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Verfasst: 14.09.2012 07:03
von Muggelchen
208 Eine Hand wäscht die andere




Auf Fußspitzen betrat Harry das Schlafzimmer. Am Fußende des Bettes stand Ginny, die sich die langen roten Haare bürstete, dabei verträumt aus dem Fenster blickte. Leise näherte Harry sich ihr. Er wollte sie von hinten umarmen, überraschen. Das verliebte Lächeln in seinem Gesicht blieb ihr verborgen. Federleicht berührten seine Hände ihre Taille. Unerwartet fuhr sie herum, machte erschrocken einen Schritt von ihm weg und holte gleichzeitig aus reinem Reflex mit einer Hand aus. Mit voller Wucht traf die flache Seite der Bürste seine Wange.

„Uff“, entwich ihm, bevor er das Gleichgewicht verlor und zu Boden ging. Als Ginny bemerkte, wen sie eben geschlagen hatte, hielt sie sich vor lauter Schreck eine Hand vor den Mund. Harry hingegen hielt sich die Wange. „Nimm das nächste Mal einen Baseballschläger“, riet er ihr. Um die Spannung zu lockern, von der Ginny eingenommen war, scherzte er: „Es sieht blöd aus, wenn im Tagespropheten steht 'Harry Potter mit Haarbürste niedergeschlagen'. Das macht einen schlechten Eindruck.“
Endlich fand sie ihre Stimme wieder, wenn die auch sehr leise war. „Das tut mir so leid.“ Die Bürste warf sie aufs Bett, bevor sie sich neben ihn kniete. „Tut es sehr weh?“
Es schmerzte, wie man es von einem Schlag ins Gesicht erwartete, dachte er. Sein Mund öffnete sich, schloss sich. Seine Finger befühlten die Stelle. „Meine Lippe ist etwas taub.“
„Harry, bitte entschuldige. Ich habe mich so erschrocken. Ich habe gar nicht überlegt ...“
„Schon gut“, unterbrach er.

Die Woche nach ihrer Befreiung war Ginny immer nervöser geworden, fuhr bei jedem Geräusch herum und schaute sofort nach, was es verursacht haben konnte. Es war seine Schuld, dass er jetzt am Boden saß. Er hätte sich nicht an sie anschleichen dürfen. Seiner Meinung nach war die Zeit gekommen, dass sie sich mit ihm über die Entführung unterhalten sollte.

„Was hast du heute vor?“, wollte er wissen.
„Ich treffe mich mit Pomona, Meredith und Gordian. Wir wollten mit Nicholas zum See gehen.“ Die Abwechslung wollte er ihr nicht nehmen. Das Gespräch könnte warten. „Möchtest du mitkommen, Harry?“
„Nein danke, ich bleib hier und“, er hob seine Hände, ließ sie wieder fallen, „hänge ein bisschen rum.“
Bevor Ginny fragen konnte, wie er sich den schulfreien Samstag um die Ohren schlagen wollte, klopfte es an der Tür. Ginny war startklar. „Oh, dass sind sie. Ich bin dann weg.“ Harry folgte ihr ins Wohnzimmer, wo Wobbel dem Jungen gerade noch die Schuhe zuband. Ginny gab Harry vorsichtig einen Kuss auf den Mund. „Noch immer taub?“
„Nein, es geht schon.“
Shibby ließ die Gäste eintreten. Es waren die zwei Schüler. „Hallo Professor“, grüßten beide. „Kommen Sie mit?“
„Nein, Gordian. Aber euch wünsche ich viel Spaß. Ach, und hier ...“ Harry griff sich die Kamera und reichte sie an den Schüler. „Macht ein paar schöne Fotos von heute.“ Es war seltsam, dachte Harry, dass man viel mehr fotografierte, wenn man Kinder hatte. Die Kamera hängte sich Gordian um den Hals. Als Nicholas zur Tür kam, ging Meredith in die Knie, um dem kleinen Mann Hallo zu sagen und ihn an die Hand zu nehmen.
„Bis dann, Harry.“ Ginny winkte, schenkte ihm dabei ein Lächeln, mit dem sie sich nochmals entschuldigen wollte.

Er wartete geduldig, bis die Tür von außen geschlossen wurde. Gleich darauf drehte er sich zu Wobbel und nickte ihm zu. Der Elf schnippte mit den Fingern, woraufhin der gesamte Couchtisch unter der Last unzähliger aufgeschlagener Bücher und Pergamente knarrte.

„Wo haben wir gestern aufgehört?“, fragte Harry, während er zur Couch ging und Platz nahm, sich einen Überblick über das Material verschaffte.
Wobbel deutete auf ein bestimmtes Buch. „Wir waren bei der Destillation angelangt.“
„Ach ja“, murmelte Harry, griff sich dann seine Notizen, auf denen er festgehalten hatte, wie man aus dem Stein der Weisen das Elixier des Lebens gewinnen konnte. Es gab wenig Informationen, aber aus den Andeutungen, die in den Werken von Nicholas Flamel versteckt waren, kam er der Sache immer näher. Gut, gestand sich Harry, es war Wobbel, der der Sache immer näher kam. Harry selbst hatte die Stelle großzügig überlesen, als Flamel die Herstellung des Elixiers haarklein mit der Herstellung eines guten Whiskys verglich. Das Zauberwort war Destillation. „Eines steht fest, Wobbel: Es ist leichter, das Elixier herzustellen als den Stein zu produzieren. Zum Glück haben wir den schon.“ Über die Herstellung des Steins hatten Wobbel und Harry gar keine Hinweise gefunden. „Meinst du, das Elixier könnten wir hier herstellen?“
„Ich befürchte, wenn Sie die Angelegenheit geheim halten wollen, wird das nicht funktionieren, Mr. Potter. Ein Destillierapparat in Ihren Unterkünften würde auffallen.“
„Ja“, Harry kratzte sich am Nacken, „da hast du wohl recht. Ich brauche eine Art Labor.“ Automatisch dachte er an Severus. „Ich werde doch jemanden fragen müssen, der mir dabei hilft.“
„Fragen Sie bitte die richtige Person, Mr. Potter.“ Nicht jeder wäre vertrauenswürdig, das wusste sogar der Elf.
„Keine Sorge, ich habe da schon jemanden im Auge.“

Severus wäre sein Mann, stellte Harry unumstößlich fest. Er würde weder viele Fragen stellen noch ihn für sein Vorhaben verurteilen, womit er bei Hermine rechnen müsste. Sie würde ihm einen Vortrag darüber halten, wie falsch es wäre, das Elixier des Lebens herzustellen. Seine Motivation wäre ihr egal. Harry beschloss, die Winkelgasse aufzusuchen.

In der Apotheke war einiges los. Wochenende. Bestellungen wurden abgeholt und aufgegeben. Kunden wollten beraten werden. Hermine verbrachte mehr Zeit bei Daphne im Verkaufsraum als im Labor, in das sich Severus zurückgezogen hatte. Im Sitzen, weil ihn das Stehen noch anstrengte, schnitt er Zutaten für einen Abschwelltrank. Bei jeder Bewegung der linken Hand verspürte er einen stechenden Schmerz. Der Verband, den Hermine ihm heute morgen erneuert hatte, war wieder feucht geworden. Blut und Wundflüssigkeit tränkten die Bandage. Es würde nach Poppys Diagnose noch mindestens zwei Wochen dauern, bis er nichts mehr von der Verletzung bemerken würde. Hinzu kam das Unbehagen zu wissen, dass neben Hermine noch jemand in der Apotheke war. Die Angestellte, der er heute morgen vorgestellt wurde. Er konnte sich sehr detailliert an die Begrüßung erinnern. Hermine hatte ihm nichts davon erzählt, dass die Verkäuferin ausgerechnet eine ehemalige Schülerin aus seinem Haus war; gleicher Jahrgang wie Hermine. Die Bekanntmachung nahm nicht viel Zeit in Anspruch. „Guten Morgen, Miss Greengrass“, hatte er kurz und knapp gesagt. Kein „Ich freue mich auf die Zusammenarbeit.“ oder „Willkommen an Bord.“ war ihm über die Lippen gekommen. Die Begrüßung ihrerseits war, wenn er es sich recht überlegte, genauso karg ausgefallen.

Plötzlich hörte er die beiden Frauen im Verkaufsraum erst kichern, dann lachen. Im ersten Moment überkam ihn der kränkende Gedanke, er wäre der Grund für die Heiterkeit, doch das war nur ein Gefühl, das ihn aus der Vergangenheit eingeholt hatte. Damals hatten seine Mitschüler ihn oft zum Gespött gemacht, weshalb er eine Zeit lang überaus empfindlich auf Gelächter reagiert hatte und sich immer persönlich angesprochen fühlte. Heutzutage würde sicherlich niemand über ihn lachen, besonders nicht Hermine.

Mit breitem Grinsen trat Hermine ins Labor. „Du glaubst es nicht, Severus. Da war eben ein Pärchen, das Vielsafttrank bestellt hat“, begann sie zu erzählen, während sie sich einen Behälter aus dem Regal nahm. „Daphne legt den beiden also das Formular vom Ministerium hin, das sie ausfüllen müssen. Der Mann hatte ein knallrotes Gesicht, nachdem beide es unterzeichneten. Weißt du, was in der Spalte als 'Grund der Verwendung' angegeben war?“
„Erotische Kreativität“, erwiderte er trocken.
Wegen der blitzschnellen Antwort stolperte Hermine über ihre eigenen Füße. „Woher weißt du das?“
„Das ist der häufigste Grund, der auf diesen Formularen genannt wird. Von Mr. Belby habe ich das einmal nebenher erfahren. Gleiches konnte man in einer Fachzeitschrift für Zaubertränke nachlesen, in der zusätzlich eine Auflistung der kuriosesten Kundenangaben gedruckt war.“ Er grinste. „Da gab es wirklich etwas zu lachen.“
„Das kann ich mir vorstellen. Die Ausgabe musst du beizeiten mal raussuchen. Ich will mich auch amüsieren.“ Sie stellte sich direkt neben ihn und legte eine Hand auf seine Schulter. „Wie geht es dem Arm?“
„Ich befürchte, du musst den Verband noch einmal wechseln.“ Er öffnete die Knopfleiste an seinem linken Ärmel und schob ihn hoch. Das Hemd darunter war mit Blut beschmutzt.
„Du solltest ihn noch nicht so belasten. Es verheilt langsamer, wenn die Wunde ständig wieder aufgeht.“

Sie ließ sich Zeit, als sie den Verband wechselte. Seit gestern Abend war jeder Zweifel ihrerseits wie weggefegt. Severus gegenüber musste sie sich nicht mehr verstellen. Sie durfte zeigen, was sie empfand, aber sie wusste auch, wie viel Wert er auf seine Privatsphäre legte. So nahm sie sich vor, ihn nicht vor anderen in Verlegenheit zu bringen. Das größte Verbot kam von ihr selbst. Keine unüberlegte Schäkerei während der Arbeitszeit. Als sie gerade wieder seinen Ärmel zuknöpfte, klopfte es zaghaft an der Tür zum Labor. Daphne steckte den Kopf hinein.

„Harry Potter ist hier und möchte mit Professor Snape sprechen.“
„Wieso kommt er denn nicht durch den Kamin?“, fragte sich Hermine selbst.
Severus richtete das Wort an die Verkäuferin. „Bitten Sie ihn herein.“
Einen Moment später war es Harrys Kopf, der ins Labor lugte. „Darf ich reinkommen?“
„Warum plötzlich so schüchtern?“, scherzte Severus. Hermine begrüßte ihren Freund, verschwand aber wieder in den Verkaufsraum, so dass die beiden allein waren.
„Ich wusste gar nicht“, begann Harry, während er sich eine Stuhl suchte, „dass Hermine eine ehemalige Mitschülerin eingestellt hat.“
„Damit wurde ich heute früh ebenfalls überrascht.“ Severus wartete, bis Harry einen Stuhl zum Tisch trug und sich setzte, bevor er wissen wollte: „Was führt dich zu mir?“
„Ich habe da eine Aufgabe für dich.“
Severus begutachtete ihn durch verengte Augenlider, beugte sich dann zu ihm und flüsterte: „Wen soll ich bespitzeln?“
„Was?“ Harry schüttelte den Kopf. „Nicht diese Art von Arbeit. Ich brauche einen erfahrenen Zaubertränkemeister und musste dabei zufällig an dich denken.“
„Ah“, Severus setzte sich wieder aufrecht hin und sprach in normaler Lautstärke. „Vielsafttrank kannst du bei Hermine bestellen. Natürlich zum Freundschaftspreis.“
Harrys Stirn schlug Falten. „Wozu sollte ich Vielsafttrank brauchen?“
„Keine Ahnung, sag du es mir.“

Bevor das Gespräch mit Severus noch verwirrender wurde, kam Harry zur Sache. Achtsam blickte er zur Labortür hinüber, um sich zu vergewissern, dass sie allein waren. Die Tür war geschlossen. Erst jetzt griff er in seine Hosentasche, was im Sitzen sehr umständlich war, doch er bekam ihn zu fassen. Seine Hand öffnete Harry so langsam, als würde sie einen kostbaren Schmetterling beherbergen, der nicht fort fliegen durfte. Auf der Handfläche ruhte der Stein der Weisen, den er Severus unter die Nase hielt.

„Ich möchte das Elixier des Lebens.“
Severus erstarrte in Ehrfurcht. Sein Blick war auf den roten Stein fixiert. Langsam hob er eine Hand, hielt jedoch inne. „Darf ich?“
Harry nickte. „Natürlich!“

Mit Daumen und Zeigefinger nahm Severus den unebenen Stein und hielt ihn gegen das Licht, um ihn betrachten zu können. In diesem Moment kam Hermine ohne anzuklopfen herein. Harry griff sich den Stein und versuchte, ihn zu verstecken, doch Hermine hatte ihn längst gesehen.

„Was soll das?“, fragte sie mit knurrigem Unterton. „Ist es das, für das ich es halte?“
Harry versuchte, sich zu rechtfertigen. „Hermine, es ist anders als du jetzt denkst.“
„Ach ja?“ Sie warf ihm einen bösen Blick zu. „Wie bist du überhaupt an den gekommen?“ In Windeseile stand sie bei ihm und hielt ihm ihre offene Hand entgegen, damit er ihr den Stein geben würde. Harry fühlte sich, als wäre er beim Stehlen erwischt worden. Er seufzte und legte den Stein in ihre Handfläche, blickte dabei bedripst zu Boden. „Ich glaub es ja nicht!“, schimpfte sie, als sie das rote Wunder betrachtete. „Was hast du mit ihm vor? Warum hast du ihn überhaupt? Das gefällt mir nicht, Harry.“ Ihr Zeigefinger wedelte rügend hin und her. „Das ist gar nicht gut!“
„Hermine, beruhige dich erst einmal.“
„Nein, ich will damit nichts zu tun haben!“ Sie war aus unerfindlichen Gründen wütend.
„Der Stein ist doch nichts Schlimmes! Was regst du dich überhaupt so auf?“
„Weil ich nicht gutheißen kann, dass jemand Gott spielt und sein Leben um weiß ich wie viele Jahre verlängert! Das ist unnatürlich und nicht richtig.“
Mit flinken Fingern entriss Severus ihr den Stein und fragte provozierend: „Hättest du auch so ein Theater gemacht, wenn du Flamel höchstpersönlich begegnet wärst? Würdest du dir herausnehmen, einen über 600 Jahre alten Mann zurechtzuweisen?“
Hermine schien verlegen. „Das hat doch mit Flamel überhaupt nichts zu tun!“
„Nicht? Ich dachte, du findest es unnatürlich, sein Leben zu verlängern, was Flamel und seine Gattin wohlweislich getan haben.“
„Aber ...“ Er hatte ihr den Wind aus den Segeln genommen. „Was, wenn der Stein in die falschen Hände gerät?“
„Wie sehen denn die richtigen aus?“, stellte Severus als Gegenfrage.

Hermine musste sich geschlagen geben. Sie fand keinen Grund, Harrys Vorhaben zu verunglimpfen, während sie gleichzeitig Flamels Handeln guthieß. Trotzdem konnte sie Harrys Vorhaben nicht nachvollziehen.

„Flamel war immerhin ein angesehener Alchemist“, sagte sie leise. „Er wusste, was er tat.“
„Ich weiß es auch, Hermine“, versicherte Harry. „Ich wollte dich da wirklich nicht mit belasten. Es war nur eine Idee von mir. Sollte eine Überraschung werden.“ Wieder seufzte er. Warum konnte nicht mal etwas so ablaufen, wie er es sich vorgestellt hatte? „Ich glaube, ich vergesse das Ganze lieber.“
„Nein“, widersprach Severus, „ich schlage vor, wir führen das Gespräch in meinem Zimmer fort. Ungestört. Von der Idee möchte ich zumindest erfahren, bevor sie vollends stirbt.“

Die Erste, die das Labor verließ, war Hermine. Sie wollte kein Wort mehr über den Stein verlieren. Als Severus und Harry auf den Flur traten, änderte sie kurzfristig ihre Meinung und drehte sich um.

„Severus, auf ein Wort?“ Ihr bestimmender Ton ließ kein „Nein“ zu.
Severus nickte, wandte sich dann Harry zu, während er die Treppe hinaufzeigte. „Oben, erste Tür rechts.“

Den Wink verstand Harry, also ließ er die beiden allein. Oben angekommen drückte er die Klinke hinunter und stemmte sich gegen das Holz. Die Tür zu Severus' Zimmer bewegte sich keinen Zentimeter. Weil er nicht eintreten konnte, wartete er ungesehen am Treppenabsatz und beobachtete, wie Hermine mit aufgebrachten Bewegungen ihres Kopfes redete. Er hörte kein Wort, kannte aber ihre Körpersprache. Die großen Augen, die hochgezogenen Brauen und das Zusammenpressen der Lippen während der kurzen Sprechpausen bedeuteten, dass Hermine sich große Sorgen machte und darüber hinaus eine Erklärung forderte. Für Harry kam es überraschend, als Severus mit Daumen und Zeigefinger ihr Kinn hielt und sich zu ihr beugte, während er leise etwas sagte. Man konnte nur Hermines Gesicht sehen und somit die Aufmerksamkeit, die sie Severus schenkte. Ihre Augenbrauen senkten sich langsam, ebenso die Augenlider und die Lippen entspannten sich. Das Vertrauen stand ihr ins Gesicht geschrieben. Severus hatte es geschafft, sie zu beruhigen, was Harry zum Lächeln brachte. Selbst bei ihm dauerte es länger, stichfeste Argumente zu liefern, um seine beste Freundin zu besänftigen. Sein Lächeln wurde mit einem Schlag vernichtet. Sein Unterkiefer gehorchte ihm nicht mehr, denn der schien von der Schwerkraft übermannt den Boden aufsuchen zu wollen. Der Grund war das, was Harry beobachten konnte. Er sah mit an, wie Severus ihr einen vertrauten Kuss auf die Wange gab. Eine Kuss! Was zum ...? Gleich darauf trennten sich die Wege der beiden. Severus betrat die erste Stufe und blickte zufällig die Treppe hinauf, bevor er zur Salzsäule erstarrte, weil er Harry mit offen stehendem Mund gaffen sah. Ein Schreck durchfuhr ihn, als der Tränkemeister seine Augen bedrohlich langsam zusammengekniff. Von irgendwoher hörte man ein klackendes Geräusch. Es waren Harrys Zähne, die aufeinander prallten, als er seinen Mund abrupt schloss.

Bei Harry oben angelangt fragte Severus missgestimmt: „Warum bist du nicht im Zimmer?“
„Ich, ähm, habe die Tür nicht aufbekommen“, gestand er kleinlaut. Harry wusste, dass seine Wangen rot waren – er fühlte sie glühen. Peinlich berührt sah er mit an, wie Severus die Tür mit Leichtigkeit öffnete. Harry lachte verlegen. „Oh, ich habe gedrückt.“ Ein gemurmeltes Wort, das ähnlich wie „Idiot“ klang, war zu hören.
„Geh schon rein!“, forderte Severus schroff. Kaum waren beide im Zimmer, drückte er Harry an die geschlossene Tür, presste den rechten Unterarm quer über dessen Brust. „Also?“

Ein kleiner Rückfall in alte Zeiten. Severus verhielt sich provokant, fast schon aggressiv. Genau diese Wesenszüge waren es, die auch Harry in die Vergangenheit schleuderten und für einen Moment in Severus den verhassten Lehrer von damals sehen ließen, anstatt den schwer zu handhabenden, aber dennoch lieb gewonnenen Freund.

Man konnte hören, dass Harry kräftig schluckte, bevor er beteuerte: „Ich verspreche, ich verliere kein Sterbenswörtchen darüber!“
Severus schien irritiert. Seine Stirn schlug Falten. „Was?“
„Über Hermine und ...“
„Weißt du“, unterbrach Severus, „wie egal es mir ist, ob oder wer davon erfährt?“ Die Situation entspannte sich ein wenig. Severus' Hand legte sich schwer auf Harrys Schulter. Mit seiner linken fischte er den Stein der Weisen aus der Tasche seines Gehrocks und hielt ihn Harry unter die Nase, wiederholte dann: „Also?“ Harry verstand nicht, woraufhin Severus deutlicher wurde. „Wie bist du zu dem gekommen? Hast du ihn von Albus gestohlen?“
„Wie bitte?“ War es das, was Hermine glaubte? Echauffiert schüttelte er den Kopf. „Was denkst du denn von mir?“
„Ich kombiniere lediglich. Albus war als Letzter im Besitz des Steins. Er hat ihn von Flamel erhalten – erst zur Aufbewahrung, dann zur Vernichtung. Da stellt sich mir die berechtigte Frage, wie du plötzlich in seinen Besitz kommst.“
„Fawkes hatte ihn.“
„Lüg mich nicht an!“
Harry hob seine Hände. Die Handflächen zeigten in beschwichtigender Geste zu Severus. „Ich lüge nicht!“

Als er seinen Griff an Harrys Schulter verstärkte, geschah etwas Außergewöhnliches. Severus fühlte einen Druck auf seiner Brust, wurde zwei Schritte zurückgedrängt, während Harry weiterhin an der Tür verweilte.

