dass alles so gekommen ist.“
Das Wörtchen ‚alles‘ stand offensichtlich für die Gesamtheit des Lebens. Dracos Satz wäre für dieses Gespräch ein perfektes Ende, wenn nicht der Schalk in Harrys Nacken sitzen würde. Er blickte auf Dracos Hand, die noch immer auf seiner Schulter verweilte und sagte mit schelmischen Grinsen, als er seinem Gegenüber in die Augen schaute: „Und ich bin froh, dass du dir nach dem Pinkeln die Hände gewaschen hast.“
Draco lachte, klopfte ihm nochmal auf die Schulter, bevor er Harry die Tür aufhielt.

Die Gunst der Stunde nutzte Harry, um das Schloss zu verlassen und allein ein wenig durch die wunderschöne Gegend zu streifen. Früh genug würde er wieder die Hände der Gäste schütteln und in Gespräche verwickelt werden. Er wollte nicht unhöflich sein. Trotzdem hätte er sich lieber eine kleine und viel gemütlichere Hochzeit gewünscht, doch Draco hatte Recht. Von einem Mann seines Ansehens erwartete man so ein überschwängliches Fest. Heute war der richtige Zeitpunkt, in einer kleinen Rede zu verkünden, dass es so etwas Großes wie heute nie wieder geben würde. Harry Potter, wie man ihn aus Zeitungen kannte, hatte seine Schuldigkeit getan. Er durfte und vor allem wollte er jetzt damit beginnen zu leben. Harry wollte endlich das haben, was für die meisten Menschen selbstverständlich war – einen Alltag. Einen normalen, ruhigen Alltag, der beinhaltete, das Frühstücksgeschirr abzuwaschen, das Kinderzimmer aufzuräumen und einen Einkaufsbummel mit Ginny und Nicholas zu machen. Windeln wechseln, dem Jungen das Sprechen beibringen, Märchen vorlesen, Ginny beim Quidditch anfeuern, mit Ron einen Trinken gehen, mit Hermine Museen besuchen, mit Remus Karten spielen und mit Severus interessante Diskussionen führen.

Kaum dachte Harry an jemanden, erschien der auch schon vor ihm. „Severus, hallo! Und? Amüsierst du dich?“
Severus stand an einer der Bänke im Garten und wartete offensichtlich auf Hermine, die von ein paar ehemaligen Mitschülern zu einem kurzen Gespräch angehalten wurde. Mit Severus wollte entweder niemand reden oder er blockte sämtliche Versuche ab. „Ich amüsiere mich prächtig, danke der Nachfrage. Gerade eben wurde Hermine von einem Schwan angegriffen.“ Ein Mundwinkel hob sich. „Glaub mir, es war zum Schreien komisch, aber ich habe mich zurückgehalten, sonst hatte sie es mir vermutlich übel genommen.“
„Ein Schwan?“ Harry lachte schadenfreudig.
„Was gibt es zu lachen?“, hörte man unerwartet Hermines Stimme fragen. Sie kam gerade von Hannah und Justin zurück.
Mit ernster Miene erwiderte Severus: „Ich habe Harry eben geschildert, was vorhin am See vorgefallen ist.“ Den sarkastischen „Dank“ in Harrys Blick übersah er absichtlich.
„Ach, und du findest das wohl komisch?“
„Irgendwie schon“, spottete er auf freundliche Weise. „Ich weiß aber zu gut, wie kräftig die zwacken können. Dudley und mich hat es auch mal erwischt, aber ich konnte zum Glück schneller rennen als er.“
Hermine gesellte sich zu den beiden. „Ich sollte einen Beschwerdebrief an die Königin schicken.“
„Wieso denn das?“, fragte Harry irritiert nach.
„Na, weißt du denn nicht, dass alle wilden Schwäne in Großbritannien dem regierenden Monarchen gehören? Das ist seit dem 12. Jahrhundert so.“
Harry lachte, legte eine Hand auf ihre Schulter und schüttelte seine Freundin zaghaft. „Mensch, bei Hermine, da haben wir was gelernt!“
„Jetzt veralber mich nicht.“
„Ich meine das völlig ernst, Hermine! Die ganzen Kleinigkeiten, die du so vom Stapel lässt – und das kam in der Vergangenheit nicht gerade selten vor –, bleiben einem im Gedächtnis. Flamel, Teufelsschlingen … Die Liste ist unübersichtlich lang.“
Seine Bemerkung machte sie glücklich, auch wenn sie es nicht zeigen wollte. „Oh, da ist Draco!“, bemerkte sie aufgescheucht. „Ich werde mal zu ihm rübergehen und wegen dem Animagus fragen.“
Weg war sie und Harry blickte ihr verdattert hinterher, bevor er eine Erklärung von Severus forderte: „Was denn für ein Animagus?“
„Sie versucht herauszubekommen, welche Gestalt Mr. Malfoy senior innehat.“
„Aber warum?“
„Weil ich es als kleine Herausforderung vorgeschlagen habe.“ Plötzlich huschte etwas an Severus und Harry vorbei. Ein Schatten, schnell wie der Wind. Severus Herz begann zu rasen. Mit Sinnestäuschungen dieser Art wollte er nicht konfrontiert werden. Erst Harrys Worte ließen ihn aufhorchen.
„Was zum Teufel war das eben?“
„Du hast es auch gesehen?“ Weil Harry nickte, schloss Severus die Augen und atmete erleichtert aus, bevor er offenbarte. „Merlin sei Dank! Ich habe schon befürchtet, die Hand des Wahnsinns greift nach mir.“
„Mmmh“, machte Harry mitfühlend. „Ich weiß sehr gut, wie sich das anfühlt. Aber was war das?“
„Ich habe keinen blassen Schimmer.“
„Dann sollten wir jemand fragen, dem das in all den Jahren auch aufgefallen sein müsste: den Schlossherrn!“

Etliche Meter weiter hatte Hermine endlich Draco erreicht.

„Darf ich dich was fragen?“
Draco zuckte mit den Schultern. „Sicher, aber ob ich dir antworte, hängt ganz von der Frage ab.“
„Es geht um ein kleines Spielchen zwischen Severus und mir. Für mich hängt eine Menge davon ab zu erfahren, was die Animagusgestalt deines Vaters ist.“
„Severus weiß das doch, warum will er es wissen?“
„Nein, er möchte, dass ich es herausfinde. Als Belohnung … Na ja, ich bekomme eine Belohnung und …“ Sie kam ins Stottern. „Sagst du es mir?“
Draco musste sich arg zusammenreißen, nicht in Gelächter auszubrechen, obwohl er keine genaue Vorstellung davon hatte, was gerade zwischen Severus und ihr ablief. „Ich würde dir gern helfen, Hermine, aber damit würde ich das Vertrauen meines Vaters mit Füßen treten.“
„Wer könnte es mir sagen?“ Ihr flehender Blick ließ ihn nicht kalt.
„Meine Mutter. Und natürlich mein Vater, aber ich glaube nicht, dass einer von beiden …“ Er seufzte. „Es tut mir leid.“
„Und Susan?“
„Sie weiß es nicht.“
Hermine bohrte nicht nach, erhoffte sich aber etwas anderes, denn sie fragte: „Hast du wenigstens einen Tipp für mich? Vielleicht komme ich ja selbst drauf.“
„Gegen einen Hinweis ist wohl nichts einzuwenden. Lass mich nachdenken, was ich dir für ein Merkmal nennen kann.“ Draco ließ seinen Blick schweifen und sah, wie Severus und Harry gerade an ihnen vorbeigingen, um mit Mr. Van Tessel ein Wort zu wechseln. Mit einem anderen Teil seines Gehirns suchte er nach passenden Hinweisen, die er Hermine geben konnte. „Das Tier begleitet die großen, gefährlichen Tiere, um über Beutereste herzufallen.“
„Wie passend“, murmelte sie nachdenklich.
„Bitte?“ Sein Kopf wanderte von Harry, Severus und Van Tessel zurück zu Hermine. „Ich habe dich nicht verstanden.“
„Ich, ähm, meinte nur …“
„Reicht der Hinweis nicht?“ Draco fragte sich, ob er damit selbst auf das richtige Tier kommen würde und verneinte. „Er passt sich an. Die Farbe wechselt.“
„Ein Chamäleon?“
Draco schüttelte den Kopf. „Hängt von den Jahreszeiten ab.“

Narzissa trat aus der Eingangstüre heraus und blickte sich um. Als Erstes sah sie Severus, der zusammen mit Harry und Van Tessel sprach. Unten am Treppenabsatz stand derjenige, den sie suchte.

„Draco?“ Narzissa schaute Hermine mit freundlichem Lächeln an. „Ich hoffe, ich störe nicht.“
„Auf keinen Fall, Mutter. Was gibt es denn?“, fragte ihr Sohn.
„Susan sucht dich. Sie möchte mit dir zusammen ein Los kaufen. Der Hauptgewinn ist eine Reise nach Hawaii für die gesamte Familie.“
„Hier findet eine Lotterie statt?“, fragte Draco verwundert nach.
Hermine nickte. „Das war Mollys Idee. Der Erlös geht an ein Heim für Waisenkinder.“
„Dann nichts wie ran.“ Er schaute Hermine an. „Oder kann ich noch etwas für dich tun?“
„Nein, ich werde wohl weiterhin im Dunkeln tappen, aber vielen Dank für die Hinweise.“

Nachdem Draco gegangen war, spielte Hermine mit dem Gedanken, Narzissa zu fragen. Andererseits kannte sie die Frau nicht sonderlich gut. Die Frage könnte Abneigung aufkommen lassen. Wie Severus schon gesagt hatte, gehörte es bei Reinblütern zum guten Ton, nicht über so persönliche Dinge wie Animagusgestalten zu reden. Sie brachten zu viel Einblick in den Charakter des Menschen.

„Haben Sie Probleme?“, fragte Narzissa sie unerwartet. „Vielleicht kann ich Ihnen weiterhelfen?“
„Das wäre nett, aber ich glaube nicht, dass Sie mir …“
„Fragen Sie!“, bot Narzissa hilfsbereit an.
„Es ist sehr persönlich“, warnte Hermine vor. „Es geht um eine kleine Aufgabe, die mir Severus aufgetragen hat. Ich soll die Animagusform Ihres Mannes herausfinden.“
„Oh“, machte Narzissa überrascht. „Das ist eine Aufgabe, die sehr schwer zu lösen ist. Ich frage mich, warum Severus das getan hat, wo die Aussicht auf Erfolg so gering ist.“ Hermine machte plötzlich eine bedrückte Miene, die Narzissa nicht übersehen konnte. „Was haben Sie?“
Hermine presste einen Augenblick beleidigt die Lippen zusammen. „Ach nichts. Ich bin nur gerade dahintergekommen, dass Severus nicht mit mir tanzen möchte. Warum sonst gibt er mir eine unlösbare Aufgabe auf?“
„Das ist der Preis für die Lösung des Rätsels?“ Narzissa empfand Mitleid mit Hermine. „Mein Sohn hat Ihnen schon Hinweise gegeben, wie es scheint.“
„Ja, hat er. Das Tier soll gefährliche Tiere begleiten, um von deren Beute etwas abzubekommen. Und es kann durch die Jahreszeiten bedingt eine andere Farbe haben.“
„Das ist korrekt. Lassen Sie mich einen Moment nachdenken.“ Auch Narzissa machte sich Gedanken darüber, welche Eigenschaften hilfreich wären. „Das gesuchte Tier“, Hermine hörte ihr gebannt zu, „bleibt ein Leben lang mit seinem Partner zusammen.“ Diese Eigenschaft wurde von Narzissa hoch geschätzt, was sich in einem verträumten Lächeln niederschlug. „Die Kinder werden zwischen Mai und Juni geboren.“
„Draco ist im Juni geboren!“, stellte Hermine erstaunt fest.
„Ja, das stimmt. Mehr Hinweise möchte ich nicht geben, um meinen Mann nicht zu verärgern. Verzeihen Sie mir …“
„Nein, es muss Ihnen nicht leid tun. Sie haben mir schon geholfen. Ich muss nur noch die Informationen kombinieren. Vielleicht schaffe ich es tatsächlich, die Antwort zu finden.“
„Er hätte es nicht anders verdient, als dass Sie ihm ein Schnippchen schlagen. Ich wünsche viel Glück.“ Narzissa wandte sich bereits zum Gehen ab, da drehte sie sich noch einmal um. „Ach ja, die Anmeldung beim Zaubereiministerium hat damals Professor McGonagall erledigt, als sich seine Form offenbarte.“

Ein Wink des Schicksals. Minerva würde sicherlich mehr Hinweise geben können, wenn sie nicht sogar so dreist sein würde, ihr ohne Umwege die Gestalt von Lucius zu nennen. Draco war nicht hineingegangen. Irgendetwas, wie Hermine bemerkte, hatte ihn an der Unterhaltung mit Van Tessel interessiert. Auch Narzissa blieb stehen. Um nachzusehen, wo ihr Mann blieb, war Susan hinausgegangen und auch sie schloss sich der Traube an. Neugierig näherte sich Hermine und hörte die letzten Worte von Van Tessel.

„… in der Regel nur im Winter, aber bei Ihnen, weil heute Ihr Ehrentag ist, Mr. Potter, mache ich eine Ausnahme. Wenn Sie Ihre frisch angetraute Gattin noch dazurufen möchten? Ich bin sicher, sie möchte es nicht missen.“ Diese Aufgabe übernahm Susan, denn sie wusste, wo Ginny sich gerade aufhielt. Sie rannte schnurstracks in die Spiel-Zone. Van Tessel zog sich zurück, um etwas zu besorgen.
„Um was geht es denn?“, fragte Hermine neugierig.
Harry drehte sich zu ihr um. „Die Schatten, die hier überall zu sehen sind. Offensichtlich sind Severus und ich nicht die Einzigen, die etwas in den Augenwinkeln bemerken.“
Narzissa stimmte zu. „Ich habe es auch gesehen, dachte aber, ich bilde mir das nur ein.“
„Ich verstehe nicht, warum ich nicht …“ In diesem Moment huschte es an ihr vorbei, das kleine Ding. Sie drehte den Kopf, aber da war nichts als der leichte Windhauch, den es an ihrer Wange hinterlassen hatte.
„Ha!“, machte Harry triumphierend und zeigte mit einem Finger auf sie. „Ist es dir auch gerade passiert?“
Eine Hand legte Hermine erschrocken auf ihre Brust. „Was war das?“
„Das will Van Tessel uns gleich zeigen. Vielleicht sollten wir noch den anderen Bescheid geben?“

Das brauchten sie gar nicht. Einerseits hatte Van Tessel auf seinem Weg einige der Gäste gebeten hinauszugehen, weil es gleich etwas zu sehen geben würde. Andererseits hatte Susan die Besucher der Spiel-Zone informiert, allen voran Ginny, die sich Nicholas schnappte und zum Schlosseingang zurücklief. Nicht jeder machte sich die Mühe, nach draußen zu gelangen, doch trotzdem waren es an die hundert Gäste, die sich auf dem Rasen und der Terrasse verteilten oder einfach nur aus den geöffneten Fenstern im Erdgeschoss schauten. Lucius hatte sich bei seiner Gattin eingefunden und stand mit ihr auf den steinernen Stufen, während sich Severus mit vor der Brust verschränkten Armen unten direkt neben der Treppe positioniert hatte. Er schaute skeptisch drein, ebenso wie Moody, der von der überdachten Terrasse hinunterschaute. Harrys Freunde waren alle anwesend. Mr. Van Tessel kam freudestrahlend zurück. In seiner Hand hielt er eine Papiertüte mit unbekanntem Inhalt, die Lucius neugierig beäugte. Leichtfüßig hatte Van Tessel den Weg zum saftig grünen Rasen eingeschlagen.

„Wenn das Brautpaar sich bitte zu mir stellen möchte?“, bat der Schlossherr höflich. Ginny gab Nicholas an Remus ab, bevor sie mit Harry der Aufforderung des Schlossherrn folgte. Sie wurden angefeuert durch die zaghaften Pfiffe und den Zurufen ihrer gemeinsamen Freunde. „Genau hier.“ Beide stellten sich auf die von Van Tessel gezeigte Stelle in dem großräumigen Kreis, den die neugierigen Zuschauer freigehalten hatten. „Was jetzt wunderbar passen würde wäre eine Geschichte, die mir damals meine Gouvernante schrieb, nachdem ich sie fragte, was das für Schatten wären, die ich immer sehe. Möchte jemand, dass ich die Geschichte erzähle?“
„Nein!“, kam es unerwartet von Severus. Für ihn war lediglich die Antwort wichtig, doch sein Veto wurde übertönt von den freudigen Rufen von Berenice.
„Ja, ja! Eine Geschichte!“ Das Mädchen hüpfte auf und ab, klatschte dabei in die Hände, womit sie alle anwesenden Kinder ansteckte. Nicholas und Charles wussten nicht, um was es ging, aber klatschen konnten sie schon, wenn auch feinmototisch noch nicht sehr koordiniert. Viktors Kinder stimmten ein und selbst Harry nickte aufgeregt.
Van Tessel musste lächeln. „Tut mir leid, Sir. Sie sind überstimmt worden“, teilte er Severus mit, der sich jetzt demonstrativ gelangweilt gegen die Mauer lehnte und seine gleichgültigste Miene zum Besten gab. Van Tessel richtete sich an die Interessierten. „Meine Gouvernante war keine Dichterin, das gleich vorweg, aber sie hat viele Nächte wachgelegen und darüber nachgedacht, wie sie mir eine Antwort in kindgerechter Form geben kann. Das Resultat lässt sich in meinen Augen noch heute sehen, aber vielleicht bin ich auch nur voreingenommen, weil ich viel von ihr gehalten habe.“

Ein paar Gäste machten Fotos, als Van Tessel neben dem Brautpaar stand und in die Menschenmenge schaute. Aus dem Gedächtnis trug er vor, verstellte dabei die Stimme und brachte, weil Kinder es so mochten, mit seinem Ausdruck Spannung hinein.

„Da flattert es, und so geschwind,
durch die Wipfel. ‚Sieh, mein Kind!‘
Sie werden sogar begrüßt vom Hahn.
Oder haben sich meine Augen vertan?
War es nicht wirklich? Nur ein Wicht?
Ein Schatten vom letzten Abendlicht?

‚Da ist es wieder, schau schnell hin!‘
Hoch oben auf dem Baldachin.
Es ist golden, lässt sich hernieder,
putzt keck sein strahlendes Gefieder.
Es blickt auf, schaut her und flieht,
kaum dass mein Auge es richtig sieht.

Was war es nur? Ist es bekannt?
Als Mythos ja – im ganzen Land.
Ihr Gold kennt niemand, nicht mal Chimisten.
Wo mögen wohl diese Wesen nisten?
Kein Phönix war’s, kein Jobberknoll.
Das Tier ist wahrlich eindrucksvoll.“

Van Tessel führte eine Hand in die Tüte, doch noch beließ er sie dort drinnen. Er sah die Kinder an, die ihm mit großen Augen ihre Aufmerksamkeit und Bewunderung schenkten, als er seinen Dialog mit Körpereinsatz für die kleinen Zuhörer noch aufregender gestaltete. Auf eines der Kinder, Viktors ältesten Sohn, zeigte Van Tessel, als er mit dem Text fortfuhr.

„‚Hol mir einen! Kannst du sie fangen?
Bleib auf dem Besen! Ich will nicht bangen,
dass du fällst. Oh weh, schon geschehen.
Ich helf dir auf. Kannst du noch gehen?‘
Mensch gegen Tier – so rasend schnell.
Viel spannender als ein Duell.“

In Gedanken rief Harry: ‚Ich kann sie fangen!‘ Er hatte Spaß an der Geschichte und fühlte sich genauso von ihr angesprochen wie die Kinder, die ihre Hände hoben und „Ich! Ich!“ schrien. Auch Van Tessel hatte sichtlich Spaß an der nicht geplanten Vorführung, die er nur wegen der Zwischenrufe der hellauf begeisterten Kinder kurz unterbrach. Er hob einen Finger. Es wirkte, denn die Kinder waren auf der Stelle ruhig. Niemand wollte etwas verpassen. Harry sah, dass in Van Tessels erhobener Hand etwas von dem Inhalt der Tüte zu sehen war: Sonnenblumenkerne.

„Nur Übung soll den Meister machen
beteuern Wächter großer Drachen.
‚Rauf mit dir, rauf auf den Besen!
Besorg mir eines der flotten Wesen.
Jage sie durch Sturm und Regen,
für Stolz und Ruhm – und meinetwegen.‘

Kann man Sonnenstrahlen fangen?
Darf ich mehr von dir verlangen?
‚Es ist ein Wettkampf, bleib bei Sinnen,
denn schließlich willst du doch gewinnen!
Trainiere dich, studiere sie,
werd Herr über das Federvieh.‘“

Harry fühlte Ginnys Hand an seiner, so dass er sie anblickte. Sie lächelte, ahnte das Gleiche wie er, doch den Zauber wollte keiner von beiden brechen. So lauschten sie den letzten Strophen, die Van Tessel von sich gab, während er damit begann, rund um das Brautpaar ein paar Sonnenblumenkerne zu streuen.

„Erschöpft nach all den vielen Wochen,
dein Kampfgeist ist noch nicht gebrochen,
da rufst du laut und aus der Luft:
‚Ein Vogel ist’s, aus Sonnenduft!‘
Ein gold‘ner Schatz und ohne Kratzer.
‚Dich nenn ich meinen kleinen Schnatzer!‘

Kaum benannt flog er von dannen,
geradewegs zur Edeltannen.
Geblieben nur der Name mir.
‚Mein schönes Schloss tauf ich nach dir.‘
‘s scheint unmöglich, gegen sie zu siegen,
denn diese Sonnen können fliegen.“

Mit einer deutlichen Handbewegung forderte Van Tessel die Gäste auf, auf den bereits zaghaft beginnenden Applaus zu verzichten. Langsam entfernte er sich von Harry und Ginny, zeigte dabei den Kindern mit einem Zeigefinger vor dem Mund, dass sie still sein sollten. Einige der jungen Zuhörer machten die Geste nach. Es war ruhig. Da war es plötzlich, so ein Flattern, wie es in dem Gedicht beschrieben war. Jeder blickte sich um, schaute in die Baumwipfel und in den Himmel, aber niemand konnte etwas sehen. Völlig unerwartet hockte ein goldener, kugelrunder Vogel im Gras und betrachtete das Brautpaar skeptisch mit seinen rubinroten Augen. Das Tierchen war nicht größer als eine Walnuss und wurde nicht von jedem der Anwesenden sofort gesehen, denn es schien aus dem Nichts gekommen zu sein. Ginny drückte Harrys Hand, sagte jedoch kein Wort, um das zierliche Tier nicht zu erschrecken. Der Vogel pickte auf einen der Kerne ein und fraß das Innere. Als er es für genießbar erachtete, zwitscherte er in den höchsten Tönen. Alle blickten erwartungsvoll zu Harry und Ginny. Selbst wenn sie den kleinen Vogel zu ihren Füßen im Gras nicht ausmachen konnten, so war es unmöglich, die ganze Schar zu übersehen, die der Vorkoster mit seinem Gesang herbeigerufen hatte. Unzählige Flügelschläge und das hohe Zwitschern einer bisher ungehörten Melodie erfüllten die Lüfte. Ein beeindruckend großer Schwarm goldener Schnatzer umkreiste das Brautpaar und setzte im Bruchteil einer Sekunde kollektiv zur Landung an, um über die Sonnenblumenkerne herzufallen, die sie normalerweise nur in den kalten Monaten des Winters vom Schlossherrn bekamen. Die gefiederten Geschöpfe, flinker als Kolibris, zeigten keine Angst vor den Menschen, sonst würden sie nicht so dicht an ihnen vorbeifliegen oder sich nun hier zu Harrys Füßen tummeln. Ihre Schnelligkeit raubte ihnen die Furcht, ohne zu ahnen, dass ein Sucher unter ihnen weilte. Harry, von dem Anblick vollkommen verzückt, kam nicht einmal auf den Gedanken, die Hand nach einem auszustrecken. Die Landschaft rund um das Schlosshotel herum gehörte nicht den Menschen, es gehörte den Vögeln.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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216 Der Tanz ist die Wiege des Kusses




Der Moment, als er mit Ginny von fröhlich trällernden Schnatzern umringt war, stellte für Harry einen der Höhepunkte des Tages dar. Von den tischtennisgroßen Vögeln hatte er in Quidditch-Büchern nur gelesen, nicht mehr als ein paar bunte Zeichnungen von ihnen gesehen. Ihre Art war damals vom Aussterben bedroht, denn früher fingen die Sucher bei Quidditchspielen keine goldenen Bälle, sondern eben jene zerbrechlichen Vögel. Dieser Tortur, dem Stress der Jagd, konnte kaum ein Vogel standhalten und wenn sie am Ende gefangen wurden, war der Griff des Suchers um den kleinen Körper oftmals zu kraftvoll. Sie wurden entweder versehentlich zerdrückt oder starben noch in der Hand des Siegers an einem Herzinfarkt. Der magische Ball ersetzte diese Tierchen noch rechtzeitig, so dass sich – wie jeder es heute mit eigenen Augen sah – ihr Bestand erholen konnte. Schloss Schnatzer stellte wegen seiner abgelegenen Gegend und den fütternden Händen von mindestens drei Generationen von tierlieben Schlossbesitzern einen idealen Brutplatz dar.