„Was sollte das?“ Severus legte eine Hand auf seine Brust, genau an die Stelle, wo er den Druck verspürt hatte. „Du hast mich gestoßen.“
„Unsinn! Ich hab dich ja nicht einmal berührt“, beteuerte Harry.
„Das ist es ja! Wie hast du das gemacht?“ Mit einem Male war Severus nicht mehr verärgert, sondern neugierig wie Schmidts Katze.
„Ich, ähm ...“, stammelte Harry. „Mein Elf bringt mir gerade ein paar Dinge bei.“
„Dein ...“ Severus schnaufte belustigt. „Dein Elf?“ Tief und brummig begann Severus zu lachen, was Harry amüsiert beobachtete.
„Was ist daran so lustig?“, fragte er, musste aber selbst grinsen.
„Ach nichts“, winkte Severus ab, stellte sich dennoch die fiktive Schlagzeile vom Tagespropheten vor, der darüber berichtete. „Was lehrt er dich? Reinigungszauber? Oder vielleicht Kochen?“
„Stablose Magie.“
Für ein paar Sekunden war Severus sprachlos. „Mmmh“, machte er einen Augenblick später. „Ich verstehe. Wer könnte einem stablose Magie besser beibringen als jemand, der tagtäglich stablos zaubert?“
„Ich habe ihn nicht einmal darum gebeten.“ Interessiert ließ Harry seinen Blick schweifen. In diesem Zimmer war er noch nie gewesen. Es war karg eingerichtet, aber wenigstens gab es hier schon eine Couch. „Wollen wir uns nicht setzen?“
Severus blickte zur Couch hinüber, dann zu Harry, dem er mit einer Kopfbewegung einen Sitzplatz anbot. Er selbst blieb stehen. „Fawkes soll also den Stein gehabt haben?“
„Weißt du noch von der harten Stelle an seinem Bauch?“, half Harry ihm auf die Sprünge.
„Ah“, Severus wirkte erleuchtet, „das war auch der Grund, warum der Vogel auf jeden eingehackt hat, der sich ihm näherte.“ Mit großen Schritten ging er auf und ab, blieb dann stehen und wandte sich an Harry. „Aber warum hatte Fawkes ihn? Wenn Albus nur wollte, dass er ihn aufbewahrt, hätte der Phönix nicht zu dir kommen müssen.“
„Ich habe keine Ahnung. Mein Elf hat eine Andeutung gemacht. Entweder vermutet er nur, dass Albus für lange Zeit das Elixier des Lebens eingenommen hat oder er weiß es aus mir unbekannten Quellen. Auf jeden Fall meinte er, ich sollte mich nicht hinreißen lassen zu ... Wie hat er das nochmal gesagt?“, murmelte Harry zu sich selbst. „Er meinte, es wäre schade, wenn ich nicht zur Ruhe kommen würde, weil ich nur noch das Wohl der Gemeinschaft im Kopf hätte. So ähnlich hat er sich ausgedrückt.“
„Wir wissen, dass Albus das Elixier hergestellt hat, um sich selbst und auch Sirius einen kleinen Vorteil zu verschaffen.“
„So klein war der aber nicht“, warf Harry scherzend ein.
Severus erinnerte sich an den ungefähren Zeitpunkt, als Fawkes zu Harry kam. Ein wenig später hatten Albus und Minerva geheiratet. Vielleicht hing das damit zusammen, fragte er sich selbst. „Es wäre gut möglich, dass Albus regelmäßig etwas eingenommen hat, auch nachdem Voldemort längst besiegt war. Möglicherweise hat der Phönix das nicht gebilligt“, reimte sich Severus zusammen.
„Warum sollte Fawkes was dagegen gehabt haben?“
„Das weiß ich doch nicht“, blaffte Severus ihn unerwartet an. „Es ist dein Vogel, frag du ihn.“ Harry traute seinen Ohren nicht. Hatte Severus ihm gerade geraten, den Phönix zu fragen? „Du kannst auch“, lenkte Severus ab, „deinen Elf fragen, was er mit seiner Andeutung meinte. Wenn er wirklich mehr weiß ...“
„Ist es am Ende nicht egal?“, fiel ihm Harry ins Wort. „Ich meine, der Stein ist hier, Fawkes lässt sich mittlerweile von Hedwig den Bauch vollstopfen und Albus ist der liebe Mensch wie früher.“
Mit dieser Aussage war Severus gar nicht zufrieden. „Sag mal, interessieren dich die Zusammenhänge überhaupt nicht?“
Er spitzte die Lippen und dachte kurz nach. Heiter und gelöst antwortete Harry einen Augenblick später mit nur einem Wort: „Nö!“
„Ich fasse es nicht! Kein Interesse an Geheimnissen?“
„Wenn ich ehrlich bin, dann spiele ich lieber mit der Lok von Nicholas, als irgendwelchen Geheimnissen auf den Grund zu gehen. Das letzte hat mir gereicht. Hat mir ziemlich zugesetzt.“ Ein bedeutungsschwangerer Blick seitens Harry. „Aber das ist jetzt gelöst und bald auch aus der Welt geschafft“, fügte er in dem Wissen hinzu, dass sein Gesprächspartner längst wusste, dass er von ihm sprach.
„Zurück zu dir“, wies Severus ihn in seine Schranken. „Was hast du vor? Soll ich für dich Blei in Gold verwandeln?“
Harrys Augenbrauen schossen über den Rand der runden Brille hinaus. „Das geht?“
Um sich selbst zu beruhigen schloss Severus für einen kurzen Moment die Augen, atmete kurz durch. „Ich kann es einfach nicht glauben. Du besitzt den Stein der Weisen und hast keine Ahnung, was man mit ihm alles anstellen kann?“
„Na ja, als Briefbeschwerer ist er zu leicht, da dachte ich, würde ich gern ein bisschen von dem Elixier des Lebens haben“, spielte Harry die Sache amüsiert runter. „Was interessiert mich Gold? Damit würde ich nur den Preis für Edelmetalle kaputt machen, was mir im schlimmsten Fall noch die Koboldmafia auf den Hals hetzt.“
„Können wir das Gespräch jetzt wieder in eine ernstere Richtung lenken?“ Endlich setzte sich Severus und betrachtete den Stein in seiner Hand. „Das Elixier des Lebens also. Wofür?“
„Ist eine Überraschung.“
Severus nickte. „Mit dieser Erklärung soll ich mich zufriedengeben?“
„Warum nicht? Reicht es, wenn ich hinzufüge, dass ich nichts Selbstsüchtiges vorhabe?“

Mit strengem Blick musterte Severus sein Gegenüber. Harry war eine Menge. Er war nervtötend – manchmal zumindest – und neugierig, nett, genügsam, hilfsbereit ... Die Liste ließe sich um unzählige Worte verlängern. Das Wort „selbstsüchtig“ fand sich nicht auf ihr. Severus verdankte Harry sehr viel. Hätte der damals nicht ständig nachgehakt und Hermine mit einbezogen, würde Severus nicht in naher Zukunft ein neues Leben beginnen können. Was waren da schon ein paar Tropfen vom Elixier des Lebens?

„Gut, wie viel möchtest du haben?“
Bei der Frage rutschte Harry auf der Couch herum. „Mit meinem Elf zusammen habe ich alles durchgerechnet, was die Menge und die zu erwartende Lebensverlängerung betrifft. Wir sind auf insgesamt fünf Liter gekommen.“
Es war selten, sehr selten, aber es war durchaus möglich, Severus aus dem Gleichgewicht zu bringen. „Fünf?“, blaffte Severus ihn versehentlich an. „Fünf Liter? Was hast du mit dieser Menge vor? Willst du ein neues Erfrischungsgetränk auf den Markt bringen?“
„Wir wollten ernst bleiben“, erinnerte Harry mit einem Schmunzeln.
„Fünf ...?“ Severus konnte sich gar nicht beruhigen. „Ich wüsste nicht einmal, wie ich auch nur einen Tropfen aus dem Stein herauspressen könnte und du verlangst gleich fünf Liter!“
„Wenn es dir zu schwer ist ...“ Harry streckte den Arm und wollte Severus den Stein aus der Hand nehmen, doch der zog sie weg. Severus' Können war angezweifelt worden, sein Stolz verletzt und das konnte er nicht auf sich sitzen lassen.
„Ich habe nicht gesagt, dass es mir zu schwer ist. Ich werde allerdings einige Zeit benötigen, muss viel lesen.“
„Wir haben schon eine Menge Vorarbeit geleistet!“, verkündete Harry selbstbewusst. „Mein Elf steht dir gern helfend zur Seite. Wir haben schon herausgefunden, wie man das Elixier gewinnt, nämlich indem man ein extra gemischtes Gemisch mischt ...“ Wegen seiner Wiederholung kam Harry ins Stottern. „Ein Gemisch also, das man extra anrührt ... und ... um ...“
„Es erstaunt mich immer wieder, wie beredt du bist. Ich brauche erst mal einen Drink!“

Geduldig wartete Harry, bis Severus mit einem Glas in der Hand zurückkommen würde. In der Zeit legte er sich Worte in Gedanken zurecht, damit er sich nicht wieder so verhaspelte.

„Ein besonderes Gemisch“, begann Harry, „das erhitzt wird. Was Destillation ist, weißt du?“ Severus rollte mit den Augen. Natürlich wusste er als Tränkemeister, was mit Destillation gemeint war. Auch Harry wurde sich seiner dummen Frage bewusst, fuhr aber einfach fort: „In diesem Destillierapparat wird der Stein befestigt. Der aufsteigende Dampf der erhitzten Flüssigkeit löst die“, er fuchtelte nervös mit seinen Händen umher, „Moleküle? Oder sowas ...“ Er wurde unsicher. Ohne seine Pergamente war Harry hilflos. Hätte er sie nur mitgenommen.
„Ich glaube, ich lese mich lieber selbst in das Thema ein. Aussagen wie 'oder sowas' sind nicht gerade Angaben, die auf eine erfolgreiche Arbeit hoffen lassen.“
„Wie du meinst. Jedenfalls ist das, was hinten rauskommt, das Elixier des Lebens.“
„Schön erklärt“, zog Severus ihn auf. „Wenn es andere Methoden gibt, werde ich sie finden.“
„Okay, aber mach nichts, was ich nicht auch tun würde.“
Abrupt senkte Severus sein Glas, blickte Harry in die Augen und beschwerte sich lauthals: „Unter solchen Einschränkungen kann ich nicht arbeiten!“
Vor Schreck hatte sich Harry tief in das Polster der Couch gedrückt. „Von mir aus ... Dann mach, was du willst, aber ich muss davon nichts erfahren.“
„Schon besser! Dein Elf kann mir die Unterlagen bringen. Ich werde mich damit beschäftigen, nachdem ich mir ...“
Einen Moment wartete Harry, falls Severus den Satz beenden würde, doch erwartete vergeblich. „Bis du dir was?“
„Ich muss noch ein Bekleidungsgeschäft aufsuchen.“
Eine neue Herrengarderobe für die Hochzeit, dachte Harry. „Nimm Hermine mit. Ich glaube, sie hat auch noch nichts.“

Harry blieb noch eine Weile. Er erkundigte sich nochmals nach Severus' Wohlbefinden und dieser erzählte endlich von dem unaufhörlich stechenden Schmerz, der Unbeweglichkeit der Finger und der Taubheit. Beide genossen das Gespräch. Es war wie früher, während des gemeinsamen Frühstücks, nur das Severus nicht mehr so wortkarg war. Harry gegenüber war er zwar noch immer auf unnachahmliche Art liebevoll sarkastisch, aber dennoch aufgeschlossen. Severus konnte über seine Befürchtungen sprechen, was beispielsweise die junge Verkäuferin betraf. Er tat sich schwer damit, sie in der Apotheke mit offenen Armen zu empfangen. Trotzdem, und das rechnete Harry ihm hoch an, war er gewillt, die Situation hinzunehmen – einfach zu sehen, wie es sich entwickeln würde.

Im Verlauf des Gesprächs äußerte Harry seine Bedenken wegen Ginny. Seiner Meinung nach fraß sie ihre Ängste in sich hinein.

„Das könnte böse enden“, hielt er Harry vor Augen, griff sich derweil an den Magen, weil Erinnerungen an die eigene Gastritis aufkamen, die er nur mit Poppys Mitteln in den Griff bekommen hatte.
„Was soll ich tun? Sie redet nicht mit mir.“
„Dann zwing sie. Bei anderen Menschen lässt du doch auch nicht locker“, warf Severus ihm mit gekräuselter Nase vor.
„Mal sehen“, Harry schlug sich auf die Oberschenkel, „ob ich vielleicht heute dazu komme. Ich werde langsam wieder gehen.“ Er stand auf. „Danke für den netten Tag.“
„Gern geschehen.“

Über den Kamin im Wohnzimmer verschwand Harry mit dem Vorhaben, Ginny zu einem Gespräch über die schlimme Zeit zu überreden. Die Apotheke hatte bereits um 16 Uhr geschlossen, als Severus nach unten ging und vorsichtig in den Verkaufsraum blickte. Hermine bemerkte ihn.

„Sie ist schon weg.“ Ihr fehlte das Verständnis für seine Zurückhaltung. Severus würde jeden, der sein Missfallen erregte, ungespitzt in den Boden rammen. Die Verkäuferin hatte ihm aber nichts getan. „Was hast du gegen sie?“, brachte sie seine Vorsicht auf den Punkt.
„Nichts Wirksames.“
Hermine schnaufte. „Sie macht ihre Arbeit gut und bleibt nicht länger als nötig.“
Ohne auf ihr Lob für die Angestellte einzugehen informierte er sie: „Ich werde die Filiale von Besenknechts Sonntagsstaat aufsuchen. Die Hochzeit von Harry ...“ Severus verlor die Konzentration, weil Hermines entgleisenden Gesichtszüge darauf hindeuteten, dass ihr Gehirn gerade eine Kernschmelze erfuhr. „Was hast du?“
„Ich bin Trauzeugin und habe kein Kleid!“ Aufgeregt fasste sie sich ans wild pochende Herz. „Muss ich etwas Besonderes tragen?“ Sie quengelte. „Hat man Pläne, was ich anziehen soll?“
„Harry meinte nur, du hättest noch nichts. Ich gehe davon aus, dass es dir freisteht.“
„Dann komme ich mit! Ich hol nur noch meine Tasche.“

Ein Glück war, dass manche Geschäfte auch samstags bis 18 Uhr geöffnet hatten. Besenknechts Sonntagsstaat war nicht gut besucht, was Severus nur recht war. Sofort war eine Dame bei ihnen, die zuvorkommend ihre Hilfe in Geschmacksfragen anbot.

„Danke“, winke Severus ab. „Ich möchte mich nur etwas umsehen.“
Nächstes Opfer der Verkäuferin war Hermine. „Darf ich Ihnen helfen? Was schwebt Ihnen vor?“
„Ich bin Trauzeugin und brauche dafür ein hübsches Kleid.“
„Wollen Sie es schneidern lassen? Wann findet die Hochzeit denn statt?“
„Ich ...“ Durch den ganzen Stress hatte sich Hermine überhaupt keine Gedanken gemacht. Würde Harry für ein Kleid aufkommen? Könnte sie es selbst bezahlen? „Ich weiß nicht!“ Panik.
Gelassen warf Severus ein: „Die Hochzeit findet am 26. Juni statt.“
„Das wird aber knapp, wenn Sie es schneidern lassen möchten.“
„Severus?“ Sie warf ihm einen Hilfe suchenden Blick zu. „Soll ich es anfertigen lassen?“
„Das fragst du mich?“ Demonstrativ schob er einen Bügel mit einem Herrenoberteil zur Seite. Er hatte sich vorgenommen, seine Sachen von der Stange zu kaufen. „Ich beschäftige mich mit solchen Dingen so wenig wie nur möglich.“
Hermine wandte sich an die Verkäuferin. „Wie lange würde das Nähen dauern und wie teuer wäre das?“
„Es kommt ganz drauf an, was Sie sich vorstellen.“

Ein Katalog mit bunten, beweglichen Bildern sollte dabei helfen, ihre Vorstellungen vom eigenen Kleid präziser zu gestalten. Severus hingegen war zufrieden, in Ruhe die Kleiderständer zu inspizieren. Als störend empfand er lediglich den Herrn – ebenfalls ein Angestellter von Besenknechts Sonntagsstaat –, dessen Hilfe Severus abgelehnt hatte, dafür nun von ihm beobachtet wurde. Es war lästig. Als Severus eine Hose und den dazugehörigen Gehrock vom Ständer nahm, um beides genauer zu begutachten, sah er aus den Augenwinkeln, wie der Verkäufer die Nase rümpfte und den Kopf schüttelte.

Hermines Stimme lenkte ihn ab. „Severus, welche Farbe soll ich ...?“
„Blau!“, bellte er zu ihr und der Verkäuferin hinüber, ohne zu wissen, was Hermine tatsächlich fragen wollte. Die Antwort schien ihr zu reichen.
„Sir?“ Geschmeidig wie eine Raubkatze hatte sich der Verkäufer, der nur halb so alt wie Severus war, an seinen Kunden herangeschlichen. „Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte?“
„Dürfen Sie nicht.“ Severus würdigte ihn keines Blickes, während er sich einen schwarzen Gehrock überzog und an sich hinuntersah.
Der junge Mann ließ sich nicht einschüchtern. „Wie ich vernommen habe, suchen auch Sie etwas für eine Hochzeit?“ Weil Severus nicht antwortete, griff der Verkäufer zu dem Hosenbein des in Severus' Händen verbleibenden Kleidungsstücks. „Schwarz ist eher etwas für eine Beerdigung, meinen Sie nicht?“ Ein grunzendes Lachen begleitete die unüberlegt gesprochenen Worte.
Finster blickte Severus den Herrn an. „Wenn Sie mich nicht in Ruhe lassen“, säuselt er gefährlich leise, „dann trage ich das hier“, Severus warf ihm die Hose zu, „auf Ihrer Beerdigung! Soll ich es gleich anbehalten?“
Der Mann scheute zurück. Ein zaghaftes Lächeln zuckte über seine Lippen. „Wenn Sie Hilfe benötigen, Sie finden mich ...“ Ungenau deutete er auf den Bereich mit der Theke, in den sich der Mann sofort zurückzog.

Den Gehrock zog Severus wieder aus, räumte ihn aber absichtlich nicht weg, sondern legte ihn achtlos auf den Ständer. Der lästige Verkäufer sollte etwas zu tun haben, damit Severus sich ungestört umschauen konnte. Die vielen bunten Umhänge schreckten ihn ab. Jeder von ihnen erinnerte an Lockharts Garderobe oder schlimmer noch, an die von Albus. 'Wer außer Albus würde Sterne und Monde auf seinem Umhang tragen?', fragte sich Severus, als er entsprechendes Kleidungsstück mit gerümpfter Nase betrachtete. Plötzlich war Hermine bei ihm, hielt ihm einen Katalog hin.

„Was meinst du, Severus?“ Sie tippte auf ein beigefarbenes Kleid. „Das hier in blau?“
„Warum nicht?“
„Gefällt es dir denn?“
„Ich muss es nicht tragen.“
Sie stöhnte. „Hilf mir doch mal ein bisschen. Ist das Kleid in Ordnung?“
„Hermine, ich sagte schon, dass mich das einfach nicht interessiert.“
„Oh, vielen Dank für deinen Ratschlag!“, giftete sie ihn gereizt an, zeigte dann auf den Umhang mit Monden und Sternen. „Nimm doch den, steht dir bestimmt.“

Sauer war Hermine nicht, nur gestresst. Mit dem Katalog ging sie zurück zur Verkäuferin. Man konnte noch das Quietschen der Bügel hören, die Severus nacheinander zur Seite schob. Sie selbst hatte ihren Entschluss gefasst.

„Das hier in blau.“
Die Verkäuferin nickte. „Wir haben es vorrätig. Probieren Sie es an, dann können wir gleich mit den Änderungen beginnen.“
Peinlichkeiten wie auf der Hochzeit von Anne und Sirius sollten nicht noch einmal auftreten, weswegen Hermine forderte: „Auf jeden Fall möchte ich das Kleid rissfest haben.“
„Aber selbstverständlich. Das macht 45 Galleonen für zwei Jahre.“
„Das ist die Sache wert“, bestätigte Hermine die zusätzlichen Ausgaben.

In einer der Kabinen probierte Hermine das Kleid ihrer Wahl an. Es war um die Hüfte herum ein wenig eng, was ihr Komplexe bereitete. Die zusätzlichen Kilos von vor knapp zwei Jahren war sie bisher noch nicht losgeworden. Es hatte sie aber auch niemand daraufhin angesprochen. Sie selbst fühlte sich wohl. Hermine sah keinen Grund, ihr Gewicht zu reduzieren. Nach so langer Zeit aber ausgerechnet von einem Kleid darauf hingewiesen werden, dass sie schon mal schlanker war, war wie ein Schlag ins Gesicht.

„Passt es?“, hörte sie die Verkäuferin hinter dem Vorhang fragen. „Darf ich es sehen?“ Innerlich seufzte Hermine, ließ die Dame jedoch herein.
„Oh“, machte die Frau und beäugte die Stelle, wo die Taille zur Hüfte überging. „Das ist seltsam“, murmelte die Verkäuferin. „Das ist bei allen Kundinnen so, dass es hier“, sie legte beide Hände auf Hermines Taille, „enger ist. Das Kleid ist an dieser Stelle von Hause aus ungünstig geschnitten.“ Hermine wurde von der Dame einmal gedreht. „Ansonsten sehr hübsch, wirklich! Lassen Sie mich kurz ...“

Die Verkäuferin zog ihren Stab und hielt ihn an eine Naht an der Taille, sprach dann einen Zauber, um das Kleid auszulassen. Hermine konnte wieder anständig atmen. Mit einer Hand strich sie sich über den kleinen Bauch, der eben noch eingeengt war. Die Verkäuferin zupfte zaghaft an dem bisschen Stoff, der die Schultern halbherzig bedeckte, bis er an den Seiten der Oberarme seinen vorbestimmten Platz fand.