Im Laufe des Tages war Harry wieder wesentlich ruhiger geworden. Gespräche mit alten Bekannten empfand er nicht als lästig, auch wenn der Drang groß war, sich Ginny zu schnappen und mit ihr eine Wiederholung der Tätigkeit auszuüben, bei der Ron vorhin gestört hatte. Selbstverständlich begehrte er sie nicht nur körperlich. Sie fehlte ihm an seiner Seite, als er ein paar Worte mit Slughorn wechselte und selbst mit dem Herrn, den Sirius ihm als Kollegen vorstellte. Ein Mr. Duvall. Netter Mann, dachte Harry, nur ein wenig steif. Die Frau an dessen Seite machte das mit ihrer offenen Art wieder wett. So glich sich alles im Leben aus, bemerkte Harry nicht zum ersten Mal.

Ginny ging der gleichen Beschäftigung nach wie er. Auch sie sprach mit den Gästen, nahm Glückwünsche und Geschenke entgegen und plauderte über alte Zeiten oder die Zukunftspläne. So viele Gesichter. So viele Freunde. Als Ginny sich bei Hannah und Justin bedankte und sich umdrehte, stand sie völlig unerwartet bei Pansy Parkinson, die sich zusammenriss und ihr höflich die Hand entgegenstreckte. Man war sich früher spinnefeind gewesen. ‚Früher!‘, betonte Ginny in Gedanken.

„Ich wünsche alles Gute für die Zukunft, Mrs. Potter.“
Aufgrund der ungewohnt formellen Anrede war Ginny perplex, schüttelte dennoch die Hand. „Danke.“ Sie konnte es nicht zurückhalten. „Wir hatten in der Schule nicht gerade viel gemeinsam.“
„Nein, das ist wahr“, gab Pansy beschämt zu, als sie sich ihr damaliges, verzogenes Ich vor Augen hielt, aber Zeiten ändern sich – und manche Menschen auch. „Vielen Dank für die Einladung.“
„Gern geschehen. Vielleicht könnten wir später mal …“
Ginny wurde unterbrochen, als ein kleines Mädchen hinter Blaise auftauchte und sie mit großen Augen musterte. „Ein schönes Kleid!“, sagte die Kleine, griff daraufhin nach dem feinen Stoff. „Wie eine Prinzessin.“
Pansy klärte Ginny auf. „Das ist unsere Tochter, Berenice.“

Bei dem Wort unsere blickte Ginny auf, denn Pansy deutete auf jemanden – Blaise. Gleich neben ihm stand ein überraschend schlanker Gregory Goyle, der nicht so recht wusste, wie er auf die Begegnung mit der Braut reagieren sollte. Er machte es Blaise nach und gratulierte persönlich.

Irgendwie kam es dazu, dass Ginny und Gregory ein Gespräch begannen. Vielleicht war Pansys neugierig machender Hinweis, dass die beiden etwas gemeinsam hätten, der ausschlaggebende Punkt gewesen. Es war eine Gemeinsamkeit gemeint, die sofort Sympathie für den jeweils anderen aufkommen ließ, denn sie hieß Hopkins. Ginny setzte sich neben Gregory und ging auf Tuchfühlung. Man kannte sich nicht, konnte sich nicht einschätzen. Nur die alte Abneigung aus Schultagen war präsent und wollte überwunden werden.

„Was ist eigentlich mit Vincent?“, wollte sie wissen. „Ihr wart in der Schule wie Brüder.“
„Ich weiß nicht, wo er abgeblieben ist. Ich habe das Gefühl, er ist“, er wurde leiser, „tot.“
„Oh“, machte Ginny erstaunt. Das Eis war schnell gebrochen, als sie bemerkte, wie Berenice mit Gregory umging – und wie munter der ehemalige Schüler mit dem sichtbar geschundenen Körper auf das Mädchen reagierte. Ein Thema führte zum anderen.

Harry ließ es sich nicht nehmen, Nicholas hin und wieder in der Spiel-Zone zu besuchen und ihm dabei zuzusehen, wie er mit anderen Kindern Freundschaften schloss oder auch, wie er sich über die vielen, schönen Dinge freute. Der Kleine liebte das Karussell. Und er mochte Charles, mit dem er momentan zusammen im Sandkasten friedlich Löcher grub und Formen auffüllte. Auch andere Eltern kamen hierher, um sich auf den Bänken zu entspannen oder aber zu mit wachem Auge zu überblicken, wie gut auf die Kinder aufgepasst wurde. Betreuer gab es an jeder Ecke, also konnte man sich getrost zurücklehnen und den Nachwuchs beim unbekümmerten Spiel beobachten. Genau das tat Harry gerade. Der kurze Zank zwischen Charles und Nicholas – es ging um das große Sandförmchen – war schnell vergessen, als aus dem Nichts die beeindruckend große Schaufel auftauchte.

Nicht weit von Harry saß Lucius gedankenverloren auf einer der Bänke, die er aufgrund der Tatsache, wer er war, ganz für sich allein hatte. Nur kurz spielte Harry mit dem Gedanken, sich neben ihn zu setzen, nahm von dem Vorhaben jedoch Abstand, als er Narzissa bemerkte. Sie blickte sich um und schien ihren Gatten zu suchen, den sie schnell fand. Mit einem erleichterten Lächeln gesellte sie sich zu ihm. Das Gespräch konnte Harry nicht verfolgen, aber die Gestik und Mimik verriet ihm, dass nach einem kurzen Gruß und dem ersten Wortwechsel Anspannung herrschte. Lucius verzog das Gesicht, zeigte sich interesselos und schüttelte den Kopf. Etwas später stand Narzissa wieder auf. Aus ihrem Gesicht konnte er ablesen, dass sie nicht wütend war, dafür aber sehr traurig. Ein Blick zur Seite zeigte Lucius, wie die schlechte Laune ihn übermannte. Er schwang ein Bein über das andere und schaute mit verbissenem Gesichtsausdruck zu seinem Enkel. Ganz langsam lockerten sich seine Gesichtszüge wieder, wofür ganz deutlich der rotblonde Knabe verantwortlich war, der Nicholas gerade eben noch unbemerkt die Schaufel abgeluchst hatte. Draco schien Recht zu behalten, dachte sich Harry. Lucius Malfoy wollte sich mit aller Gewalt langweilen, obwohl es hier eine Menge Abwechslung für Erwachsene gab. Man konnte zum Beispiel Billard spielen. Harry wusste zwar noch nicht wo, aber die Möglichkeit war laut Molly vorhanden. Stattdessen saß Lucius hier draußen, getrennt von seiner Frau, die ihn bestimmt an ihrer Seite haben wollte. Das erinnerte Harry wiederum daran, wie gern er jetzt mit Ginny zusammen wäre.

Gemütlich schlenderte der Bräutigam zurück ins Schloss. Auf seinem Weg wurde er von Poppy mit einer Umarmung überrascht. Sein Verhältnis zu ihr war herzlich und auch ein wenig eigentümlich, weil sie ihn so oft wieder zusammengeflickt hatte. Patient und Heilerin, ein Herz und eine Seele. Drinnen bemerkte Harry seine Tante, die neben Seamus Eltern saß und sich einen Sherry nach dem anderen gönnte, so dass ihre Wangen schon so rötlich gefärbt waren wie das Getränk. Die älteren Gäste schienen verschwunden.

„Ron?“ Sein Freund drehte sich zu ihm. „Wo sind denn alle hin?“
„Die sind oben und lassen sich von der Kammermusik berieseln. Mum hat ein kleines Orchester organisiert hat.“
Molly war immer wieder für Überraschungen gut. „Wie kann ich das bei deiner Mutter nur wieder gutmachen?“
Ron lachte. „Sorge für mehr Enkelkinder.“
Mit breitem Grinsen kam Seamus auf die beiden zu und schlug Harry auf die Schulter. „Und? Bereit für ein Spiel? Wir wollten uns mal den Billardtisch vornehmen.“
Unsicher gab Harry zu: „Ich habe noch nie Billard gespielt.“
„Macht nichts.“ Seamus führte je eine Hand an Rons und Harrys Rücken, um den Weg zu weisen. „Dean und ich bringen es euch schon bei. Neville? Kommst du mit?“
Der Gerufene schaute zu Seamus, dann zu seinen Eltern und wollte schon verneinen, als seine Großmutter ihm versicherte: „Wir bringen die beiden“, ein Deut zu Sohn und Schwiegertochter folgte, „in den Ruheraum. Geht ihr zwei nur.“ Als Neville zögerte, scheuchte sie ihn mit einer Handbewegung weg, als wäre er eine lästige Fliege. Den Rest übernahm Luna, die Neville kurzerhand unterhakte und ihn mit sich zog.
Seamus überblickte die Runde. „Wir sind viel zu viele.“ Fred, Verity, George, Neville, Luna, Dean, Ron, Harry, Charlie, Angelina … „Viel zu viele.“
„Dann spielen wir eben abwechselnd“, schlug einer vor.
Von sich aus trat George freiwillig zurück. „Ich hab keine Lust auf Billard.“ Von Freds Überredungskünsten, die eine oder andere Frau anzusprechen, hatte er für heute genug. Er ahnte, dass sein Zwillingsbruder auch während des Spiels nicht damit aufhören würde, auch wenn es nur eine brüderliche Neckerei darstellte.
„Ja“, stimmte Fred zu, „schau dich noch ein wenig um.“
George verdrehte seine Augen und als die sich wieder scharf stellten, erblickte er Gabrielle, die ebenfalls mit den Augen rollte, als ihre Schwester ihr irgendwas ins Ohr flüsterte. „Ich werde mir schon die Zeit vertreiben“, versprach er, wandte seinen Blick jedoch nicht von der Französin ab.
Auf dem Weg zum Billardzimmer meinte Ron zu Harry: „Mensch, deine Tante pichelt ja ganz schön.“
Harry grinste. „Sie trinkt gegen die Angst an. Mal sehen, wer gewinnt.“
Die Meute folgte Seamus, der vorhin vom Schlossbesitzer die Erklärung bekommen hatte, wo sich entsprechendes Spielzimmer befinden würde. „Ich glaube“, er blieb an einer Tür stehen, „hier muss es sein.“

Ohne zu klopften riss Ron die Tür auf. Die nicht gerade leise Menschenmenge folgte ihm ins Zimmer. Jeder sah noch, wie jemand von der Couch aufsprang. Der dunkel gekleidete Herr blickte sie durch verengte Augenlider an und forderte sie auf diese Weise zum Gehen auf. Die DA-Mitglieder, die mehr als nur einmal dem Tode ins Auge blicken mussten und die Kämpfe miterleben mussten, bei deren Erzählung sich anderen Menschen der Magen umdrehte, waren durch den Blick der Person zur Salzsäule erstarrt. Die plötzliche Stille der Freunde war schnell erklärt.

Ron traute seinen Augen kaum. „Hermine!“ Sie saß auf der Couch und schaute mit sanftem Lächeln über ihre Schulter. Der Herr im Raum war Snape, der seine ehemaligen Schüler für das unhöfliche Benehmen verdammte. Ron nahm die Szenerie in sich auf. „Ein Kaminzimmer!“ Nochmals schaute er zu ihr und legte scherzhaft all seine Enttäuschung in die Stimme: „Hermine, wie kannst du nur?“
Sie grinste frech, erwiderte jedoch nichts. Stattdessen fragte Severus durch zusammengebissene Zähne: „Können wir Ihnen irgendwie behilflich sein?“
Irgendjemand hielt sein Lachen zurück, man hörte nur ein Schnaufen. Harry musste sich ebenfalls arg zusammenreißen, als er offenbarte: „Wir haben uns wohl in der Tür geirrt. Wir suchen das Spielzimmer.“
Mit einem Arm, der locker auf dem Rücken der Couch lag, deutete Hermine in eine Richtung. „Das ist ein Zimmer weiter.“
„Vielen Dank.“ Harry drehte sich um, aber er konnte das Kaminzimmer nicht verlassen, weil die anderen noch vor der Tür standen und teils mit Entsetzen in den Augen, teils aber auch nur amüsiert abwechselnd zu Snape und zu Hermine schauten. Die einen wussten ganz genau, was Sache war, die anderen waren mit dem Bild, das sich ihnen bot, vollkommen überfordert. Harry musste etwas unternehmen. „Können wir dann …?“ Wie vorhin schon Nevilles Großmutter machte diesmal Harry scheuchende Bewegungen mit den Händen – fast so, als wollte er Vieh von der Weide in den Stall treiben – oder wie in diesem Fall aus dem Stall hinaus. Hilfe erwartete Harry von weiter hinten. „Neville, könntest du …?“ Sein Freund trat aus dem Zimmer zurück in den Gang, nahm dabei Luna und Angelina mit, die er an der Armbeuge gepackt hatte. Das Gleiche tat er mit Verity und Dean. Allmählich leerte sich das Kaminzimmer wieder, so dass Harry einen letzten Gruß hineinwarf. „Treibt es nicht so doll“, flüsterte er mit einem Augenzwinkern, bevor er die Tür schloss.

Severus‘ Augenbrauen schossen in die Höhe. „Wie soll ich denn das verstehen?“, fragte er die geschlossene Tür, die natürlich keine Antwort gab.
„Komm schon, setz dich wieder.“ Hermine klopfte neben sich auf das Sitzpolster, strich gleich darauf mit einer Hand darüber und drückte die Sitzfläche ein wenig ein.
„Was tust du da?“, wollte Severus wissen, dem ihre merkwürdige Bewegung nicht entgangen war.
In ihren Augen funkelte Häme. „Es sah aus, als hätte dich eine Sprungfeder von der Couch katapultiert.“ Beleidigt presste er die Lippen zusammen, so dass sie lachen musste. „War doch nur Spaß. Komm, setzt dich wieder neben mich.“ Kaum kam er ihrer Aufforderung nach, lag ihre Hand auch schon auf der gleichen Stelle wie vorhin – auf seinem Oberschenkel, gleich über dem Knie.
„Du hast Harry gehört“, erinnerte er sie mit ernster Miene, „wir sollen es nicht so doll treiben.“
„Ja“, stimmte sie zu, „fragt sich nur, was er mit es gemeint hat.“

Ihre Hand knetete seinen Schenkel und machte kurz halt, um ihn mit den Fingern zu kraulen als säße dort ihr Kater. Fasziniert schaute er dabei zu, während die eigenen Finger sich nervös ineinander verhakten. In einer Notsituation würde er sie nicht so schnell wieder auseinander bekommen, um den Zauberstab zu ziehen. Hermine machte nichts anderes als Kraulen und Streicheln und das an einer Körperstelle, die er normalerweise nicht als eine sexuell erregbare Zone bezeichnen würde. Es war verdammt nochmal nur ein Knie, ging es ihm durch den Kopf. Berührungen dieser Art waren ihm zwar nicht fremd, aber auch nicht unbedingt vertraut. Linda hatte nie sein Knie liebkost. Seine eigene Reaktion auf Hermines Tätscheln war ihm absolut fremd. Ein Kribbeln breitete sich im eroberten Knie aus und bombardierte von dort aus sogar seinen Magen. Es breitete sich aus, und er konnte nichts anderes tun, als seiner eigenen, mittlerweile schwer gewordenen Atmung zu lauschen. Hörte sie es auch? Die Atmung gehörte zu den Aufgaben, die der Körper eines gesunden Menschen von allein bewerkstelligen konnte. Möglicherweise war er nicht ganz bei Kräften, wenn er seine Lungen bewusst zum Durchatmen zwingen musste. Schwere Atmung konnte zudem auf ein Lungenleiden hinweisen. Im ungünstigsten Fall könnte so eine Erkrankung tödlich verlaufen, rief sich Severus ins Gedächtnis, als er tief einatmete und dabei feststellte, dass seine Respiration zudem hörbar unregelmäßig war. Schwer und unregelmäßig, wie man es von einem Sterbenden kannte, der an Schwelle des Todes stand. Es hatte aber auch große Ähnlichkeit mit der Atmung einer Person, die nach dem Ableben fest mit der Wiederauferstehung rechnen durfte. Hitze konnte verbrennen und gleichermaßen beleben.

Seine zittrige Hand legte sich auf ihre, womit er all die angenehmen Bewegungen stoppte, bevor ihm seine Reaktion darauf noch unangenehm werden würde. Sie sagte nichts, blickte ihn nicht einmal an. Einzig ihre Hand kommunizierte mit ihm und legte sich in seine. Mit Staunen stellte er fest, dass es nicht ausschließlich das eigene Pendant sein musste, das wunderbar in seine Handfläche passte. Als seine Sinne wieder klarer wurden, der Kopf kühler, da hörte er es plötzlich. Beim Luftholen strengte sie sich genauso an wie er, atmete ebenso zittrig ein und aus. Es war erleichternd zu wissen, dass es nicht nur ihm so erging. Die Heiltränke waren nicht schuld an dieser Reaktion, die er als heftig bezeichnen wollte. Vorsichtig befühlte er ihre gelockerte Hand, als wäre sie eine außergewöhnlich kostspielige Skulptur, deren vollendete Form mit ihren weichen Rundungen … Bei Merlin, sein Atemproblem kam unerwartet zurück.

Ihr lauschiges Plätzchen wollte Hermine nicht so schnell verlassen, doch ihre Neugierde vereitelte das Vorhaben. Ihr Blick fiel auf ein altes Grammofon.

„Sieh mal, wir könnten doch ein wenig Musik machen, wenn wir den Kamin schon nicht nutzen können.“
„Ach, ich weiß nicht …“
Sie war längst aufgesprungen und zog den Widerspenstigen hinter sich her. „Muss man hier irgendwo kurbeln?“ Das Gerät sah wie jenes Folterinstrument aus, mit dem jeder Schüler Hogwarts‘ mindestens einmal im Leben gequält wurde. ‚Die Hand an die Hüfte‘, hallte es in Hermines Kleinhirn wider. Sie musterte das Gerät. „Das Ding funktioniert anders als mein alter Plattenspieler.“
„Man muss es hier aufziehen. Es läuft mit Uhrwerk. Bloß nicht überdrehen.“ Severus fasste das Gerät mit seinen noch immer zitternden Fingern nicht an, als er ihr die Funktion erklärte. „Und wenn die Platte auf dem Teller liegt, wird die Nadel aufgesetzt und dieser Hebel hier zurückgeschoben.“
„Ob die Platten im Schrank sind?“ Kurzerhand öffnete sie besagtes Möbelstück, auf dem das Grammofon stand.
„Hermine, wir sollte nicht einfach in Schränken wühlen.“
Sie überhörte seinen Einwand absichtlich. „Hier sind die Platten! Lass uns mal schauen.“ Hermine war in die Knie gegangen und zog ein paar der viereckigen Hüllen heraus. Severus kniete sich neben sie und schaute dabei zu, wie sie in den Titeln blätterte. „Ist wohl alles Klassik“, murmelte sie enttäuscht.
„Nach was suchst du denn?“
„Ach, nichts Bestimmtes. Was hörst du gern? Ich habe noch nie mitbekommen, dass du Musik hörst.“
„Klassik ist“, er zögerte einen Moment, „nett. Diese Musikrichtung bevorzuge ich nicht unbedingt, aber es gibt ein paar annehmbare Stücke, die selbst ich hören kann.“ Nun blätterte auch er in der kleinen Sammlung. Als er fündig wurde, zog er eine bestimmte Platte heraus, die er ihr mit frechem Schmunzeln zeigte. „Hier, das wird dir gefallen.“ Sie las den Titel Karneval der Tiere. „Da kommen Schwäne drin vor.“
Sie gab sich viel Mühe, ihn böse anzuschauen, doch seine sichtbare Schadenfreude ließ sie über die Anspielung hinwegsehen. Ihre Augen strahlen eine angenehme Wärme aus, als sie ablehnte. „Sehr aufmerksam, aber nein, danke! Ich habe seit heute ein gestörtes Verhältnis zu diese Vögeln.“

Die Tür zum Kaminzimmer öffnete und schloss sich. Wieder! Hermine und Severus blickten zeitgleich über die Schulter, so dass sich ihre Köpfe fast berührten. Eingetreten waren Remus und Tonks, die sich in dem Zimmer fälschlicherweise ungestört fühlten, weil sie auf der Couch niemanden sahen. Die Ecke mit dem Grammofon blieb völlig unbeachtet. Nach dieser Fehleinschätzung begannen die beiden, sich Liebeleien ins Ohr zu flüstern. Die Worte wurden mit sanften Berührungen an Arm und Wange untermauert. Ein Kuss auf die Halsbeuge folgte.

Severus flüsterte ebenfalls, als er sich Hermines Ohr näherte und sagte: „Wir sollten unsere Anwesenheit kundtun.“ Sie grinste und schüttelte den Kopf, hatte den Blick dabei starr auf die Turteltäubchen gerichtet. Tonks fiel Remus um den Hals, schmiegte sich an ihn. Sie tuschelten, kicherten, küssten sich. Entsetzt beobachtete Severus, wie Remus damit begann, mit einer Hand den Rock der Dame langsam zu lüften. Ein Räuspern seinerseits ließ die beiden auf der Stelle einen Meter auseinander springen.

„Huch“, machte Remus ganz außer Atem. „Wir haben euch gar nicht gesehen.“
„Das glaube ich gern“, bestätigte Severus mit ernster Miene. Hermine konnte nur lächeln. Sie war so amüsiert, dass sie kein Wort herausbrachte.
Auf der Stelle nahmen Tonks‘ Haare die gleiche Farbe an wie die ihres verschmierten Lippenstifts. „Ich“, sie kam ins Stottern, „ich werde … Ich muss mal dringend wohin.“
„Warte doch!“ Remus wurde nicht mehr gehört, denn Tonks war im Nu aus dem Raum geflüchtet. „Tja“, kommentierte der Alleingelassene den Ausbruch seiner Verlobten aus dieser unangenehmen Situation, der er sich stellen wollte. Verspielt schlug sich Remus seitlich an die Hüften, knabberte dabei an seiner Oberlippe und versuchte, so unschuldig wie nur möglich dreinzublicken.
Ignoranz war etwas, das Severus außerordentlich gut beherrschte. Mit keiner Silbe ging er auf die vorangegangene Situation ein, als er empfahl: „Nebenan wird Billard gespielt, falls du Interesse hast.“
„Nein“, Remus schüttelte zusätzlich den Kopf. „Ich kann nicht spielen.“
Aus besagtem Raum nebenan hörte man klackende Geräusche, die entstanden, wenn die weiße Kugel auf die anderen traf. Ein gedämpftes Lachen war aus dem Nebenraum zu vernehmen. „Das können andere auch nicht“, versicherte Severus, „und sie tun es trotzdem.“
Das fünfte Rad am Wagen blickte sich im Kaminzimmer um, bevor es ihm dämmerte. „Oh, ich störe“, vermutete er laut.
„Bei was? Beim heimlichen Durchschauen der Plattensammlung des Schlossherrn?“, spottete Severus, der sich gleich darauf erhob. Seine Kniescheibe krachte und er stöhnte kurz auf. Wenig galant schüttelte er das Bein wie ein Hund aus, der gerade sein kleines Geschäft verrichtet hatte. Langsam näherte er sich dem Freund mit dem hochroten Kopf. „Das vorhin mit Black …“ Severus druckste herum. Entschuldigungen würden ihm selbst mit vollständiger Seele nicht liegen. „Den Vorfall bedaure ich. Ich stehe heute an einer extrem niedrigen Frustrationstoleranzschwelle.“
„An einer was?“ In Gedanken wiederholte Remus das Gesagte und lachte. „Das ist gut, das merke ich mir.“ Ein Blick zu Hermine, deren Gesicht von dem Hauch eines zufriedenen Lächelns geziert wurde, ließ Remus den Rückzug antreten. „Ich glaube, ich gehe mit Tonks mal zum See.“
„Achtung!“, warnte Severus. „Bissige Schwäne.“
„Tatsächlich? Na ja, so nahe heran wollten wir nicht gehen. Außerdem beginnt bald der Tanz. Ginny möchte mit dem …“ Er überlegte. „Sagt man dazu ‚Schleiertanz‘? Ich meine diese Tradition, wenn das Brautpaar unter dem Schleier tanzt und sich am Ende die ganzen ledigen Damen wie eine Horde wildgewordener Raubtiere“, er grinste, „auf das arme Stückchen Tüll stürzen, um es in tausend Stücke zu reißen.“
Hermine nickte. „Die Dame mit dem größten Stück vom Schleier ist als Nächste dran.“
„Wieso?“, fragte Severus nach. „Wird sie dann von den übrig gebliebenen Damen zerfleischt?“
„Nein“, brachte Hermine nur lachend hervor. „Sie ist nach einem Aberglauben die nächste Braut.“
„Was ist dann mit dem Brautstrauß?“, wollte er ernsthaft wissen. „Ich dachte, diese Tradition würde bedeuten, man, beziehungsweise frau wäre als Nächste dran.“ Vorgetäuscht irritiert schüttelte er den Kopf. „Warum gibt es solche Traditionen eigentlich nicht auf Begräbnisfeiern? Derjenige, der die erste Blume ins Grab wirft und auch noch trifft, der ist als Nächstes dran.“
„Das ist geschmacklos“, warf Hermine enttäuscht ein.
„Es ist genauso geschmacklos, sein Schicksal auf Biegen und Brechen ändern zu wollen, nur weil man durch einen dummen Zufall ein großes Stück erhascht. Was hat ein Teil des Brautschleiers mit der eigenen Vermählung zu tun? Oder ein Strauß, den man vollkommen arbiträr fängt?“ Aus unerfindlichen Gründen verschlechterte sich Severus‘ Laune auf einen Schlag. „Was ist mir dir, Remus? Deine Verlobte hat den letzten Strauß gefangen, aber nicht sie stand heute vor dem Altar, sondern Harry und …“
„Severus, ein bisschen Feingefühl wäre …“
Hermines gut gemeinten Rat schlug er in den Wind. „Ist dir das Thema unangenehm?“, wollte Severus von ihr wissen. Er wandte sich an Remus. „Oder etwa dir?“
Mit ernstem Gesichtsausdruck schüttelte Remus den Kopf. „Es sind nur Gepflogenheiten“, erklärte er monoton, „die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Ich kenne niemand, der an diese Bräuche wirklich glaubt, aber sie bringen Spaß und“, Remus nickte sich selbst zu, „manchmal auch Hoffnung.“
„Hoffnung?“, wiederholte Severus verdutzt. „Ein Blumenstrauß soll Hoffnung bringen?“
„Es ist nicht einfach zu erklären.“ Remus schloss die Augen und atmete ruhig aus, als wollte er sich zurückhalten. „Für manche Menschen bedeuten solche Sitten überhaupt nichts“, er blickte demonstrativ zu Severus, „für andere wiederum“, Remus legte eine Hand aufs Herz, „stehen sie symbolisch für … Ach, was soll ich mich hier erklären?“ Mit einem Male war Remus wieder gut gelaunt. „Du findest es albern, mir bedeutet es etwas. Darüber muss man nicht streiten.“ Sein flüchtiger Blick zur Tür kündigte seinen Aufbruch an. „Ich werde Tonks zu den Schwänen begleiten.“

Wortlos sah Hermine dabei zu, wie Remus den Raum verließ. Er hatte die Nerven behalten, auch wenn das Thema, vor allem aber Severus‘ unsensible Art an ihm zehrte. Severus war gerade dabei, den Plattenschrank zu schließen. Er zeigte sich von der kühlen Seite, doch an seiner Körpersprache erkannte Hermine eine leichte Unsicherheit.

„Darf ich fragen“, begann sie mit sanfter Stimme, „was in dich gefahren ist?“
„Ich wüsste nicht, dass ich mir etwas zu Schulden kommen ließ.“ Severus stand wieder auf und verweilte stocksteif an gleicher Stelle. „Es war eine harmlose Diskussion über den Sinn und Unsinn von Hochzeitsbräuchen.“
„Wenn du es so siehst …“ Wozu die eigene Enttäuschung zurückhalten, dachte sie. Wie vermutete hatte er ihre Gefühle wahrgenommen.
„Siehst du es nicht so?“, wollte er allen Ernstes wissen. „Roll nicht den Augen, wenn ich mit dir rede“, mahnte er gleich im Anschluss hörbar beleidigt.
„Möchtest du gehen, Severus?“ Ihre Frage kam unerwartet, so dass ihm die Worte fehlten. „Wir könnten apparieren. Die anderen, die mit uns mit dem Portschlüssel hergekommen sind, bleiben über Nacht im Schloss. Uns hält hier nichts. Du musst es nur sagen.“
„Ich ...“ Er war noch immer um Worte verlegen. Was für eine Blamage.
Für sie war die Sache bereits erledigt. „Ich möchte mich nur noch von Harry und Ginny verabschieden. Treffen wir uns in einer Viertelstunde am Pavillon?“
„Du meinst es ernst“, stellte er das Offenkundige fest.
„Glaubst du, ich habe Spaß dabei, wenn du dich zu Tode langweilst?“
„Ich langweile mich nicht!“ Bei seiner Aussage fehlte es nur noch, dachte Hermine, dass er mit dem Fuß stampfte. Severus atmete einmal tief durch. Ihr könnte er sich anvertrauen. „Ich ertrage es nur nicht, dass er um mich herumtigert und ich keine Ahnung habe, wann er zuschlagen wird.“
Im ersten Moment war Hermine ratlos, doch dann beschlich sie eine Ahnung. „Ich glaube nicht, dass Sirius dir heute irgendwas …“
„Wer spricht denn von diesem Idioten?“, unterbrach er aufgebracht. „Ich meine Albus!“
Hermine fiel aus allen Wolken, nur auf der siebten fand sie Halt. „Das ist es? Du glaubst, er wartet einen Moment ab, damit er dich kalt erwischt? Meinst du allen Ernstes, das würde er tun?“
„Ich weiß es nicht und genau das ist das Schlimme. Ich kann ihn nicht einschätzen und das macht mir zu schaffen.“ Jetzt tigerte er, und zwar vom Plattenschrank zum Kamin hinüber. „Wenn ich ihm heute begegnet bin, hat er mich angeschaut. Fast so, als wollte er mir mitteilen, dass ich auch noch an die Reihe komme.“
„Vielleicht befürchtest du das aber auch nur. Albus würde dich nicht in eine unangenehme Situation bringen.“
„Stimmt, das liegt voll und ganz im Wirkungsbereich von Black.“

Aus dem Spielzimmer hörte man die aufeinander treffenden Billardkugeln, gefolgt von lautem Lachen und Applaus. Nebenan hatte man Spaß, doch hier im Kaminzimmer, welches traditionell gern genutzt wurde, um einer Dame den Hof zu machen, herrschte getrübte Stimmung. Schuld daran war Severus. Er fühlte es bis in die Haarspitzen, dass er heute seinem Ruf als Stimmungstöter mehr als nur gerecht wurde. Schmerzlich wurde er sich darüber klar, dass er auch Hermines gute Laune verdorben hatte. Ablenkung musste her.

„Hast du schon die Animagusform von Mr. Malfoy senior herausbekommen?“
Mit einer Antwort zögerte sie so lange, bis er sie ansah, doch selbst da rang sie nach Worten, weil sich nicht die richtigen finden wollten. Endlich hatte sie sich gefangen. Trübselig erwiderte sie: „Es ist doch nicht wichtig.“ Ein Seufzer folgte. „Ich möchte dich nicht zu etwas überreden, was du nicht möchtest.“
„Was ich nicht möchte? Bitte klär mich auf.“
„Ich weiß, warum ich …“ So eine Aufgabe lösen soll.
Der Rest des Satzes erstarb in ihrem Hals, als die Tür abermals aufgestoßen wurde. Draco und Susan traten ein, blieben aber an der Schwelle stehen. „Wir bitten um Entschuldigung“, sagte Draco höflich. „Wir wollten nur ein wenig Ruhe vor dem Tanz haben. Wir stören euch nicht weiter.“
„Nicht notwendig.“ Im Nu war Severus an der Tür. „Wir wollten uns sowieso gerade ein wenig die Beine vertreten.“ Er wandte sich Hermine zu und hielt ihr den Arm entgegen. „Hermine?“

Mit Kusshand nahm sie, was er zu geben bereit war, auch wenn das nur ein Arm sein sollte. Den packte sie dafür gleich mit beiden Händen. Im Gang nahmen sie eine Richtung, die zu einer der vielen Terrassen führte. Allein waren sie dort nicht. Remus, der eigentlich mit Tonks die Schwäne betrachten wollte, stand an der Balustrade und überblickte das Reich der Vögel.

Leise, nur damit Hermine es hören konnte, sagte Severus reumütig: „Ich werde mich wohl ein zweites Mal am heutigen Tag entschuldigen müssen. Mein persönlicher Rekord.“
Sie schmunzelte. „Er ist dir bestimmt nicht böse.“
Aufmerksam betrachtete Severus den Mann, den er einen Freund nennen konnte. Remus‘ Körperhaltung sprach für sich selbst. Er war bedrückt. „Es sieht aber so aus. Kommst du mit?“

Sie nickte und folgte ihm. Hermine würde es nicht wagen, sich in das Gespräch einzumischen, aber zuhören wollte sie durchaus.

„Remus?“
Der Angesprochene fuhr unmerklich zusammen, weil er nicht mit anderen Menschen gerechnet hatte. Verbissen setzte Severus gerade zu einer Entschuldigung an, da machte ihm Remus einen Strich durch die Rechnung und fragte: „Weißt du etwas davon, dass Hagrid im kommenden Schuljahr wieder als Lehrer für Pflege magischer Geschöpfe mit an Bord ist?“
„Hagrid?“ Die Nachricht war selbst Severus neu. „Wer hat das behauptet?“
„Hagrid selbst. Er hat es von Albus erfahren.“ Geknickt schaute Remus über die Brüstung.
Das war der Grund, dachte Severus, warum Remus so niedergeschlagen war. „Und was wird mit dir?“
Bedächtig hob und senkte Remus die Schultern. „Keine Ahnung. Offiziell weiß ich davon gar nichts.“
„Das kann er doch nicht machen!“, regte sich Severus auf. „Du hast ein Recht zu erfahren, ob du dir eine neue Beschäftigung suchen musst.“
„Ich werde abwarten. Vielleicht hat Hagrid auch nur etwas in den falschen Hals bekommen, obwohl ich das nicht glauben kann. Er klang sehr überzeugt, freute sich richtig, dass er doch noch einmal als Lehrer einspringen darf.“ Remus holte tief Luft, die ihm mit einem Seufzer wieder entwich. „Heute mache ich mir keine Gedanken darüber. Heute wird gefeiert.“
Hermine sah keinen Grund, sich weiterhin in Zurückhaltung zu üben und empfahl: „Sprich doch mal mit Albus.“
„Ach“, winkte Remus ab, „doch nicht heute. Ein geschäftliches Gespräch kann bis Montag warten.“ Remus war ein Stehaufmännchen. Anscheinend gab es nichts, das ihn komplett desillusionieren könnte. Selbstbewusst streckte er den Rücken, schaute Severus mit einem Lächeln auf den Lippen in die Augen. „Und du, Severus? Gibst du am Mittwoch eine Abschiedsfeier fürs Kollegium?“
„Ich werde mich hüten! Wie ich Sibyll kenne, würde sie sich dazu herablassen, mir vor allen anderen die Zukunft vorherzusagen. Außerdem würde ich ein Gespräch mit Albus garantiert nicht überleben.“
Remus blinzelte, das Lächeln war eingefroren. „Wie soll ich das verstehen?“ Er war sich nicht sicher, ob Severus den eigenen Gesundheitszustand meinte.
„Das erkläre ich gern. Ich würde an Überzuckerung zu Grunde gehen.“
„Oh, dann werde ich mein Geschenk lieber zurückhalten“, scherzte Remus.
Severus ahnte, dass sein Kollege wie üblich eine selbst kreierte Köstlichkeit aus Bitterschokolade in petto hielt. „Deines nehme ich gern an, solange ich nicht gezwungen werde, es auf der Stelle zu verzehren.“
„Kann man dich überhaupt zu etwas zwingen?“, stellte Remus die rhetorische Frage.
„Ist Voldemort noch am Leben?“, entgegnete Severus gelassen. Die Antwort war klar.

Die ganze Zeit über war Hermine außergewöhnlich ruhig geblieben. Sie betrachtete die beiden Männer und zog Vergleiche zu damals. Während der Begegnung der beiden in der Heulenden Hütte hatte man gut sehen können, wie tief die gegenseitige Abneigung verwurzelt war. Die von Severus‘ hatte in erster Linie Sirius gegolten – und so war es noch immer. Als Kollegen waren Remus und Severus nur bedingt gut ausgekommen. Severus hatte ihm den Wolfsbanntrank gebraut und als Dankeschön war Remus immer höflich geblieben. Eines interessierte Hermine plötzlich brennend, so dass sie die beiden unterbrach und ihre Frage stellte.

„Wie war das eigentlich vor gut zehn Jahren, als ihr beide schon einmal Kollegen wart?“
Mit ihrer Frage erntete sie hochgezogene Augenbrauen und gerunzelte Stirnen. Remus wollte Klarheit und fragte nach: „Was genau meinst du?“
„Ich glaube“, warf Severus ein, „sie interessiert sich dafür, wie wir damals zueinander gestanden haben.“ Weil Hermine nickte, erklärte er: „Du als meine Schülerin hast es doch selbst erlebt, Hermine. Er bekam seinen Trank …“
„Und“, unterbrach Remus, „ein paar spitze Bemerkungen.“
„Ach, die waren doch nicht der Rede wert“, spielte Severus die Situation herunter, als hätte man ihm eben ein Kompliment gemacht. Remus amüsierte sich köstlich.

Während die Herren sich noch etwas unterhielten, erspähte Hermine eine ganze bestimmte Person, die gerade die Terrasse betrat. Minerva.

„Entschuldigt mich bitte kurz“, sagte sie, doch ihre Worte blieben wegen Remus‘ herzlichem Gelächter ungehört. Im Nu war Hermine hinüber zu ihrer alten Lehrerin für Verwandlung gegangen.
„Hermine.“ Minerva nickte ihr grüßend zu.
Seit ihrer Ausbildung bei Severus nannte sie alle Lehrer mit Vornamen, doch durfte sie das jetzt noch immer? „Guten Tag, Minerva.“ Die betagte Lehrerin lächelte wohlwollend. Die Anrede war gebilligt. „Ich habe eine Frage und hoffe sehr, dass Sie mir weiterhelfen können“, brachte Hermine es sofort auf den Punkt.
„Ich werde mein Bestes geben. Fragen Sie, Hermine!“
„Sie kennen die Animagusgestalt von Mr. Malfoy senior.“ Die Tatsache wollte Hermine als Erstes bestätigt haben, und den Gefallen tat Minerva ihr, denn sie nickte. Mit einem Hundeblick, der selbst Severus erweichen würde, stellte Hermine die nächste Frage. „Welche ist es?“
Minerva atmete tief durch. Das Lächeln trübte sich, weil sie die Antwort nicht geben durfte. „Es tut mir sehr leid, aber ich bin gesetzlich an eine Schweigepflicht gebunden.“ Geknickt betrachtete Hermine den steinernen Boden. Sie hatte sich Ähnliches gedacht. Minerva versuchte sich zu erklären. „Wenn ich bei den Schülern entsprechende Beobachtungen mache, dann fördere ich sie. Am Ende zählt es zu meiner Aufgabe, die Schüler offiziell beim Ministerium registrieren zu lassen. Eine Tätigkeit, die ich freiwillig übernommen habe.“
„Haben Sie wenigstens einen Tipp für mich?“
Minerva musterte Hermines Gesicht. Sie suchte in den flehenden Augen nach einer Erklärung für das ungewöhnliche Interesse und schien eine gefunden zu haben. „Das Fell ist meistens weiß, je nach Jahreszeit.“ Der Begriff Fell war neu, registrierte Hermine ermutigt. „Das Tier ist ein Überlebenskünstler“, fuhr Minerva fort, „aber das hielt einige reiche Damen dennoch nicht davon ab, ihn um den Hals zu tragen.“ Ein freches Augenzwinkern der sonst so ernsten Lehrerin brachte Hermine zum Grinsen.
Gerade wollte sich Hermine bedanken, da trat noch jemand durch die Tür auf die Terrasse. Es war Albus. „Oh, Guten Tag, Hermine.“

Während sie zurückgrüßte, bemerkte sie, dass der Direktor die beiden Herren weiter vorn auf der Terrasse nicht aus den Augen ließ. Den Blick deutete sie jedoch anders als Severus. Während er der Meinung war, Albus würde wie ein Raubtier um ihn herumschleichen, bevor er angreifen wollte, erkannte Hermine die Sorge und Achtsamkeit in den herzlichen, blauen Augen. Albus wandte sich an seine Frau.

„Minerva, lass uns wieder hineingehen.“
„Du wolltest doch herkommen. Ich frage mich sowieso, was du an einem so abgelegenen Ort …“
Albus ergriff ihren Arm und legte ihn um seinen. „Dann stürzen wir beide uns eben ins Leben. Der Tanz beginnt jede Minute.“
„Möchtest du wirklich mit mir …?“ Ergriffen legte Minerva eine Hand aufs Herz.
„Natürlich möchte ich, meine Gute.“
„Dann gehen wir.“ Sie schaute Hermine an. „Ich hoffe, ich konnte helfen.“
„Ja, das konnten Sie. Vielen Dank und vor allem viel Spaß“, wünschte sie dem Ehepaar.
Albus schob seine Halbmondbrille gerade. „Genau dasselbe wollte ich Ihnen auch gerade wünschen, Hermine.“

Severus, soviel stand für Hermine fest, hatte sich in Albus geirrt. Albus lauerte ihm nicht auf – im Gegenteil. Er ging Severus aus dem Weg. Das hatte sich Hermine beinahe schon gedacht.

„Weißes Fell, von reichen Frauen getragen“, murmelte sie zu sich selbst, als sie allein an der Terrassentür stand und grübelte. Remus und Severus plauderten noch immer miteinander, schienen ihre Abwesenheit nicht einmal bemerkt zu haben. Wichtig war nur, dass Severus jetzt nicht allein war. Ein Freund war bei ihm. Sie nahm sich vor, dem Schlossherrn eine wahrscheinlich außergewöhnliche Frage zu stellen, aber der Mann musste zunächst gefunden werden. Richard Van Tessel hielt sich immer in der Nähe von Molly auf und die war mit Sicherheit so kurz vor Beginn schon in dem Raum, in welchem getanzt werden würde.

Der Ballsaal.

Kaum hatte Hermine ihn betreten, wurden ihre Sinne beim Anblick der wunderschönen Raumarchitektur vollkommen benebelt. Die cremefarbenen Wände mit ihrer kunstvollen Ornamentik strahlen eine träumerische Wärme aus. Auf den spiralartigen Säulen an den Wänden saßen marmorne Engelskinder, die unbeweglich das Treiben der Menschen verfolgten. Wie von selbst wanderte Hermines Blick zur Decke, die sich ihr mit den ganzen Mustern und Verzierungen in aller Pracht offenbarte. Um nicht zu fallen, blieb Hermine lieber stehen. Ein glanzvoller Kronleuchter machte den Mittelpunkt der abgerundeten Zimmerdecke aus. Er war gestaltet wie ein Baum. Die symmetrisch geordnete Wurzeln und Äste hielten unzählige Kerzen, deren entzündetes Licht diesen Teil des Schlosses in einen Ort verwandelte, den man nur aus Märchen kannte. Genauso fühlte sich Hermine – wie in einem Märchen. Der Ballsaal war weiträumiger als die Große Halle in Hogwarts, die Decke viel höher. Hinten bei den drei hohen Fenstern mit ihren Rundbögen stand der gesuchte Herr. Hermine ging, sofern ihre wund gelaufenen Hacken es zuließen, so schnell wie möglich zu ihm.

„Mr. Van Tessel?“ Der junge Mann, der in diesem Schloss aufgewachsen war und mit seinem adonischen Aussehen für die Rolle des Märchenprinzen perfekt schien, schenkte ihr sofort seine Aufmerksamkeit.
„Wie kann ich Ihnen weiterhelfen, meine Dame?“ Van Tessel hatte soeben Lockhart von Platz 1 gestoßen, denn charmanter als er konnte Hermines Meinung nach niemand lächeln.
„Ich frage mich, ob es hier eine Bibliothek gibt.“
Der Schlossherr war einen kurzen Augenblick still, bevor er die unerwartete Frage beantwortete: „Es gibt eine überwältigende Bibliothek hier, Werteste. Entschuldigen Sie, dass mich Ihre Frage im ersten Moment so erstaunt hat. Noch nie hat ein Besucher nach der Bibliothek gefragt.“
Eine Stimme im Hintergrund beteuerte: „Daran müssen Sie sich bei ihr gewöhnen. Das macht sie andauernd.“ Hermine drehte sich um und erblickte George, der sich nicht einmal die Mühe machte, sein Grinsen im Zaum zu halten. Er wandte sich jedoch gleich wieder der Dame an seiner Seite zu. Hermines Gehirn registrierte noch kurz das fröhliche Gesicht von Gabrielle, bevor Van Tessel sie wieder ansprach.
„Möchten Sie die Bibliothek jetzt gleich sehen?“
„Oh ja, das würde ich außerordentlich gern.“
„Dann bitte ich Sie, einen klitzekleinen Moment zu warten. Ich möchte Mrs. Weasley noch etwas sagen, dann bin ich sofort bei Ihnen.“

Während sie wartete, schaute sie abermals zu George hinüber. Es war tatsächlich Gabrielle, mit der er fantastisch auskam. Sie unterhielten sich prächtig. Die Sommersprossen in seinem Gesicht glühten. Der Ballsaal selbst war noch nicht gut besucht, bemerkte Hermine. Vereinzelt hielt sich hier ein Pärchen auf und … Hermine schaute nochmal genauer hin. George und Gabrielle hielten sich schüchtern an der Hand. Schnell schaute Hermine weg, damit man ihre offensichtliche Freude nicht sehen würde. Bei manchen Dingen musste man nicht nachhelfen. Fred würde das früh genug erfahren. Hermine wandte den Kopf zum Fenster und bemerkte das erste Mal den riesigen Rosengarten, den man von hier aus überblicken konnte. Die vielfarbigen Pflanzen standen in voller Blüte. Natürlich, dachte sie, es war Juni, die erste Blütezeit. Die gelben, weißen, pinken und selbstverständlich die großen, roten Blumen waren mindestens genauso schön anzusehen wie der Ballsaal, nur dass der Garten seine Pracht bei Tageslicht präsentierte, während der Ballsaal erst zum Abend hin seine Vollkommenheit offenbaren würde. Hermine schielte unauffällig zu George und Gabrielle hinüber, wurde dabei aber bemerkt. George zwinkerte Hermine zu, bevor er sich zu einem imaginären Twist gen Boden drehte, um zu zeigen, wie sehr er sich schon darauf freute, mit Gabrielle zusammen das Tanzbein zu schwingen. Ihre Sympathie hatten die beiden. Und auch ihren Neid. Hermine atmete tief durch und schauten nochmals hinaus in den wunderschönen Garten. Keine Menschenseele hatte sich dorthin verirrt. Die steinernen Bänke zwischen den roten Rosen waren verwaist, wurden höchstens von goldenen Vögeln besucht, die sich hier Zuhause fühlten. Hermines Herz wurde mit einem Male ganz schwer. Neid war besonders schwer zu ertragen, wenn man der Person, auf die man neidisch war, das Glück eigentlich gönnte.

„Mrs. …?“
Hermine drehte sich um und verbesserte harsch. „Miss!“ Van Tessel beugte unmerklich den Rücken nach hinten, um nichts von dem Gift abzubekommen, das sie versehentlich versprüht hatte. „Tut mir leid, das war nicht so gemeint. Ich war nur eben in Gedanken ...“ Nichts könnte das erklären, was sie momentan fühlte, also beließ sie es bei ihren Worten.
Van Tessel zeigte sich verständnisvoll. „Sie sollten sich schöne Gedanken machen, Miss …“
„Oh, Miss Granger“, vervollständigte sie schnell.
„Miss Granger, dann darf ich Sie zur Bibliothek geleiten?“ Wie Severus es vorhin getan hatte, hielt nun auch der Schlossherr ihr den Arm hin. Sie war froh, dass er ihr nicht böse war.

Es ging ein paar Stufen hinauf in den ersten Stock, dann in den zweiten. Abseits der Gästezimmer lag die Bibliothek. Die Zeit überbrückte Van Tessel mit einem Gespräch.