„Wunderbar!“, schwärmte die Verkäuferin. „Wie es aussieht, muss gar nichts mehr geändert werden.“
Hermine stimmte zu. „Es ist hübsch.“ Schulterfrei und ein großzügiger Ausschnitt, der jedoch nicht den guten Geschmack beleidigte. So hatte sie sich noch nie gesehen. Das Kleid, das sie auf der Hochzeit von Sirius getragen hatte, war unauffällig elegant gewesen, hochgeschlossen und langärmelig. Konservativ. Das hier war eher ... „Ist es für mich nicht zu aufreizend?“
Die Dame schüttelte den Kopf. „Finde ich nicht, Madam. Aber Sie sollten sich darin natürlich wohlfühlen. Wenn es Ihnen nicht zusagt, probieren Sie doch mal ein anderes.“
„Ich finde es schön, aber ich möchte nicht, dass ich gegen irgendwelche Hochzeitsregeln verstoße.“
„Wenn ich fragen darf: Wie alt ist das Brautpaar? Sie sagten, Sie wären die Trauzeugin.“
„Mein Alter.“
Die Dame strich über den fließenden Stoff des Rocks. „Dann sehe ich überhaupt keine Probleme, ein so modernes Kleid zu tragen.“
„Ich frage mal meinen Begleiter nach seiner Meinung.“

Hermine verließ die Umkleidekabine und suchte im Verkaufsraum nach Severus. Als sie zu ihm ging, kam sie an einer Kombination für Herren vorbei, die sie sofort ansprach, auch wenn es schwarz war. Bei ihm angekommen präsentierte sie sich.

„Severus? Was meinst du?“ Nachdem sie seine Aufmerksamkeit erregt hatte, drehte sie sich einmal. Er musterte sie von Kopf bis Fuß, während die Verkäuferin still neben den beiden auf einen Kommentar wartete. Gleich darauf betrachtete Severus sie nochmals, schien ein wenig nervös.
„Haben Sie nicht etwas, wo oben mehr ...?“ Er fuchtelte verlegen mit einer Hand an seinem eigenen Brustkorb herum, wandte sich gleich darauf direkt an die Verkäuferin. „Ist Ihnen während des Schneiderns der Stoff ausgegangen?“
„Das ist der letzte Schrei, Sir“, versicherte die Verkäuferin.
Hermine wurde unsicher. „Gefällt es dir nicht?“
„Ich befürchte, es wird für eine Vermählung ein wenig unpassend sein.“
„Da muss ich widersprechen, Sir“, wagte die Verkäuferin einzubringen. „Modisch gesehen ist es einwandfrei, keinesfalls anstößig oder gar aufdringlich. Für eine Dame in ihrem Alter spricht nichts dagegen.“
Severus schnaufte, richtete seinen Blick wieder auf Hermine. „Wie ich vorhin schon sagte, ich muss es nicht tragen.“ Für ihn war die Sache damit erledigt und er widmete sich wieder den vielen Kleidungsstücken für Herren.
Wäre sie doch lieber mit Luna einkaufen gegangen, schalt sich Hermine selbst. „Ich nehme es!“, machte sie nicht nur der Verkäuferin klar.
„Dann folgen Sie mir, damit ich es rissfest machen kann.“

Zumindest war Hermine noch vor Severus fündig geworden, was ihr eine gewisse Genugtuung bescherte. Von wegen, Frauen würden immer länger benötigen, dachte sie. Er suchte noch immer. Wäre er nicht so auf eine Farbe fixiert, würde die Auswahl für Severus nicht so karg ausfallen. Wieder fiel Hermines Blick auf die Herrenbekleidung, die gut sichtbar im Raum hing.

Hermine deutete auf die Kombination und sagte zur Verkäuferin, die gerade noch die Schutzzauber am Kleid anbrachte: „Das dort gefällt mir.“
Die Dame wusste, dass ihre Kundin dieses Ensemble für ihren Begleiter ins Auge gefallen war. „Der Herr sucht etwas Schwarzes“, erinnerte die Verkäuferin, woraufhin Hermine stutzte. Die Kleidung war ihrer Meinung nach schwarz. Zu ihnen gesellte sich der Verkäufer. Er würde sich hüten, dem grantigen Kunden nochmals seine Hilfe anzubieten, war aber sprungbereit, sollte der ihn zu sich winken.
Hermine war noch immer mit ihren Gedanken bei der Farbe. „Severus?“ Als er sich umdrehte und die drei in einiger Entfernung erblickte, fühlte er sich beobachtet. „Muss es unbedingt schwarz sein?“, rief Hermine quer durch den Raum.
Er schüttelte unerwartet den Kopf und entgegnete trocken: „Nein, muss es nicht. Wenn du etwas findest, das dunkler ist, würde ich auch das tragen.“ Sofort widmete er sich wieder den wenigen Stücken, an denen er Gefallen fand.
Hermine schmunzelte, schaute nochmals zu dem zusammengestellten Ensemble, was die Dame bemerkte und daraufhin erklärte: „Das ist nachtblau. Nur schwarz ist dunkler.“
„Es sieht schwarz aus“, beteuerte Hermine.
Der Verkäufer nickte. „Das liegt an dem Licht hier drinnen. Bei Tageslicht würde man den kleinen Unterschied aber sehen.“
„Geben Sie es mir bitte“, forderte Hermine mit frechem Grinsen.

Höflich kam der Verkäufer ihrem Wunsch nach und brachte das gesamte Kostüm: Hose, Weste, Hemd, Gehrock und Umhang. Der ganze Stoff lag schwer in ihren Armen, als sie sich damit Severus näherte. Im Vergleich zu dem Dunkelblau ihres Kleides sah der Umhang rabenschwarz aus.

„Severus“, er drehte sich zu ihr, „das hier gefällt mir.“ Er beäugte die Kleidung in ihren Armen, griff sich den Gehrock und nahm ihn in Augenschein. „Probier es an.“ Sie hoffte innig, dass er bei dem Licht in diesem Raum nichts bemerken würde. „Es sieht edel aus“, schwärmte sie.

Mehr Überredungskunst brauchte es nicht. Er fügte sich ihrem Wunsch und zog sich mit den Sachen in eine Kabine zurück. Hermine ging zurück zur Theke und ließ ihr Kleid weiter gegen Risse schützen, bevor sie sich wieder umzog. In der nebenan liegenden Umkleidekabine betrachtete sich Severus in kompletter Montur in dem riesigen Spiegel. Das Licht hier drinnen war schummriger als im Verkaufsraum, aber was er sah, gefiel ihm tatsächlich. Im Gegensatz zu Hermine benötigte er keine zweite Meinung – seine reichte ihm. Die Suche hatte ein Ende. Die Entscheidung war gefallen.

Dank des zusätzlichen Knitterschutzzaubers war es möglich, die Kleidung in Tüten mitzunehmen. Severus würde, das wusste Hermine, vor der Hochzeit nicht einen einzigen Blick auf die neuen Sachen werfen. In dieser Hinsicht war er sehr gleichgültig.

Andere Menschen machten sich ebenfalls Gedanken über ihre Hochzeitsbekleidung. Die Zwillinge wollten das Gleiche tragen, wie schon auf Sirius' Hochzeit. Nicht mit ihrer Garderobe wollten sie Aufmerksamkeit erregen, sondern mit dem geplanten Feuerwerk. Albus hingegen hatte bei einem Geschäft etwas Dunkelblaues mit Halbmonden und Sternen bestellt, während Molly ihr Kleid trotz der vielen Aufgaben, mit denen sie als Hochzeitsorganisatorin belastet war, mit viel Freude selbst nähte.

Narzissa besaß einen begehbaren Kleiderschrank, dessen Inhalt sie vorhin in Ruhe überflogen hatte. Unzählige Kleider machten ihr die Entscheidung schwer. Ein neues wollte sie nicht kaufen, denn viele von denen, die hier hingen, waren noch ungetragen. Neugierig warf sie einen Blick auf das eisblaue Kleid aus Seide und Tarlatan. Ihr Gatte hatte es vor vielen Jahren von einer seiner Geschäftsreisen als Geschenk mitgebracht. Narzissa zog es an, verließ den Kleiderschrank und stellte sich vor den großen Spiegel im Schlafzimmer. Unerwartet klopfte es.

Verfasst: 14.09.2012 07:04
von Muggelchen
Rest von Kapitel 208

„Herein.“
Mit Charles auf dem guten Arm öffnete Lucius die Tür. Im ersten Moment blieb er wie verzaubert stehen. „Wunderschön, meine Liebe.“ Mit diesem Kompliment zauberte er ein verlegenes Lächeln auf ihre Lippen. Er ging einmal um sie herum. „Das ist das Kleid, das ich aus Kanada mitgebracht habe“, erinnerte er sich. „Es passt ausgezeichnet. Wieso ziehst du es gerade jetzt an? Ist heute etwas Besonderes?“
„Nein, ich habe mir nur Gedanken gemacht, was ich zur Hochzeit tragen werde.“
Lucius kniff die Augen zusammen. „Hochzeit?“
„Die von Mr. Potter und Miss Weasley.“
„Ah“, jegliche Freude verließ seine Miene, „ich dachte eigentlich, wir würden nicht hingehen.“
Irritiert wandte sie ihren Blick vom Spiegel ab. „Aber warum denn nicht? Wir sind alle eingeladen, Lucius. Die gesamte Familie Malfoy. Das letzte Mal gehörtest du noch zu uns.“
„Ich werde mich nicht wohlfühlen.“
„Du weißt jetzt schon, dass du am Tag der Hochzeit unpässlich sein wirst? Ich dachte immer, deine Noten in Wahrsagen wären miserabel gewesen“, spottete sie.
„Was soll ich dort, Narzissa? Man hat mich nur höflichkeitshalber eingeladen, weil man dich nicht vor den Kopf stoßen wollte. Es wäre ein Eingeständnis, hätte man genauer dargelegt, dass du durchaus erwünscht wärst, nicht jedoch dein Gemahl.“
Der Stoff des Kleides schwebte elegant hinter ihr her, als sie sich Lucius näherte. „Was lässt dich glauben, du wärst unerwünscht?“
„Nun, ich würde meinen, es wären die Personen, die sich zum Bund der Ehe entschieden haben. Mr. Potter ist mir nicht gerade wohlgesinnt, genauso wenig wie seine Auserwählte, deren gesamte Familie mir eher den Tod wünscht.“
Mit einer Hand streichelte Narzissa die Wange von Charles. Ohne ihren Blick von dem Jungen abzuwenden, sagte sie zu Lucius: „Vergiss nicht, dass Mr. Potter ein Teil unserer Familie geworden ist. Du trägst gerade seinen Patensohn im Arm.“ Ihre Hand wanderte zu Lucius' Wange, um ihr die gleiche Aufmerksamkeit zu schenken. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Mr. Potter zugestimmt hätte, wenn ihm so viel daran liegen würde, mit dir nichts zu tun haben zu wollen.“
„Die Freunde“, er hielt kurz inne, um das Wort wirken zu lassen, „meines Sohnes sind nicht zwangsläufig die meinen.“
„Lucius“, ein Seufzer, „du hast dich nie darum geschert, was andere von dir denken. Ich bitte dich, begleite mich auf diese Feier, denn ohne dich wäre ich nur zur Hälfte dort.“
„Es wird ein Desaster werden. Die“, er rümpfte die Nase, „Weasleys werden mir deutlich zeigen, wie störend sie meine Anwesenheit empfinden. Dann wird da noch Dumbledore sein.“
„Ich mag Albus“, warf sie ein. Der alte Zauberer hatte sich rührend um sie gekümmert, als sie noch in Hogwarts lebte.
„Man wird spitze Bemerkungen machen, mich demütigen ...“
Seine Aufzählung unterbrach Narzissa. „Gehe einfach mit gutem Beispiel voran. Begegne den Menschen mit Freundlichkeit. Gib ihnen keinen Anlass, dich ins Visier zu nehmen und du wirst sehen, dass sie dich in Ruhe lassen. Jeder wird wollen, dass die Hochzeit für die beiden ein harmonisches Erlebnis wird. Niemand wird sich dazu hinreißen lassen, diese Harmonie absichtlich zu zerstören.“
Eine Schweigeminute seinerseits, in der er tief ein- und ausatmete. „Von mir aus, ich werde dich begleiten.“ Er schaute zu Charles, der sich in seinem Arm ruhig verhielt. „Außerdem wird Draco jemanden benötigen, der auf den Jungen aufpasst, wenn er das Tanzbein schwingt.“
Als Dankeschön erhielt er einen Kuss von seiner Frau. „Das ist mein Lucius!“
Sie glücklich gemacht zu haben war es wert gewesen. Verliebt beäugte er seine Frau. „Wirst du es tragen?“
„Ja, das möchte ich, es gefällt mir sehr.“ Nochmals schaute sie in den Spiegel, dann zu ihrem Gatten. „Warum bist du gekommen? Wolltest du etwas Bestimmtes von mir?“
„Das wollte ich tatsächlich.“ Lucius ging in die Knie, um Charles auf dem Boden abzusetzen. Das Wort richtete er an den Jungen. „Jetzt zeig deiner Großmutter mal, was du mir vorgeführt hast.“ Mit großen Augen blickte der Kleine seinen Großvater an, der ihm einen Finger reichte. Sofort umfasst Charles den Finger, grinste ihn dabei zahnlos an. „Komm schon, vorhin hast du es so schön vorgemacht.“ Der feste Greifreflex ließ den Finger nicht los, auch nicht, als Lucius ihn immer höher hielt und der Junge seinen Arm strecken musste. Narzissa schaute gespannt zu, ahnte schon etwas. Mit ein wenig Hilfe von Lucius, der mit einer Hand das Gesäß stützte, erhob sich Charles und stand wackelig auf den eigenen Beinen.
Narzissa strahlte über das ganze Gesicht. „Das ist ja wunderbar! Komm her, mein Liebes.“ Die kurze Strecke zwischen Lucius und Narzissa schaffte der Junge nicht, ohne auf das Hinterteil zu plumpsen. Trotzdem wurde er hoch gelobt.

Sie versuchten es noch einige Male, bis Charles vier Schritte gemacht hatte, ohne zu stolpern. Nach einer Weile schaute Lucius auf seine Uhr.

„Narzissa, ich muss noch weg.“
„Heute noch? Was hast du vor?“, fragte sie neugierig.
„Ich treffe mich mit Mrs. Adina von Gorsemoor.“
„Aber wozu?“ Eine Vermutung machte sich in Narzissa breit. „Es geht um eine neue Anstellung von Schwester Marie?“
„So ähnlich, ja. Ich möchte ein paar Dinge mit Mrs. Gorsemoor klären, bevor ich Marie das Angebot unterbreite.“
„Das ärgert dich richtig, nicht wahr?“ Weil Lucius sie fragend anblickte, wurde sie deutlicher. „Dass das Mungos sie einfach rausgeworfen hat.“
„Es ist eine Schande! Man könnte meinen, Professor Puddle hätte lieber meinen Tod in Kauf genommen, anstatt zuzulassen, dass eine Schwester ihre Kompetenzen überschreitet.“ Wütend schnaufte Lucius, stand wieder auf. „Es zählte bislang zu den Pflichten der Familie Malfoy, mit großzügigen Spenden einige der sozialen Einrichtungen zu unterstützen. Das Mungos steht nicht mehr auf meiner Liste.“
„Also suchst du dir eine andere Heilstätte, die zukünftig von uns begünstigt werden soll?“
„Ganz recht! Das Gorsemoor-Sanatorium ist zwar um ein vielfaches kleiner, aber gerade deshalb bestimmt auch dankbarer. Ich dachte mir, die könnten mit einer finanziellen Zuwendung mehr anfangen als eine alteingesessene Einrichtung, die schon seit Jahren nicht mehr auf Geld angewiesen ist.“
Diesmal war es Narzissa, die ihren Enkel auf den Arm nahm. Freudestrahlend blickte sie zu Lucius hinüber. „Es ist so schön zu wissen, dass du auch uneigennützig handeln kannst.“

Seine Lippen zuckten, bevor er sie zwang, sich zu einem Lächeln zu formen. So ganz uneigennützig wollte er das Gorsemoor-Sanatorium nicht unterstützen. Er verlangte etwas im Gegenzug und genau das wollte er mit Mrs. Gorsemoor klären.

Adina von Gorsemoor erwartete Lucius bereits. In ihrem bescheidenen Büro begrüßte sie ihn mit einer Mischung aus natürlicher Herzlichkeit und gesunder Skepsis.

„Guten Abend, Mr. Malfoy. Nehmen Sie doch Platz. Darf ich Ihnen etwas anbieten? Einen Sherry vielleicht?“ Die Dame, knapp über vierzig Jahre, schenkte bereits zwei Gläser ein, so dass Lucius nicht mehr abschlagen wollte.
Er nahm das Glas entgegen. „Vielen Dank, Mrs. Gorsemoor.“

Nach einer belanglosen Plauderei über das Wohlbefinden der Familienmitglieder wechselte Mrs. Gorsemoor zu den Geschehnissen, die man in den Tageszeitungen verfolgen konnte: das dunkle Mal, das bei allen Todessern gebrannt hatte. Auch in ihrer Einrichtung hatte es einen solchen Fall gegeben. Ein älterer Patient, seit Jahren nicht mehr Herr seiner Sinne, erlag der Wunde am Unterarm.

„Ich war“, begann sie zurückhaltend, „ein wenig besorgt, als mich Ihre Nachricht erreicht hat. Mir will kein Grund einfallen, warum gerade Sie mit mir sprechen möchten.“
„Ich bin lediglich auf der Suche nach einem Genesungsheim, dem ich guten Gewissens unter die Arme greifen kann.“
Mrs. Gorsemoor stutzte. „Bisher war das Mungos Ihre bevorzugte Einrichtung. Es ging immer durch die Zeitungen, wenn eine generöse Spende ...“
Mit einem Wink seiner Hand unterbrach er galant, ohne dabei unhöflich zu wirken. „Das Mungos ist weder auf Zuwendung angewiesen noch auf Publicity. Es ist das bekannteste Krankenhaus der magischen Gesellschaft und dazu noch das reichste. In meinen Augen allerdings nicht mehr das kompetenteste.“
„Wenn es nur um eine Spende geht, Mr. Malfoy, dann wäre unsere Finanzabteilung der richtige Ansprechpartner.“
„Ich gebe zu, ich erhoffe mir etwas von unserer“, Lucius legte den Kopf schräg, „Zusammenarbeit.“
Von dieser Aussage schien Mrs. Gorsemoor nicht beeindruckt, sondern angewidert. „Das habe ich mir gedacht und ich muss Ihnen in dieser Hinsicht eine Absage erteilen. Es ist bekannt – das weiß ich unter anderem von ehemaligen Mitarbeitern des Mungos –, dass deren Forschungsabteilung nur im Sinne der Geldgeber arbeitet, nicht aber zum Wohle der Gemeinschaft. Das wird hier nicht passieren!“
„Oh nein, davon spreche ich überhaupt nicht. Lassen Sie mich meine Bitte erst vortragen, bevor Sie sich ein Urteil erlauben.“
„Von mir aus, aber erwarten Sie nicht zu viel.“
„Sie bilden Heiler aus, nicht wahr?“
Mrs. Gorsemoor nickte. „Nicht nur Heiler. Wir bieten Ausbildungsstellen in verschiedenen Fachrichtungen an. Tränkemeister, Kräuterkundler, Experten für Fluchschäden, Gedächniszauber und Vergiftungen. Leider sind die von uns angebotenen Stellen sehr begrenzt.“
„Welche Vertragsbedingungen herrschen in Ihrem Sanatorium?“
„Wir können den Auszubildenden nicht mehr als Vertragsform E anbieten.“
Lucius zog die Augenbrauen in die Höhe. „Das bedeutet, dass Sie nicht einmal für die Lehrmittel Ihrer Schützlinge aufkommen können.“
„Ich weiß, dass das ein Problem ist. Sie können sich denken, Mr. Malfoy, dass ein Sanatorium wenig Geld einnimmt. Wir sind auf Spenden angewiesen. Hätten wir nicht unsere regelmäßigen Zuwendungen, könnten wir gar keine Ausbildungen finanzieren. Der kleine Verdienst, den wir mit dem Herstellen von Tränken erhalten, reicht gerade mal, um den reibungslosen Betrieb dieser Einrichtung aufrechtzuerhalten.“
„Und da wären wir schon bei dem Punkt, der mir am Herzen liegt. Ich würde gern, dass Sie einer Dame ermöglichen, ihre Ausbildung zur Heilerin zu absolvieren. Mit Vertragsform A.“
Mrs. Gorsemoor schüttelte den Kopf. „Das ist nicht möglich. Wir können es uns nicht erlauben, eine Auszubildende in allen Lebenslagen über drei Jahre zu unterstützen.“
„Und da komme ich ins Spiel. Ich möchte finanziell für diese Dame aufkommen.“
„Mr. Malfoy, es geht um die Begabung eines Bewerbers, nicht um die finanziellen Mittel. Wir können nicht jeden nehmen, nur weil wir das Geld dafür bekommen.“
Lucius nahm den letzten Schluck Sherry, stellte das Glas auf den Tisch und blickte der Dame in die Augen. „Sie verstehen mich völlig falsch, Mrs. Gorsemoor. Die Dame ist mehr als fähig, daran wird es nicht mangeln. Ich möchte jedoch für sämtliche Kosten der Ausbildung aufkommen, sozusagen als persönliches Dankeschön. Vertrag A wäre daher angemessen: keinerlei Ausgabe für die Auszubildende und darüber hinaus eine Vergütung, die sich sehen lassen kann.“
„Ich muss ausschlagen, Mr. Malfoy, obwohl mir die Idee gefällt. Es würde nur zu Streitereien unter den momentanen Angestellten kommen, sollten die erfahren, dass eine von ihnen bevorzugt wird, sprich: einen besseren Vertrag bekommen hat.“
„Oh“, machte Lucius einsichtig, „das ist ein Problem. Nun, wäre es vielleicht möglich, dass Sie einen Vertrag mit der Dame machen und ich als Mäzen eingesetzt werde? Dadurch würden gar keine Kosten auf Ihr Haus zukommen. Ich glaube mich zu erinnern, dass es solche Möglichkeiten vor etwa dreißig Jahren gab.“
„Die private Gönnerschaft ist selten geworden, das ist richtig. In unserem Haus gibt es sie schon lange nicht mehr.“
„Nun, ich könnte mit gutem Beispiel vorangehen. Möglicherweise würde das andere Menschen dazu veranlassen, ebenfalls für einen Protegé den Geldbeutel zu zücken.“

Adina von Gorsemoor blieb still und ließ sich den Vorschlag durch den Kopf gehen. Niemand könnte ihr vorwerfen, sie würde eine Angestellte bevorzugen, wenn das Sanatorium die Kosten für die Ausbildung gar nicht tragen müsste. Mehr Förderer von einzelnen Auszubildenden könnten zudem eventuell mehr Geldgeber für die Einrichtung selbst bedeuten.