„Die Bibliothek ist eigentlich nicht für Gäste geöffnet. Es befinden sich einige äußerst zwielichtige Titel in der Sammlung meiner Vorfahren.“
Gelassen winkte Hermine ab. „Das stört mich nicht. Ich möchte eigentlich nur kurz in einem Buch aus dem Bereich der Tierkunde blättern.“
„Wenn es um Schnatzer geht, meine Gute, dann versichere ich Ihnen, dass Sie gerade mit einem lebendigen Fachbuch spazieren gehen“, scherzte der Schlossherr. „Über Schnatzer weiß ich alles, was in Büchern steht – und noch viel mehr.“
„Ich möchte Sie ungern enttäuschen, Mr. Van Tessel, aber es geht um ein anderes Tier.“
„Ach ja?“ Auf Schloss Schnatzer wurden zu 99 Prozent Fragen zu den goldenen Vögeln gestellt. „Und um welches Tier geht es?“
„Das versuche ich gerade herauszubekommen.“ Sie ließ sich von Van Tessel in einen Seitengang führen.
Seine nächste Frage stellte er nur zögerlich. „Wenn Sie gar nicht wissen, um welches Tier es sich handelt, warum wollen Sie dann …?“
„Jemand hat mich herausgefordert. Ich soll ein Rätsel lösen und werde es auch schaffen!“, beteuerte sie selbstbewusst.
„Dann haben Sie ein paar Hinweise?“ Weil sie nickte, hakte er nach. „Teilen Sie diese Hinweise mit mir?“
„Wenn Sie mir helfen möchten, bin ich Ihnen jetzt schon dankbar.“ Sie rief sich Dracos, Narzissa und Minervas Erklärungen ins Gedächtnis. „Es hat meistens ein weißes Fell, das hängt aber von der Jahreszeit ab. Ihren Nachwuchs bekommen sie zwischen Mai und Juni. Offensichtlich war oder ist das Fell bei der Bekleidungsindustrie begehrt.“ Van Tessel hörte aufmerksam zu, obwohl er an einer Tür längst Halt gemacht hatte. „Das Tier ist außerdem monogam.“
„Ah“, machte der Schlossherr, „so wie unsere Schwäne. Haben Sie die hübschen Tiere schon gesehen?“
„Ja“, erwiderte sie knapp. Mehr wollte sie dazu wirklich nicht sagen.
„Noch mehr Hinweise?“
„Die Tiere sind in unserer Gegend nicht heimisch. Sie sollen Überlebenskünstler sein und begleiten sogar gefährliche Tiere in der Hoffnung, etwas von deren Beute abzubekommen.“
„Mmmh“, machte Van Tessel. „Das alles ist nur bedingt hilfreich. Ich hoffe, Sie werden fündig.“

Van Tessel legte beide Hände auf die runden Knaufe der Flügeltür und öffnete sie. Der vertraute Duft von Leder und altem Papier wehte Hermine entgegen. Der Ballsaal hatte Hermine schon sehr beeindruckt, aber das war nichts im Vergleich zu dem, was Van Tessel ihr gestattete aufzusuchen. Eine dreistöckige Bibliothek eröffnete sich ihr – mit Bücherregalen, neben denen Hagrid wie ein Zwerg wirken würde. Er bat sie höflich hinein. Zunächst musste Hermine die Hände auf das dünne, gusseiserne Geländer legen. Sie blickte vom zweiten Stock hinunter in die unendlichen Weiten des Wissens.

„Entschuldigen Sie vielmals“, begann der Schlossherr, „wenn ich Sie erst nach oben geführt habe. Die Bibliothek ist von drei Etagen aus zu erreichen, aber ich wollte die anderen Türen nicht aufschließen, damit sich keiner der Gäste versehentlich hierher verirrt.“
„Das ist …“ Sie war hin und weg.
„Außerdem befinden sich hier im zweiten Stock die naturwissenschaftlichen Nachschlagewerke. Wie hätten also eh nach oben gemusst. Darf ich Sie führen?“
„Wahnsinn!“
Van Tessel lächelte. „Ich nehme das als Kompliment.“
„Wie bitte?“ Zum Glück konnte sie sich schnell wieder fangen. „Verzeihen Sie mir bitte. Ich bin jedesmal überwältigt, wenn ich so etwas“, sie deutete mit beiden Armen in den riesigen Raum hinein, „sehen darf.“
Van Tessel ging an einer der Wendeltreppen vorbei zu einem Regal, deutete ihr dabei, ihm zu folgen. „Nun, dieser Raum kann nicht mit der Russischen Nationalbibliothek in Sankt Petersburg mithalten, aber ich würde behaupten, bei den Privatsammlungen könnte sie unter die ersten drei Plätze kommen.“
„Das glaube ich ungeprüft.“ Während sie ihm folgte, huschte ihr Blick über die vielen Buchtitel. Sie unterdrückte den starken Wunsch, sich einen Band zu schnappen und ihn zu lesen.
„Hier“, er deutete auf eine bestimmte Region, „da sollten Sie etwas finden. Wenn Sie mir gestatten, suche ich schnell mit.“
„Schnell? Sie sind ja zuversichtlich.“
Van Tessel lächelte freundlich. „Während Sie in Tierlexika nachschlagen, nehme ich mir eine andere Richtung vor. Ich bin mal eben“, sein Zeigefinger deutete nach oben, „ein Stockwerk über Ihnen.“

Van Tessel ging an ihr vorbei zurück zur Wendeltreppe, die nur ganz wenig quietschte, als der schlanke Mann das oberste Stockwerk erklomm. Er hatte eine ganz andere Idee. Zielsicher griff er nach einem Band, in dem man sich der Kürschnerei angenommen hatte. Er blätterte und blätterte: Marderhunde, Waschbären, Katzenfrette, Maulwürfe.

„Maulwürfe? Wie lange will man daran nähen?“, murmelte er zu sich selbst und schlug die nächste Seite auf.

Dachse, Otter, Fischmarder. Van Tessel ging mit dem Buch hinunter zu Hermine, die an einem Tisch sitzend bereits in einem Lexikon über Tiere stöberte, welches ihren Ansprüchen genügte. Es war über 3000 Seiten dick.

„Miss Granger“, er gesellte sich zu ihr an den Tisch, „schauen Sie doch mal beim Hermelin nach. Das Tier bekommt im Winter ein weißes Fell.“
„Was für ein Buch haben Sie da?“
„Eines über die Arbeit von Kürschnern.“
„Fellverarbeitung? Da hätte ich auch drauf kommen können“, schalt sie sich selbst. Minervas Hinweis, dass Frauen das Fell des Tieres um den Hals trugen, war sehr hilfreich gewesen. „Ich schaue nach, wie die Eigenschaften des Hermelins sind und Sie …“
„Ich suche nach weiteren Tieren, die man wegen ihres weißen Fells gejagt hat.“
Hermine schlug bei dem Buchstaben H auf und fand sehr schnell einen Eintrag. „Hermeline sind im gesamten Norden ansässig, leider auch in Europa. Schade. Das passt nicht mit der Aussage, dass die Tiere hier nicht hergehören.“
„Dann schauen Sie mal beim Irbis, da ist allerdings nur die Unterseite weiß.“
Sie las und verneinte. „Der wechselt seine Fellfarbe nicht und scheidet damit leider aus.“
„Ich vermute, keiner der Hasenarten könnte man Monogamie als Eigenschaft zuschreiben?“
Hermine schüttelte den Kopf. „Das glaube ich nicht. Ich hatte früher Kaninchen und auch echte Hasen. Die halten überhaupt nichts von lebenslanger Treue.“
„Dann versuche Sie es beim Kuskus.“
Bewegungslos ließ sich Hermine das Gesagte durch den Kopf gehen, bevor sie irritiert fragte: „Ist das nicht etwas zu essen?“
Van Tessel lachte. „Da haben Sie recht, aber es sind auch kleine Säugetiere, von denen es welche mit weißem Fell gibt.“
Bei dem Eintrag wurde sie sofort enttäuscht. „Nein, das ist zu klein. Die fressen nicht einmal Fleisch.“
„Lassen Sie mal nicht den Kopf hängen. Das Problem werden wir schon noch lösen. Schauen Sie beim Vielfraß nach.“
Sofort kam Hermine der Aufforderung nach, blätterte und las: „Die Jungen sind schneeweiß. Sie werden zwischen April und Juli geboren. Die Tiere sind zwar nachtaktiv, halten jedoch während der Polarnächte und -tage …“ Ihr Blick rutschte auf die Zeile darunter. „Oh, passt leider auch nicht. Sie sind dem Partner nicht ewig treu.“
Eines der Worte, das Hermine vorgelesen hatte, ließ Van Tessel aufhorchen. „Polarnächte? Wie sieht es denn bei dem Polarfuchs aus? Wie lebt der so?“
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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Rest von Kapitel 216

‚Mir schwant etwas‘, dachte sie. Und wenn Severus ihre Gedanken hören könnte, würde er wegen ihrer Wortwahl sehr wahrscheinlich lachen. Was sie las, deckte sich tatsächlich mit allen Hinweisen – wirklich mit allen.

„Der ist es! Haben Sie zur Überprüfung noch andere Tiere mit weißem Fell?“ Van Tessel überflog das Inhaltsverzeichnis und nannte ihr noch einige Tiere, doch bei keinem gab es solche Übereinstimmungen wie beim Polarfuchs. „Wir haben ihn gefunden! Dann werde ich heute doch zum Tanz aufgefordert werden!“, verkündete sie breit lächelnd.
„Das hätten Sie auch ohne dieses Rätsel haben können, Miss Granger.“ Er legte sein Buch beiseite. Das ihre nahm er ihr aus der Hand und legte es auf seines. „Ich bin mir ganz sicher, dass sich einige junge Herren darum reißen werden, mit Ihnen …“
„Was interessieren mich andere Herren?“, machte sie ihm freudestrahlend klar.
„Es geht wahrscheinlich viel zu weit, aber dürfte ich fragen, wer der Glückliche sein wird?“
„Ich weiß nicht, ob ich …“ Severus hätte bestimmt etwas dagegen.
„Der Herr in nachtblau?“
Würde sie sich herauswinden, wäre es nur noch auffälliger, also bestätigte sie: „Ja, der Herr in nachtblau.“ Von ihrem Platz stand sie wieder auf, doch eines wollte sie unbedingt wissen, weil Van Tessel für sie ein Fremder war. „Ist es so offensichtlich?“
„Ich wollte Ihnen wirklich nicht zu nahetreten.“
„Sind Sie nicht. Ich möchte nur eine ehrlich Antwort.“
„Nun, Sie sind sehr häufig in seiner Nähe. Ich dachte eigentlich, Sie wären verheiratet.“
Hermine riss die Augen auf. „So einen Eindruck haben Sie erhalten.“
„Bitte entschuldigen Sie …“
„Nein, es muss Ihnen wirklich nicht leid tun. Wissen Sie“, verlegen spielte sie dem Stoff ihres Kleides, „ich habe nur keine Ahnung, wie andere uns sehen.“
Van Tessel stand ebenfalls auf und begleitete sie zur Tür, während er versuchte, eine Erklärung zu geben. „Wir haben hier jedes Jahr sehr viele Gäste, Miss Granger. Ich habe beobachten können, wie Menschen miteinander agieren. Bei manchen Paaren kann man sehen, wie sie zueinander stehen, ob sie wirklich Zuneigung empfinden oder mit der Ehe nur einer Tradition gefolgt sind. Blicke sagen eine ganze Menge.“ Innerlich bejahte Hermine, als sie sich George und Gabrielle ins Gedächtnis rief. Van Tessel öffnete die Tür und ließ ihr den Vortritt, doch einen Eindruck gab er ihr noch mit auf den Weg. „Bei Ihnen sehe ich eine offene, junge Dame, die nichts von Versteckspielen hält.“ Van Tessel nahm ihre Hand und legte sie auf seinen Arm, bevor er den Rückweg antrat. „Der Herr in nachtblau wirkt hingegen äußerst zurückhaltend, doch bei Ihnen … Wie soll ich das sagen? Als würde jemand ein Streichholz entzünden und …“

Als sie um die Ecke bogen, trafen sie auf Remus und Severus, die sich offensichtlich die Weiten des Schlosses ansehen wollten. Remus schaute überrascht drein, als er Hermine in Begleitung des gut aussehenden Schlossherrn sah. Über Severus‘ dunkler Gestalt konnte man Gewitterwolken ausmachen, so finster und bedrohlich war er anzusehen.

„Hermine“, Remus‘ Stimme klang etwas zu heiter, „hier steckst du ja. Wir haben dich gesucht. George meinte …“
Severus unterbrach ihn harsch, als er das Wort an Van Tessel richtete. „Da sind Sie ja!“ Der kurze Satz hörte sich an wie eine Morddrohung. „Mrs. Weasley sucht Sie. Besser Sie gehen sofort zu ihr.“ Der Drohung folgte ein Befehl.
Van Tessel wollte sich beugen. Seine gute Menschenkenntnis riet ihm, den Herrn in nachtblau nicht zu reizen. „Dann, Miss Granger“, er nahm ihre Hand, „war es mir ein wahres Vergnügen“, von irgendwoher knurrte es, „Ihnen weiterhelfen zu dürfen.“ Ein Kuss auf den Handrücken gehörte sich, auch wenn es Van Tessel eine Menge Mut kostete. Immerhin war ein Gast anwesend, der jeden Moment zum Raubtier werden könnte.
„Ich danke Ihnen, Mr. Van Tessel. Es war ein einmaliges Erlebnis.“

Mit freundlicher Miene wagte der Schlossherr, einen kurzen Blick zu den beiden Herren zu werfen. Dem einen konnte er nicht lange in die Augen sehen. Den anderen erkannte er. Es war der mit dem Umhang, der so gut zur Augenfarbe passte.

„Ich werde dann mal Mrs. Weasley aufsuchen.“ Höflich nickte Van Tessel den beiden Herren zu und wollte gerade gehen, da schloss sich einer von ihnen ihm an.
„Ich werde Sie begleiten.“ Remus sah seine Aufgabe erledigt, denn Severus war nun in guten Händen. Zudem schien sich Van Tessel sehr über das Angebot zu freuen, gemeinsam mit ihm zum Ballsaal zu gehen. Vielleicht war an Sirius‘ Beobachtung doch etwas dran, vermutete Remus. „Bis dann, ihr beide“, verabschiedete er sich von Hermine und Severus. Zusammen mit dem Schlossherrn ließ er die zwei allein. Hermine würde schon klarkommen.

An Severus‘ Hosennaht ballten sich seine Fäuste. Er schaute sie nicht fragend an, sondern verurteilte sie mit seinem scharfen Blick. Wie die Situation auf ihn wirken musste, war ihr bewusst. Nur konnte sie sich nicht erklären, wie Severus glauben konnte, sie würde mit Van Tessel anbändeln. Als sie an den Herrn dachte, der ihr bei der Recherche geholfen hatte, blickte sie an Severus vorbei und sah noch, wie Remus mit dem Schlossherrn den Gang hinunterlief. Van Tessel legte eine Hand auf Remus‘ Schulter. Unerwartet stoppte Remus, machte mit beiden Händen eine beschwichtigende Geste. Remus schien dem Mann etwas zu erklären, machte dabei ein sehr ernstes Gesicht. Van Tessel schien einen Augenblick lang betrübt, doch Remus munterte ihn wieder auf, auch wenn er ihn in die Schranken gewiesen hatte.

„Hermine!“, herrschte Severus sie an. Sofort blickte sie zu ihm hinüber. Ihm war schwerlich entgangen, wie sie Van Tessel hinterhergeschaut hatte.
„Die Bibliothek hier ist umwerfend“, schwärmte sie offen. Ihre Liebe galt den Büchern, nicht dem hübschen Burschen, der von Remus gerade eine freundliche Abfuhr erfahren hatte.
„Was hast du mit diesem“, er suchte nach einem Wort, das seine innere Erregung nicht so offensichtlich zeigen würde, „Fant getrieben?“
Sie stutzte. „Fant? Für unreif halte ich ihn wirklich nicht. Und auch nicht für so altmodisch, dass du ihn mit so einem Wort bezeichnen musst.“ Den Herrn zu verteidigen stellte sich als Fehler heraus, denn nun biss Severus auch noch die Zähne zusammen. Nach einem leisen Seufzer kam Hermine ein paar Schritte auf Severus zu, damit sie ihm in die schmalen Schlitze sehen konnte, hinter denen sich braune Augen verbargen. „Er hat mir nur geholfen, das ist alles. Wir waren nicht mal eine Viertelstunde in der Bibliothek.“ Sie lächelte. „Ich sage dir: Wenn wir heute aus einem anderen Grund hier wären, würden wir beide uns bestimmt dort einsperren.“
„Wenn ich dazu überhaupt in der Stimmung wäre.“
„Ah, die Stimmung.“ Verständnisvoll nickte sie. „Die ist gerade im Keller, nicht wahr? Vielleicht sollten wir zusammen runtergehen und nach ihr suchen.“
„Mir ist nicht nach Scherzen zumute.“
„Gut“, sie hielt wieder etwas Abstand, „dann gehen wir eben zu den ernsten Dingen über.“ Sie war gespannt auf seine Reaktion und wollte ihn deswegen gut ihm Blickfeld haben. „Der Polarfuchs!“
Mit einem Male öffneten sich seine Augen weit. „Wie hast du das herausbekommen?“
„Das verrate ich nicht, ist mein Geheimnis! Aber ich habe eine Menge Hinweise bekommen und am Ende auch etwas Hilfe.“
„Von diesem …“ Er schluckte, wahrscheinlich um eine beleidigende Bezeichnung loszuwerden, die ihm auf der Zunge lag. Gleich darauf schluckte er nochmals, weil sie ihm wieder den Hals heraufgekrochen kam.
„Von Mr. Van Tessel, ja. Er hat mich in die Bibliothek begleitet. Für Gäste ist sie eigentlich geschlossen.“
Jetzt war er es, der stutzig wurde. „Wie hast du ihn dann überreden können, dich hineinzulassen?“
„Ach“, sie hob und senkte die Schultern. „Wie man das als Frau halt so macht. Ein bisschen liebäugeln, ein wenig fummeln …“
„Ich höre wohl nicht recht!“ Seine lauten Worte hallten im Gang wider.
Hermine musste lachen, trat dabei wieder an Severus heran und nahm sich heraus, ihn zu umarmen. „Das war ein Scherz, das müsstest du wissen. Ich würde niemals irgendjemandem schöne Augen machen und ihn auch noch befingern.“ Sie spürte durch ihre hochgesteckten Haare seine Lippen auf ihrem Kopf, doch die Umarmung erwiderte er nicht. Als ihre Wange an seiner Brust ruhte – wo nebenbei erwähnt ein Herz sehr heftig pochte –, flüsterte sie: „Nur bei dir würde ich es machen.“
„Merlin sei verdammt!“, hörte sie ihn leise fluchen. Sie fühlte seine Hände an ihren Oberarmen. Langsam drückte er sie von sich weg, ließ sie aber nicht los. „Bitte ...!“ Sie würde ihm jeden Wunsch erfüllen, aber seiner Bitte konnte sie nicht nachkommen, wenn sie nicht wusste, was er sich ersehnte. „Bitte“, wiederholte er resignierend, „höre auf damit!“
„Was meinst du?“
„Ich bin nicht auf den Kopf gefallen, Hermine.“
„Ich auch nicht, aber im Moment fühle ich mich so. Was genau meinst du?“
Sie hatte wirklich keine Ahnung, also redete er Tacheles. „Wenn du so weitermachst, werde ich vor allen Anwesenden einen Herzinfarkt bekommen.“
„Dann haben wir beide enormes Glück, dass ich als Heilerin weiß, wie man eine Person wiederbeleben kann.“
Der Hauch eines Lächelns wehte über seine schmalen Lippen. „Es ist mir ernst, Hermine.“
„Ich habe mich doch aber zurückgehalten“, versuchte sie ihm mit unschuldiger Miene weiszumachen. Natürlich war das eine Lüge. Ihr heutiges Verhalten ihm gegenüber war selbst für sie neu. Noch nie hatte sie so offen gebalzt.
„Möglicherweise bin ich auch nur aus der Übung“, gab er zu bedenken. „Oder aber es liegt an meinem momentanen Zustand, weswegen ich nicht so auf deine“, sein Daumen strich über ihren Arm und fügte viel leiser hinzu, „Avancen eingehen kann wie ich möchte.“
„Na ja, wenigstens hast du sie als solche erkannt.“ Sie schenkte ihm ein zurückhaltendes Lächeln. „Ich bin nämlich nicht sonderlich gut darin, einen Mann auf mich aufmerksam zu machen.“
Von seinen streichenden Berührungen bekam sie eine Gänsehaut am Arm. Sie hörte aufmerksam zu, als er flüsternd offenbarte: „Du musst dir nicht die Mühe machen, mich für dich zu gewinnen. Das ist längst geschehen.“

Ihr flatterhaftes Herz ließ sich wie eines der goldenen Vögel auf einem Ast nieder und trällerte ein fröhliches Lied. So jedenfalls fühlten sich seine Worte in ihrem Innersten an. Noch einmal wollte sie sein Vögelchen hören, weshalb sie ihr Ohr an seine Brust legte. Diesmal fühlte sie seine Hände an ihrem Rücken. Es herrschte eine angenehme Stille im Gang, als sie in Severus hineinhörte und der Melodie seines Herzens lauschte. Faszinierend wiegte sie sich zum Klang der Streicher und Bläser, zu den Tönen des Klaviers und ...

„Wie man hören kann“, begann Severus mit ausgeglichener Stimme, „hat der Tanz begonnen.“
„Mmmh“, summte sie zustimmend. Es wäre merkwürdig gewesen, hätten all diese Instrumente in seinem Brustkorb Platz gefunden, aber der Gedanke war schön. Die Musik ertönte aus dem untersten Stockwerk und wanderte wie ein süßer Duft durch alle Gänge.
„Möchtest du nicht hinuntergehen?“
Nur widerwillig verließ sie den behaglichen Platz an seiner Brust, um zu ihm aufzusehen. „Wir können ja mal reinschauen. Der Ballsaal ist wunderschön.“ Sie würde ihn zu nichts zwingen. Die Aufgabe, die er ihr aufgegeben hatte, war gelöst. Der Polarfuchs war ihre Freikarte zum Tanz, doch es lag noch immer an Severus, ob er sie einlösen wollte.

Während Hermine und Severus langsam hinuntergingen – eilig hatte es keiner von beiden –, forderten im Ballsaal einige Herren bereits die Damen zum Tanz auf. Der Erste von ihnen war George gewesen. Gabrielle und ihn störte es nicht, dass sie die Fläche anfangs ganz für sich allein hatten. Sehr bald schlossen sich andere Pärchen an. Molly bekam beinahe einen Nervenzusammenbruch, weil es doch das Brautpaar sein sollte, das den Tanz eröffnet. Weder Ginny noch Harry waren zu sehen. Der Dirigent des kleinen Orchesters hatte fälschlicherweise George und Gabrielle für die Glücklichen gehalten und mit seiner Arbeit begonnen.

„Molly, beruhige dich.“ Arthur tätschelte ihre zittrige Hand. „Solche Dinge passieren. Das ist kein Beinbruch.“
Sie war den Tränen nahe. „Ich habe so lange daran gearbeitet, damit alles einwandfrei abläuft.“
„Und du hast wundervolle Arbeit geleistet. Sieh doch!“ Er deutete auf die Tanzfläche, auf der nicht nur George und Gabrielle sich im Kreise drehte, sondern auch Draco und Susan, Albus und Minerva. „Alle haben ihren Spaß.“
„Wo ist mein Schwiegersohn?“, fragte sie verbissen.
„Ginny und er werden schon noch auftauchen.“ Liebevoll nahm Arthur ihre Hand und küsste sie, bevor er höflich fragte. „Möchtest du mit mir tanzen?“
Die vielen Fältchen in ihrem Gesicht waren mit einem Male wie weggeblasen. Verliebt schaute sie ihren Mann an, gab sich einen Ruck und stand auf. „Ach, was soll‘s? Die anderen tanzen ja auch.“
„Genau das meine ich, meine Liebe.“

Die Melodie klang bis ins Spielzimmer, wo Neville die Ohren spitzte.

„Seid mal still“, bat er. Seine Freunde ließen den Queue in der Hand sinken. Jetzt hörten auch sie es.
Freds Augenbrauen schossen in die Höhe. „Ist das etwa Musik?“
„Ach du meine Güte!“ Ron wurde ganz bleich. „Harry, du müsstest längst unten sein und tanzen.“
„Die hätten gar nicht ohne ihn anfangen dürfen“, warf Angelina ein.
Mit einer Hand fuhr sich Harry übers Gesicht. „Mist!“

In Windeseile rannte eine Horde junger Leute die Treppe hinunter. Kurz vor dem Ballsaal trafen sie auf Hermine und Severus. Letzterer setzte einen fragenden Gesichtsausdruck auf.