„Ihr Vorschlag wäre eine Überlegung wert, Mr. Malfoy. Die Dame soll bei mir vorstellig werden.“
„Großartig! Ich danke Ihnen vielmals, dass Sie meine Bitte nicht von vornherein ausgeschlagen haben.“

Abrupt wurde Lucius von einem Gefühl übermannt, das er lange Zeit verdrängt hatte. Er befand sich hier, im Gunhilda-von-Gorsemoor-Sanatorium – dem Haus, in welches seine Mutter vor über vierzig Jahren eingewiesen wurde. Ein Schauer lief ihm über den Rücken.

„Kann ich noch etwas für Sie tun, Mr. Malfoy?“
Sein Anliegen war ihm so ernst, dass es ihm im ersten Moment die Kehle zuschnürte. Beinahe wollte er das Thema fallenlassen, da erinnerte er sich an einen Moment aus seiner Kindheit. Er war es ihr schuldig, wenigstens zu fragen. Lucius gab sich einen Ruck. „Ja, da ist noch etwas. Vor langer Zeit hat mein Vater meine Mutter in Ihr Sanatorium eingewiesen. Ich wollte mich erkundigen ...“ Jetzt war seine Kehle trocken. Er konnte nichts mehr sagen.
„Ihre Mutter? Wenn der Name auch Malfoy ist, dann ist sie keine Patientin hier. Wann in etwa wurde Sie eingewiesen?“
Lucius war im ersten Augenblick nicht einmal dazu in der Lage, korrekte Angaben zu machen. „Vor etwa vierzig Jahren.“ Kopfrechnen fiel ihm schwer, aber er brachte es zustande. Er würde bald fünfzig werden. Mit acht Jahren hatte er sie das letzte Mal gesehen. „Vor 42 Jahren“, verbesserte er.
„Nun, da wurde ich gerade geboren.“ Mrs. Gorsemoor lächelte zaghaft. „Wenn Ihre Mutter in unserem Haus Patientin war, dann wird sich darüber bestimmt etwas in den Akten finden. Ich werde mich erkundigen.“
„Vielen Dank.“ Zum Abschied küsste Lucius die Hand, die sie ihm entgegenhielt. „Und wenn Sie mir jetzt den Weg zu Ihrer Finanzabteilung schildern würden? Ich möchte mich noch um ein weiteres Anliegen kümmern, weshalb ich Ihre Einrichtung aufgesucht habe.“

Eine Spende von 15.000 Galleonen sollte vorerst reichen, entschied Lucius. Es wäre der erste große Betrag, mit dem er das Verlies belasten würde, das sein Sohn für ihn eingerichtet hatte. Das Mungos hatte damals weniger von ihm erhalten, dafür regelmäßig. Mit zufriedenem Lächeln überreichte Lucius dem Herrn von der Finanzabteilung des Gorsemoor-Sanatoriums den Scheck von Gringotts, der aufgrund der Koboldmagie auf der Stelle eingelöst wurde.

In Gringotts befanden sich Verliese, die große Schätze beherbergten. Einige von ihnen waren seit Jahrzehnten nicht mehr geöffnet worden. Manche enthielten magische Wunderwerke, die verborgen bleiben sollten und andere Verliese beinhalteten nur eine kleine Menge Erspartes, wie das von Marie. Für ein halbes Jahr, das hatte sie ausgerechnet, könnte sie von dem Geld leben, wenn sie keine neue Anstellung bekommen sollte. Gleich nächste Woche würde sie damit beginnen, ihre Bewerbungen an bekannte Einrichtungen zu schicken. Darunter war ein Genesungsheim, das von einem Mr. Panagiotis geleitet wurde. Zu lernen gab es dort wenig. Man würde sich um Patienten kümmern, bei denen jede Heilung ausgeschlossen war. Das Gorsemoor-Sanatorium war schon eher nach Maries Geschmack. In diesem Haus wurde nicht nur gepflegt und betreut, sondern auch behandelt und geforscht. Ihre Recherche hatte ergeben, dass in keiner der Einrichtungen eine Vertragsform angeboten wurde, die ihr die Möglichkeit geben würde, eine Ausbildung zur Heilerin zu absolvieren. Meist wurden gerade mal die eigenen Ausgaben für Lehrmittel gedeckt. Im schlimmsten Fall musste man für die Ausbildung noch draufzahlen. Beides konnte sich Marie nicht leisten. Nebenbei gab es etwas, das sich „laufende Kosten“ schimpfte. Die Wohnung gehörte zwar ihr, so dass die Miete wegfiel, aber sie musste für alle Nebenausgaben aufkommen. Wie sie es auch betrachtete, es würde hinten und vorne nicht reichen. Neben einer Ausbildung müsste sie einen Teilzeitjob annehmen, der sie wiederum am Lernen hindern würde.

Marie schmiss ihr Sparbuch auf den Tisch und seufzte. Den ganzen Tag Zuhause herumsitzen ... Das war sie nicht gewohnt. Selbst ihre Wellensittiche schienen durch ihre Anwesenheit verstört. Marie entschloss sich dazu, Sid zu besuchen. Er wohnte am Ende der Winkelgasse, gleich gegenüber von einem Bäcker. Es war ein kleiner Marsch. Die Straße war lang.

Der Mann, der Marie ständig in Gedanken umherschwirrte, saß gerade mit Sirius zusammen. Der Tisch war überfüllt mit Pergamenten, Gesetzesbüchern und -texten und den Anweisungen des Ministers.

„Ich frage mich wirklich, wie wir eine Lösung finden sollen, die beide Seiten zufrieden stellt“, zeterte Sirius, der gerade den Vorschlag des Ministers las, Muggel individuell zu handhaben. „Wie soll das gehen? Als Pettigrew damals die halbe Straße in die Luft gesprengt hat, wie hätte man die vielen Muggeln 'individuell handhaben' sollen?“
Sid kratzte sich an der Stirn. „Selbst wenn wir annehmen können, dass Vorfälle mit solchem Ausmaß die Ausnahme bleiben, hast du völlig Recht. Wenn den Muggeln nicht mehr einfach das Gedächtnis optimiert werden soll, dann benötigen wir eine Menge Hilfskräfte und zwar viele, falls so eine Notsituation eintreffen sollte.“ Mit seiner Feder fuhr sich Sid über die Lippen und dachte nach. „Die wesentlich härtere Bestrafung für unsere Bürger, die im Beisein von Muggeln zaubern, sollte fahrlässiges Verhalten stark eindämmen, aber wir wissen selbst, dass nicht alle magischen Bürger rechtschaffen sind und nicht alle sich von Strafen abhalten lassen. Wir drehen uns da im Kreis.“ Sid nahm ein bestimmtes Pergament in die Hand. „Wie der Minister schildert, gab es in der Vergangenheit Fälle, die von unserer Seite nicht einmal bekannt waren. Malträtierte Muggel, die nicht wussten, wie ihnen geschah und denen wir nicht helfen konnten, weil wir nichts von ihnen ...“ Es klopfte. Vor lauter Staunen zog Sirius beide Augenbrauen in die Höhe. Es war das erste Mal, dass Sid in seinem Beisein Besuch bekam. „Entschuldige.“ Sid erhob sich, um den Gast willkommen zu heißen.

Angestrengt lauschte Sirius, doch die Stimme im Flur konnte er nicht erkennen, nur dass es eine Frau war, die mit Sid sprach. Ein Grinsen konnte sich Sirius nicht verkneifen. Eine Ahnung hatte er. Die bestätigte sich, als Sid erneut das Wohnzimmer betrat und die Tür für den Gast aufhielt. Es war die Krankenschwester. Mit noch breiterem Grinsen stand Sirius auf, um ihr die Hand zu reichen.

„Miss Amabilis, nicht wahr?“
Sie schüttelte seine Hand. „Mr. Black, schön Sie wiederzusehen.“ Sein Grinsen trieb ihr die Röte ins Gesicht. „Ich glaube, ich muss mich bei Ihnen bedanken.“
„Müssen Sie?“, fragte er überrascht nach.
„Für das nette Essen, dass Sie organisiert haben.“ Ihr Gegenüber äußerte sich nicht mehr, doch seine frech funkelnden Augen sprachen Bände. Maries Blick fiel auf die vielen Schriftstücke auf dem Tisch. „Oh, Sie arbeiten. Das tut mir leid, dass ich ohne Anmeldung ...“
Sirius winkte ab. „Setzen Sie sich doch bitte.“

Nachdem Sid seinen Pflichten als Gastgeber nachgekommen war und alle drei mit einer Tasse Tee am Tisch saßen, überflog Sid die viele Arbeit.

„Da fällt mir wieder das ein, was Miss Amabilis neulich vorschlug.“
Sirius hörte aufmerksam zu. „Und das wäre?“
„Dass man mit dem anderen Minister absprechen könnte, Zugang zu sämtlichen Datenbanken zu erhalten. Die von der Polizei, wo sich die Muggel als Erstes hinwenden würden, wenn sie von einem Zauberer belästigt wurden. Auch die Akten von Krankenhäusern und psychiatrischen Einrichtungen, wo Muggel mit Fluchschäden sicherlich landen.“ Sid griff zu einem Pergament, das ihnen der Minister geschickt hatte. „Hier haben wir doch den Beweis, dass ein Muggel sich mit seinen verzauberten Körperteilen an ein Krankenhaus gewendet hat, um sie chirurgisch behandeln zu lassen. Er musste sich unter anderem eine angeschwollene Nase mit einem Skalpell verkleinern lassen. Hätten wir Zugriff auf solche Akten, könnten wir prüfen, ob Magie mit im Spiel ist oder nicht.“
Sirius staunte. „Das hat Miss Amabilis vorgeschlagen?“ Weil sie verlegen nickte, lobte er: „Das sind hervorragende Ideen. Ich hoffe, dass sie umgesetzt werden können. Wir müssen offenbar einen Fuß in die Muggelwelt setzen, damit die große Kluft überwunden wird.“
In den Unterlagen fischte Sid das Stück Pergament heraus, auf dem er diese Punkte schon ausgearbeitet hatte. Er reichte die schriftliche Form von Maries Vorschlägen an Sirius weiter. Der überflog die Punkte und erhob sich unerwartet. „Ich werde das gleich mit dem Minister besprechen. Wenn diese Aspekte erledigt sind, steht dem neuen Gesetzesbuch nichts mehr im Wege.“
„Aber ...“ Sid kam nicht dazu, einen Einspruch einzulegen, denn Sirius verabschiedete sich bereits, um die beiden allein zu lassen.
Nachdem beide hörten, wie die Tür geschlossen wurde, wandte sich Marie an Sid. „Kann es sein, dass Mr. Black alles daran setzt, damit wir uns näher kennen lernen?“
„Das könnte man meinen“, gab er zu, bevor er zögerlich ihre Hand ergriff. „Lust auf einen Spaziergang?“

Ein Spaziergang war etwas Erquickendes, bei dem die Seele die Beine baumeln lassen konnte. Sirius spürte nichts dergleichen, als er sich an den vielen Besucher des gut gefüllten Ministeriums vorbeidrängte. Der Weg war schwierig. Ständig musste er langsamer werden, weil eine Traube von Menschen einfach stehenblieb. Endlich war er in dem Nebenraum angelangt, hinter dessen goldenen Gittern sich die Fahrstühle befanden. Seiner war völlig überfüllt, aber er quetschte sich trotzdem rein und fuhr mit. Über seinem Kopf schwebten unzählige Memos, die nach und nach die verschiedenen Stockwerke aufsuchten, ebenso wie die Menschen im Fahrstuhl. Bis ganz nach oben, wo sich die Büroräume von Arthur befanden, fuhr niemand außer ihm und einem Memo. Zusammen mit dem fliegenden Stück Papier trat Sirius aus dem Fahrstuhl. Das Memo war schneller als er und sauste auf die Vorzimmerdame zu, um sich auf ihrem Schreibtisch zu entfalten und sich selbst in eine der Ablagen einzusortieren. Einige Sekunden später stand Sirius bei der Dame.

„Guten Tag“, er kannte sie bereits, „ich würde gern mit dem Minister sprechen.“
„Der hat gerade Besuch, Sir.“

In diesem Moment wurde die Tür geöffnet. Harry und Kingsley, gefolgt von Arthur, verließen das Büro.

„Harry! Was machst du denn hier?“ Die Begrüßung war herzlich. „Lass dich mal ansehen!“ Sirius wuschelte seinem Patensohn durchs Haar, bemerkte dabei die Stelle, die sonst immer durch eine Narbe verunstaltet war. Mit einem Daumen strich er darüber. „Glatt wie ein Babypopo.“
Kingsley schnaufte amüsiert, während Harry zwei rote Stellen auf den Wangen bekam. „Sirius, warum bist du hier? Wolltest du etwas von mir?“
„Nein, ich wollte mir den Minister zur Brust nehmen.“ Er zwinkerte Arthur zu. „Eine Viertelstunde, mehr brauche ich nicht.“
Arthur stöhnte. „Von mir aus.“ Seiner Vorzimmerdame gab er die Anweisung, alle folgenden Termine gleich um eine halbe Stunde zu verschieden, denn er kannte Sirius.
Kingsley legte eine Hand auf Harry Schulter. „Können wir?“
„Bin bereit.“
Sirius stutzte. „Wo soll es denn hingehen?“
„Wir besuchen eine Frau, einen Muggel. Außerdem will Kingsley mit einem Psychiater reden“, erklärte Harry.
„Du, Kingsley?“ Sirius versuchte, eine ernste Miene aufzusetzen und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. „Bei Alastor hätte ich das vermutet, aber bei dir?“
„Es ist nicht so wie es scheint. Ich werde dir später davon erzählen. Möglicherweise würde das bei der Problematik mit Muggeln helfen, die mit Magie in Berührung gekommen sind.“ Kingsley legte seine Hand auf Harrys Rücken und schob ihn an Sirius vorbei. „Wir müssen jetzt, wir haben einen Termin.“

Das Ziel von Kingsley und Harry war die Praxis eines Psychiaters der Muggelwelt, aber nicht irgendeines. Er war ein Squib, kannte sich also bestens in der magischen Gesellschaft aus. Sie wollten sich dort mit Miss Eleanor Monaghan treffen, der Dame, die ihren Sohn seit knapp vierzig Jahren suchte und sich nur Hopkins angeschlossen hatte, um überhaupt eine Verbindung zur Zaubererwelt aufzubauen. Der Psychiater, ein Dr. Fueller, könnte in Zukunft für weitere Muggel eine wichtige Anlaufstelle sein. Die Sprechstundenhilfe war eingeweiht und begrüßte Harry und Kingsley freundlich.

„Sie sind ein wenig zu früh, Mr. Shacklebolt. Die Dame ist schon hier, aber Dr. Fueller hat vorher noch für eine halbe Stunde einen Patienten. Sie können gern im Wartezimmer Platz nehmen.“

Der Sprechstundenhilfe nickte Kingsley dankend zu. Er überließ es Harry, den Weg ins Wartezimmer anzusteuern. Solche Einrichtungen gab es in der Zaubererwelt nicht. Die magische Welt wies große Krankenhäuser und Heilstätten auf, nur selten einzeln praktizierende Heiler, aber keine, die sich um das seelische Wohlergehen kümmerten. Harry hatte die Tür gefunden, auf der „Wartebereich“ stand. Er trat furchtlos ein und wurde sofort von einer weiblichen Stimme freundlich begrüßt. Als Kingsley an der Tür stand und sich einen Überblick verschaffte, rutschte ihm beim Anblick eines anderen, wartenden Patienten das Herz in die Hose. Der muskulöse Mann im Wartezimmer hatte seinen Blick auf Harry und die Frau gerichtet, schaute dabei mehrmals für den Bruchteil einer Sekunde auf seine Armbanduhr. Kingsley kannte ihn. Es war Geoffreys. Wie versteinert betrachtete er den Mann, mit dem er einmal zusammengearbeitet hatte. Auffällig war der wiederholte Blick auf die Uhr. Als Harry bereits ein Gespräch mit der Dame begonnen hatte, wandte Geoffreys seinen Blick von den beiden ab und bemerkte erst jetzt, dass noch ein Mann anwesend war. Ihre Blicke trafen sich.

Kingsley musste etwas sagen, irgendetwas. „Geoffreys?“
Das Flüstern hatte sogar Harrys Aufmerksamkeit erregt. Sein Blick wanderte von Kingsley zu dem anderen Patienten, dann wieder zurück zu Kingsley, bevor er von Miss Monaghan abgelenkt wurde.
Geoffreys erhob sich. Wieder huschte sein Blick auf die Armbanduhr, bevor er Kingsley fragend anblickte. „So, wie Sie aussehen, könnten wir uns vom Boxen kennen?“ Geoffreys war unsicher, konnte mit dem dunkelhäutigen Gesicht nichts anfangen.
„Wir ...“ Wut kam in Kingsley auf. Wut auf Abrahams, den ehemaligen Leiter der Abteilung für Magische Unfälle und Katastrophen, der nach Gutdünken über den Einsatz von Vergissmich verfügt hatte. „Sie haben mich einmal zu einem Boxkampf eingeladen“, bestätigte Kingsley ungewohnt zurückhaltend, „aber dazu kam es leider nicht. Wir haben uns aus den Augen verloren.“
„Aha ...“ Geoffreys setzte sich wieder, schaute auf seine Uhr. Er wirkte verloren, ganz anders als der selbstsichere Mitarbeiter des Inlandsgeheimdienstes, den Kingsley während der Evakuierung von Hogsmeade kennen gelernt hatte. Langsam näherte sich Kingsley dem Muggel, setzte sich auf den gepolsterten Plastikstuhl daneben. Geoffreys schaute abermals auf seine Uhr, dann zu seinem Sitznachbar. Er spielte nervös mit dem Armband an seinem Handgelenk, während er fragte: „Von woher kennen wir uns?“
„Wir ...“ Kingsley wurde unterbrochen, als ein sehr junger Mann mit zwei dampfenden Bechern in den Händen das Wartezimmer betrat. Einen von den Bechern Kaffee reichte er Geoffreys, bevor er Kingsley skeptisch musterte.
„Das ist mein Sohn“, stellte Geoffreys den jungen Mann vor.
Höflich erhob sich Kingsley und grüßte den Spross, der gleich wissen wollte: „Kennen Sie sich?“
„Ja“, gab Kingsley zu.
„Woher? Von der Arbeit?“ Der junge Mann war gesprächiger als sein Vater.
„Das kann man so sagen.“
Als der junge Mann nickte, fielen ihm die schulterlangen Haare ins Gesicht. „Hatten Sie so ein Geheimding am Laufen? Mein Dad durfte früher nie darüber reden.“
„Es war geheim, das stimmt.“ Zu geheim, fügte er in Gedanken hinzu, sonst wäre dem fähigen Geheimdienstler dieses Schicksal erspart geblieben.
Geoffreys hielt sich aus dem Gespräch raus, starrte lieber weiterhin auf seine Uhr. „Dad, lass das“, bat der junge Mann, den nicht älter als achtzehn Jahre sein konnte.
Kingsley wandte sich an seinen damaligen Muggelkollegen. „Warum sind Sie hier? Was ist mit Ihnen passiert?“
Nochmals blickte Geoffreys auf seine Armbanduhr, bevor er Kingsley ansah und ein paar Male blinzelte, doch er bekam kein Wort heraus. Sein Sohn brachte die erhoffte Erleuchtung. „Es gab angeblich einen Unfall, eine Explosion, aber ich glaub nicht dran.“
Man hatte Geoffreys und seinen Männern die Erinnerungen gelöscht und suggeriert, es hätte einen Unfall auf dem Sprengplatz gegeben, wusste Kingsley. „Warum glauben Sie das nicht?“, fragte er den neugierigen Burschen, den er unter anderen Umständen noch duzen würde.
„Kommen Sie ... Warum sollte eine Explosion einen Gedächtnisverlust nach sich ziehen? Mein Vater hatte nicht einen einzige Kratzer am Leib, also war er nicht mal gefährlich nahe dran.“ Ein Schluck Kaffee befeuchtete den Mund, bevor der junge Mann mutmaßte: „Ich tippe auf Gehirnwäsche! Leider weiß ich nicht genau, was mein Vater so gearbeitet hat, aber wenn er hinter irgendein Geheimnis gekommen ist, dann kann ich mir vorstellen, dass man ihn zum Schweigen bringen wollte.“
„Gehirnwäsche?“, wiederholte Kingsley fassungslos. Der Junge hatte den Nagel auf den Kopf getroffen.
„Ja, so wie die Russen das früher gemacht haben. Mein Vater ist seit seinem 'Unfall' ein ganz anderer.“ Nochmals sah er mit an, wie sein Vater auf die Uhr blickte und verzog deswegen den Mund. „Außerdem ist seine Phobie, jemand könnte ihm Zeit stehlen, nur ein weiteres Indiz dafür, dass man an seinem Gehirn rumgepfuscht hat.“ Plötzlich blickte der junge Mann Kingsley eindringlich in die Augen. „Warum erzähl ich Ihnen das eigentlich? Sie könnten einer von denen sein, die dafür verantwortlich sind!“
Gerade wollte sich Kingsley verteidigen, da warf Geoffreys mit müder Stimme ein: „Wir wollten nur zusammen zum Boxen gehen.“
„Mr. Geoffreys?“ An der Tür stand Dr. Fueller, gekleidet in einen braunen Tweed-Anzug und offener Krawatte. Die anderen Anwesenden waren ihm nicht entgangen. „Oh, Sie müssen Mr. Shacklebolt sein.“ Dr. Fueller begrüßte seine Gäste, auch Harry und Miss Monaghan. „Ich habe noch einen Termin, danach bin ich für Sie da.“ Er hielt Geoffreys die Hand entgegen. „Guten Tag, Mr. Geoffreys. Kommen Sie doch bitte ins Sprechzimmer.“

Geoffreys blickte zwanghaft auf seine Uhr, gehorchte aber ohne zu murren und folgte Dr. Fueller. Harry hatte in der Zwischenzeit ein nettes Gespräch mit Eleanor geführt. Man duzte sich bereits. Trotzdem war ihm Kingsleys Begegnung mit dem anderen Patienten nicht entgangen, aber er konnte sich bisher keinen Reim darauf machen. Der Auror saß neben dem Sohn von Geoffreys und reichte dem jungen Mann die Hand.

„Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Kingsley Shacklebolt.“
Der Heranwachsende schüttelte die kräftige Hand. „Joel Geoffreys.“ Joel wusste nicht recht, was er von Kingsley halten sollte. „Sagen Sie schon, was haben Sie mit meinem Dad zusammen erlebt? Sind Sie auch beim MI5 oder woher kennen Sie meinen Vater?“
„Von seiner letzten Mission“, beichtete Kingsley schuldbewusst.
„Heißt das, es geht Ihnen genauso wie ihm? Sind Sie deswegen hier bei Dr. Fueller in Behandlung?“ Weil Kingsley den Kopf schüttelte, wurde Joel einen Moment ganz still. Langsam begann er zu verstehen. „Sie wissen, was damals passiert ist!“ Wut schwang in dem Vorwurf mit. Er wurde lauter. „Erzählen Sie es mir auf der Stelle!“
„Hey“, Harry verschaffte sich Gehör, „alles in Ordnung da hinten?“
Kingsley nickte ihm zu, wandte sich gleich darauf an Joel, der sich unter Kontrolle gebracht hatte. „Ich denke, ich werde Ihrem Vater helfen können. Es ist eine prekäre Angelegenheit – nicht mit wenigen Worten zu erklären.“
„Versuchen Sie es! Ich bin mittlerweile für alles offen: Entführung durch Außerirdische, Gedankenmanipulation durch HAARP, geheime Tests der Pharmaindustrie, giftige Chemtrails am Himmel ... Ich habe mich eingelesen. Glauben Sie mir, ich kenne mich mittlerweile aus und all das scheint mir plausibler als die an den Haaren herbeigezogene Erklärung eines nicht rekonstruierbaren Unfalls, über den es nicht einmal Aufzeichnungen gibt.“
„Haben Sie bei Ihrer Recherche auch Hexen und Zauberer mit einbezogen?“ Kingsley lächelte Joel milde an, zeigte damit, dass er ihn nicht auf den Arm nehmen wollte.
„Von welcher Art Zauberer sprechen wir hier? Von den ganz Großen, wie Harry?“ Als Joel diesen Namen nannte, öffnete sich Kingsleys Mund von ganz allein, während Harrys Kopf herumschnellte. Joel wurde genauer: „Ich meine Harry Houdini! Der sollte eigentlich bekannt sein.“
„Ähm“, Kingsley räusperte sich, „den würde ich als Trickkünstler betiteln, aber als einen ausgezeichneten.“
„Erzählen Sie es mir endlich, Mr. Shacklebolt. Ich liege mit Gehirnwäsche richtig, oder?“ Der junge Mann hatte sich offensichtlich viele Gedanken darüber gemacht, was seinem Vater zugestoßen war. Er erinnerte sich noch daran, dass Abrahams seine eigene Idee mit dem Unfall lobte, obwohl Kingsley Zweifel gekommen waren, ob diese Lösung die richtige war.
„In gewisser Weise ...“ Ein Nicken sollte Joels Vermutung bestätigen. „Ich verspreche, dass ich Ihrem Vater helfen werde. Geben Sie mir Ihre Adresse und ...“
„Nichts da! Ich bin doch nicht wahnsinnig und gebe einem wildfremden Mann meine Adresse. Vielleicht wollen Sie nur das erledigen, was Ihre Kollegen bei meinem Vater verschlampt haben? Nein, nicht mit mir. Ich mache Ihnen einen anderen Vorschlag.“ Joel hielt seine Hand auf. „Sie geben mir Ihre Visitenkarte und wir melden uns bei Ihnen.“
„Sie sind ein harter Brocken“, scherzte Kingsley, um die Situation wieder zu entspannen.
Joel hob und senkte die Schultern. „Jeder, der behauptet, Paranoia würde nicht ansteckend sein, der lügt. Durch meinen Dad bin ich übervorsichtig geworden. Es ist nichts Persönliches, Mr. Shacklebolt, aber ich vertraue Ihnen einfach nicht. Ich würde mich nicht einmal mit Ihnen unterhalten, würden wir nicht in der Praxis eines Therapeuten sitzen.“ Joel spielte die Sache herunter. „Vielleicht sind Sie ja doch nur ein Patient.“
„Bin ich nicht, das versichere ich Ihnen.“ Aus seinem Umhang zog Kingsley ein Kärtchen. „Meine Visitenkarte ist eigentlich nicht für Ihre Augen bestimmt und Sie werden auch nicht viel damit anfangen können.“
Harry, der ein paar Stühle weiter saß und mit einem Ohr der Unterhaltung der Männer gelauscht hatte, gab sich einen Ruck und griff ein. „Kingsley? Nicht, dass du Ärger bekommst.“
„Schon gut, Harry. Ich nehme das auf meine Kappe.“ Die Karte in seiner Hand reichte er an den jungen Mann weiter.
Joel betrachtete die Geschäftskarte, las das Wort „Zaubereiministerium“ und schnaufte vor Lachen. „Sie wollen mich auf den Arm nehmen! Solche Visitenkarten kann sich jeder Scherzbold überall anfertigen lassen. An der Tankstelle gegenüber steht auch so ein Automat, wo man ...“ Plötzlich flackerte ein Licht auf der Karte. Eine Art bewegliches Passbild von Kingsley huschte von rechts nach links, was Joel staunend verfolgte. Das Bild blieb an der Seite stehen. Rechts davon erschienen ein paar Wörter, die Joel vorlas: „'Leiter der Autoren-', nein, 'Aurorenzentrale – Kingsley Shacklebolt'.“ Der junge Mann stutzte. „Ist das eine kleine LCD-Anzeige?“ Er drehte die Karte, fand auf der Rückseite aber nichts. „Wie geht das? Die Karte ist viel zu dünn.“
„Das Stichwort ist 'Magie'“, erklärte Kingsley gelassen und sah dabei zu, wie Joels Miene immer verbissener wurde, als er langsam verstand. Keine Außerirdischen, sondern Hexen.

Unerwartet sprang der junge Mann auf und lief nach draußen. Die Sprechstundenhilfe war zu hören, als sie Joel aufhalten wollte, doch der hatte längst die Tür zu Dr. Fuellers Büro aufgestoßen. Noch im Wartezimmer konnte man die Stimme des aufgebrachten Mannes hören.

„Komm, Dad. Wir müssen gehen, sofort!“
„Mr. Geoff...“
„Halten Sie Ihren Mund!“, ranzte der junge Mann den Arzt an. Eine kurze Pause, dann viel sanfter: „Zieh deine Jacke an, Dad.“
Vorsichtig ging Kingsley zum Flur hinüber und erreichte ihn in dem Moment, als Joel seinen Vater am Oberarm aus dem Sprechzimmer herausführte. Dr. Fueller war gleich hinter den beiden. Er schien genauso verwirrt wie Kingsley selbst.
Der Doktor wollte den jungen Mann aufhalten. „Wenn Sie mir erklären könnten, was hier ...?“
„Sein Sie still!“, zischte Joel angriffslustig. „Sie gehören doch zu denen. Sagen Sie, hat man Sie extra auf meinen Dad angesetzt oder war das nur Zufall?“
Dr. Fueller wurde ungeduldig. „Ich verstehe wirklich nicht, was Sie meinen!“
Joel konnte seine Lautstärke nicht mehr beherrschen, auch vergriff er sich bei der Wortwahl, als er schrie: „Ich meine die Scheiße, die Sie seit Monaten mit meinem Vater abziehen!“
„Ich versuche, Ihrem Vater zu helfen“, verteidigte sich Dr. Fueller.
„Sie versuchen ihm einzureden, dass alles nur ein Unfall war, aber es war keiner!“

Während Joel und Dr. Fueller sich in die Haare bekamen, ging Geoffreys ein paar Schritte zurück. Er wich den lauten Stimmen. Er suchte Ruhe und fand sie, als er zufällig neben dem immer so bedächtigen Kingsley stand. Der ehemalige Geheimdienstler blickte auf seine Uhr, um die Zeit immer im Auge zu behalten. Man hatte ihm schon einmal eine ganze Nacht gestohlen, davon war er überzeugt.

„Geoffreys?“ Als er seinen Namen hörte, blickte er dem dunkelhäutigen Mann in die Augen und hörte zu, als der leise sagte: „Es tut mir aufrichtig leid. Ich hätte das verhindern müssen.“
„Das ist doch nicht Ihre Schuld“, wisperte Geoffreys, der gleich darauf in seine Innentasche griff und ein Portmonee herausnahm. Aus dem hinteren Fach für Geldscheine zog er eine Freikarte, die er Kingsley reichte. „Wir können immer noch zum Boxkampf gehen. Seien Sie eine Viertelstunde vor Beginn am Eingang. Bloß nicht zu früh, sonst ...“ Ein vorsichtiger Blick auf seine Armbanduhr. „Die Zeit ist sehr kostbar, wissen Sie?“
Kingsley musste sich arg zusammenreißen. Betroffen legte er eine Hand auf Geoffreys Schulter und drückte ermutigend zu. „Ich verspreche, dass ich Ihnen helfen werde. Irgendwie ...“
Joel war plötzlich bei den beiden, nahm seinen Vater an die Hand und murmelte: „Komm, wir gehen. Das ist ja zum Aus-der-Haut-Fahren!“

Vater und Sohn verließen die Praxis. Dr. Fueller ahnte, dass er keinen von beiden wiedersehen würde.

„Was ist nur ihn den jungen Mann gefahren?“, fragte er in den Raum hinein. „So kenne ich ihn gar nicht.“
Kingsley war der Einzige, der die gesamte Situation erklären könnte, doch er schwieg. Zu sehr belastete ihn das Schicksal dieses Mannes, aber auch die Tatsache, dass ihm damals die Hände gebunden waren. „Hat er seinen Vater immer begleitet?“
„Ja, Mr. Shacklebolt. Dreimal die Woche und das seit über einem halben Jahr.“
„Wir müssen uns ...“ Kingsley schluckte kräftig. „Ich möchte mich später mit Ihnen über Mr. Geoffreys unterhalten, aber erst einmal sprechen wir mit Miss Monaghan und über eine weitere Zusammenarbeit wegen ähnlicher Fälle“, empfahl Kingsley, dem es schwerfiel, die besonnene Miene aufrechtzuerhalten.

Eigentlich hatte man sich heute hier getroffen, um mit Miss Monaghan den Anfang zu wagen – eine Gesprächstherapie mit jemandem, der all die Dinge verstand, die ihr auf dem Herzen lagen. Der Anblick von Geoffreys hatte ihn völlig aus der Bahn geworfen. Eine Sache gab es, um die sich Kingsley sofort kümmern wollte, wenn er nachher im Ministerium war: Er würde das Formular ausfüllen, auf welchem die Bürger der magischen Gesellschaft jene Muggel eintragen konnten, die sie als Freunde betrachteten und somit in magische Belange eingeweiht werden durften. Möglicherweise könnte er Arthur dazu überreden, ihm eines der ministeriumseigenen Denkarien zur Verfügung zu stellen. Kingsley wollte alles wiedergutmachen.

Verfasst: 15.09.2012 07:30
von Muggelchen
209 Palladion




„Nicholas hat einen neuen, besten Freund“, verkündete Ginny beim Frühstück.
Neugierig blickte Harry zu dem Kind hinüber, der von Shibby gerade Haferflockenbrei bekam. „Wirklich? Wen?“ Seine Augen ruhten weiterhin auf dem Jungen, als würde er die Antwort von ihm erwarten.
„Der Riesenkrake im See. Nicholas hat mit ihm gespielt – oder besser gesagt mit allen acht Armen, denn den Kopf hat man nie gesehen. Das sah zum Piepen aus, sag ich dir!“
Neid kam auf, weil er das Erlebnis gern geteilt hätte und im Nachhinein bedauerte, nicht mit Ginny, Pomona, Gordian und Meredith spazieren gegangen zu sein. „Habt ihr wenigstens Bilder gemacht?“
„Aber freilich, eine ganze Menge sogar. Hagrid und Remus haben sich auch noch zu uns gesellt. Das war wahnsinnig entspannend.“ Die Erinnerungen an den gestrigen Tag waren so schön, dass sie seufzten mussten.
Harry tat es ihr gleich. „Das müssen wir wiederholen. Ich möchte es mit meinen eigenen Augen sehen.“
„Das können wir. Wie wäre es mit heute?“, schlug sie enthusiastisch vor.
„Gern!“ Er freute sich jetzt schon mächtig, seinen Sohn mit einem vermeintlichen Monster spielen zu sehen.

Als er an sein Vorhaben dachte, mit Ginny mal ernsthaft zu reden, wurde er selbst ganz ernst. „Ginny?“ Sie blickte ihn an. „Ich dachte ... Ich wollte mit dir über das sprechen, was du ... Na ja, während der Zeit bei Hopkins. Du warst zwar nicht lang dort, aber ich glaube ...“ Er hatte sich das einfacher vorgestellt. „Also, wäre mir das passiert, ich würde mit jemandem reden wollen.“ Demonstrativ ließ Ginny ihren Blick zu Shibby und Wobbel wandern, dann zurück zu Harry, der sich räusperte. „Vielleicht heute Abend, wenn wir ungestört sind?“
„Das muss nicht sein, Harry“, winkte sie ab.
„Mein Kiefer sagt, es muss sein.“ Seine Anspielung auf den Zwischenfall von gestern, als sie ihn versehentlich mit der Haarbürste geschlagen hatte, machte sie wütend – das erkannte er an der angespannten Mundpartie. „Du schläfst schlecht, das merke ich doch.“
„Ich fühle mich ausgeschlafen!“, verteidigte sie sich.
„Ich mich nicht“, hielt er bockig dagegen. „Du hast mich im Schlaf getreten und geschlagen.“
Ungewollt hob sie die Stimme. „Was hab ich?“ Erschrocken blickten Wobbel und Shibby zu den beiden hinüber. Selbst Nicholas hatte für einen Moment aufgehört, seinen Brei zu schlucken.
„Heute Abend, Ginny. Wir ...“

Harry verstummte, weil es klopfte. Nachdem die Tür von Wobbel geöffnet wurde, stürmte als Erstes ein hechelnder Hund herein, gefolgt von einem schwarz gekleideten Zaubertränkelehrer und Hermine, die legere Muggelkleidung trug.

„Wau, wau!“, machte Nicholas, als der den Kuvasz erblickte. Der Junge grinste über das ganze Gesicht und riss begeistert die Arme in die Höhe. Auf diese Weise schlug er Shibby die Schale Haferbrei aus den Händen, die klirrend auf dem Boden landete. Der Inhalt, der sich über dem Boden ergoss, diente dem Hund als kleine Zwischenmahlzeit.
„Shibby bedauert die Unordnung, Mr. Potter“, winselte sie, weil sie entweder mit einer Rüge rechnete oder sie sich über ihre eigene Unachtsamkeit ärgerte.

Kommentarlos kümmerte sich Wobbel um die Misere, um ihr zu zeigen, dass solche Kleinigkeiten kein Beinbruch waren. Weder Harry noch Ginny hatten sich dazu geäußert. Die waren damit beschäftigt, die unerwarteten Gäste zu begrüßen.

„Hermine, Severus“, Harry stand auf, „wollt ihr mit uns frühstücken?“
Severus lehnte sofort ab, aber auch Hermine war offenbar längst satt. „Danke Harry.“
Mit einer Geste seiner Hand bot er den beiden einen Sitzplatz an. „Was führt euch her?“
„Hermine hat mich genötigt mitzukommen“, grummelte Severus.
„Genötigt ...“, wiederholte sie abschätzig, bevor sie einmal schnaufte. „Bedroh ich dich etwa mit meinem Stab?“ Ohne zu antworten setzte sich Severus gelangweilt auf die Couch, so dass Hermine in Ruhe mit Harry sprechen konnte. Ihre Stimme war ein wenig kühl, als wäre sie noch sauer auf ihn, weil er den Stein der Weisen besaß. „Wir wollten heute im Gewächshaus anfangen. Du meintest, du wärst allzeit bereit.“ Gerade heute, dachte er, wo er mit Ginny etwas unternehmen wollte. „Draco und Remus kommen auch“, informierte sie ihn. Ein schüchterner Blick zu Ginny, dann ein Hilfe suchender zu Hermine, die diesen richtig deutete und fragte: „Oder habt ihr beide schon etwas vor?“
Harry hätte sofort bejaht, hätte womöglich abgesagt und gebeten, die Sache zu verschieben, so dass Ginny die Antwort für ihn übernahm: „Nein, wir haben nichts vor.“

Ihre Worte bedeuteten Erleichterung für Harry. Sie war nicht sauer auf ihn. Es wäre schade gewesen, wenn der Beginn von Severus' Genesung an ihm scheitern würde. Hermine hatte es offenbar nicht eilig. Sie unterhielt sich mit Ginny über alles Mögliche und ignorierte Harry. Shibby räumte derweil das Frühstück weg. Severus hingegen beobachtete seinen Hund, der mit seiner feuchten Nase erst neugierig an Nicholas' Gesicht schnüffelte, um kurz darauf mit breiter Zunge die dort klebenden Reste des Haferbreis zu entfernen.

„Pfui! Aus!“, schimpfte Severus, doch der Hund hatte bereits ganze Arbeit geleistet. Nicholas' Gesicht war frei von Haferbrei, aber voller Hundespeichel, was den Jungen nicht im Geringsten störte. Er bedanke sich sogar mit einem mindestens genauso feuchten Kinderkuss auf die Nase des Hundes, strahlte dabei über das ganze Gesicht.

Einen Augenblick lang musste Harry an Peter Pan denken. Die Darlings hatten einen Hund als Kindermädchen – Nana. Es war aber Shibby, die Nicholas richtig säuberte und nicht der Hund. Der Junge hatte sich bereits auf den Boden begeben, um mit dem flauschigen Tier zu spielen. Weil Ginny und Hermine pausenlos plauderten und er sich unnütz vorkam, setzte sich Harry hinüber zu Severus auf die Couch.

„Und? Gestern noch was für die Hochzeit gekauft?“
„Kleidung oder ein Geschenk?“, stellte Severus als Gegenfrage.
„Schenken braucht ihr uns nichts. Ich meinte Kleidung.“
Severus nickte. „Das Geschäft hatte ein einziges Stück, dass gerade mal so ...“ Hermine drehte den Kopf und warf ihm einen warnenden Blick zu, so dass er umformulierte. „Es war angemessen elegant.“
„Ginny und ich holen morgen unsere Garderobe ab“, erklärte Harry, dem plötzlich ganz mulmig wurde. Beim letzten Mal war er früher gegangen und ...
„Ich könnte euch begleiten“, bot Severus unerwartet an. Wahrscheinlich waren ihm die gleichen Gedanken gekommen. Das Angebot nahm Harry dankend an, nur damit er sich sicherer fühlte.
Hermine blickte auf die Uhr, stand gleich darauf auf. „So, wir sollten gehen, Harry. Neville wartet schon und die anderen beiden müssten in zehn Minuten kommen. Severus ...?“
„Ich werde mir mit Harry die Beine vertreten“, informierte er sie.
Harry schaute zu Ginny hinüber und schlug vor. „Du wolltest doch sowieso spazieren gehen. Ihr könntet doch zusammen ...“

Severus und Ginny lehnten einstimmig ab. Beide konnten zwar miteinander umgehen, aber zu persönlich musste der Kontakt nicht werden. Der Erste, der gehen wollte, war Severus, doch Hermine hielt ihn auf.

„Ach, ich brauche noch zwei Federn. Meinst du, du könntest ...?“
„Aber nicht hier“, verbat er sich. Es würde sich bestimmt ein stilles Plätzchen finden, wo er sich in seine Animagusgestalt verwandeln könnte.

So ein Platz fand sich hinter einem der Gewächshäuser, das Severus zusammen mit Harry und Hermine aufgesucht hatte. Er machte sich nicht einmal die Mühe, die beiden wegzuschicken. Im Nu stand ein Sekretär vor Hermine und Harry, der sich zwei Federn ausrupfte. Eine dritte fiel von ganz allein zu Boden. Der Anblick des Vogels weckte erneut den Wunsch in Harry, es selbst einmal zu versuchen. Minerva könnte ihm dabei behilflich sein, seinen Animagus zu finden. Kaum war Severus wieder er selbst, hielt er sich den linken Arm, der bei der Anstrengung der Verwandlung zu bluten begonnen hatte.

„Du gehst besser zu Poppy“, riet Hermine, die sich auch selbst um den Verband gekümmert hätte, würde sie nicht gleich etwas Wichtiges vorhaben.
„Passt auf den Hund auf“, bat Severus. „Poppy würde mich vierteilen, sollte ich es wagen, ihn in den Krankenflügel mitzunehmen.“

Nachdem Severus sich auf den Weg zum Krankenflügel gemacht hatte, marschierte Hermine bereits zum Eingang des Gewächshauses, ohne auf Harry zu warten.