„Müsstest du nicht dort drinnen sein“, Severus zeigte auf die Tür zum Ballsaal, „und den ersten Tanz führen?“
„Reib es mir noch unter die Nase“, quengelte Harry. „Da ist irgendwas schiefgelaufen.“
„Das kann man wohl laut sagen. Der erste Tanz gehört dem Brautpaar“, bestätigte Severus.
Aufgebracht schaute sich Harry um. „Wo ist Ginny?“

Von ganzem Herzen hoffte er, dass sie nicht böse auf ihn war. Seine Befürchtung verpuffte auf der Stelle, als sich eine Tür öffnete. Von dem Walzer angelockt kam Ginny von draußen herein, begleitet von Gregory Goyle. Sie blickte zur Tür, hinter der die Musik gespielt wurde, schaute dann fragend zu Harry hinüber. Sie war genauso irritiert wie er. Severus hatte sich in der Zwischenzeit einen Überblick verschafft. Er spähte durch die Tür in den Saal. Die Tanzfläche war gut gefüllt.

„Wie es aussieht“, sagte er zu Harry, „amüsiert man sich auch ohne das Brautpaar prächtig.“
„Klasse!“ Seine Schwiegermutter würde ihn umbringen. „Andererseits“, Harry nahm Ginny an die Hand, „bin ich ganz froh, dass nicht jeder dabei zusieht, wie ich dir auf die Füße trete.“ Ginny lachte. Für sie und ihn war dieses Malheur nur halb so wild, für Molly war es sehr wahrscheinlich eine Katastrophe.
„Was machen wir jetzt?“, fragte Ron. Er trug Mitschuld an der Misere, wo er doch für Harry und dessen Zeitplan verantwortlich war.
„Mir fallen zwei Möglichkeiten ein“, verkündete Severus, der wie üblich einen kühlen Kopf bewahrte. Hoffnungsvoll richteten alle ihre Blicke auf ihn und hörten genau zu. „Möglichkeit eins: Bis auf das Brautpaar verteilen sich alle anderen unaufmerksam im Saal. Dafür schlage ich den Eingang über die Terrassentüren vor. Wenn das Brautpaar eintritt, werden Sie mit einem Applaus beginnen. Alle anderen Gäste werden automatisch einstimmen und höchstwahrscheinlich die Tanzfläche freiwillig räumen.“
„Und wie sieht der zweite Plan aus?“, wollte Harry wissen.
„Die hier anwesenden Paare stellen sich hinter dem Brautpaar auf. Hermine und ich werden die Flügeltür öffnen, so dass Sie geschlossen die Tanzfläche betreten können. Das wird ebenfalls Aufmerksamkeit auf sich ziehen und zudem würde es aussehen, als wäre es so geplant.“
„Ich bin für Plan A“, verkündete Ron.
Harry war anderer Meinung. „Nichts da! Ihr habt mich mit Billardspielen abgelenkt, also könnt ihr uns auch auf die Tanzfläche begleiten und mir Rückendeckung geben, falls Molly mich erwürgen möchte.“
Fred schnaufte vor Lachen. „Okay, Harry. Wir folgen euch.“ Er nahm Veritys Arm und legte sie um seinen rechten. „Führen wir die Damen rechts oder links?“
„Ich denke …“ Harry stutzte. „Ich habe keine Ahnung. Gibt es da eine Regelung?“ Hoffnungsvoll blickte er zu Hermine hinüber, die bereits an der Tür stand, um sie zu öffnen.
„Das ist völlig egal, Harry. Es geht beides, aber ihr solltet euch einigen.“
Weil Ginny eh zu seiner Linken stand, nahm er ihren Arm. „Gut“, er blickte hinter sich, „die Damen nach links, bitte.“ Fred und Verity wechselten den Platz. Dahinter standen Luna und Neville und ganz am Schluss Dean und Seamus. „Was soll denn das werden?“, fragte Harry mit einem Schmunzeln auf den Lippen.
Seamus hob und senkte die Schultern. „Wir haben doch keine Partnerin, also dachten wir …“ Die Meute lachte über den kleinen Scherz.
„Sie beide“, warf Severus ein, „übernehmen einen Teil aus dem ersten Plan. Sie gehen über die Terrasse in den Saal und beginnen zu klatschen, wenn das Brautpaar eintritt.“
„Okay, dann bis gleich.“ Dean und Seamus nahmen die Tür, durch die Ginny und Gregory vorhin eingetreten waren. Gregory folgte ihnen, denn auch er war ohne Begleitung hier.

Nachdem sie eine Minute gewartet hatten, damit sie sicher sein konnten, dass die drei sich bereits im Ballsaal verteilt hatten, legten Hermine und Severus je eine Hand auf den Türknauf.

„Bereit?“, fragte Severus an Harry gewandt.
Er schaute zu seiner Linken. „Bereit, von mir auf die Füße getreten zu werden?“ Ginny lächelte und nickte dabei heftig. Noch einmal atmete Harry tief ein und aus. „Dann kann es losgehen.“

Severus und Hermine öffneten die Tür. Die Musik war mit einem Male viel lauter. Viele Paare drehten sich im Takt auf der Tanzfläche. Einige standen rundherum und sahen zu. Niemand bemerkte Harry und Ginny, bis jemand zu klatschen anfing. Harry konnte Seamus sehen, wie der laut und kraftvoll die Hände zusammenschlug. Wie erwartet löste das eine Kettenreaktion aus. Die Leute, die um die Tanzfläche herumstanden, begannen ebenfalls zu klatschen. Davon abgelenkt hielten die tanzenden Paare inne und stimmten beim Applaus ein, während sie sich langsam an den Rand zurückzogen. Die Musik hörte auf zu spielen. Harry und Ginny, gefolgt von ihren Freunden, hatten keine Probleme, zur Tanzfläche zu gelangen, denn die Gäste formten eine Schneise.

In der Mitte des Ballsaals, direkt unter dem zauberhaften Kronleuchter, positionierten sich Harry und Ginny. In seinem Kopf hallte die Stimme von Minerva wider: ‚Die Hand an die Hüfte.‘ Der imaginären Stimme der Tanzlehrerin folgte er. Im Gegenzug legte Ginny ihre Hand in seine, mit der anderen hielt sie ihr Kleid. Harry blickte zum Dirigenten hinüber, der genauso bleich war wie Ron. Seine Verwechslung bezüglich des Brautpaares schien ihm eben erst aufgefallen zu sein, doch Harry lächelte ihn nur an, zwinkerte und nickte. Der weißbärtige Dirigent nickte erleichtert zurück und spielte mit. Um Harry und Ginny herum standen ihre Freunde. Auch George und Gabrielle hatten sich heimlich eingereiht und warteten auf die Musik. Dreimal klopfte der Dirigent mit seinem Taktstock auf das Pult, womit er die volle Aufmerksamkeit seines Orchesters erlangte. Eins, zwei, drei. Der Walzer begann. Harry war überglücklich, seinen Einsatz nicht verpasst zu haben. Neville gab sich redlich Mühe, nicht so gut zu tanzen wie sonst, damit er Harry und Ginny nicht die Show stahl.

Arthur umarmte seine Frau von hinten und blickte über ihre Schulter auf die sich drehenden Paare, als er ihr ins Ohr flüsterte: „Ein wunderschöner Anblick, meinst du nicht?“
Verzückt betrachtete Molly ihre Tochter, die von Harry – zumindest in ihren Augen – perfekt geführt wurde. Wer achtete schon auf die Füße? „Traumhaft“, hauchte sie zurück. Ein paar Takte später gesellten sich auch wieder andere Gäste zum Brautpaar.

In der Nähe der Tür standen Severus und Hermine. Beide beobachteten das frohe Treiben. Es lief wie geplant, bemerkte Severus mit Wohlwollen. Für Außenstehende hatte der Auftritt des Brautpaares wie einstudiert gewirkt. Neben ihm wippte Hermine im Takt mit, während ihre glänzenden Augen auf die vielen Paare gerichtet waren. Besonders schön anzusehen, das gestand sich Severus ein, waren die Kleider der Damen, die sich schwungvoll drehten.

Nach drei Tänzen war Harry außer Atem und forderte eine Pause. Seine rotwangige Frau stimmte ihm zu. Nicht nur wegen des Monats war es so warm, sondern auch wegen der vielen Menschen im Raum und wegen der Kleidung. Normalerweise würden Harry und Ginny bei diesen Temperaturen im kurzärmeligen T-Shirt herumlaufen. Beide fassten den Entschluss, sich bei Molly zu bedanken, doch die wurde gerade von Arthur auf dem marmornen Boden herumgewirbelt, hatte dabei sichtlich eine Menge Spaß.

„Ich glaube, sie ist uns nicht böse“, vermutete Harry laut.
Sie schaute zu ihren Eltern, die sie so ausgelassen selten hatte tanzen sehen. „Nein, das ist sie absolut nicht.“

Neville und Luna verließen die Tanzfläche nicht so schnell. Er bemerkte nicht einmal, dass Augusta und Schwester Kathleen die Rollstühle seiner Eltern in den Ballsaal schoben. Die beiden Patienten hatten Musik schon immer geliebt und sollten, wenn sie auch nicht tanzen konnten, wenigstens zuhören können.

An einer Tür, die zum Speisesaal führte, bemerkte Harry seine Tante. Sie hielt sich am Türrahmen fest. Der viele Sherry wollte sie zu Boden ziehen. Wangen und Nasenspitze waren rot. Ihr Blick war leicht getrübt, wurde aber beim Anblick der tanzenden Paare wieder lebendig. Slughorn gesellte sich zu Petunia und hielt einen Smalltalk, reichte ihr sogar den Arm, damit sie nicht zu sehr schwankte. Harrys Stirn runzelte sich. Wollte seine Tante etwa ... Offensichtlich ja, denn Slughorn führte die angeheiterte Tante zur Tanzfläche. Arabella Figg hatte bereits einen Tanzpartner gefunden: Dädalus Diggel. Der Zauberer war so bunt gekleidet wie ein Pfau. Auch andere Mitglieder des Phönixordens ließen sich den Spaß nicht entgehen. Harry erkannte Elphias Doge. Der betagte Herr blühte geradezu auf der Tanzfläche auf, auf der er Hestia Jones vorbildlich führte. Nicht zu übersehen waren Hagrid und Olympe, die sehr vorsichtig tanzten und auch nur am Rand, denn sollten sie versehentlich jemandem auf die Füße treten, müssten man wahrscheinlich zu Skele-Wachs greifen. Harry schaute über seine Schulter. Hermine und Severus tanzten nicht miteinander, aber sie unterhielten sich prächtig, was er an dem strahlenden Gesicht seiner besten Freundin ausmachen konnte. War das ein Lächeln auf Severus‘ Lippen? Er hatte sich wahrscheinlich geirrt.

Vorhin waren bereits ein paar Gäste gegangen, aber der sogenannte feste Kern war geblieben. Die guten Bekannten, allen voran seine engsten Freunde würden so lange bleiben, bis man sie hinauswerfen würde. Genau damit hatte Harry gerechnet. Nicht alle sollten von seiner geplanten Überraschung profitieren. Als er seinen Blick schweifen ließ, bemerkte er, wie Wobbel ihn von der anderen Ecke des weiten Raumes fragend anschaute. Harry schüttelte den Kopf, als wollte er ‚Noch nicht!‘ sagen. Wobbel nickte, bevor er Shibby zum Tanz aufforderte. Gleich hinter dem Elf stand Narzissa, die mit betrübter Miene dabei zusah, wie wenigstens Susan und Draco tanzten. Von Lucius weit und breit keine Spur. Bei ihm war Harry sich uneins. Verdient hätte Lucius das ganz persönliche Dankeschön nicht, aber er wollte Draco den Gefallen erweisen. Die Party fing jetzt erst richtig an, dachte Harry. Es wurde getanzt, in anderen Räumen konnte man spielen und die Kinder der Gäste waren bei den Betreuern in guten Händen.

Der Abend brach langsam herein. Die Blumen im Garten schlossen ihre Blüten, doch der cremefarbene Ballsaal mit den wachenden Engeln entfaltete bei Kerzenlicht sein märchenhaftes Aussehen noch viel mehr. Harry sah, wie Petunia auf ihn zukam, beziehungsweise wurde sie von Slughorn auf den Beinen gehalten, denn allein konnte sie nur noch schwerlich gehen.

„Harry“, nuschelte sie mit hörbaren fünf „r“.
„Tante Petunia.“ Er stand auf und näherte sich ihr. „Möchtest du schon gehen?“ Dass sie es überhaupt so lange ausgehalten hatte, war ein Wunder. Es musste am Sherry liegen, der die ungewöhnliche Fähigkeit der Zeitausdehnung besaß.
„Es gibt noch so viel zu sagen.“ Sie stieß versehentlich auf und hielt sich peinlich berührt eine Hand vor den Mund. „Das tut mir außerordentlich …“ Slughorn grinste verstohlen.
„Ach, schon gut“, winkte Harry gelassen ab. Er war viel zu amüsiert über den Auftritt seiner Tante. Noch nie hatte sie in seiner Gegenwart über den Durst getrunken.
„Ich wünsche dir alles“, ihre Zunge machte bei dem Buchstaben „l“ eine Grätsche, „Gute.“ Sie hickste, grinste dann beschämt. Ihr Blick war fahrig.
„Ich glaube, Ihre Tante möchte sich für die Einladung bedanken und sich nun verabschieden“, halft Slughorn ihr auf die Sprünge.
„Genau!“ Sie hob einen Zeigefinger, der mehr krumm war als grade. „Außerdem wollte isch…“ Petunia hielt inne, dachte angestrengt nach, doch die Zellen, mit denen sie denken wollte, schienen vom Alkohol vernichtet.
Wieder griff Slughorn ihr unter die Arme und nicht nur sinnbildlich. „Und Ihre Tante teilte mir vorhin mit, dass Sie sich jederzeit bei ihr melden können.“
„Außer …“
An den Einwand schien sich Slughorn wieder zu erinnern und er fügte hinzu: „Außer mit der Eulenpost und keinesfalls persönlich, wenn Gatte und Sohn“, Slughorn schaute fragend zu Petunia, die seine Worte mit einem Nicken absegnete, „im Haus sind.“
„Ah“, machte Harry. Vernon und Dudley waren in Petunias Augen die größten Störfaktoren. Vielleicht könnte sie sich später nicht einmal mehr an ihre überaus mutige und großzügige Erlaubnis, Kontakt mit ihr aufzunehmen, erinnern. Im Moment konnte er nicht einmal sagen, ob er Lust darauf hatte, sich noch einmal mit ihr auseinanderzusetzen. Trotzdem machte ihn allein das Angebot glücklich. Er fühlte sich nicht mehr als Missgeburt, wenn sie ihn anschaute. Allerdings schielte sie im Moment auch ein wenig.
„Danke, Tante Petunia.“
„Ich werde besser …“
„Ich habe Ihnen gesagt, Mrs. Dursley“, warf Slughorn ein, „dass ich Sie direkt nachhause bringen werde. In Ihrem Zustand sollten Sie nicht mit einem Portschlüssel reisen.“ Weil Harry seinen ehemaligen Lehrer fragend anschaute, erklärte der: „Ich bringe Sie per Seit-an-Seit-Apparation nachhause. Das habe ich im Laufe der Jahre so perfektioniert, dass sie es nicht einmal spüren wird.“
„Na dann“, sagte Harry erleichtert, „gute Heimkehr.“ Petunia lächelte schief, fühlte sich aber offensichtlich wohl und sicher.

Von Mr. und Mrs. Granger hatte Harry erfahren, dass sich Petunia, die mindestens eine Dreiviertelflasche von dem 16%igen Sherry allein verköstigt hatte, die ganze Zeit über lange und ausgiebig mit Slughorn über Lily unterhalten hatte. Möglicherweise hatte das Petunia immer gefehlt. Jemand, mit dem sie über ihre eigene Verbindung zur Zaubererwelt reden konnte. Nicht unbedingt Harry, sondern jemand Neutrales, der nicht genau darüber im Bilde war, dass ihr Verhältnis zu ihrem Neffen nicht als gut bezeichnet werden konnte.

Severus und Hermine standen bei den großen Rundbogenfenstern sprachen über alles Mögliche: über die Gäste, über die manchmal sehr ausgefallenen Tanzpaare wie Trelawney und Kingsley – wie es dazu gekommen war, wollte Hermine den Auror später noch fragen – und über Petunia, die sichtlich beschwipst von Horace nach draußen geleitet wurde.

„Sie scheint sich doch noch gut amüsiert zu haben“, bemerkte Hermine mit einem Schmunzeln.
„An Harrys Stelle hätte ich sie achtkantig hinausgeworfen.“
„Aber es lief doch ganz gut zwischen den beiden“, hielt Hermine dagegen.
Severus wollte nicht mit ihr streiten und wechselte das Thema. „Darf ich dir etwas zu trinken besorgen?“
„Ja, ein Wasser.“ Wegen ihrer Bitte zog er skeptisch eine Augenbraue in die Höhe. „Mir ist warm! Wenn ich jetzt Alkohol trinke, dann …“
„Wirst du lustig.“
„Das hättest du gern, oder? Nein, nur ein Wasser bitte. Ich habe wirklich Durst.“
„Kommt sofort.“

Sie sah Severus hinterher, der in den Nebenraum ging. Etwas später wollte sie noch mit Harry und Ginny anstoßen, aber zu viel Alkohol durfte sie sich nicht gestatten. Nach der Feier müsste sie noch den letzten Trank für Severus brauen und dafür war ein ungetrübtes Gedächtnis vonnöten. Der letzte Trank. Hermine seufzte erleichtert. Wenn Severus morgen aufwachen würde, wäre er geheilt. Laut ihrer Berechnung müsste er dann die Kopie der Seele seiner Animagusform in eine eigene umgewandelt haben, die mit dem originalen Seelenkern verschmolzen war. Während der Hochzeit wollte sie darüber kein Wort verlieren, aber gleich Zuhause musste sie ihm klarmachen, dass selbst die heutige Feier sie nicht davon abhalten würde, diese wichtige Sache zu Ende zu bringen.

Wo blieb er überhaupt? Wahrscheinlich war die Cocktailbar gut besucht. Oder aber er bekam dort kein Wasser für sie, weshalb er die Kellner bemühen musste. Neugierig ging Hermine hinüber zur Tür, die in den Speisesaal führte und erstarrte sofort zur Salzsäule, als sie Severus bemerkte, denn der war nicht allein. Albus war bei ihm.

Im Speisesaal war Severus überrascht worden. Kaum hatte er das Wasser bestellt und ein Glas Wein, da fand er sich plötzlich neben Albus wieder. Der Direktor schien genauso überrascht, suchte aber nicht das Weite, sondern begann eine kleine Unterhaltung.

„Gefällt dir die Feier?“, fragte Albus zurückhaltend, während er an der gut besuchten Bar selbst auf Getränke wartete.

Severus‘ Herz pochte hinauf bis in die Kehle. Albus zu sehen bedeutete für ihn nicht nur, einem alten Freund gegenüberzustehen, der durchweg positive Gefühle aufkommen ließ. All das schlechte, was Severus mit ihm in Verbindung brachte, kam wie eine Welle des Übels über ihn. Der geplante Mord auf dem Astronomieturm, das gefährliche Leben als Doppelagent – der Ewige See. Schmerzen.

„Geht es dir nicht gut, mein Freund?“, fragte Albus besorgt. Die Sorge war echt. „Severus, du wankst ja.“

Im Nu hatte Albus ihn am Arm gepackt und ins Freie begleitet. Hermine, die das mit ansehen musste, hätte am liebsten laut geschrien. Was sollte sie nur tun? Hinterherlaufen und dem Zufall die Schuld in die Schuhe schieben, dass sie gerade hier auf der Terrasse Severus gefunden hatte? Remus! Sie könnte Remus schicken, aber Remus war ein schlechter Lügner. Albus würde ihm den Zufall genauso wenig abkaufen wie ihr. Sie hatte Severus versprochen, nicht von seiner Seite zu weichen. Zögerlich ging sie in den Speisesaal. Nur ganz langsam näherte sie sich der Terrassentür. Genügend Zeit für Albus, Severus ein paar Worte mit auf den Weg zu geben.

Auf der Terrasse waren die beiden Herren allein. „Die frische Luft wird dir hoffentlich gut tun.“ Severus sagte kein Wort, hörte nicht einmal Albus‘ Stimme. In Gedanken empfand er den bohrenden Schmerz, den das Zerreißen der Seele ausgelöst hatte. Albus legte eine Hand auf Severus‘s Oberarm, doch damit befreite er ihn nicht aus dem Albtraum, von dem er heimgesucht wurde. Severus‘ Gesicht verzog sich. Er krümmte sich, hielt eine Hand an die Brust. „Bei Merlin, Severus. Bleib bei mir.“ Severus stöhnte, als würde er einen Schrei unterdrücken. Davon alarmiert sagte Albus mit väterlicher Stimme: „Ich sagte einmal, was du suchst, würdest du nicht in der Vergangenheit finden. Ich bitte dich, lebe im Jetzt. Severus!“ Für Albus war das, was sein Freund durchlebte, ebenso fremdartig wie für Severus. Selten konnte den Direktor etwas erschrecken, aber jetzt war er voller Furcht. Um nichts in der Welt wollte er vereiteln, was Hermine bisher richtigstellen konnte. Besorgt legte Albus eine Hand auf die von Severus, die noch immer auf seinem Herzen lag. „Du kennst das irische Sprichwort, Severus: ‚Selbst die absolute Dunkelheit kann keine Kerze am Scheinen hindern.‘ Es gibt Licht in deinem Leben. Darauf musst du achten, daran musst du denken.“

Wie in weiter Ferne hörte Severus die Weisheit, die schon unzählige Kalenderblätter geziert hatte. Trotzdem war er gefangen in seinem eigenen Bewusstsein, das ihn dazu zwang, längst Erlebtes wieder und wieder am eigenen Leib zu spüren. Der Strudel seiner Erfahrungen zog ihn immer weiter in verderbliche Tiefen, die von Trauer und Schmerz regiert wurden. Wie viel konnte er ertragen?

„Severus?“ Diesmal war es keine Männerstimme, sondern die einer Frau. Schwer atmend blickte Severus auf und erspähte im tosenden Meer der unerträglichen Vergangenheit seinen rettenden Wellenbrecher.
„Hermine.“ Den Namen sprach er aus wie ein Hilfeersuch, wie ein Flehen.
Sofort war sie bei ihm, legte eine Hand um seine Taille. „Ich bin hier.“ Er spürte es mehr, als dass er es hörte. Die Last auf seinem Herzen verflüchtigte sich, sein Kopf wurde klarer. Als sich Severus umschaute, war Albus verschwunden. „Ich hätte dich nicht alleinlassen sollen.“
Ihre Stimme hatte ihn zurück geholt. Er lag nicht mit gebeugtem Rücken über seinem Labortisch und musste dabei zusehen, wie sich die Seele aus dem Leib löste. Er war hier auf Schloss Schnatzer und feierte Harrys Hochzeit. „Es geht schon wieder.“
„Es tut mir leid. Ich hätte dich begleiten sollen.“
„Nein, es ist gut.“ Seine Augen waren geschlossen. Er atmete tief durch. „Es geht mir gut.“ Als er das nächste Mal die Augen öffnete, sah er, was seine Reaktion auf Albus in ihr ausgelöst hatte. Ihre Augen waren ein wenig feucht. Zittrige Fingerspitzen lagen auf ihren bebenden Lippen. Sie gab sich die Schuld. Sehr wahrscheinlich befürchtete sie auch, dass sein Treffen mit Albus seinen Gesamtzustand verschlimmert hätte. „Wirklich“, beteuerte er mit normaler Stimme, „es geht mir gut.“ Wie in Zeitlupe formte sich ein Lächeln, doch ihre Lippen zitterten noch immer. „Lass uns spazieren gehen“, schlug er vor.

Gegen eine kurze Verschnaufpause hatte auch Hermine nichts einzuwenden. Der Schrecken war ihr in die Glieder gefahren, als sie Severus mit schmerzverzerrtem Gesicht und leicht vornüber gebeugt bei Albus stehen sah. Kaum war sie bei ihm, hatte Albus ihr mit ungewohnt ernstem Gesichtsausdruck zugenickt, bevor er sich zurückzog.