„Hermine!“ Harry hechtete hinterher. „Warte doch mal! Was ist denn nur los?“
Unerwartet blieb sie stehen und drehte sich um, so dass er beinahe in sie gelaufen wäre. „Was los ist? Was du mit dem Stein machst, ist mir völlig egal, Harry. Ich habe nur Bedenken, dass es Severus belastet, wenn die Heilung erst einmal beginnt. Die viele Arbeit wegen des Elixiers, wofür du das auch immer brauchst“, sie schnaufte wütend, „könnte seiner Genesung im Weg stehen.“
„Warum sollte sie ihr im Weg ...“
Sie unterbrach laut: „Weil Stress nun einmal der größte Feind der Heilung ist!“
Bei der Lautstärke schreckte Harry zurück wie ein junger Hund, der das erste Mal getadelt wurde, weil er auf den Teppich gemacht hatte. Der echte Hund neben ihm winselte solidarisch. Daran hatte er nicht gedacht, dass die mit dem Elixier verbundene Mehrarbeit sich schädlich auf Severus' Gesundheitszustand auswirken könnte. „Wenn es ihm zu stressig wird, sagst du mir dann bitte Bescheid?“, fragte er kleinlaut.
Erbost entwich ihr Luft durch die Zähne, was einen zischenden Laut entstehen ließ. „Glaubst du, ich merke es, wenn es ihm zu viel wird? Oder dass er sich mir vielleicht anvertraut, dass die Arbeit ihm über den Kopf wächst? Er ist viel zu stolz, um das zuzugeben.“ Aufgebracht schüttelte sie den Kopf, bevor sie ihm mit milder Stimme vor Augen hielt: „Er würde eine ganze Menge für dich tun, Harry. Da scheut er vor nichts zurück.“
Nach diesen Worten erinnerte er sich an das, was Severus erwiderte, als er ihn um einen Gefallen bat. 'Wen soll ich bespitzeln?', hatte er gefragt, ohne den Gefallen an sich auszuschlagen. Er hätte keine seiner Bitten abgeschlagen. „Ich würde auch eine Menge für ihn tun“, rechtfertigte sich Harry. „Eigentlich habe ich schon eine Menge für ihn getan. Ich dachte, es würde ihm Spaß machen, mit dem Stein ein bisschen zu arbeiten.“ Um sich mit ihr zu versöhnen, legte er eine Hand auf ihre Schulter und lächelte. „Ist das nicht der Traum eines jeden Tränkemeisters?“
„Wer weiß ...“ Hermine atmete einmal tief durch. „Ja, vielleicht hat er wirklich Spaß dran“, versuchte sie sich einzureden.
„Im günstigsten Fall könnte das doch seinen Genesungsprozess positiv beeinflussen oder?“
„Übertreib es nicht, Harry.“

Von weither hörte man ein fröhliches Lachen. Hermine und Harry hatten schnell die Ursache gefunden. Ginny kam mit Nicholas aus dem Schloss. Der Junge rannte mit erhobenen Armen drauf los – und fiel hin.

„Plumps!“, kommentierte Harry die Szene mit einem Schmunzeln. Nicholas stand wieder auf und ließ sich von dem kleinen Sturz nicht die gute Laune verderben.
„Er ist süß“, schwärmte Hermine mit verträumten Blick. So ein süßer Fratz wäre genau das richtige für sie.
„Ja, das ist er. Er wird bestimmt mal Meeresbiologe.“
Hermine stutzte. „Warum denn das?“
„Der Riesenkrake hat es ihm angetan. Ich denke, Ginny geht mit ihm gerade zum See.“
„Wie geht es ihr eigentlich? Vorhin machte sie einen anständigen Eindruck.“
Harry blickte Frau und Kind hinterher. „Sie braucht jemanden zum Reden, aber offenbar nicht mich. Sie meinte, sie wäre okay, aber das ist sie nicht.“
„Soll ich mal mit ihr ...“
„Du hast genug um die Ohren, Hermine. Ich dachte an Susan oder vielleicht Luna.“
„Es könnte auch reichen, wenn sie eine Art Tagebuch über das Erlebnis und ihre Ängste führt.“
Harry kratzte sich am Kinn. „Macht sie bestimmt nicht.“
„Oder Angelina. Sie hat doch damals etwas Ähnliches durchgemacht, als man sie ...“
Stoppend hielt Harry seine Hände in die Höhe. „Meinst du, es wäre eine gute Idee, wenn zwei Opfer einer Entführung durch Muggel und Todesser sich zusammensetzen und ohne feste Gesprächsführung einfach drauf los reden? Soweit ich weiß, hat Angelina damals mit Fred geredet und zwar nur mit ihm. Danach konnte sie sich erholen. So etwas wünsche ich mir für Ginny und wenn sie nicht mit mir reden möchte, dann eben mit einer Freundin.“ Er seufzte. „Sie hat Albträume, weißt du?“ Mit solchen Dingen kannte er sich bestens aus. „Sie ist schreckhaft geworden.“
Diesmal seufzte Hermine. „Das bekommen wir auch noch hin, Harry.“ Mit einem Finger deutete sie in eine Richtung. „Sieh mal, da kommt Remus! Pünktlich wie immer.“

Mit Remus zusammen, der das Sternzeichen Fische repräsentierte, betraten sie das Gewächshaus. Nicht nur Neville war anwesend und kümmerte sich bereits um den Blumentopf. Luna hatte enthusiastisch geholfen. Ihre Arme waren bis zu den Ellenbogen vor lauter Erde ganz schwarz.

Während sich alle freundlich begrüßten, begutachtete Hermine den fertigen Blumenkasten mit kritischem Auge, fand aber nichts, das sie beanstanden müsste. Die Maße stimmten, die Anordnung der Blumenkübel im Dreieck waren ebenfalls korrekt. Sie waren sogar schon mit Erde gefüllt, was man Luna verdanken konnte. Zufrieden blickte sie in die Runde. Es fehlte nur noch das Sternzeichen, dem man nach außen hin Oberflächlichkeit zuschrieb, in Wirklichkeit sollte es aber über einen flinken Verstand verfügen und über einen umwerfenden Charme – unter der Voraussetzung, der Zwilling war dazu in Stimmung.

„Draco ist noch nicht da?“, fragte sie, obwohl es offensichtlich war.
Remus beruhigte sie. „Er kommt schon noch.“
In diesem Moment öffnete sich die Tür und Neville konnte es sich nicht verkneifen zu scherzen: „Wenn man vom Teufel spricht ...“
„Ich kann ja wieder gehen!“, giftete Draco zurück. Seine Laune war im Keller. Hermine befürchtete, das könnte sich negativ auf die heute geplante Pflanzung der Samen auswirken.
Sie begrüßte ihn persönlich und noch vor allen anderen, denn sie nahm ihn zur Seite und fragte: „Alles in Ordnung?“
Draco war sichtlich genervt. „Ja, alles klar.“
„Aha“, machte sie, um zu zeigen, dass sie seiner Aussage nicht glaubte.
„Ich hab schlecht geschlafen. Der verdammte Arm ...“ Gedankenverloren strich er über die Stelle, wo einst das dunkle Mal eingebrannt war. „Es ist fast verheilt, aber tut noch verdammt weh.“
„Ist es denn für dich okay, wenn wir das heute machen?“
„Natürlich helfe ich meinem Patenonkel! Was denkst du denn?“
„Ich denke, du solltest meinen Farbtrank einnehmen, damit wir sehen, wie sich deine negative Ausstrahlung ...“
„Ich hör wohl nicht recht? 'Negative Ausstrahlung'?“, wiederholte er erbost. „Ich bin hier, oder? Lass uns anfangen!“ Gern hätte Draco den heutigen Sonntag mit Susan und Charles verbracht, aber Hermines Ruf kam dazwischen. Gegen die damals gegebene Zusage, sich um eine Pflanze zu kümmern, die eine Zutat für Severus' Heiltrank darstellte, konnte er sich nicht auflehnen. Er war gekommen und wollte sein Versprechen einlösen. Gar nicht mal Hermine zuliebe, sondern für Severus.

Nur nebenbei bekam Hermine mit, wie Draco von allen nett gegrüßt wurde. Es war ein angenehmes Gefühl, so einen Frieden zwischen Menschen zu erleben, die sich vor Jahren noch bekriegt hatten. Eigentlich war nur Draco derjenige, dem sie ihren Respekt zollte, denn die Gryffindors hatten auch damals immer versucht, Fehden aus dem Weg zu gehen. Er unterhielt sich ungezwungen mit Luna, als sie ihn ansprach. Sie entlockte ihm sogar ein Lächeln. Hermine blätterte derweil in ihren Unterlagen und sortierte die Samen für die Personen, die sie pflanzen sollten. Für Remus legte sie zwei kleine Tüten bereit. Der rote Mohn enthielt giftige Alkaloide, die sich jedoch in Wechselwirkung mit den anderen Pflanzen aufhoben. Die anderen Samen hatte Takeda ihr geschickt. Die Zuckerbüsche stellten das Pendant zum Gespenstischen Steinregen da. Was der Steinregen zerteilte, konnte ein Zuckerbusch wieder binden. Für einen kurzen Augenblick hatte Hermine die skurrile Assoziation, dass Zucker nun einmal klebrig war und alles an ihm haften blieb. Die Zutat, die aus den Zuckerbüschen hergestellt wurde, sollte dafür sorgen, dass der neue Teil der Seele sich mit dem vorhandenen Kern fest verband.

„Remus?“ Schon war er bei ihr und holte sich die beiden Tüten ab. Hermine notierte sich etwas, bevor sie die Tüten mit Samen von Glockenblume und Eisenkraut mit Dracos Namen beschriftete und sie ihm in die Hand drückte. Er wartete längst an ihrer Seite.
Harry stand hinter Draco und erblickte seine Samen: „Hey, Sonnenblumenkerne!“
„Die sind nicht zum Essen da, Harry“, mahnte Hermine mit einem Schmunzeln, bevor sie ihm die drei Päckchen reichte. „Sonnenblumen, Goldregen und dein geliebtes Pfeilkraut.“
„Wenigstens muss ich es diesmal nicht überall mit hinschleppen, sondern einfach nur pflanzen und ein wenig betutteln.“
Dankend nahm Harry die Tüten entgegen und machte Platz für Neville, dem etwas auf dem Herzen lag. „Hermine? Die Erde ist je nach Wachstumsdauer der Pflanzen mit Dünger angereichert. Alle sollten zur gleichen Zeit zur Ernte reif sein. Drei Tage gebe ihnen, dann sind sie fertig.“
„Nur drei Tage?“, staunte Hermine. „Dann kann man ja beim Wachsen zusehen.“
Neville schenkte ihr ein schüchternes Lächeln. „Das könnte sogar hinhauen.“

Mit ihrem Plan in der Hand näherte sich Hermine den wartenden Helfern. In der anderen Hand hielt sie die Samen der Weinrebe und die des Tränenden Herzens. Die Weinrebe, erinnerte sie sich, war sogar ihrem Sternkreiszeichen zugeordnet, genau wie der Sekretär, dessen Federn sie in die Mitte des dreieckigen Blumenkastens aus Feldahorn legen musste.

„So“, Hermine erhielt die volle Aufmerksamkeit der Anwesenden, „ihr habt bestimmt schon die Zettelchen gesehen, die in der Erde stecken. An den drei Ecken kommen die Zuckerbüsche, das Tränende Herz und das Pfeilkraut unter.“ Eine der Ecken enthielt einen Blumenkübel, der mit wenig Erde gefüllt war, dafür aber bis oben hin mit Wasser. Es war für die Wasserpflanze, das Pfeilkraut. „Die jeweils zwei kleineren Kübel an den drei Seitenlängen sind für die anderen Pflanzen. Laut meiner Berechnungen fangen wir mit denen an.“

Remus suchte den Blumenkübel, an dessen Schildchen „Mohn“ stand. Draco übernahm die beiden Kübel einer Seite des Dreiecks, in denen er Glockenblume und Eisenkraut säen sollte. Auch Harry kümmerte sich um zwei Kübel einer Seite, um erst den Goldregen und danach die Sonnenblumen zu pflanzen. Direkt neben Remus fand sich Hermine ein.

„Dann mal los. Auf den Tüten steht, wie tief ihr das Loch mit dem Finger bohren müsst. Bitte macht drei Löcher und gebt die Samen dort hinein“, wies Hermine ihre Freunde an, machte es gleichzeitig praktisch vor und stieß ihren Zeigefinger drei Zentimeter tief in die mit Nevilles Spezialdünger angereicherte Erde. Gleich darauf gab sie die Samen der Weinrebe hinein und deckte die Löcher locker mit ab. „Jetzt ihr.“ Wie eine Lehrerin beobachtete sie genau, was die anderen drei trieben. Harry blickte immer wieder auf, ganz wie im Unterricht von Professor Sprout, nur um zu sehen, ob sie etwas an seinem Handeln auszusetzen hatte. Da Hermine zustimmend nickte, fühlte er sich sicher. Draco hingegen schaute immer wieder zu Harry hinüber, als wollte er abgucken. Während Harry und Draco schon die zweite Pflanze säten, die ihren Sternzeichen entsprachen, warteten Remus und Hermine geduldig.
„Fertig“, verkündete Harry, der sich bereits die Samen des Pfeilkrauts in die Handfläche kippte und sich der Ecke für die Wasserpflanze näherte. Draco wartete geduldig. Er war mit der Aussaat schon fertig, wollte dieses Schauspiel aber nicht verpassen. Remus tauschte mit Hermine die Plätze, so dass die drei nun jeweils an einer Spitze des dreieckigen, großen Blumenkastens standen. Harry blickte auf das runde Glas mit Wasser. „Soll ich einfach mit der Hand hier rein und ...“
„Klar“, bestätigte Hermine, „das Pfeilkraut nur nicht zu tief pflanzen, sonst hat es Probleme zu keimen.“

Die Anweisung hatte er verstanden. Zum Glück trug er heute etwas Kurzärmeliges. Sein halber Unterarm verschwand im mit Wasser gefüllten Blumenkübel, als er erst ein kleines Loch in die Erde stieß und dann vorsichtig den Samen darin unterbringen wollte, was nicht so leicht war. Die Samen wollte immer fortschwimmen, bevor er in mit Erde bedecken konnte. „Bleib hier!“, schimpfte Harry leise, drückte dann das Saatgut in den Boden. Beim Tränenden Herz gab sich Hermine besonders viel Mühe. Eine zierliche Pflanze sollte daraus wachsen. Wenn sie ihren Berechnungen Glauben schenken durfte – und laut Septina durfte sie das –, machte diese Zierpflanze die hilfreichste Zutat im ganzen Trank aus. Der Zuckerbusch, der ebenfalls wie der Sekretär im Wappen Afrikas auftauchte, wurde zur gleichen Zeit sorgfältig und nach der schriftlichen Anweisung, die auf der Tüte stand, von Remus gepflanzt.

„Jetzt noch wässern“, ordnete Hermine an. Luna und Neville hatten die ganze Zeit über Gießkannen mit Wasser gefüllt. Zu diesen Gießkannen reichten sie einen kleinen Becher an die Hobbygärtner weiter, in denen sich Hermines Farbtrank befand.
Harry blickte auf den Kübel mit dem Wasser, dann zu Hermine, die daraufhin grinste und versicherte: „Das Pfeilkraut hat glaube ich genug Wasser. Aber ...“
Luna war schon zur Stelle und reichte Harry einen der Becher, den er ohne Murren annahm. „Vielen Dank. Ich hab wirklich Durst.“ Harry stürzte den Inhalt hinunter, hörte auch nicht mehr Hermines aufhaltenden Worte. Nach nur wenigen Sekunden begann Harry zu glimmen. „Oh, das war wohl für die Pflanze gedacht und nicht für mich, oder?“
„Gut beobachtet.“ Hermine rollte mit den Augen, bevor sie sich an Luna wandte und bat: „Noch einen Becher für das Pfeilkraut bitte.“

Alle Augen waren nur auf Harry gerichtet, dessen Magie durch Hermines Farbtrank sichtbar wurde. Bis auf Hermine und Draco hatte keiner der hier Anwesenden seine Magiefarben gesehen. Remus hatte ein mildes Lächeln auf den Lippen, als er den Sohn seines verstorbenen Freundes betrachtete. Die Farben sprachen für sich. Hell, golden, geradezu strahlend. Vor lauter Staunen stand Neville der Mund offen. Draco betrachtete das Szenario mit einem Schmunzeln.

„Gib mal nicht so an“, sagte der Blonde zum Leuchtenden.
„Ich mach überhaupt nichts“, rechtfertigte sich Harry. „Hermine?“
„Ja?“
„Das war der dreißig-Sekunden-Trank, oder?“
„Ich muss dich enttäuschen, Harry. Das hält jetzt mindestens eine Stunde an. Ich habe die Wirkungszeit etwas verlängert, damit es in der Erde besser hält.“
„Klasse“, Harry blickte an sich herab, „wie soll ich so in Hogwarts rumlaufen?“
„Na hör mal“, regte sich Hermine künstlich auf, „das ist doch nicht meine Schuld, wenn du der armen Pflanze alles weg trinkst und jetzt einen auf Monsterglühwürmchen machst.“ Draco schnaufte vor Lachen, machte aber abrupt ein ernstes Gesicht, als Harry ihn strafend ansah. Hermine winkte belustigt ab. „Ich wollte euch sowieso fragen, ob ihr etwas dagegen hättet, wenn ich dieses Projekt“, sie deutete auf den Blumenkasten, „mit diesem hier“, sie wedelte mit einem Fläschchen, „verbinde. Mein Farbtrank. Bei den Pflanzen geht es darum, die Magie von euch aufzunehmen. Das würde ich gern ausführlich dokumentieren.“
Von der Idee war Remus begeistert. „Her damit!“

Draco zögerte einen Moment, doch als er sah, dass Remus' Farben genauso dezent waren wie seine eigenen, die er von einem Experiment mit Hermine und Harry bereits kannte, gab auch er sein Einverständnis. Nachdem er den Trank eingenommen hatte, kroch ein helles Rot an Dracos Armen herab. Diese Farbe war an seinem Brustkorb – genau über dem Herzen – am stärksten. Das dunkle Blau umgab diesmal nicht den Rest des Torsos und vermischte sich erst an den Beinen mit dem saftigen Grün – beide Farben waren regelmäßig miteinander vermengt. Die grellen, gelben Blitze traten auch heute am ganzen Körper auf, was er im Spiegelbild der Scheiben sehen konnte. Sie standen für ’Geist’ und ’Intellekt’, erinnerte er sich.

„Meine Farben sind anders.“ Draco schaute an sich hinunter. „Letztes Mal ging das Blau bis zu den Beinen hinunter, wo es grün wurde. Diesmal ...“
„Ja, ich sehe es ...“, unterbrach Hermine, die sich ihr Notizbuch aus der Tasche geholt hatte. „Die Farbgebung damals besagte, dass sich die Bedeutung der Farben auf vorhandene, aber nicht ausgeprägte Eigenschaften bezieht. Heute sind sie offensichtlich ausgeprägt.“ Hermine hatte die Stelle gefunden, in der sie beim damaligen Experiment alles festgehalten hatte. „Das Rot bedeutet das Gleiche wie damals: Aktivität, Tat- und Lebensfreude. Die neue Mischung von Blau und Grün ...“ Sie blätterte nochmals. „Ah, hier hab ich es aufgeschrieben: 'Grün vermischt mit einem kräftigen Blau steht für Mut und Opfergeist'.“ Hermine klappte ihr Notizbuch zu und blickte ihn lächelnd an. „Gratuliere, Draco! Diese Eigenschaften haben sich seit dem letzten Experiment bei dir hochgradig entwickelt.“
„Wahnsinn“, murmelte er Respekt zollend, als er sein Spiegelbild in den Glasscheiben betrachtete – und sich auch selbst ein wenig bewunderte.

Bei Remus zeigten sich die gleichen Farben, die Harry damals schon in der großen Halle gesehen hatte. Der störende, graue Fleck war ebenfalls da und schien tatsächlich für den Fluch zu stehen, unter dem Remus litt. Man müsste es testen, dachte Harry. Womöglich wies jeder Werwolf einen grauen Klecks dieser Art auf. Ansonsten bestach Remus durch das kräftige Rot und Gelb. Rot stand, wie schon bei Draco, für Energie und Lebensfreude, während das Gelb, das bei Draco nur aufblitzte, bei ihm durchgehend vorhanden war. Niemand würde abstreiten, dass Remus intellektuell war. An einer Stelle mischten sich beide Farben sehr auffällig, was für Schüchternheit stand, wie Hermine nachlas. Sie behielt diese Eigenschaft für sich.

„Es ist irgendwie gemein“, scherzte Harry, „dass Luna und Neville nur gaffen.“
„Ich ...“ Neville schluckte. „Wir können gehen.“
„Ihr könnt auch mit uns anstoßen“, schlug Hermine vor, die gerade einen Becher in der Hand hielt, um ihn zu leeren.
„Ich weiß nicht.“ Mit roten Wangen senkte er das Haupt und murmelte: „Ich werde bestimmt eine Enttäuschung sein.“
„Unsinn!“, widersprach Harry. „Du bist als Mensch keine Enttäuschung, warum sollten deine Farben da anders sein?“
Hermine schritt ein und versicherte: „Du musst nicht, wenn du nicht möchtest.“
An Neville vorbei trat Luna, die ein eigentümliches Funkeln in den Augen hatte. „Ich würde gern.“
„Klar, nimmt dir einen Becher“, erlaubte Hermine, die innerlich hoffte, dass Neville von seiner Freundin überredet werden würde. „Bringst du mir die Blumenspritze mit? Ich möchte noch die Federn in der Mitte besprühen. Keine Ahnung, ob es bei toten Gegenständen klappt, aber versuchen können wir es.“

Aus Gewächshaus Nummer vier strahlten allerhand Farben, doch keiner der neugierigen Schüler wagte es, nach dem Rechten zu sehen. Sie betrachteten das Mysterium lieber aus der Ferne – aus den Fenstern, bis es ihnen zu langweilig wurde und sie sich eine neue Beschäftigung suchten.

Nicht farbenfroh, sondern trostlos grau war das Ministerium, das Kingsley am Samstag Mittag betrat, um mit Arthur ein paar Worte zu wechseln. Der Minister schien ihn bereits zu erwarten. Arthur deutete auf einen Stuhl, blickte dabei in einige Akten, die er mit einem Seufzer auf den Tisch legte.