Von Severus ließ sie sich auf der Terrasse entlangführen, bis sie zu ein paar Stufen kamen. Hermine erinnerte sich an den Garten, den sie von den Fenstern des Ballsaals aus gesehen hatte. Unbewusst schlug sie diesen Weg ein. Severus sagte kein Wort, aber er hatte ihre Hand genommen, um ihr oder sich selbst Halt zu geben. Der Garten war nur versteckt zu erreichen. Im ersten Moment schien man die hohen Hecken nicht passieren zu können. Womöglich hatte sich deshalb niemand hier aufgehalten. Es fand sich jedoch ein kleiner Weg, der hineinführte. Der Duft von Rosen war überwältigend. Trotzdem es immer dunkler wurde, war der Garten dank der hohen Fenster des Ballsaals erhellt. So fiel ein wenig von dem Zauber, der drinnen stattfand, zu den beiden hinaus in den Garten.

„Da ist eine Bank.“ Sie zeigte auf die steinerne Bank, auf der sie beide Platz nahmen. Severus kämpfte noch immer mit den Nachwehen seines Erlebnisses. Um was es sich handelte, wusste Hermine nicht. Albus Anwesenheit könnte hundert verschiedene Emotionen in Severus aufgewühlt haben. Weil er schwieg, vermutete sie eine der schwer zu verdauenden Erinnerungen. Hermine blickte auf, als einer der Kellner alle drei Fenster öffnete. Offenbar war jedem Gast etwas warm geworden. Das Gute war, dass Hermine auf diese Weise auch nicht auf die Musik verzichten musste, oder auf das Lachen, das von drinnen zu hören war. „Wir sollten gehen“, legte sie ihm nahe, doch diesmal war es ihr alleiniger Wunsch. Sie wollte nicht, dass etwas Ähnliches heute nochmal passierte.
„Ich möchte noch nicht gehen“, erwiderte er mit fester Stimme. „Ein wenig frische Luft wird mir guttun.“ Er drückte ihre Hand. Als Antwort drückte sie zurück. „Du hast mir noch immer nicht gesagt, wie du auf den Polarfuchs gekommen bist.“
Sie lächelte und gab sich reichlich Mühe, ihre Stimme normal klingen zu lassen. „Minerva hat mir einen entscheidenden Hinweis gegeben. Sie sagte, das Tier würden manche Damen um den Hals tragen. Allerdings war es Mr. Van Tessel, der auf die Idee kam, ein Buch über die Pelzverarbeitung zu Rate zu ziehen. Er hat mir Tiere mit weißem Fell genannt und ich habe im Lexikon die ganzen Eigenschaften nachgeschlagen. Das ging recht fix.“
„Dann gehört der halbe Tanz wohl Mr. Van Tessel.“
Hermine grunzte ganz unerwartet vor Lachen, was Severus wiederum zum Schmunzeln brachte. „Glaub mir, er würde sich darüber mehr freuen als wenn ich ihm einen Tanz anbieten würde.“
„Tatsächlich?“ Sie nickte. „Nun, dann nehme ich mein Angebot lieber zurück.“

Severus erhob sich von der Bank und ging ein paar Schritte nach vorn in Richtung Fenster. Man konnte von hier unten nur die Decke sehen, keine Menschen. Als er sich umblickte, bemerkte er das erste Mal den prächtigen Garten. Die Blüten der Rosen hatten sich längst geschlossen, aber dennoch waren sie schön anzusehen. Hermine hatte sich zu ihm gesellt, schaute sich ebenfalls die Blumen an.

„Da steckt eine ganze Menge Mühe hinter“, lobte sie. „Rosen sind nicht besonders leicht zu züchten.“
Severus nickte und sah dabei zu, wie ihre Finger eine der geschlossenen Blüten berührte. Ohne zu überlegen nahm er ihre Hand. „Hermine, möchtest du tanzen?“
Von ihrem überraschten Gesichtsausdruck hätte er gern ein Bild gemacht. Die kurze Frage hatte sie glücklich gemacht, aber sie schien ihm nicht zu trauen. „Möchtest du wirklich?“
„Ich würde sonst nicht fragen“, brachte er es auf den Punkt.
„Ja, ich möchte!“ Sie hüpfte zweimal fröhlich auf und ab wie ein Gummiball, bevor sie zum Ballsaal zurückrennen wollte, doch seine Hand stoppte sie. Irritiert schaute sie ihm in die Augen.
„Hier“, versuchte er kurz und knapp zu erklären, während seine andere Hand flüchtig auf den Boden zeigte, auf dem sie standen.
„Hier?“, wiederholte sie ungläubig.
„Das ist eine einmalige Chance, Hermine“, versuchte er es ihr schmackhaft zu machen.
Ihr Blick fiel auf die offenen Fenster. Hier im Garten hatten sie romantisches Licht und die Musik war laut genug. Das Schönste aber war, dass sie jede Menge Platz hatten. Hermines Lächeln wuchs, als sie ihn anschaute. „Ja, gern.“ Sie war damit zufrieden, denn sie hatten alles, was sie benötigten. Sie hatte Severus.
„Ich muss dich vorwarnen“, begann er unsicher, „ich bin auch in dieser Hinsicht etwas aus der Übung.“
Sie lachte. „Darüber sprechen wir, nachdem ich dir ein paar Male auf den Fuß getreten bin.“
„Dann darf ich bitten?“

Galant verbeugte er sich, wie er es in der Schule gelernt haben musste, bevor er ihr die Hand entgegenhielt. Sie machte einen Knicks und legte danach ihre Hand in seine. Die andere legte sie auf seine Schulter, aber weil er so groß war, musste sie sich strecken.

„Nimm mit der linken Hand dein Kleid. Das haben viele der Damen drinnen gemacht.“
Seinem Ratschlag kam sie nach. „Dann musst du aber gut führen. Ich habe jetzt weniger Halt.“
„Ich halte dich schon fest“, beteuerte er und legte seine Hand an ihre Hüfte. Im Ballsaal begann gerade eine neuer Walzer. „Auf drei“, warnte er vor, bevor er sich in Bewegung setzte. Gleich beim ersten Versuch strauchelte Hermine, aber er ließ sie nicht los, musste jedoch grinsen. Bei der nächsten Drehung trat er ihr versehentlich auf das Kleid. „Entschuldigung.“
„Macht nichts.“

Die ungeübten Füße fanden bald einen Rhythmus, mit dem es sich gut tanzen ließ. Hermine schaute nicht mehr zu Boden, sondern in sein Gesicht. Seine Mundwinkel waren die ganze Zeit über nach oben gezogen. Es machte ihm tatsächlich Freude, auch wenn der Tanz alles andere als perfekt war. Wenn sie ihm auf den Fuß trat, hob sich eine seiner Augenbrauen und das Lächeln wurde breiter. Sie tanzten nicht schlechter als Harry und Ginny, aber auch nicht besser als Neville und Luna. Beide waren genauso ungeübt wie die Hälfte aller Gäste. Es kam gar nicht darauf an, wie gut man tanzte, sondern dass man es überhaupt in Angriff nahm.

„Oh“, machte Hermine erschrocken, „war das dein Fuß?“
„Nein.“
Verwundert schaute sie nach unten. „Auweia! Ich habe eben ein paar Rosen zertrampelt.“
Er schnaufte belustigt. „Wir belegen sie nachher mit einem Desillusionierungszauber, dann fällt es niemandem auf.“

Der Walzer war schon lange vorbei, da standen Severus und Hermine noch immer in Tanzposition im Garten, schauten sich in die Augen und warteten auf ein weiteres Stück. Man hörte jedoch keine Musik, sondern ein Jubeln und Klatschen aus den geöffneten Fenstern. In dem Moment, als Hermine ihren Kopf drehte und zum Ballsaal hinaufschaute, flog ihr etwas entgegen. Sie streckte die Arme aus Angst, von dem Gegenstand verletzt zu werden. Das Objekt kam schnell auf sie zu. Hermine fing es, stolperte rücklings und riss Severus mit auf den Boden, was ihm ein Geräusch entlockte, das man am ehesten mit „Uff“ bezeichnen könnte.

„Huch“, machte sie erstaunt, als sie sich auf Severus wiederfand. „Danke für die weiche Landung.“
„Gern geschehen. Würdest du jetzt die Güte haben, wieder aufzustehen?“
„Aber sicher.“ Hermine rollte sich von ihm herunter. Er war schneller wieder auf den Beinen als sie, weshalb er ihr aufhalf. Am Boden sah sie den Gegenstand, den sie gefangen hatte. Es war der Brautstrauß. Sie griff ihn sich, bevor sie sich mit seiner Hilfe aufrichtete. „Sieh mal einer an.“
Aus den Fenstern hörten sie eine Stimme rufen: „Hermine hat sich den Strauß gekrallt.“ Es folgte ein tosender Applaus.
Es war Colin gewesen, der die Gäste im Innern informiert hatte. Sein Bruder Dennis setzte noch einen drauf und teilte der Menschenmenge im Ballsaal mit: „Und Snape gleich noch mit dazu.“

Ein paar Köpfe erschienen an den Fenstern, um zu sehen, ob die Brüder die Wahrheit gesagt hatten. Von den neugierigen Blicken ließen sich Hermine und Severus aber nicht stören.

„Dann bist du wohl laut Tradition die Nächste.“
„Da habe ich aber Glück, dass wir nicht auf einer Beerdigung sind.“ Gut gelaunt hielt sie ihm den Strauß unter die Nase und sagte: „Jetzt brauche ich nur noch jemanden, bei dem ich den einlösen kann. Wie wäre es mit dir?“
„Zeig mal her.“ Er zog sie zu sich und legte eine Hand um ihre Taille, bevor die andere Hand den Brautstrauß inspizierte, den sie hielt. „Zu sechzig Prozent besteht der Strauß aus Pflanzen, die zaubertränketechnisch sogar von Nutzen sind. Ich akzeptiere.“
Hermine versteinerte, selbst ihr Lächeln fror ein, als sie seine Worte in Gedanken mehrmals wiederholte. „Heißt das …? Verstehe ich dich richtig?“ Mit solchen Dinge durfte er nicht scherzen, dachte sie. Es würde zu sehr wehtun. „Meinst du das so, wie ich es verstehe?“, fragte sie unsicher nach.
„Ich meine es in erster Linie ernst, Hermine. Du auch?“

Sie presste eine Hand auf den Mund, sonst hätte sie tatsächlich geschrien, aber vor Freude. Ein Wort brachte sie nicht hervor, also musste er vorerst mit einer Umarmung vorliebnehmen. Sie fiel ihm um den Hals und – was sie während der Trauung ihrer Freunde noch mit viel Mühe hatte unterdrücken können – verlor ein paar Tränen, obwohl selbst ihre Augen lachten. Hermine drückte ihn an sich, wurde im Gegenzug von ihm umarmt.

Eine Ewigkeit später – oder nur einen Wimpernschlag – schaute sie ihm in die Augen und sagte: „Ja!“
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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Beitrag von Muggelchen »

217 Gegen die verlorenen Jahre




Als die ersten Fotografen an die hohen Fenster des Ballsaals geeilt waren, allen voran Mr. Granger mit gezückter Muggeltechnik, war das Pärchen aus dem Garten längst verschwunden. Die wenigen Gäste, die die Worte der Creevey-Brüder vernommen hatten, vermuteten, die beiden hätten sich womöglich geirrt.

„Ich hab die zwei doch mit eigenen Augen gesehen!“, beteuerte Colin, dessen Aussage nicht nur von Fred infrage gestellt wurde.
„Irrst du dich auch nicht?“, hakte Angelina skeptisch nach. Luna hielt sich im Hintergrund und beobachtete das Treiben vermeintlich teilnahmslos.
Dennis kam seinem Bruder zu Hilfe. „Da war ganz deutlich Hermine zu sehen und neben ihr diese große, dunkle Gestalt. Also, entweder hat sie eine heimliche Affäre mit einem Dementor oder es war Snape. Ich habe nämlich heute, auch wenn so viele Gäste hier waren, niemanden gesehen, der so dunkel gekleidet war als er.“
„Wie er“, verbesserte Seamus.
„Was?“
„Ach, schon gut.“
„Wo habt ihr eigentlich eure Kameras?“, wollte George wissen. „Ihr seid doch sonst immer bewaffnet. Ein Beweisfoto wäre nett.“
Dennis verzog das Gesicht. „Deine Mum hat uns gesagt, dass wir heute nur Gäste sind, keine engagierten Fotografen. Dabei hätten wir bei 450 Gäste eine Menge Kohle machen können.“
„Ja“, stimmte Colin mit ein, „pro Gast mindestens zwei Portraits.“
„Ihr wärt morgen noch nicht damit fertig“, winkte Fred ab.
Neugierig näherten sich Ron, Harry und Ginny der Ansammlung am Fenster, um nachzusehen, wohin der Brautstrauß geflogen war. „Was ist denn hier los?“, fragte Ron den Ersten, auf den er traf und das war Dean. „Wer von euch hat den Strauß nun gefangen?“
„Keiner, der ist aus dem Fenster geflogen“, erklärte Seamus.
„Hast einen starken Wurfarm, Ginny!“, lobte Dean auf der Stelle, als er die Braut bemerkte.
Ginny lächelte schüchtern, schaute dann auffällig kurz zu Luna hinüber, bevor sie zum Fenster blickte. „Soll ich ihn nochmal werfen?“
„Nein, er wurde ja gefangen“, beteuerte Colin.
Fred ließ nicht locker. „Dafür brauchen wir erst einmal Beweise.“
Ohne Aufsehen zu erregen ging Ginny Schritt für Schritt zu Luna hinüber, die verträumt ihre Freunde beobachtete. „Luna, warum hast du ihn nicht gefangen? Ich hab ihn extra in deine Richtung geworfen.“
„Wirklich?“, fragte sie vorgetäuscht erstaunt nach. „Ich dachte, es wäre nur ein Vögelchen, das an mir vorbeihuscht.“
Die Braut lachte kurz auf. „Das hast du mit Absicht getan.“ Kein Vorwurf war zu vernehmen.
„Es war einfach nicht meine Zeit“, entschuldigte sich Luna. „Bitte sei mir nicht böse.“
Ginny hob und senkte die Schultern, atmete ruhig aus und schüttelte den Kopf. „Wie kann man dir böse sein?“

Vor der Tür zum Ballsaal hielten Severus und Hermine inne; vielmehr war er stehengeblieben. Eine unsichtbare Hürde hatte sich ihm in den Weg gestellt und das war die Befürchtung, zum Dreh- und Angelpunkt zu werden, sollte er mit Hermine am Arm durch diese Tür spazieren. Unsicher blickte er neben sich. Hermine starrte mit verzücktem Lächeln auf ihren gefangenen Strauß. An ihrer Frisur bemerkte er etwas, das ihn störte. Eine Strähne hatte sich durch den kleinen Sturz aus der Hochsteckfrisur gelöst und hing nun unschön an ihrem Rücken herunter.

„Dir ist da eine Strähne ...“ Bevor er die Situation erst erklären müsste, begann er lieber sofort damit, das widerspenstige Haarbüschel mit seinen schmalen Fingern an seinen Platz zu bringen. Als er versehentlich ihren Hals berührte, sah er, wie sich eine Gänsehaut formte, obwohl ihr nicht kalt war. Die Strähne war provisorisch gebändigt, doch noch immer zögerte Severus. Er machte keine Anstalten, den Weg fortzusetzen.
„Wir müssen nicht hineingehen“, schlug sie ihm als Ausweg vor. „Wir können warten, bis noch ein paar der Gäste gegangen sind.“
Das unbehagliche Gefühl überkam ihn, ein Feigling zu sein. „Nein, wir gehen rein.“
„Ich könnte alleine vorgehen.“
„Ich werde ja wohl noch mit den pietätlosen Fragen deiner Freunde zurechtkommen“, verteidigte er sich.
„Pietätlos? So denkst du von ihnen?“
Er legte den Kopf schräg und dachte kurz nach. „Vergiss nicht, dass ich bei den meisten deiner Freunde noch die elfjährigen, frechen Rotznasen vor Augen habe, die mit sechzehn oder siebzehn nicht besser waren.“ Nur wenige von den damaligen Schülern hatte er besser kennen lernen können. Neben Harry fiel ihm noch Neville ein, aber selbst mit Harrys Frau hatte er keinen tiefergehenden Kontakt gehabt. Sie war für ihn auch nur eine Schülerin. Charlie Weasley war eine Ausnahme. In dem Moment, als er an diesen jungen Mann dachte, fiel ihm wieder ein, dass der ein Gespräch angekündigt hatte. Es ging um Dracheneier.
Hermine lachte über Severus‘ Bemerkung. „Ich versichere dir, dass alle erwachsener geworden sind. Für Seamus lege ich meine Hand nicht ins Feuer, aber für den Rest ganz bestimmt.“
Severus atmete tief ein und aus. „Stürzen wir uns einfach hinein.“

Gesagt, getan. Man widmete Severus und Hermine keinerlei Aufmerksamkeit, denn niemand sah sie eintreten. An den Fenstern hatte sich eine Menschentraube versammelt. Einige DA-Mitglieder, Hermines Eltern und sogar Remus und Tonks schienen sich angeregt zu unterhalten.

„Deine Chance, Severus. Verschwinde und such dir irgendeinen Gesprächspartner. Ich stelle mich meinen Freunden“, legte sie ihm ans Herz. „Nur eine Sache würde ich gern wissen.“ Mit fragendem Blick wartete er auf das, was ihr auf der Zunge lag. „Darf ich heute schon meinen Eltern davon erzählen?“ Seine Augen weiteten sich. „Nur meinen Eltern, niemandem sonst.“
Ein Gespräch mit Mr. Granger würde auf ihn zukommen, sollte sie von dem Versprechen berichten, dass sie sich gegenseitig im Rosengarten gegeben hatten. „Es wäre nur richtig, sie zu informieren“, stimmte er schweren Herzens zu. „Andernfalls würde es mit Sicherheit auf mich zurückfallen, sollten sie erst später darüber in Kenntnis gesetzt werden.“
„Das dachte ich mir auch. Ich werde durchblicken lassen, dass sie nicht sofort über dich herfallen sollen.“
„Wie freundlich von dir, Hermine. Du musst mich aber wirklich nicht in Watte packen. Ich werde damit schon fertigwerden.“
„Dann“, sie nahm seine Hand und drückte zu, „sehen wir uns später noch.“

Severus nickte einmal, bevor er sich ziellos den Menschen näherte, die am Rande der Tanzfläche standen. Ein für ihn gefährlicher Ort, dachte er, denn irgendeine tollkühne Dame könnte es wagen, ihn zum Tanzen aufzufordern. Sein Soll für heute hatte er jedoch erfüllt. Da stand auch schon Charlie Weasley, der einem seiner Brüder zuschaute.

Aus den Augenwinkeln sah Charlie etwas Dunkles. „Ah, Professor Snape.“ Die Musik war laut. Severus konnte den Gruß nur von den Lippen ablesen. Vorsichtig drängte sich Charlie an den Paaren vorbei, die eine kurze Pause eingelegt hatten. Als er bei Severus angekommen war, legte er nahe: „Gehen wir doch in den Speisesaal. Hier versteht man ja sein eigenes Wort nicht.“

Severus hatte kein Wort verstanden und folgte dem jungen Mann einfach. Es ging vorbei an Hagrid und Olympe, die einen großen Abstand zu den anderen Paaren hielten. Im Speisesaal dröhnte die Musik nicht mehr so ohrenbetäubend laut, aber sie war noch im Hintergrund zu hören.

„Wollen wir uns setzen?“, fragte der junge Drachenbändiger und deutete auf einen der Tische. Einige der Gäste hielten sich hier auf, um in Ruhe mit alten Freunden zu reden, die sie seit langer Zeit nicht gesehen hatten. Severus nickte, so dass Charlie kurzerhand den Tisch des Brautpaares wählte, an dem sie vorhin bereits gesessen hatten, nur nicht nebeneinander.
„Sie sagten, Ihr Reservat suche Abnehmer für Dracheneier?“
„Ganz richtig. Wir möchten nicht, dass sie in falsche Hände gelangen. Meine Vorgesetzten legen Wert darauf, dass Geld nur eine geringe Rolle spielt. Vielmehr möchte man erwirken, dass mit diesen Eiern geforscht wird.“
„Und da dachten Sie an mich.“
Charlie nickte. „Und an Hermine. Es ist bis zu uns nach Rumänien gedrungen, was Sie bei der letzten Versammlung der Tränkemeisterkörperschaft vorgestellt haben. Nach all den langweiligen Entwicklungen der letzten Jahre war das endlich mal wieder eine interessante Neuheit.“
„Vielen Dank, aber die Lorbeeren gebühren Hermine.“
„Zum einem gewissen Teil, wie ich meine.“
Ein Kellner kam an den Tisch, um eine Bestellung aufzunehmen. Charlie bestellte Rotwein, Severus hingegen ein Glas Champagner – den hatte er sich heute verdient. „Ach“, machte er, als der Kellner bereits gehen wollte.“
„Was darf es noch sein, Sir? Ein weiteres Stück Nougattorte?“
Erst jetzt bemerkte Severus, dass es der gleiche Kellner wie vorhin war. „Nein, das nicht. Wären Sie so freundlich, ein großes Glas mit kaltem Wasser in den Ballsaal zu bringen?“ Nur deswegen war er Albus vorhin überhaupt erst in die Arme gelaufen.
„Sicher, Sir, wenn Sie mir den Gast bitte beschreiben würden.“
„Es handelt sich um die Dame, die mit breitem Lächeln den Brautstrauß herumzeigt, den sie gefangen hat.“
„Oh, dann werde ich sie leicht finden“, bedankte sich der Kellner freundlich.
Als der Kellner gegangen war, fragte Charlie mit einem Schmunzeln auf den Lippen nach: „Dann war es also doch Hermine, die ihn ergattern konnte.“
„Ja, es hat sie umgehauen – im wahrsten Sinne des Wortes. Aber zurück zu den Dracheneiern. Um welche Spezies handelt es sich? Ich nahm bisher an, alle Zutaten, die man von Drachen erhalten kann, sind umfangreich analysiert worden.“
„Das ist nur fast richtig, Professor.“
Severus ahnte, dass Charlie nicht sofort mit der Sprache herausrücken wollte, weil es sich um etwas Besonderes handelte. Von solchen Spielchen hielt Severus wenig. „Mr. Weasley“, sagte er bestimmend.
„Ja?“, kam es plötzlich von hinten.
Severus und Charlie drehten sich um. Am Nebentisch saß Percy, der nur seinen Nachnamen vernommen hatte. „Oh, Verzeihung. Ich dachte, Sie sprechen mit mir.“ Sofort widmete sich Percy wieder seiner Tischnachbarin, die Severus als Penelope Clearwater erkannte. Die beiden erhoben sich und gingen nach draußen.
„Wow!“, flüsterte Charlie, als er seinem Bruder nachsah. „Da hat wohl jemand eine alte Flamme wiedergefunden.“ Er wandte sich erneut Severus zu. „Ich möchte Sie nicht auf die Folter spannen, aber vorweg möchte ich Sie dazu ermutigen, mich mit meinem Vornamen anzusprechen. Der Nachname, wie Sie sehen konnten, stiftet nur Verwirrung.“
„Von mir aus, aber erwarten Sie nichts im Gegenzug.“
„Nicht notwendig.“ Charlie wirkte nicht einmal beleidigt. „Also, Professor Snape. Es geht um eine bestimmte Drachenart, von denen man wenig weiß – noch weniger von den möglichen Auswirkungen als Trankzutat.“
„Welche Drachenart?“
Gerade brachte der Kellner die Getränke. Als er den Champagner vor Severus abstellte, informierte er kurz und bündig: „Die Dame bedankt sich vielmals, dass Sie an sie gedacht haben.“ Schon war der Kellner wieder verschwunden, so dass Charlie die Antwort auf Severus‘ Frage geben konnte.
„Knucker.“
„Knucker? Das ist doch diese ausgestorbene Drachenart.“ Nur zu gut erinnerte sich Severus daran, dass Harry von den Wassermenschen einen ganzen Sack mit Knuckerschuppen bekommen hatte – im Austausch für eine einzige Schuppe des Basilisken. Das wiederum erinnerte Severus daran, dass Harry ihm noch etwas schuldig war.
Charlie beugte sich zu Severus hinüber und flüsterte: „Man dachte, sie seien ausgestorben.“
„Sind sie nicht?“
„Nein. Die gesamte Vorgeschichte erspare ich mir, weil ich sie auch nur vom Hörensagen kenne. Tatsache ist, dass einer meiner Kollegen eines Tages pitschnass zum Reservat zurückkehrte. Er erzählte etwas von einem Wassermenschen in Not, der ihm als Dank zwei Eier in die Hand drückte. Die Eier waren uns vollkommen unbekannt. Wir forschten, machten Analysen und bemerkten fast schon zu spät, dass beide Eier befruchtet waren. Wir haben sie einer geruhsamen Ukrainischen Eisenbauchdame untergejubelt, die sie ausbrütete und voilà, es kamen zwei vierzig Zentimeter lange Knucker zum Vorschein. Keiner von uns hat solche Tiere jemals in natura gesehen.“
„Das ist beeindruckend!“ Severus ließ sich diese neue Erkenntnis durch den Kopf gehen. „Und es ist gefährlich, wenn man alten Überlieferungen glauben darf.“ Man sprach von ganzen Dörfern in Sussex, die angeblich von einem sechs Meter langen Wasserdrachen verschlungen worden wären.
„Bisher sind beide sehr umgänglich, was wir der Ziehmutter zu verdanken haben. Wenn man lange genug mit Drachen zusammenarbeitet, stellt man schnell fest, dass jedes Tier sein eigenes Wesen besitzt. Manche bleiben unzähmbar und bösartig. Andere mögen die Menschen und genießen den Umgang mit uns. Natürlich werden sie niemals zu Kuscheltieren, aber das ist auch nicht unsere Absicht.“
„Sie mögen diese Biester wirklich“, stellte Severus ohne Umschweife fest.
Charlie lächelte. „Ich liebe sie“, bestätigte er sehr überzeugend. „Wie sieht es nun aus, Professor Snape. Sind Sie bereit, einige Versuche vorerst mit den Eierschalen durchzuführen?“
Severus überlegte nicht lange. „Reicht fürs Erste ein Handschlag?“
„Aber sicher!“ Charlie hielt ihm die Hand entgegen, die Severus ergriff und dreimal schüttelte. „Ich werde später Verträge schicken. Unter anderem möchte man Sie dazu verpflichten, Stillschweigen zu bewahren. Mein Wort reichte leider nicht aus.“
„Was haben Sie denn gesagt?“
„Ich versicherte meinen Vorgesetzten, dass Sie sowieso ein verschwiegener Mann sind und nicht so jemand, der nur auf Geld aus ist, wie gewisse andere Leute …“ Charlies Blick fiel durch Zufall auf Professor Slughorn, der gerade aus Little Whinging zurückgekehrt war und sich im Speisesaal umschaute, wem er mit seiner Anwesenheit eine Freude bereiten wollte. „Hat Harry Ihnen jemals die Geschichte mit Slughorn und der Acromantula erzählt?“
„Nein, weshalb?“
„Slughorn war scharf auf das Gift der toten Spinne, weil er sich damit einige Galleonen dazuverdienen konnte.“ Nun blickte auch Severus zu seinem ehemaligen Lehrer und Kollegen hinüber. Das auserkorene Opfer befand sich offenbar im Ballsaal, den Horace gerade betrat.
„Ich, Mr. Weas…“, er verbesserte, „Charlie, habe auch nichts ein paar zusätzliche Galleonen einzuwenden.“
„Wer hat schon was dagegen?“, warf Charlie belustigt ein. „Aber bei Ihnen bin ich mir sicher, dass Sie die Eierschalen nicht sofort auf dem Schwarzmarkt verhökern. Wir haben nur diese beiden Drachen und möchten nicht riskieren, dass zwielichtige Gestalten auf sie aufmerksam werden.“
„Weiß Ihr Vater schon von diesen Neuigkeiten?“
„Klar! Die Abteilung zur Führung und Aufsicht Magischer Geschöpfe ist informiert und unterstützt uns und unsere Entscheidungen.“
„Ich könnte Ihnen einen Herrn nennen, der mit Kryptozoologie vertraut ist. Es wird offensichtlich noch eine Weile dauern, bis die Knucker wieder zur normalen Zoologie gezählt werden können.“
„Wir nehmen jede Hilfe, die wir bekommen, solange kein Informationsleck entsteht.“
Severus wägte seine Antwort ab, bevor er guten Gewissens sagen konnte: „Für diesen Herrn bürge ich. Außerdem sollten Sie Professor Dumbledore zu Rate ziehen. Ich glaube, es gibt kaum jemanden, der mehr von Drachen und Zutaten versteht als er.“
„Wir wollen die Knucker ja nicht gleich schlachten“, scherzte Charlie. „Ein wenig Blut abnehmen, ein paar Schuppen und Barthaare.“
„Die besitzen Barthaare?“
Charlie nickte heftig, die Augen glänzten vor Begeisterung. „Möchten Sie ein Foto sehen?“