„Meinst du, es war eine gute Idee, Mr. Geoffreys nebst Sohn in die Liste deiner Muggelfreunde aufzunehmen? Du kennst sie kaum und hast somit gegen das Gesetz ...“
„Sei mir nicht böse, wenn ich unterbreche, Arthur. Ich kenne die Gesetze mehr als nur gut. Wie aber soll ich diese Leute anständig kennen lernen, wenn ich befürchten muss, dass Vergissmich bei ihnen auftauchen? War das letzte Mal doch nicht anders. Wir wären längst Freude, wenn Abrahams nicht eingeschritten wäre.“
Arthur nickte beschämt, nahm sich die Brille von der Nase und begann sie zu putzen. „Ich meinte das nicht als Rüge, Kingsley. Ich wollte nur sagen, dass du aufpassen solltest. Momentan hat ein junger Mann die Leitung der Vergissmich inne. Er ist unerfahren. Sollte er in Panik geraten, weil irgendetwas nicht ganz so einwandfrei läuft ...“
„Das darf nicht passieren. In den neuen Gesetzen ist festgelegt, dass jeder Muggel vor einer Gedächtnisoptimierung individuell befragt und aufgeklärt werden muss.“
Seine Brille begann Arthur nur noch heftiger zu putzen, als er darauf hinwies: „Aber die neuen Gesetze haben noch keine Gültigkeit! Es war schon schlimm genug, als man Sirius' Frau einfach die Erinnerungen löschen wollte, nur weil sie sich über eine Löschung beschwerte, von der sie gar nichts mehr hätte wissen dürfen. Wenn herauskommt, dass du Mr. Geoffreys nur einen Gefallen erweisen willst, dann kann ich für nichts garantieren, solange wir noch nach den alten Gesetzen handeln.“
„Ich treffe mich mit ihm.“
Bei der knappen Aussage hielt Arthur mit dem Putzen der Brille inne. „Du triffst dich mit ihm? Weiß er davon?“
„Noch nicht. Ich habe seine Adresse und werde ihm alles erklären.“
Arthur stach sich fast mit einem Bügel ins Auge, als er seine Brille nervös wieder aufsetzte. „Herrje, damit machst du alles nur noch schlimmer!“
„Wieso? Er steht in der Liste meiner Muggel-Freunde. Da ist es nur richtig, wenn ich ihn aufsuche“, erwiderte Kingsley mit Bedacht.
„Und wenn er völlig außer sich gerät?“
„Er machte nicht den Eindruck. Ach, Arthur“, Kingsley überreichte ihm ein Formular, „ein Antrag auf die Nutzung eines der Denkarien.“
„Ich kann dem Antrag kein grünes Licht geben, solange die Gesetze gegen dein Handeln sprechen. Das musst du verstehen. Ich kann mir denken, was du vorhast, Kingsley und ich muss gestehen: Persönlich bin ich sehr angetan von der Idee, Mr. Geoffreys die verlorenen Zeit wenigstens teilweise mit Hilfe deiner Erinnerungen zurückzugeben.“ Den Antrag legte Arthur auf einen Stapel mit den vielen, noch zu bearbeitenden Schriftstücken. „Der andere Minister hat mich für den Umgang mit seinen Männer heftig zurechtgewiesen.“
Kingsley staunte. „Hat er das?“
„Er ist sogar laut geworden. Ich sag dir, ich habe mich seit der Standpauke von Slughorn, als mein Kessel damals explodiert ist, nicht mehr so schlimm gefühlt. Der Premierminister sagte mir ins Gesicht, dass er so eine Behandlung nicht durchgehen lassen würde. Er legte mir nahe, über das Wort 'Zusammenarbeit' nachzudenken, bevor ich darauf zählen dürfte, dass wieder eine stattfindet.“
„Es ist nicht abzustreiten, dass er damit Recht hat.“
Nochmals nahm Arthur den Antrag für die Nutzung eines Denkariums in die Hand, während er zustimmte: „Das habe ich gar nicht abgestritten. Hätte ich gewusst, dass Abrahams das dunkle Mal trägt ...“ Er seufzte. Unerwartet zerriss Arthur den Antrag und ließ ihn in den Papierkorb fallen. Bevor Kingsley etwas fragen konnte, gab er den Hinweis: „Ich kenne drei Personen, die ein Denkarium besitzen. Vielleicht sollte man mehr Wert auf Privatsphäre legen?“

Die Denkarien im Ministerium wurden meist für Verhöre benutzt und dienten der Wahrheitsfindung und der Klärung von Straftaten. Selbst Ron als Sohn des Ministers hatte keinen Zutritt erhalten, als er eines benötigte. Wenige Zauberer besaßen ein eigenes Becken. Von Albus wusste man, dass er eines dieser edlen und uralten Druidenwerke sein Eigen nennen durfte und dass er zudem großzügig genug war, es anderen zu leihen. Der jüngste, bekannte Besitzer eines Denkariums war Harry, der es durch Zufall erhalten hatte. Über Verwandte von Angelina wollte er lediglich Kontakt zu einem Mann herstellen, um sich das Denkarium von ihm zu leihen. Der Mann war verstorben, so dass Angelina die Bitte an dessen Hinterbliebenen gerichtet hatte. Die wiederum waren so angetan von dem Gedanken, Harry Potter eine Freude bereiten zu können, dass sie ihm das Denkarium samt gesammelter Erinnerungen schenkten. Jene gesammelten Erinnerungen hatte Harry gern an Severus und Hermine abgetreten. Der Tränkemeister kam gleich nach der Ordensverleihung in den Besitz eines Denkariums. Das Ministerium hatte es ihm als Anerkennung für seine Dienste überlassen.

Mit der krummer Nase tief in genau dieses Denkarium versunken stand Severus in seinem Zimmer in der Apotheke und stöberte ungestört in den Erinnerungen des verstorbenen Alchemisten. Seinen Besuch in Hogwarts hatte er kurz gehalten. Hermine war heute beschäftigt, würde ihn nicht an seiner Recherche hindern.

Der alte Alchimist, dessen Namen Severus noch immer nicht kannte, hatte ein paar sehr interessante Erinnerung angesammelt. Ideen für Rezepte, die nur einer anständigen Überarbeitung bedurften. Überarbeitungen für bereits vorhandene Tränke, um Nebenwirkungen auszuhebeln. Severus fand zwar nichts, was mit dem Stein der Weisen zu tun haben könnte, aber diese Erinnerungen waren für die spätere Zusammenarbeit mit Hermine eine wahre Goldgrube. Gerade tauchte Severus aus dem Becken auf, da stand Wobbel vor ihm und machte große Augen.

„Was machst du denn hier?“, fragte Severus überrascht.
„Mr. Potter hat geraten, Ihnen all die Unterlagen wegen des Steins zu bringen. Auch hat er einen großen Destillierapparat erworben, den er Ihnen schenken möchte. Ich habe ihn ins Labor gebracht.“
„Dann werde ich wohl mal einen Blick drauf werfen.“ Severus ging an dem Elf vorbei, schenkte ihm keinerlei Aufmerksamkeit. Nur als der ihm nachging, ihm sogar ins Labor folgte und ein Buch aufschlug, da fragte Severus verdrießlich: „Kann ich sonst noch etwas für dich tun?“
„Nein danke, Sir, aber ich werde mir die Freiheit nehmen, etwas für Sie zu tun. Ich werde Ihnen nämlich helfen“, verkündete Wobbel mit breitem Lächeln, woraufhin Severus das Gesicht verzog.
„Ich brauche keine Hilfe“, wies der stolze Tränkemeister das Angebot von sich.
„Mich interessiert die Arbeit, Professor Snape und deswegen werde ich mich nicht fortjagen lassen.“
„Hat Harry etwa befohlen, dass du ein Auge auf mich werfen sollst, weil ich mit etwas so Wertvollem wie dem Stein der Weisen arbeite?“
Wobbel schnalzte mit der Zunge und schüttelte dabei den Kopf. „Mr. Potter hat mir gesagt, ich darf helfen, wenn ich möchte. Er hat die Entscheidung mir überlassen. Wenn ich Ihnen das hier“, Wobbel reichte Severus das aufgeschlagene Buch, „zeigen dürfte?“
Das Buch ignorierte Severus, als er den Elf anfuhr: „Ich will nicht mit dir arbeiten!“
„Ich aber mit Ihnen“, entgegnete Wobbel gelassen. „Vertrackte Situation, nicht wahr? Wie kann man da nur einen Kompromiss schließen?“
„Das sag ich dir: Du verschwindest und lässt mich ganz allein arbeiten.“
„Dann nehme ich aber alle Unterlagen wieder mit, Sir, denn das sind meine Ideen und Recherchen, für die Sie mit Sicherheit ein halbes Jahr benötigen würden.“
Severus' linkes Augenlid zuckte. „Weißt du überhaupt, was Harry damit vorhat?“
„Nein, ich habe nur eine vage Ahnung.“ Bevor Severus eine weitere Frage stellen konnte, erklärte der Elf: „Die Ahnung ist so vage, dass ich sie nicht einmal andeutungsweise erläutern möchte.“

Verfasst: 15.09.2012 07:31
von Muggelchen
Rest von Kapitel 209

Der Elf brachte ihn zur Weißglut. Severus biss sich auf die Zunge, um Wobbel keine Schimpfwörter an den Kopf zu werfen. Da fiel ihm eine Sache, die ebenfalls mit einer Ahnung zu tun hätte.

„Sag mal“, Severus lehnte sich zu dem Elf, „kann es sein, dass Albus das Elixier des Lebens für lange Zeit eingenommen hat?“
An Wobbels Gesichtsausdruck bemerkte Severus, dass er die Antwort kannte, doch der Elf rückte nicht mit der Sprache aus, sondern versuchte, diesen Trumpf aufzuspielen. „Wenn ich das, was ich weiß, preisgebe, was könnte ich wohl als Gegenleistung erwarten?“
„Du kleiner ...“ Severus biss die Zähne zusammen, um den Satz nicht zu beenden. „Von mir aus darfst du als Gegenleistung hier bleiben und mir helfen.“
Der Elf strahlte über das ganze Gesicht. „Fein, da freue ich mich drauf!“
„Also, was weißt du über Albus und das Elixier?“
Wobbel machte eine Geste, die Severus bedeutete näherzukommen. Dicht am Ohr des Tränkemeisters verriet er: „Er hat es ab dem ersten Schuljahr genommen – seitdem er im Besitz des Steins war! Vor Angriffen war er immer gefeit. Von einem Gemälde weiß ich, dass er es auch noch nach dem Krieg genommen hat, obwohl es dazu keine Veranlassung gab.“
„Ah, das dachte ich mir.“
Wobbel nickte heftig, war aber noch nicht fertig. „Von Sir Nicholas – der hat es von einem Direktorengemälde – habe ich erfahren, dass Professor McGonagall deshalb die Verlobung gelöst hat. Nicht nur, weil Professor Dumbledore diesen unnützen Verhaltenstest mit Mr. Potter durchgeführt hat.“ Das war überhaupt der Grund, erinnerte sich Wobbel, dass Harry und er zusammengekommen waren. „Ihr gefiel es nicht, dass der Direktor sie und alle anderen überleben würde. Er wollte weiterhin alle Fäden in der Hand halten, immer helfend einschreiten, die Weichen stellen, auf wichtige Entscheidungen Einfluss nehmen. Da war kein Platz für sie, also gab sie ihm den Laufpass. Aber gerade das hat ihm die Augen geöffnet.“
„Faszinierend! Während Nicholas Flamel lediglich sein Leben lebte und sich nirgends einmischte, hielt Albus es für eine gute Idee, weiterhin aktiv zu bleiben. Er hat übersehen, dass man nicht im Rampenlicht stehen darf, wenn man dem Tod ein Schnippchen schlägt. Sonst beginnen die Leute, Fragen zu stellen.“ Severus überlegte einen Moment, fuhr mit seinen Finger derweil über die dünnen Lippen. „Warum aber hatte Fawkes den Stein?“
„Das, Sir, kann ich nur vermuten.“ Wobbel legte eine kleine Pause ein, so als würde er abwägen, ob er folgenden Satz von sich geben durfte. „Hätte Mr. Potter ein Verhalten wie der Direktor an den Tag gelegt, hätte ich ihm den Stein auch weggenommen“, beteuerte der Elf. Weil Severus seinen Ohren nicht traute, ihn entsprechend sprachlos ansah, erklärte Wobbel: „Dafür sind doch Freunde da, nicht wahr?“

Freunde.

Ein alter Spruch besagte: Ein Freund, der uns unsere Schwächen verschweigt, ist so gefährlich wie ein Feind, der sie ausnutzt.

Fawkes war es nur möglich, sich durch seine Taten mitzuteilen. Man konnte höchstens erahnen, welch enge Freundschaft den Phönix mit dem alten Zauberer verband. Dem Vogel war Albus ein lieb gewonnener Freund, so dass er ihm das Glück, dass Albus sich selbst verwehrte, mit Gewalt näher bringen wollte. Freunde waren dafür da, einen wieder auf den rechten Pfad zu leiten, die unverblümte Meinung kundzutun und zu tadeln, wenn man über die Stränge schlug. Ein Freund war aber auch dafür da, vorurteilsfrei zuzuhören. Im günstigsten Fall besaß jeder Mensch zwei Ohren, so auch Luna. Eines war sie bereit, Ginny zur Verfügung zu stellen.

Lunas Magiefarben züngelten noch ein wenig. Die Wirkung des Trankes ließ nach und Luna entschloss sich dazu, ihre Freunde im Gewächshaus allein zu lassen. Ihr Weg führte sie zum See. Von Harry hatte sie gehört, dass sie dort wahrscheinlich Ginny antreffen würde. Als Erstes sah sie Nicholas, der mit hochgekrempelten Hosen im flachen Wasser stand. Seine kleinen Arme streckte er nach einem riesigen Tentakel, der über seinem Kopf hin und her baumelte. Der Junge bekam den glitschigen Arm zu fassen und giggelte, während er ihn knetete. Plötzlich lenkte einer der anderen sieben Tentakel ihn ab, woraufhin er den achten wieder losließ. Ginny saß am Ufer und betrachtete das Spiel mit abwesendem Blick.

„Als die Nautilus auf den Riesenkrake traf“, Lunas Stimme ließ Ginny aufblicken und zuhören, „habe ich mich richtig gefürchtet.“ Ihre Augen waren auf die Tentakel gerichtet. „Aber dass das Hässliche nicht automatisch böse ist, habe ich mehr als nur einmal erfahren.“ Einem Kind gleich setzte sich Luna im lockeren Schneidersitz neben Ginny, der nicht entgangen war, dass ihre blonde Freundin in eine sanfte Wolke aus Farben gehüllt war.
„Was ist denn mit dir los?“, wollte Ginny wissen, nahm dann Lunas Hand, um die Pracht zu bestaunen.
„Hermines Farbtrank. Ich habe geahnt, dass Neville und ich bestens zueinander passen, aber als ich gesehen habe, wie sich die Magie dem anderen entgegenstreckt ... Das war ein genauso schönes Gefühl wie der Moment, als Harry und ich endlich mal den Sprechenden Fisch gesehen haben.“
„Den Sprechenden Fisch?“, stutzte Ginny. Nur vage erinnerte sich Ginny an den Tag, als Harry mit dem Abdruck des Saugnapfes eines Grindelohs an der Wange nachhause gekommen war.
„Er hätte dir sicher von unserem Erlebnis erzählt“, sagte Luna ernst, „wenn der Fisch geredet hätte.“ Sie legte den Kopf schräg, als wollte sie sagen 'Nächstes Mal vielleicht.' „Neville wollte den Trank nicht nehmen, weißt du? Er dachte, seine Magie wäre mickrig“, Luna strahlte, „war sie aber nicht.“
„Mich würde interessieren“, Ginny nickte zu Nicholas hinüber, „wie die Farben bei ihm aussehen.“
„Hermine würde dir bestimmt was geben, um das auszuprobieren. Der Trank ist ungefährlich. Das Zaubereiministerium hat das mit seinem Stempel abgesegnet.“

Eine Weile saßen die beiden jungen Damen einfach nur am Ufer und beobachteten den Jungen, der vor Lachen gar nicht mehr wusste, welchen der vielen Tentakel, die in kitzelten, er greifen sollte. Luna dachte darüber nach, wie sie ein Gespräch mit Ginny beginnen könnte. Als ihr kein dezenter Übergang zu diesem Thema einfiel, begann sie die Unterhaltung auf die Weise, die man von ihr gewohnt war. Sie war ehrlich und geradeheraus.

„Die Muggel, die dich entführt haben ...“
„Es ist okay!“ Ginny seufzte. „Hat Harry dich auf mich angesetzt?“
„Nein, ich habe nur ein Gespräch zwischen Hermine und ihm mitgehört.“ Luna griff sich einen Grashalm und drehte den um ihren Zeigefinger, während sie sprach: „Beide machen sich Sorgen, Ginny. Diese Sorge teile ich.“
„Ihr braucht euch keinen Kopf um mich zu machen. Ich war nicht lange in diesem Turm und mir ist nichts“, sie kam ins Stocken, „passiert. Nichts Schlimmes.“
„Was passiert in deinen Träumen?“, fragte Luna unerwartet und mit einem Tonfall, als würde sie sich selbst gerade im Traumland befinden.
„Was hat das damit zu tun?“
„Nachdem meine Mutter gestorben ist, hatte ich schlimme Träume. Es geht jedem so, der etwas erlebt, das ihn erschüttert.“
Ginny schüttelte den Kopf. „Träume haben nichts zu bedeuten.“
„Dann hast du also welche. Um was drehen die sich?“ Den Grashalm löste sie wieder vom Finger, um ihn um den Mittelfinger zu schlingen.
„Luna ...“ Ginny atmete tief durch. Sie hatte keine Lust dazu, mit anderen über ihre seltsamen Träume zu sprechen. „Ich träume von Dingen, die nicht passiert sind.“
„Ah“, machte Luna, als wäre für sie alles klar. „Dinge, die dir unangenehm sind. Deswegen willst du auch nicht drüber sprechen. Das kenne ich. Ich spreche trotzdem drüber. Mit Neville. Er ist ein guter Zuhörer. Anders hätte ich meine Albträume wegen Hermines Verletzung durch das Spinnenfeuer nicht unter Kontrolle bekommen.“
„Luna, bitte ...“ Aus genau dem Grund, den Luna genannt hatte, wollte Ginny nicht darüber reden. Es war ihr unangenehm.
Luna ließ nicht locker. „Was machen die in den Träumen mit dir?“ Weil Ginny schwieg, zählte Luna einige Möglichkeiten auf: „Sie tun dir weh. Oder sie tun sogar Nicholas weh.“ Sie legte den Kopf schräg und wiederholte sinngemäß Ginnys Worte. „Du träume von Dingen, die nicht passiert sind. Was aber ist in der Wirklichkeit passiert? Ich weiß nur, dass sie dich gefesselt haben.“
„Ja, das haben sie.“ Über die Realität konnte sie sprechen. „Sie haben mir nichts zu essen gegeben, keinen Schluck Wasser. Die ganze Zeit war ich angekettet, anfangs ohne Hose. Mir war kalt, ich hatte Hunger.“ Weil Luna einfach nur zuhörte, erzählte Ginny weiter. „Da kam manchmal ein Mann, der mir Spritzen gegeben hat.“
„Spritzen? Diese spitzen Nadeln, mit denen Muggel von Ärzten gestochen werden?“
„Genau die“, bestätigte Ginny.
„Wo hat man dich gestochen?“
Die noch immer mit Pflastern verbundenen Finger einer Hand strichen über ihre Armbeuge, während Ginny erklärte: „Und auch am anderen Arm.“
„Eine Nadel im Arm“, sagte Luna nachdenklich. „Das stellt eine unerwünschte Penetration des Körpers dar. Ich glaube, ich weiß jetzt, von welchen schlimmen Dingen du träumst.“
Auf einer Seite war Ginny froh, dass endlich jemand von den bedrückenden Träumen wusste. Andererseits konnte sie noch immer nicht offen darüber reden. „Und ich denke, du liegst mit deiner Vermutung richtig“, bestätigte Ginny indirekt.
Das erste Mal während des Gesprächs blickte Luna sie an. „Vielleicht solltest du mitgehen, wenn Harry den Arzt besucht.“
Erschrocken über diesen Vorschlag fuhr Ginnys Kopf herum. „Wie bitte? Ich will niemanden von dieser Bande sehen!“
„Es könnte helfen.“
„Ich sagte nein!“
Von der beharrlichen Antwort entmutigt suchte Luna nach Argumenten, fand jedoch keine, um Ginny umzustimmen. Stattdessen stellte sich ihr eine andere Frage. „Kommt dieser Arzt in den Albträumen vor?“
„Ja, verdammt!“ Ginny war sauer, hatte genug. „Er sagt, er will mich impfen und lässt die Hose runter. Zufrieden?“, zeterte Ginny aufgebracht. Unerwartet stand sie auf, um sich dem Kind zu nähern. Luna blieb sitzen und ließ sich die Worte durch den Kopf gehen. Vielleicht, so hoffte sie, würde diese kleine Unterhaltung schon ausreichen, um Ginnys Geist ein wenig Ruhe zu verschaffen. Mit Nicholas im Arm, der heftig dem Riesenkrake zuwinkte und dabei ständig „wau, wau“ rief, ging sie an Luna vorbei und sagte, ohne sie eines Blickes zu würdigen: „Und wehe, du tratschst das weiter!“

Eindeutig war die Drohung zu vernehmen, doch auch ohne diesen Hinweis seitens Ginny hätte Luna niemals ohne Erlaubnis ihren Mund aufgemacht. Ginny lief Harry in die Arme, so dass beide gleich den Nachhauseweg einschlagen konnten.

Luna machte sich nochmal auf den Weg zum Gewächshaus und begutachtete den dreieckigen Blumenkasten. Die Samen hatten Hermines Farbtrank längst aufgenommen. Zaghaft konnte man ein paar Lichtpunkte über den Erdhaufen erkennen, wo die sichtbare Magie sich bereits einen Weg nach oben erkämpfte. In der Mitte, auf einer runden Ablage aus Feldahorn, lagen zwei schwarze und eine graue Feder. Nur noch Hermine und Neville hielten sich hier auf.