Natürlich bejahte Severus. Die Tiere auf dem Bild, das Charlie ihm unter vorgehaltener Hand zeigte, würden von Hagrid sehr wahrscheinlich als drollig bezeichnet werden. Sie hatten Ähnlichkeit mit einer dicklichen Albinoschlange. Am Kopf verfügten sie über Auswüchse, die man vom Aussehen her mit Federn vergleichen könnte.

„An Land kriechen sie wie Schlangen, aber sie tummeln sich lieber im Wasser“, erklärte Charlie mit hörbarer Freude in der Stimme.
„Zeigen Sie die Bilder bloß nicht Hagrid, sonst will er noch einen haben.“
Charlie lachte. „So sehr ich weiß, wie ihm das gefallen würde – besonders Hagrid sollte nichts erfahren.“
Der Riese war ein Plappermaul, wofür er aber nichts konnte. „Von mir erfährt er nichts.“

Gerade hatte Charlie die Bilder wieder in die Innentasche seines Umhangs gesteckt, da schlug jemand zeitgleich Severus und ihm auf die Schulter. Beide blickten auf und wurden umgehend von der aufdringlichen Person begrüßt.

„Charlie Weasley“, sagte Slughorn mit breitem Grinsen. „Sie habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Was machen die Drachen?“
„Sie fressen, schlafen und verbrennen uns den Allerwertesten“, gab Charlie belustigt zurück.
„Und bei dir Severus? Läuft die Apotheke?“
„Sie läuft“, bestätigte er kurzerhand.
„Na, dann würde ich sie festbinden!“ Nochmal schlug Horace ihm auf die Schulter und lachte dabei, während Severus so gelassen wie möglich blieb. Die Witze seines alten Lehrers waren seiner Meinung nach schon immer hohl gewesen. „Mach nicht so ein Gesicht“, rügte Horace ihn auf eine Art und Weise, die sich niemand anderes herausnehmen würde. „Das war doch nur ein kleiner Scherz.“
„Aber ein sehr kleiner“, stimmte Severus zu. „Hast du Harrys Tante gut behütet nachhause gebracht?“
„Sicher doch.“ Zu Severus‘ Entsetzen zog sich Horace einen Stuhl heran, um zwischen Charlie und ihm Platz zu nehmen. „War ein wenig angeheitert, die Gute.“

Zum Glück wurde Horace von jemandem gerufen, der interessanter schien als ein Ex-Todesser und ein Drachenbändiger. Beide schauten dem Lehrer im Ruhestand hinterher, der sich erst der Dame widmete, die ihn zu sich gerufen hatte, bevor er den berühmten Viktor Krum als nächstes Ziel anvisierte. Jemand anderes hatte sich unerwartet an Severus und Charlie herangeschlichen. Eine kleine Hand legte sich auf Severus‘ Knie. Sofort wandte er den Blick von Horace ab und schaute zum neuen Eindringling hinunter. Nicholas sah mitgenommen aus. Die Augen waren ganz klein vor Müdigkeit, das Gesicht voller Kratzer und blauer Flecken. An der Hand, die bei Severus lag, blutete er aus einer minimalen Schnittwunde. Dreckig war der Junge auch noch, stellte Severus mit gerümpfter Nase fest. Er hatte Sand im Haar und Schmutz im Gesicht.

Es war Charlie, der als Erster zu dem Kind sprach. „Na, mein Kleiner. Sieht aus, als hättest du eine Menge Spaß gehabt.“ Nicholas wankte, hielt sich deshalb an Severus fest. Das Kind war ausgelaugt, führte trotzdem ein zufriedenes Lächeln auf dem Gesicht spazieren. Als Charlie ihn auf den Schoß nehmen wollte, zierte sich Nicholas, giggelte dabei. Kleine Hände griffen nach dem nachtblauen Umhang. Nicholas drehte sich einmal und war sofort in dem feinen Stoff eingewickelt.
Severus betrachtete die Beule an seiner Seite, unter der sich der Junge versteckte und seufzte. „Und ich dachte, wenn ich Hogwarts hinter mir lasse, würde ich verschont bleiben.“ Er unternahm nichts, um dem Jungen das Spiel zu verbieten. Kinder machten sowieso immer das Gegenteil von dem, was Erwachsene ihnen sagten. Zu Hilfe eilte Harrys Elf, der den Jungen nur für eine Minute aus den Augen gelassen hatte.
„Zeit zum Schlafengehen, junger Mann“, sagte Wobbel zu Severus‘ Umhang. Man hörte den Jungen quengeln. Offenbar kannte Nicholas bereits die Bedeutung bestimmter Worte, und Schlafengehen gehörte zu jenen, mit denen er momentan nicht einverstanden war.

Von dem Elf, der den Knaben unter dem Umhang hervorlocken wollte, ließ sich Severus nicht stören, denn zusätzlich gesellte sich noch Hermine an den Tisch. Den Brautstrauß legte sie behutsam auf dem Tisch ab, gleich neben dem großen Wasserglas, aus dem sie mehr als die Hälfte getrunken hatte.

„Danke für das Wasser, Severus“, flüsterte sie ihm zu, bevor sie die Bewegung unter seinem Umhang wahrnahm. Sie beugte sich über ihn, so dass ihre Gesichter dicht beieinander waren und befühlte die runde Stelle – den Kopf des Jungen. Nicholas kicherte sofort und versuchte, sich noch kleiner zu machen. Wobbel sammelte noch einige Sachen ein, bevor er Nicholas aufs Zimmer bringen wollte.

Im Nebenraum, dem Ballsaal, bemerkte Harry, wie Narzissa drei Herren, die sie zum Tanz aufgefordert hatten, einen Laufpass gab. In der Reihenfolge war das ihr eigener Sohn, Remus und am Ende sogar Ted Tonks, der offenbar von seiner eigenen Frau dazu motiviert wurde, der Schwägerin einen Gefallen zu erweisen. Prophylaktisch hatte Narzissa mehr Abstand zwischen sich und der Tanzfläche gebracht, damit sie nicht mehr in die Verlegenheit kommen würde, jemandem einen Korb zu geben. Es war Zeit, dachte Harry, etwas dagegen zu unternehmen. Selbst Gregory Goyle amüsierte sich auf dieser Feierlichkeit, dann sollte es Narzissa nicht schlechter gehen.

Harry gab Ginny Bescheid, die ihm nur kurz zunickte, denn Neville hatte ihr bereits den nächsten Tanz versprochen. Mit offenen Augen verließ Harry den Ballsaal und schaute sich im Speisesaal um. Just in diesem Moment betrat Lucius mit Charles im Arm den gleichen Raum, doch anstatt sich zu setzen, ging er nach draußen. Harry zögerte nicht lange und ging ihm nach.

Mit großem Interesse beobachtete Severus das Szenario. Selbst Menschen, die die Malfoys nicht sonderlich gut kannten, mussten bemerken, dass der Haussegen seit mindestens einer Stunde schiefhing. Severus bemerkte nicht nur Lucius, der sich wieder einmal verdrückte, sondern ebenfalls, wie jemand ihm folgte – Harry. Das könnte spannend werden, dachte Severus. Es war schade, dass seine Animagusform so ein auffälliger Vogel war, denn bei dem Gespräch würde er gern Mäuschen spielen. Mit einem gehässigen Schmunzeln wartete Severus darauf, bis sein blonder Freund wieder von der Terrasse zurückkehren würde.

Auf besagter Terrasse traf Harry ohne Umwege auf Lucius. Die beiden waren allein. Als der Reinblüter den Bräutigam bemerkte, war es längst zu spät. Der Fluchtweg wurde von Potter versperrt.

„Mr. Potter“, grüßte Lucius in einem dermaßen verachtenden Tonfall, dass Harry ihm am liebsten das Fell über die Ohren ziehen würde.
Harry entschied sich dafür, den Herrn, dessen verdrießliche Art ihn den ganzen Tag schon aufgefallen war, anders handzuhaben als der es von ihm erwarten würde. „Sie brauchen nicht zu befürchten, dass ich Ihnen mit einer hinterlistigen Intrige Schaden zufügen möchte. Ich empfinde keine Freude daran, andere zu piesacken. Ihr Sohn weiß das.“ Für seinen nächsten Satz holte Harry tief Luft. „Ich bin keinesfalls Ihr Feind, nur weil Sie einmal meinem gefolgt sind.“ Er blieb einen Moment still, um eine Reaktion abzuwarten, aber es kam keine. Lucius blickte zu seinem Enkel, dann hinaus in die Landschaft und im Anschluss sogar auf den Blumenkübel zu seinen Füßen, nur nicht zu Harry Potter. „Was ich damit sagen will“, er schaute Lucius direkt in die Augen, „ich finde es schade, dass Ihre Frau da drinnen steht“, Harry deutete auf die festlich beleuchteten Fenster, hinter denen ausgelassen gefeiert wurde, „und jede Aufforderung zum Tanz ablehnt, weil die ihr ohne ihren Mann keine Freude bereiten. Meinen Standpunkt Ihnen gegenüber habe ich klar gemacht. Ich sehe keinen Grund, warum Sie sich zurückziehen, als würden Sie nicht dazugehören. Niemand hier wird Sie für etwas verurteilen, von dem Sie der Zaubereiminister höchst persönlich freigesprochen hat. Ach“, tat Harry, als wäre es ihm erst jetzt eingefallen, „und der ist ja auch da drinnen und zwar in der nicht ganz unwichtigen Rolle des Vaters der Braut.“ Mit einem Schmunzeln fügte er hinzu: „Und trotz allem sind Sie hierher eingeladen worden. Sein Sie also bitte einfach das, was man von Ihnen erwartet: ein Gast! Wenn Sie mir Schaden zufügen wollen, dann bedienen Sie sich an dem verdammt teuren Buffet. Gönnen Sie sich den teuersten Champagner, von mir aus auch über den Durst. Tanzen Sie mit Ihrer Frau und zeigen Sie Ihren Enkel herum, aber bitte“, Harry holte noch einmal Luft und blieb ansonsten völlig ruhig, „haben Sie heute wenigstens ein bisschen Spaß.“ Der letzte Satz war als gut gemeinter Ratschlag gedacht.

Geduldig hatte Lucius zugehört, hatte diese langweilige Rede über sich ergehen lassen, doch nach Potters Monolog fühlte er sich anders. Es war schwer zu beschreiben. Sein Versuch, Potter zu ignorieren, war fehlgeschlagen. Lucius schluckte verlegen. Sein Mund war ganz trocken. Gedankenverloren nickte er seinem Gegenüber zu, ohne sich zu äußern, denn dazu war er momentan nicht in der Lage. Er war sich gerade eben darüber bewusst geworden, welche Position er inne hatte. Lucius war hier ein willkommener Gast, wie jeder andere auch und keinesfalls ein Geächteter, der nur zur allgemeinen Belustigung eingeladen worden war, damit jeder ihn nach Belieben herumschubsen konnte. Besonders ärgerte es ihn, dass es gerade Potter sein musste, der ihn darauf aufmerksam machte.

„Ich wollte nur, dass Sie wissen, wie ich darüber denke.“ Harrys Bemerkung bewirkte keine Regung bei Lucius, weil der – was äußerst selten geschah –, um Worte verlegen war. „Ich werde Ihnen nicht vorschreiben, was Sie zu tun oder zu lassen haben. Wie Sie sich den anderen Gästen gegenüber benehmen ist ganz allein Ihre Sache. Das ist allerdings das Einzige, wonach man Sie heute beurteilen wird.“ Das übermannende Gefühl zum Selbstschutz kam in Lucius auf. Er wollte vor diesem Gespräch fliehen, sich vielleicht sogar den Ratschlag zu Herzen nehmen, ohne dass es offensichtlich wäre. Die Botschaft hinter Potters kleiner Rede hatte er zu seinem eigenen Erstaunen verstanden. Innerlich war er brüskiert, dass gerade dieser junge Mann ihm einen Spiegel vorgehalten hatte. Was Lucius aber nicht ignorieren konnte, waren die Worte, die Narzissa betrafen.

Ohne das Lucius es verhindern konnte, wurde ihm unerwartet sein Enkel abgenommen. Seine Schimpftirade wurde bereits im Keim erstickt, als Harry zu Charles sagte: „Dann komm jetzt mal zu deinem Patenonkel.“ Potter hatte ihm den Rettungsanker genommen, an dem er sich den ganzen Abend mühselig festgeklammert hatte. Das Schlimmste war, dass Potter als Patenonkel jedes Recht dazu hatte. Der Bräutigam ging zur Seite, machte somit den Fluchtweg frei.
Unerwartet ernst sagte Lucius: „Wenn Sie mich entschuldigen würden? Meine Frau erwartet mich.“
„Viel Spaß noch“, wünschte Harry mit frechem Grinsen, während er dem Gast hinterherblickte.

Als Lucius den Durchgang von Terrasse zum Speisesaal überwunden hatte, grüßte ihn eine Wand aus warmer, leicht abgestandener Luft, die nur erträglich war, weil die angenehmen Düfte der hervorragenden Speisen dominant waren. Um sich zu fangen, machte Lucius ein paar Schritte seitlich und stellte sich an eines der angelehnten Fenster. Augenscheinlich hatte niemand ihn bemerkt. Über Potters Frechheit war er mehr als nur empört. Ein junger Mann, der ihn in seiner Rolle als Gast zurechtgewiesen hatte. Durfte ein Malfoy so etwas auf sich sitzen lassen?

Eine Person hatte Lucius doch bemerkt. Wenige Sekunden später hatte sich Severus zu ihm gesellt, der sein Amüsement nur halb unterdrücken konnte und somit schief lächelte.

„Ich nehme an“, begann Severus in gemäßigtem Tonfall, „die angebotene Friedenspfeife schmeckte ein wenig bitter?“ Auf den Arm nahm Severus ihn nicht, das konnte Lucius hören.
Selbst wenn Harry ein freundlicher Mensch war, konnte Severus sich sehr gut vorstellen, wie ruppig er jemandem den Kopf waschen könnte. Für eine Person wie Lucius Malfoy, der damals Ginny Weasley in Gefahr gebracht hatte, war eine persönlichere Unterredung mit Harry bestimmt kein Zuckerschlecken.
„Ja“, bestätigte Lucius etwas verspätet und merklich aufgebracht. Nach einem Räuspern hatte er sich wieder gefasst. Neugierde trieb ihn an zu fragen: „War es bei dir auch so?“
„Nein, ich rauche nicht“, erwiderte Severus mit einem Schmunzeln. „Es kostete mich eine Menge Geduld, um langsam zu begreifen.“
„Was zu begreifen?“, fauchte Lucius zurück. „Dass man nur als lieber Schoßhund von Potter eine Chance hat, in dieser Welt noch Fuß zu fassen?“
„Diese kränkende Bemerkung werde ich deiner Gesundheit zuliebe ignorieren“, flüsterte Severus bedrohlich leise. „Wenn du glaubst, ich würde mich von irgendjemandem an der Leine herumführen lassen, dann erinnere ich dich gern daran, wessen Marionette du damals warst.“
Echauffiert konterte Lucius: „Ach, werden jetzt die alten Kamellen aufgewärmt? Immerhin warst du die Schlange, die Voldemort an seiner Brust genährt hat.“
Severus verzog angewidert das Gesicht. „Bei deinen Metaphern kann einem wirklich übel werden.“

Die kurzzeitige Spannung zwischen den alten Freunden war schnell wieder verflogen. Die Kommunikation zwischen den beiden war ein ständiger Galopp über Stock und Stein. Lucius sah zu seinem Gegenüber auf und wollte gerade etwas sagen, da erhaschte das Gefühl seine Aufmerksamkeit, dass an Severus etwas anders war. Er konnte es nicht genau erklären, aber dieser Severus war nicht der, den er aus Voldemorts Zeiten kannte. Vor Lucius stand der Junge, mit dem er in seine letzten beiden Jahre in Hogwarts verbracht hatte. Selbst den jungen Mann, der Dracos Patenonkel wurde, sah Lucius vor sich. Doch der Severus der letzten zwanzig Jahre war anders gewesen. Noch nie zuvor war ihm etwas in der Richtung aufgefallen. Vielleicht wegen der Sorge um das Leben der Familie, mutmaßte Lucius. Krampfhaft versuchte er, den Unterschied auszumachen. Seine Beobachtungsgabe war immer vorbildlich gewesen. Details entgingen ihm nicht, doch wenn sie winzig waren, benötigte sein Erinnerungsvermögen länger, um eine Abweichung zu erkennen.

„Wenn du finanziell dafür aufkommst“, begann Severus gelassen, „kannst du gern ein magisches Portrait von mir anfertigen lassen.“ Von den Worten seines Freundes ließ sich Lucius nicht irritieren. Gleich war es soweit, er fühlte es. Jeden Moment würde er die Unstimmigkeit enttarnen. Es waren nicht die Fältchen in Severus‘ Gesicht, die das Gefühl untermauerten, dass etwas nicht stimmte. Nicht die Nase, die genauso gebogen und lang war wie eh und je. Die Zähne waren gelblich verfärbt, die Haare fettig. Alles schien wie immer zu sein. „Lucius!“

Wegen der grimmigen Worte blickte Lucius ihm in die Augen. In genau diesem Moment fischte sein Gehirn ohne eigenes Zutun eine Erinnerung aus dem episodischen Gedächtnis hervor – aus jenem Teil, in welchem Erlebnisse und deren Zeitpunkte gespeichert wurden. Die Erinnerung zeigte den Tag, an dem er mit Severus zusammen dieses übel riechende Gebräu für die Inferi mehr schlecht als recht hergestellt hatte. Warum dieses Szenario? Weil sein Erinnerungsvermögen der Meinung war, dieser Moment wäre der letzte gewesen, in welchem er den Severus gesehen hatte, dem er jetzt wieder gegenüberstand. Eine zweite Erinnerung wurde der ersten wie ein Verbrecher auf dem Revier der Magischen Polizeibrigade gegenübergestellt, um den Verdächtigen – in diesem Fall die Abweichung – zu identifizieren. Diese zweite Erinnerung stammte aus der Zeit, in der Severus bereits als Lehrer in Hogwarts arbeitete. Parallel zu dieser mentalen Kontrastierung wurde über eine der vielen Synapsen der Frontallappen angefunkt, in welchem das Wissen über Tatsachen fein säuberlich abgelegt war. Solche Fakten waren beispielsweise, dass Draco am 5. Juni 1980 geboren wurde, dass für einen Vielsafttrank unter anderem Florfliegen verwendet wurden und dass Askaban sich auf einer unortbaren Nordseeinsel befand. Die Abweichung, die Lucius so ins Grübeln gebracht hatte, fand sich mit Hilfe dieses Vergleichs von persönlichen Erinnerungen und Fakten. Severus‘ Augenfarbe war damals braun gewesen. Nicht sonderlich hell, aber dennoch nicht so schwarz, wie die zweite Erinnerung es bei der Gegenüberstellung deutlich zeigte. Braun, schwarz, wieder braun. Die Unstimmigkeit war gefunden und das wohl bemerkt in weniger als 0,8 Sekunden. Das Gehirn war ein wahres Wunderwerk.

„Deine Augen ... sind braun“, stammelte Lucius vollkommen schockiert über diesen Umstand, der wider der Natur war. Vor Schreck über diese unerwartete Feststellung riss Severus die Augen weit auf, als wollte er einen guten Blick auf das gelöste Rätsel geben. „Trägst du diese Muggeldinger? Linsen?“ Severus wandte unsicher sein Gesicht ab. Lucius war hin- und hergerissen zwischen der Wahl, inhaltslosen Smalltalk zu halten oder das Mysterium direkt anzusprechen. „Wenn ja, dann wäre ich über Informationen dankbar. Man will mir nämlich“, Lucius‘ Stimme brach, „so eine unansehnliche Brille aufschwatzen.“ Was war mit seinem Freund? „Severus?“

Severus, sein einziger Freund, war zu wichtig, als dass Lucius ihn mit Nebensächlichkeiten langweilen wollte. Es war gar nicht so lange her, zwei oder drei Wochen, als er ein Gespräch zwischen seinem Sohn und dieser Granger belauscht hatte. Der Name seines Freundes war gefallen – Severus. Nur deshalb hatte er sich nicht sofort an der angelehnten Tür zu erkennen gegeben. Worauf sich Lucius damals keinen Reim machen konnte, war Grangers Aussage „Ich will Severus helfen, wieder vollständig zu werden.“. Es folgte seltsames Geschwätz über Magie und Pflanzen, bevor sich Lucius dazu entschlossen hatte, in den Raum zu treten. Damals hatte sie ihm nicht anvertraut, woran Severus leiden würde, sondern legte ihm nahe, ihn selbst zu fragen. Das Vorhaben war schnell wieder vergessen, bis jetzt. Lucius befürchtete das Schlimmste. Schwarze Augen bedeuteten nichts Gutes. Er hoffte innig, man hatte ihm helfen können. Die jetzige Farbe sprach dafür, doch ein Geheimnis blieb, wie sie zeitweise schwarz werden konnten.

„Sag“, Lucius sprach leise, „bist du von einem Dementor angefallen worden?“ Die Theorie kam ihm als Erstes in den Sinn, denn die Seelenlosen, die durch Askabans Küche geisterten, hatte er schon einmal aus nächster Nähe gesehen. Ehemalige Schwerverbrecher, die auf der Stufe der Gesellschaft noch weit unter den Hauselfen standen und nicht mal mehr einer Fliege etwas zu Leide tun konnten. Nicht weil sie nicht wollten, sondern weil sie nicht mehr konnten. Die leeren Hüllen unternahmen höchstens etwas, wenn man es ihnen auftrug. Träge Diener, die nicht einmal aufschrien, wenn sie sich versehentlich eine tiefe Schnittwunde bei der Küchenarbeit zufügten. Schwarze Augen, die gefühllos umherstarrten. Menschen, die absolut nichts empfanden, denen alles egal war. „Ist dir das zugestoßen?“, flüsterte Lucius besorgt. Eine Heilung dafür gab es nicht, jedenfalls keine, die ihm bekannt war. Severus rührte sich nicht, hatte den Blick noch immer abgewandt und wirkte momentan genauso regungslos wie einer dieser Lakaien ohne Seele. Vorsichtig lehnte sich Lucius zur Seite, um Severus anzusehen. Die Miene seines Freundes war verbissen, der Blick so starr, als würde er sich in einem anderen Universum befinden. „Severus?“ Erst Lucius‘ Hand am Arm brachte Severus ins Jetzt zurück.
„Ja?“, fragte Severus, als wäre nichts gewesen. Skeptisch betrachtete Lucius sein Gegenüber, kniff die Augen dabei leicht zusammen, um Severus zu zeigen, dass er sich nicht täuschen ließ. „Kein Dementor“, versicherte Severus leise.
„Aber was ...?“
„Nicht hier und vor allem nicht jetzt!“, forderte Severus mit gequälter Stimme.
Leicht gekränkt von dem zurückweisenden Tonfall hob Lucius eine Augenbraue. „Ich hatte sowieso vor, jetzt ein wenig zu tanzen.“
„Solange du nicht mich aufforderst, kannst du tun und lassen, was du willst.“
Lucius schnaufte. „Dich auffordern? Ich habe keine Lust darauf, dass deine kleine Bekannte womöglich noch auf mich eifersüchtig wird.“
„Verlobte“, verbesserte Severus gedankenverloren.
„Ver...“ Die letzten beiden Silben schluckte Lucius hinunter, bevor er sich fasste und tief Luft holte. „Meine Güte, das kam plötzlich“, sagte er so gelassen wie nur möglich, denn was Severus in seinem Leben anstellte, war dessen Angelegenheit. „Bist doch immer wieder für eine Überraschung gut.“

Die Flatterhaftigkeit ihrer seltsam entfremdeten Freundschaft, die sich dennoch nicht entzweien lassen wollte, war schnell wieder überwunden. Kurz drückte Lucius‘ Hand den dünnen Oberarm, bevor er zielstrebig den Ballsaal ansteuerte, um seiner Gattin einen Gefallen zu erweisen.

„Ist das wahr, was ich da eben gehört habe?“, fragte jemand neugierig.
Die Stimme erkannte Severus sofort als die von Harry, nur war der nirgends zu sehen. „Harry?“ Severus blickte sich um. Der Speisesaal war zwar gut besucht, aber hier in der Nähe der Tür fand er sich vollkommen allein.
„Hier!“ Das angelehnte Fenster, an dem Severus stand, wurde von außen aufgedrückt. Mit Charles auf dem Arm lugte Harry von der dunklen Terrasse hinein in den Speisesaal.
Erbost wies Severus den Bräutigam zurecht: „Es schickt sich nicht, seine Mitmenschen zu belauschen!“
Ein selbstsicheres Lächeln zierte Harrys Lippen. „Sei nicht sauer auf mich, weil du nachlässig wirst.“
„Ich ...?“
„Du stehst an einem offenen Fenster! Das hätte dir auffallen müssen. Außerdem weiß ich von Hermine“, konterte Harry fröhlich trällernd, „dass ihr beide einmal zusammen Minerva und Kingsley belauscht habt, als die über Hopkins gesprochen haben, also wirf nicht mit Steinen.“ Harry war gut gelaunt, weil sein Plan aufgegangen war und Malfoy senior nun mit seiner Gattin eine hoffentlich heiße Sohle aufs Parkett legen würde. Neville bekam Konkurrenz.
„Was tust du da draußen überhaupt?“
Harry verlagerte das Gewicht des Jungen, so dass der gemütlich auf seiner Hüfte sitzen konnte. „Ich sammle Kinder von bösen Leuten ein“, erwiderte er trocken, ohne mit der Wimper zu zucken. „Also, ist das nun wahr, was ich da gehört habe oder nicht?“
Severus verfluchte sich, denn Harry behielt Recht. Ein offenes Fenster hätte Severus in der Regel geschlossen, bevor er ein privates Gespräch begann. Unter Umständen hätte er sogar hinausgesehen, um sich selbst davon zu überzeugen, dass niemand in der Nähe war. Nun hatte Harry von der Verlobung gehört, warum also wollte er es bestätigt wissen? „Was genau meinst du?“
„Dass Voldemort dir die Brust gegeben hat.“ Harry kicherte wie ein elfjähriger Schuljunge, als Severus erneut das Gesicht verzog.
„Lass das! Ich möchte nicht, dass sich solche Bilder in meinem Kopf formen.“ Er seufzte. „Komm rein!“, befahl Severus, zeigte dabei auf die Tür, die in den Speisesaal führte.
Harry nickte und verließ das Fenster, um den Raum zu betreten. Schnurstracks ging er wieder zu Severus. Auf dem Weg bemerkte er, wie Hermine, die mit Charlie, Wobbel und Nicholas an einem Tisch saß, ihm zuwinkte – oder Severus? „Wink zurück“, legte Harry ihm nahe.
„Ich denk nicht dran.“

Harry zuckte mit den Schultern, bevor er Hermine freudestrahlend zurückwinkte. Gleich im Anschluss umfasste er Charles‘ Ellenbogen und schüttelte zaghaft den Arm, damit die kleine Hand winkte. Von Harry dazu animiert machte Hermine das Gleiche mit Nicholas. Charles gurgelte fröhlich, winkte dann von ganz allein zurück.

„Hermine sieht glücklich aus“, stellte Harry demonstrativ fest, um ihm eine Reaktion zu entlocken.
Gelassen führte Severus seine Hände hinter den Rücken und schaute zur besagten Dame hinüber. „Sie hat den Brautstrauß gefangen“, redete sich er sich heraus. „Das sind mindestens 110 Pluspunkte auf der allgemeinen Zufriedenheitsskala einer jeden Frau, meinst du nicht?“
Harry wurde deutlicher, stellte sich gleichzeitig dumm. „Ach, dann hat das nicht mit der Verlobung zu tun?“ Der Mund seines Gesprächspartners wurde schlagartig zu einer schmalen Linie.
Im ersten Moment wollte Severus sich nicht zu diesem Thema äußern, doch er hielt es für angemessen, um etwaigen Gerüchten vorzubeugen. „Ich würde es begrüßen, wenn das vorerst unter uns bliebe, Harry. Es war ein spontaner Moment, darüber hinaus ein sehr persönlicher, dem es keinesfalls an Seriosität fehlt.“
Harry nickte. „Man sagt, dass ein Eheversprechen in der Regel innerhalb eines Jahres ...“
„Wir werden nicht vorschnell handeln!“, stellte Severus klar. „Ich lasse mir nicht von irgendwelchen Bräuchen vorschreiben, wann ich welchen Schritt im Leben zu gehen habe.“
„Nicht doch gleich so ruppig“, beschwichtigte Harry. „Ich wollte eigentlich nur sagen, es überrascht mich nicht, dass ihr nichts überstürzt. Ich bin daran gewöhnt.“
„An was?“
„Na“, Harry ging einen Schritt auf Severus zu und flüsterte, „Fred und Verity sind jetzt schon über sechs Jahre verlobt. Bei Luna und Neville sind es vier. Ich finde das völlig in Ordnung. Manchmal braucht man seine Zeit, um den nächsten Schritt zu wagen.“
„Acht Jahre?“ So lange wollte Severus nicht warten, aber ein Jahr war ihm definitiv zu kurz, um ein gemeinsames Leben mit Hermine zu erproben.
„Lass mich nachrechnen ...“, murmelte Harry. „Ende Mai ’96 haben sie Verity eingestellt. Ich glaube, ein Jahr später waren sie schon verlobt – natürlich heimlich. Er hat nicht einmal George was davon erzählt.“ Kaum sprach man von dem unmerklich ruhigeren Zwilling, da kam dieser auch schon mit durch den Tanz ganz rosigem Gesicht aus dem Ballsaal zurück in den Speisesaal. An seiner Hand eine hübsche, junge Frau. „Sieh mal einer an“, Harry nickte zu George hinüber. „Hat er doch jemanden gefunden, wenn auch nur für heute Abend, oder auch nicht.“
„Ist das nicht die Schwester von ...“
„Fleur, ja. Ist sie überhaupt schon volljährig? Nicht dass er da noch Ärger bekommt.“
„Du scheinst sie lange nicht gesehen zu haben“, stellte Severus fest.
„Nur auf Bildern. Ginny und Hermine haben sie in den letzten Jahren mehrmals in Frankreich besucht. Beide stehen auf das Land – oder auf das Essen dort, wenn ich Ginnys Schwärmereien auf einen Nenner bringen müsste. Und Hermine fand natürlich die ortsbezogen Trankzutaten überwältigend. Wie hieß dieser Pilz, der die Blutgerinnung beschleunigt?“ Harry startete ein paar Versuche. „Brusquette? Briskatte? Nein, Bruschetta!“
„Das ist eine italienische Vorspeise!“, korrigierte Severus.
Leise hörte Harry das Wort Idiot nachschwingen, was ihn zum Lachen brachte.

Eine dritte Person hatte die kleine Beleidigung gehört, als sie sich den beiden Männern näherte. Draco betrachtete seinen Sohn in Harrys Arm, der gerade dabei war, mit seiner kleinen Hand die große Nase zu berühren, die in Greifnähe war. Severus war, weil er Draco gesehen hatte, abgelenkt und bemerkte nicht den kindlichen Angriff auf sein Riechorgan. Als er es merkte, griff Severus nach dem dünnen Handgelenk.

„Du bist genauso unartig wie dein Vater damals“, hielt Severus dem Jungen vor Augen, der kein Wort verstand und begeistert vor sich hin grinste.
„Sei froh, Severus“, warf Harry ein, „dass du keine Brille trägst. Ich habe aufgehört zu zählen, wie oft ich sie heute putzen musste.“
„Hallo, mein Junge“, grüßte Draco den eigenen Sohn. Der war von der Stimme seines Vaters so fasziniert, dass er sich ruckartig in Harrys Armen drehte, um ihn sehen zu können. Dabei schlug er gegen Harrys Kinn.
„Au!“ Harry rieb sich den Kiefer, der nicht wirklich schmerzte.
Eine tiefe Stimme verriet ihm: „Das nennt man einen Lucky Punch, aber nur, wenn der Gegner zu Boden geht.“ Kingsley war so frei und gesellte sich ebenfalls zu den Herren. Er hatte genug davon, den Paaren beim Tanz zuzusehen. Er richtete das Wort an Harry. „Wenn du willst, können wir uns irgendwann noch einmal zum Ringen treffen, so wie damals.“
„Die Kosten für meinen anschließenden Aufenthalt im Mungos übernimmst dann aber du“, scherzte Harry. Wortlos hielt Draco Harry seine offenen Arme entgegen, um den Jungen zu nehmen. „Ihr wollt doch nicht schon gehen?“
„Ich würde ja gern noch bleiben, aber Charles ...“
„Unfug! Der kann doch zusammen mit Nicholas im Hotelzimmer schlafen. Meine Elfen passen abwechselnd auf die beiden auf.“
„Wenn es keine Umstände macht?“ Draco nahm Charles trotzdem auf den Arm. „Gerade jetzt würde ich gern noch bleiben. Keine Ahnung, was in meinen Vater gefahren ist, aber er tanzt!“ Harry schmunzelte in sich hinein, sagte jedoch kein Wort.

Geschlossen steuerte man den Tisch an, an dem Charles und Hermine saßen. Sie hatte noch immer Nicholas auf dem Schoß.

„Hallo Hermine“, grüßte Draco, obwohl er sie heute nicht zu ersten Mal sah. Das ließ vermuten, er wollte ihr etwas sagen. Sie irrte sich nicht. „Hast du was rausbekommen?“ Genauer musste er nicht werden.
Hermine lächelten triumphierend. „Ich hoffe, er erfährt davon nichts, sonst wird er nachher noch fuchsig.“ Die beiden tauschten ein Lächeln untereinander aus, welches lediglich Severus deuten konnte, wie auch er der Einzige war, der die Situation an sich verstand.
„Hä, um was geht es hier eigentlich?“, fragte Harry nach.

Am gleichen Tisch, nur ein paar Stühle weiter, plauderten George und Gabrielle miteinander. Severus bemerkte Fred, der sich seinem Zwillingsbruder näherte und ihm von hinten auf die Schulter klopfte, dabei etwas ins Ohr flüsterte. Beide schauten zeitgleich auf und nahmen Harry mit einem frechen Blick ins Visier. Beim Essen war schon aufgefallen, dass die beiden etwas auszuhecken schienen. Die Brüder standen auf und kamen geschmeidig und langsam wie zwei angriffslustige Tiger auf Harry zu. Severus wollte ihn warnen.

„Harry?“
„Mmmh?“ Harry schenkte Severus sein Gehör.
„Die Zwillinge haben irgendetwas mit dir geplant.“
Der Bräutigam nickte mit sicherem Lächeln und flüsterte: „Ja, ich weiß. Ich bin schon gespannt, was es ist.“
„Da ist er ja“, grüßte Fred, „unser frisch gebackener Schwager.“
„Zur Feier des Tages“, verkündete diesmal George, „möchten wir mit dir gemeinsam anstoßen.“ Jeder am Tisch und in der Nähe horchte auf. George organisierte mit seinem Zauberstab drei saubere Gläser, während Fred aus der Innentasche seines Umhangs eine nicht etikettierte, braune Flasche zog. Fred schenkte ein, während George erklärte: „Ohne dich, wie du ja weißt, hätte es wohl niemals Weasleys zauberhafte Zauberscherze gegeben.“
„Jedenfalls nicht so schnell“, warf Fred ein, als er Harry ein Glas mit einer an Champagner erinnernden Flüssigkeit überreichte.

Die anderen Weasley-Brüder waren von Gabrielle informiert worden, so dass in wenigen Sekunden eine Traube von Schwagern und Freunden um die drei herumstand, aber auch Kingsley verfolgte das Treiben amüsiert.

„Du, lieber Harry“, Fred und George hoben ihr Glas, „warst schon immer wie ein Bruder für uns.“
Fred ließ die alten Zeiten aufkommen. „Erinnerst du dich noch, als du an deinem 17. Geburtstag in den Fuchsbau gezogen bist?“
„Wie könnte ich das vergessen?“, schmeichelte Harry. Damals waren Fred und George zwar längst aus dem Haus, aber zum Wochenende waren sie regelmäßig zum Essen gekommen – und zum Quidditchspielen.
„Aus diesem Grund machen wir dir heute ein besonderes Angebot“, teilte George mit.
Fred nickte. „Wir möchten, dass du in unser Geschäft einsteigst. Aktiv oder auch als stiller Teilhaber, falls dir das lieber sein sollte.“
„Wow, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll ...“
„Sag ja, es hat eine Menge Vorteile, wie beispielsweise ein paar Prozente.“
„Ich bekomme doch jetzt schon alles umsonst oder bedeutet das, ihr zahlt mir noch was drauf, wenn ich etwas bei euch kaufe?“, scherzte Harry.
Fred und George sowie einige der Zuhörer lachten. „Andere Vorteile. Du wirst in alle künftigen Projekte eingeweiht und du kannst auch eigene Ideen einbringen, die wir umsetzen werden.“
George nickte. „Steig ein, Harry! Damit wären wir ein unschlagbares Triumvirat.“
„Das hört sich klasse an!“ Aus den Augenwinkeln sah Harry, dass Ron neben ihm stand, außerdem auch Susan und Draco, selbst Sirius und Andromeda.
„Dann“, mit klingenden Geräuschen stießen die Zwillinge nacheinander mit ihrem Glas an Harrys, „ist die Sache besiegeln. Trinken wir darauf!“

Harry war von dem Angebot hin und weg. Ein geschäftlicher Einstieg bei Weasleys zauberhafte Zauberscherze würde bedeuten, dass er sich niemals Sorgen um die Finanzen machen müsste. Ansonsten wäre es gut möglich, dass in vierzig oder fünfzig Jahren das geerbte Vermögen seiner Eltern zur Neige gehen würde, sollten keine Einnahmen verzeichnet werden. Mit den Zwillingen verband ihn sowieso etwas ganz Besonderes. Schon damals bewunderte er, dass sie die Schule geschmissen hatten, um selbstständig zu werden. Der Neid auf ein normales Leben, in dem man seine Brötchen verdienen musste, war anfangs groß gewesen. Harry trank. Es schmeckte nach Pfirsich, prickelte ein wenig auf der Zunge. Vom Tisch hörte er ein Geräusch, als würde jemand erschrocken Luft einatmen. Es war Hermine, die ihn mit großen Augen anblickte. Charlie hingegen grinste. Beide schauten ihm nicht in die Augen, sondern auf die Stirn, vielleicht sogar ein Stückchen höher. Einige begannen zu lachen.

„Ich wusste“, schnaufte Ron, „dass die Sache einen Haken hat!“
„Was denn für einen Haken? Rauchen meine Ohren?“, wollte Harry wissen, doch als er sich drehte, bemerkte er keinen Dunst.
„Quatsch“, verneinte Fred frech grinsend, „der qualmende Kopf ist doch ein alter Hut.“
Gabrielle kramte plötzlich in ihrer Tasche, genau wie Hermine. „Wo ist mein Spiegel?“, murmelte sie. Severus beobachtete sie dabei, wie sie einen Gegenstand herauszog, den man nicht in einer Damenhandtasche vermuten würde. Irritiert musterte sie das Objekt und fragte sich selbst: „Wieso habe ich eine Affodillwurzel in meiner Tasche?“
Severus lehnte sich zu ihr und scherzte: „Ach, da ist sie! Ich habe sie schon gesucht.“
Gabrielle hatte gefunden, wonach sie suchte und kam mit einem Schmunzeln auf Harry zu, bevor sie ihm den Kosmetikartikel reichte. „Hier.“
Ein Blick in den Spiegel erklärte, warum alle kicherten und lachten. Harrys Haare waren rot. Um es genauer auszudrücken: weasleyrot. Er fand sogar Sommersprossen auf den Wangen und auf der Stirn. Sofort erinnerte sich er sich an Ron, der damals vorgeschlagen hatte, ihm die Haare rot zu färben, damit man ihn für einen seiner Brüder halten würde. Harry lachte mit den anderen mit, befühlte dabei seine Haare. „Um Himmels Willen, das ist nicht permanent, oder?“
„Nein“, versicherte Fred, „in zwei Stunden verschwindet der Zauber wieder.“
„Das erinnert mich an etwas“, murmelte Harry zu sich selbst, gab Gabrielle gleich darauf den Spiegel zurück. „Wobbel?“ Harry rechnete mit einem lauten Geräusch und machte sich darauf gefasst, sich nicht zu erschrecken, aber es kam nichts.
„Hinter Ihnen, Sir.“ Der Elf war längst bei ihm.
„Oh, da bist du.“ Harry ging in die Knie. „Würdest du den kleinen Charles bitte auch zu Bett bringen? Die beiden können zusammen in unserem Zimmer schlafen, bis seine Eltern die Feier verlassen.“
„Selbstverständlich.“ Wobbel ging noch nicht, sondern flüsterte ihm ins Ohr. „Ist es soweit?“
„Ja, wenn die Kinder auf dem Zimmer sind.“
„Dann schlage ich vor, Sie halten wie geplant die Rede und am Ende schnippen Sie einfach mit den Fingern.“
Harry stutzte. „Dann würde aber jeder glauben, ich hätte stab- und wortlos gezaubert.“
Dessen war sich Wobbel bewusst. „Ja! Und das wird ein Riesenspaß werden!“

Wobbel brachte die beiden Kinder ins Bett. Kaum hatten die erschöpften Buben ihre Köpfe auf das weiche Kissen gelegt, betraten sie das Traumland, in dem lebendige Karussellpferde über die blühende Landschaft galoppierten, die Hops-Burg ein echtes Königsschloss aus Elfenbein war und unzählige, goldene Vögel die fliegende Kutsche der jungen Prinzen zogen.

Es war schon spät. Die Kinder der Gäste, die nicht über Nacht bleiben konnten, waren in Obhut der Betreuer und ruhten in einem großen Raum. François, der Sohn der Diggorys, lag direkt neben Milan, dem ältesten Kind von Viktor Krum. Die beiden tuschelten leise, worüber der wachende Betreuer großzügig hinwegsah, solang sie die anderen Kinder nicht störten. Der zum Schlafraum umfunktionierte Saal war mit einem Schutzzauber versehen, so dass kein Lärm von draußen zu vernehmen war.

Im Ballsaal hatte man sich warm getanzt. Immer mehr Paare schlossen sich den anderen an. Eine kurze Pause hatten Narzissa und Lucius eingelegt. Sein Rücken benötigte eine kleine Auszeit. Seit er Charles umhergetragen hatte, war das alte Leiden wieder aufgetreten. Die vornehme Blässe der Malfoys, die sehr an die Mitglieder alter Adelsgeschlechter erinnerte, war verschwunden. Der Tanz hatte beiden ein zartes Rosa auf die Wangen gezaubert. Lucius störte sich nicht mehr an den anderen Gästen, nicht einmal an Dumbledore, denn seine Frau hatte Verzückung in ihm geweckt, das Blut in Wallung geraten lassen. Sie war wunderschön, wenn sie glücklich war und er war derjenige, der das vollbracht hatte. Galant küsste er ihre behandschuhten Finger, bevor er sie nochmals zum Tanzen aufforderte. Sein Rücken musste da durch.

„Lucius“, hauchte sie benommen, wedelte sich dabei mit der anderen Hand ein wenig Luft zu. „Bitte, nur eine klitzekleine Pause. Dann gehört das Parkett wieder uns.“ Sie schien erschöpft, aber ihre Augen funkelten zufrieden.
„Darf ich dir etwas zu trinken holen?“
„Ja, vielleicht einen ...“

Ein schrilles Pfeifen ertönte. Auf einen Schlag hörten die Paare auf zu tanzen, die Kapelle hielt mit der Musik inne. Harry fragte sich, wie eine akustische Selbstverstärkung bei einem Sonorus überhaupt möglich war. Es handelte sich doch um Zauberei.

„Liebe Gäste“, begann er, als die magische Tonstörung nachgelassen hatte, „bitte bleiben Sie ruhig dort, wo Sie sich gerade aufhalten. Ich möchte nur ein paar Worte loswerden, nichts Weltbewegendes.“ Er legte eine kurze Pause ein. „Die Atmosphäre war leider nicht immer so fröhlich und gelöst, wenn ich eine Rede halten musste. Ich möchte mich gar nicht in vielen Worten verlieren, sondern einfach das Glas erheben und mit Ihnen allen Anstoßen, nicht nur auf Ginny und mich, sondern auf die Zukunft.“

Harry warf Wobbel einen heimlichen Blick zu und schnippte zeitgleich mit Daumen und Mittelfinger. Vor jedem einzelnen Gast – egal wo der sich aufhielt – erschien eine Flöte. Natürlich nicht so eine Flöte, auf der Hagrid manchmal spielte, sondern ein Glas mit langem Stil und ausgestülpten Rand. Darin befand sich eine Flüssigkeit, die von der Farbe her dem Trank der Zwillinge glich. Hoffentlich bekamen die Gäste nicht alle rote Haare, dachte Harry belustigt. Eine Sache war aber anders. Die Flüssigkeit perlte wie Champagner, roch sogar fruchtig – ein bisschen nach Himbeere. Wie abgemacht war auch vor Wobbel ein Glas erschienen, mit Sicherheit auch vor Shibby, die sich bei den Kindern im Zimmer aufhielt.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
~ Muggelchen.net ~

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