„Die Federn“, erklärte Hermine, ohne dass Luna sie dazu auffordern musste, „stammen von Severus' Animagusform. Sie bilden neben dem Tränenden Herz die wichtigste Zutat. Beide zusammen können eine Art Kopie anfertigen. Eine Kopie von ...“ Sie biss sich auf die Zunge. Beinahe hätte sie offen über Severus' Problem gesprochen, das nicht einmal Draco in allen Details bekannt war. Luna und Neville waren bisher gar nicht darüber informiert worden. Sie wussten höchstens vom Gespenstischen Steinregen, den Remus mit Nevilles Hilfe gefunden hatte und der war lediglich eine Zutat für den Ewigen See.
„Eine Kopie der Seele“, vervollständigte Luna mit entrücktem Blick. Offensichtlich hatte sie aus allen Einzelheiten die Wahrheit zusammengesetzt. Völlig aus dem Zusammenhang gerissen sagte sie plötzlich: „Du kannst Nicholas mal den Farbtrank geben. Ginny möchte wissen, wie die Magie bei einem so jungen Kind aussieht.“
„Okay, kann ich machen.“ Ein paar Unterlagen wanderten in Hermines Tasche. „Aber erst nach der Hochzeit.“ Sie warf sich die Tasche über die Schulter, war bereit zum Gehen.
„Der Trank wird vorher fertig werden.“ Luna legte eine Hand auf die Erde. „Oder irre ich mich?“
Lunas Interesse brachte Hermine zum Lächeln. „Der Trank muss sieben Mal frisch gebraut und sieben Mal eingenommen werden. Ich vermute, Severus wird ihn schon einige Male genommen haben, wenn Ginny und Harry heiraten, aber bestimmt noch nicht zum letzten Mal.“
„Das ist schade. Dann wird er die Freude erst später in vollen Zügen nacherleben. Vielleicht ist es aber auch gut, denn dann wird er nicht mit all dem Neuen überfordert werden.“
Neugierig blickte Hermine erst Neville an, dann Luna. „Entschuldigt bitte, wenn ich so dumm frage, aber woher wisst ihr so viel darüber?“
Es war Neville, der die Antwort gab. „Du weißt, dass Pomona ein paar schwarze Bücher besitzt?“ Hermine nickte, so dass er fortfuhr. „Remus hatte sich eines geborgt, mir darüber hinaus Fragen zum Gespenstischen Steinregen und möglicher Tränke gestellt, in denen diese Pflanze verwendet wird.“ Er zuckte mit den Schultern. „Eines ergab das andere. Diese teilende Pflanze wird so selten für Tränke genommen, dass ich zwangsläufig über den Ewigen See stolperte. Alles, was ich darüber erfahren habe, passte zu diesem Trank und zu“, er atmete einmal tief durch, „na ja, zu Severus.“

Hermine war drauf und dran, sich selbst Vorwürfe zu machen. Allerdings war es nicht ihre Schuld, wenn ihre Recherche andere Menschen wachrüttelte. Bei Septina und Aurora war es nicht anders gewesen, als die beiden Hermines Berechnungen durchgegangen waren und selbst Schlüsse auf Severus' Zustand zogen. Dass sie wussten, wer der Empfänger des Heiltrankes sein würde, hatten beide durch eine Genesungskarte für Severus mit dem Sternzeichen des Steinbocks verlauten lassen.

„Ihr habt aber niemandem davon erzählt, hoffe ich?“
„Bei Merlin, nein!“, beteuerte Neville kopfschüttelnd. „Der Ewige See und seine Zutaten sind verboten. Ich wollte niemanden in Schwierigkeiten bringen, besonders nicht dich, Hermine. Mir sind nur endlich einige Dinge klar geworden. Ich verstehe ...“ Er verstand, wie es um Severus stand und warum der immer eine so finstere Gestalt darstellte. „Ich finde es ganz beachtlich, was Harry und du bisher geleistet habt. Du hast etwas Einzigartiges erfunden, Hermine. Ich drücke ganz fest die Daumen, dass alles reibungslos verläuft.“
Neville schien noch etwas auf dem Herzen zu haben, weshalb Hermine ihn anblickte und freiheraus fragte: „Was noch?“
„Dein Trank ... Ich meine den Farbtrank ...“
„Was ist mit ihm?“
„Ich wollte fragen, ob ich etwas mitnehmen darf.“
Jetzt war Hermines Neugier geweckt. „Sicher darfst du. Verrätst du mir auch, was du damit vor hast? Möchtest du damit experimentieren?“
„In gewisser Weise ...“ Es brachte gar nichts, besonders nicht Hermine gegenüber, um den heißen Brei herumzureden. „Ich wollte meinen Eltern etwas davon geben. Ich dachte, vielleicht könnte man damit herausfinden, was sie genau haben.“
Mit einem Male wurde ihr ganz schwer ums Herz. „Neville“, sie seufzte, „mach dir bitte keine Hoffnung. Im Mungos habe ich die Akten deiner Eltern studiert. Mehrmals.“ Ein Hoffnungsschimmer leuchtete in seinen Augen auf. „Deine Eltern haben umfangreiche Nervenschäden erlitten. Besonders das Nervengewebe im Gehirn ist beschädigt. Das lässt sich nicht heilen. Die vielen Cruciatusflüche haben manche Synapsen unwiderruflich durchtrennt.“ Es tat weh, die Enttäuschung in Nevilles Gesicht auszumachen, obwohl er die verbergen wollte. „Neville ...“
„Ich möchte nur ihre Magie sehen“, machte er ihr weis. „Die wird doch sicher noch da sein oder?“
Hermine rang sich ein Lächeln ab. „Ja, die wird noch vorhanden sein.“

Auf dem Nachhauseweg machte sich Hermine Vorwürfe. Wenn sie es sogar fertigbrachte, für Severus eine neue Seele zu arrangieren, wieso hatte sie sich nie die Zeit genommen, eine Heilung für Nevilles Eltern zu finden? „Weil es nicht möglich ist!“, sagte sie wütend zu sich selbst. Natürlich hatte sie während ihrer Ausbildung im Mungos nach einer Möglichkeit gesucht. Selbst in der Muggelwelt hatte sie Augen und Ohren offen gehalten, doch auch dort gab es trotz fortgeschrittener Medizin keine Methode, die eine Heilung der durchtrennten und verkümmerten Kontaktstellen zwischen den verschiedenen Nerven versprach. Diese Kontakte wieder zu verknüpfen wäre eine chirurgische Feinarbeit, die nicht einmal in Science-Fiction-Geschichten leicht zu bewerkstelligen war.

In der Apotheke wurde sie von Fellini und Harry begrüßt, die es sich auf der Couch im Wohnzimmer gemütlich gemacht hatten. Unten im Labor hörte sie laute Geräusche, als würde man etwas Metallisches über den Boden ziehen. Nachdem sie sich ihrer Tasche und des Umhangs entledigt hatte, stattete sie Severus im Labor einen Besuch ab und war überrascht, ihn nicht nur in Gesellschaft, sondern darüber hinaus auch noch in einer hitzigen Diskussion mit Wobbel anzutreffen.

„Wir können nicht einfach anfangen!“, blaffte Severus den Elf an.
„Warum nicht, Sir? Alle Hinweise sagen eindeutig, dass wir die Lösung längst in den Händen halten.“ Wobbel wedelte mit einer Handvoll Pergamente vor Severus' Hakennase herum, was der gar nicht ausstehen konnte. Mit flinker Bewegung wollte er ihm die Unterlagen entreißen, doch der Elf war schneller und grinste verschmitzt. „Es ist alles fertig. Wir können beginnen.“
„Wir?“, fragte Severus mit hoher Stimme nach.
„Wir haben eine Abmachung.“
Severus tat unschuldig. „Ich dachte, die gilt nur für heute.“
„Der Tag ist noch nicht um. Sträuben Sie sich deshalb, jetzt schon mit der wirklichen Arbeit zu beginnen?“ Skeptisch kniff Wobbel die sonst so großen Augen zusammen. „Sie wollen mich loswerden!“
Ertappt blickte Severus auf die Unterlagen, die Wobbel nicht hergeben wollte. „Ich verstehe dein plötzliches Interesse an Zaubertränken nicht.“
„Zaubertränke interessieren mich nicht die Bohne“, entgegnete der Elf selbstsicher.
„Warum dann ...?“
„Alchemie!“, unterbrach Wobbel. „Das interessiert mich.“

Mit einem Schmunzeln stand Hermine an der offenen Tür und verfolgte das Schauspiel. Keiner der beiden bemerkte sie.

„Wo zum Teufel sind die gehorsamen Hauselfen geblieben, die ohne Widerrede das tun, womit ihr Herr sie beauftragt hat?“, fragte Severus in den Raum hinein, falls ein höheres, gottgleiches Wesen ihm darauf eine Antwort geben wollte.
Wobbel war so frei, diesen Part zu übernehmen: „Oh, die gibt es noch, Sir. Ich bin selbst einer von ihnen.“
„Ach ja? Warum tust du dann nicht, was ich befehle?“
„Weil Sie nicht mein Meister sind.“
Severus rollte mit den Augen und murmelte genervt: „Jetzt muss ich mich auch noch mit einem Elf herumschlagen.“
„Wir schlagen uns doch gar nicht“, winkte Wobbel gelassen ab. „Nur nebenbei erwähnt: Dabei würden Sie verlieren.“
„Ich fasse es nicht. Jetzt drohst du mir noch körperliche Gewalt an?“, warf Severus ihm wenig ernsthaft vor.
Wobbel wagte es, Severus' Frage mit einem verachtenden Pfeifton zu kommentieren. „Ich werde jetzt beginnen. Der Destillierapparat ist einsatzbereit. Wenn Sie Lust dazu haben, dann können Sie mir zu Hand gehen.“

Neugierig blickte sich Hermine im Labor um und bemerkte erst jetzt das dunkelbraun lackierte Gerät, das große Ähnlichkeit mit dem damaligen Badeofen im Haus ihre Großeltern hatte. Es war ein gut erhaltener Destillierapparat, in dessen Innereien Wobbel gerade den Stein der Weisen anbrachte.

Sie hielt ihre Neugier nicht mehr aus und fragte: „Wird das eine trockene Destillation?“
Beide Köpfe drehte sich in ihre Richtung. Es war Severus, der die Antwort gab: „Nein“, er deutete auf einen Topf. Hermine näherte sich ihm und blickte hinein, während sie Severus' Worten lauschte. „Das Rezept haben wir aus einem von Flamels Büchern. Die Flüssigkeit wird erhitzt, der Dampf steigt auf und nimmt, wenn er den Stein erreicht, bestimmte Substanzen von ihm auf. Wenn der Dampf wieder abkühlt und flüssig wird, erhält man – jedenfalls in der Theorie – das Elixier des Lebens.“
„Das wir gleich herstellen werden“, fügte Wobbel enthusiastisch hinzu, nachdem er die Klappe am Destillierapparat geschlossen hatte. „Alles ist bereit.“
„Von mir aus“, seufzte Severus. „Bring es zum Sieden. Die Temperatur kennst du.“

Sie schafften es nicht beim ersten Mal, das Elixier des Lebens herzustellen. Die Farbe und der Geruch entsprach noch nicht den Beschreibungen von Flamel. Auch der extra von dem Alchemisten angefertigte Zauberspruch, mit dem man das erfolgreich gebraute Elixier bestimmen konnte, schlug bisher nicht an. Wobbel überprüfte alles, veränderte die zu erhitzende Mixtur minimal und verlor nie die gute Laune. Der Elf arbeitet teilweise allein an dem Projekt, weil Severus noch wenige Wochen als Lehrer tätig war. Außerdem musste er seinen Arm schonen.

In Hogwarts war für ihn wenig zu tun. Die Schüler begrüßten es, dass er weder komplizierte Tränke mit ihnen brauen wollte noch viele Hausaufgaben aufgab. So bereiteten sich Schüler und der Lehrer langsam auf die bevorstehenden zwei Wochen Ferien vor.

Nach dem Unterricht mit den Sechstklässlern trat ein Schüler des siebten Jahrgangs in den Klassenraum ein. Severus blickte auf.

„Mr. Foster, wie kann ich Ihnen behilflich sein?“
Gordian hielt vor dem Pult des Lehrers. „Guten Tag, Professor Snape. Ich habe gehofft, ich könnte Sie dazu bewegen, mir ein Empfehlungsschreiben auszustellen.“
„Empfehlungsschreiben bekommen nur Schüler, die mit einem Ohnegleichen abschließen.“
„Ich weiß, Sir. Gerade eben komme ich von der Prüfung für Zaubertränke. Ich bin mir ganz sicher, dass ich ein 'O' bekommen wer...“
Kühl unterbracht Severus: „Darauf kann ich mich nicht verlassen.“
„Aber Sir ... Sie können doch sicherlich bei den Prüfern in Erfahrung bringen, wie es um mein Testergebnis steht. Mit dieser Information, die sicherlich gewichtiger ist als mein Bauchgefühl, könnten Sie mir eine Referenz ausstellen, mit der ich mich in den Ferien schon bewerben kann.“
Wie in Zeitlupe legte Severus seine Feder beiseite und schenkte Gordian einen seiner strengsten Blicke. Anstatt zu kuschen, den Raum entmutigt zu verlassen oder wenigstens nervös zu zittern, brachte es Gordian fertig, seinen Zaubertränkelehrer in freudiger Erregung anzulächeln. „Und, Sir?“, fragte der Junge frech nach.
„Habe ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt? Dann werde ich es klarer formulieren: Die Testergebnisse erfahre auch ich nicht früher.“
„Ach, die Prüfer machen bei Ihnen bestimmt eine Ausnahme.“
„Denken Sie, ja?“ Eine Augenbraue wanderte langsam nach oben. „Sie wollen mir also nahe legen, mich über die Vorschriften hinwegzusetzen und einen Prüfer nach den Noten eines Schülers zu fragen, obwohl diese noch nicht offiziell bestimmt wurden?“
Diesen Satz ließ Gordian ein paar Sekunden Revue passieren, bevor er plötzlich nickte und wieder sein strahlendes Lächeln aufsetzten. „Ja, Sir. Ich würde es so machen! Ich meine, wäre ich an Ihrer Stelle. Wenn ich der Lehrer wäre und Sie mein ...“
„So weit kommt es noch“, unterbrach er den aufgeweckten Jungen. „Mr. Foster, ich sehe wirklich keine Möglichkeit, mit legalen Mitteln früher an die Ergebnisse der UTZe zu kommen.“ Eine kleine Pause, damit der Schüler das 'nein' aus dem Gesagten heraushören konnte. „Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“
Gordians Lächeln verblasste. Die Enttäuschung schlug sich hörbar in seiner Stimme nieder. „Nein, Sir.“ Ein verschämter Blick zu Boden folgte. „Vielen Dank, dass Sie mich angehört haben.“

Nicht nur die Schultern hingen resignierend an Gordian herab, als er das Klassenzimmer verließ. Auch der Kopf war gen Boden gerichtet.

Auf dem Weg zum Mittagessen stieß Severus auf einen kahlköpfigen Mann, der mit seinen knotigen Händen, an denen die Adern hervortraten, einige Pergamente überblickte. Es war ein Herr vom Ministerium, dessen Prüfungsgebiet drei Bereiche umfasste: die schriftliche Prüfung für Geschichte der Zauberei und die praktischen für Verteidigung gegen die Dunklen Künste und ... Zaubertränke.

„Professor Tofty“, grüßte Severus mit einem Kopfnicken.
„Ah, Professor Snape.“ Der liebenswürdige, betagte Zauberer reichte ihm die Hand, die Severus höflichkeitshalber schüttelte. „Wie geht es Ihnen? Ich habe in der Zeitung gelesen ...“ Dass alle Todesser am linken Arm brannten, klang ungesagt mit.
„Es geht mir den Umständen entsprechend gut, danke der Nachfrage.“ Ein Blick auf die Pergamente bestätigte Severus, dass der Prüfer aus Neugierde schon einige Arbeiten durchgegangen war.
„Vom Direktor habe ich erfahren, dass Sie die Schule verlassen werden. Eine Apotheke hat es Ihnen angetan, hörte ich?“
„Sie haben richtig gehört“, bestätigte Severus.
„Wissen Sie schon, wer Ihr Nachfolger werden wird?“
„Das wird Georgi Popovich sein. Er ging mit mir zur Schule.“
Professor Tofty nickte. „Ja, ich kenne ihn. Er hat im Ministerium die Prüfungen der angehenden Zaubertränke-Meister geführt. Ich denke, er ist hier besser aufgehoben.“ Tofty lächelte freundlich. „Und ich denke auch, dass Sie in einer Apotheke besser aufgehoben sind.“
„Die Arbeit wird sicherlich ruhiger und interessanter als hier.“ Severus blickte demonstrativ auf die Pergamente in Toftys Händen, so dass der Professor sie ebenfalls betrachtete.
„Ich kann es nie abwarten“, gestand Tofty, „einige der Arbeiten sofort anzusehen.“
„Gerade eben fragte mich ein Schüler – Gordian Foster ist sein Name –, ob ich ihm ein Empfehlungsschreiben ausstellen könnte.“ Gleich nach Nennung des Namens hatte Professor Tofty in seinen Pergamenten geblättert, bis er Gordians Arbeit vor Augen hatte. Severus erklärte weiterhin: „Ich musste ihm eine Absage erteilen, weil ich seine Note nicht kenne.“ Während seiner Worte ging Tofty die Prüfungsantworten von Gordian durch, lauschte dabei weiterhin dem Tränkelehrer. „Sie müssen wissen, dass ich nur mit einer Bestnote Referenzen ausstelle.“
„Mmmh“, machte Tofty, der die Antworten des Schülers las und bereits das Pergament wendete.
„Mr. Foster möchte sich gleich nach Beginn der Ferien bewerben, aber die Ergebnisse kommen erst in ein paar Wochen ...“
„Tja, das ist Pech“, erwiderte Tofty gut gelaunt, als er das Pergament wieder einordnete. „Es ist nicht erlaubt, im Vorfeld zu verraten, dass die Note des besagten Schülers ein Ohnegleichen werden wird. Die Regeln, Sie verstehen? Tut mir außerordentlich leid, dass ich Ihnen in dieser Hinsicht keine Auskunft erteilen kann.“
Severus kam nicht umhin, zu den Worten des schrulligen Professors einseitig zu lächeln. Er spielte das Spiel mit. „Ja, ich verstehe nur zu gut. Da kann man nichts machen.“
„Es war nett, mit Ihnen zu plaudern, Professor Snape. Ich muss jetzt aber langsam los. Auf Wiedersehen.“

Severus verabschiedete sich von dem Prüfer und entschloss sich dazu, das Mittagessen in seinen Räumen einzunehmen, derweil schon über die Wortwahl nachzudenken, die er in dem Empfehlungsschreiben für Gordian verwenden wollte.

In der Muggelwelt gab es nur wenige Situationen, in denen solche persönlichen Empfehlungsschreiben ausgestellt wurden. In der Regel reichten Noten und Prüfungsergebnisse, um seine Kenntnisse und Fähigkeiten zum Ausdruck zu bringen. Die Vergabe einer Arbeitsstelle konnte höchstens manipuliert werden, wenn man Bekannte oder Verwandte mobilisierte, die ein gutes Wort beim Chef einlegen sollten. Marie hatte lediglich ihre Noten. Professor Puddle war ihrer Bitte nach einer objektiv verfassten Referenz bisher nicht nachgekommen. Stattdessen hatte sie einen Brief von Lucius bekommen: eine Einladung von ihm und seiner Gattin nach Malfoy Manor. Ein wenig mulmig war ihr schon bei dem Gedanken, das Haus ihres ehemaligen Patienten zu besuchen. Die Beziehung zu ihm war freundschaftlich und gelassen. Nach anfänglichem Hin und Her konnte er sie so akzeptieren, wie sie war – als Halbblut. Aus Unterhaltungen hatte Marie herausgehört, dass Lucius' Schwiegertochter als eingeheiratetes Halbblut bei ihm noch nicht sehr willkommen war. Die Einladung war für heute Abend. Marie las die Adresse und nutzte das Flohnetzwerk, wie es in dem Brief vorgeschlagen wurde.

„Herzlich Willkommen, Marie“, grüßte eine ihr wohl bekannte Männerstimme. Lucius und seine Frau begrüßten sie und führten sie in den grünen Salon, wo bereits ein Aperitif wartete: ein Glas Chardonnay und geräucherter Lachs. Narzissa begab sich in die Küche, um das Essen zuzubereiten. Es war so geplant, dass Lucius noch vor der Mahlzeit mit Marie über die mögliche Stelle im Gorsemoor-Sanatorium zu sprechen. „Setzen Sie sich doch bitte“, bot er galant an, deutete dabei auf das weiche Sofa. Er nahm die Karaffe in die Hand und scherzte: „Ich möchte Ihnen gleich reinen Wein einschenken.“
„So?“, fragte Marie verdutzt nach, hielt ihm trotz der Zweideutigkeit ihr Glas hin.
„Sie können sich sicher vorstellen, dass ich über Professor Puddles Verhalten alles andere als erfreut bin. Sie zu kündigen war ein großer Fehler.“ Für einen kurzen Moment schrillten ihre inneren Alarmglocken, als sie glaubte, er wollte sich an Puddle rächen, doch seine folgenden Worte erklärten die eigentliche Absicht. „Nun, wenn das Mungos keinen Wert auf fähiges Personal legt, dann sollten andere Einrichtungen von Ihrem Können profitieren, Marie.“ Die Karaffe stellte er zurück auf den Tisch, bevor er sich in den Sessel neben sie setzte. Marie langte bei dem Lachs zu. „Sie sagten einmal – das ist schon eine Weile her –, dass Sie gern eine Ausbildung zur Heilerin absolvieren würden.“
Sie nickte, bevor sie den Lach mit einem Schluck Wein hinunterspülte. „Das war schon immer mein Traum“, bestätigte sie, „aber es wird einer bleiben.“
„Da möchte ich widersprechen.“
Aus der Küche hörte man plötzlich ein lautes Scheppern, welches Maries Aufmerksamkeit erregte. „Darf ich Ihrer Frau vielleicht helfen?“, bot sie an.
„Ich glaube nicht ...“
Es schepperte nochmals, so dass Marie aufsprang. „Das macht mir nichts aus, wirklich nicht. Ich bin gleich wieder da.“

Lucius folgte dem Gast in die Küche. Das kleine Malheur war mittels Magie in Windeseile behoben. Marie und Narzissa deckten gemeinsam den Tisch im grünen Salon und führten dabei eine Unterhaltung, die Lucius als typischen Frauengespräch bezeichnen würde. Es ging um Narzissas Enkelkind und um die vielen Neffen und Nichten von Marie, ums Haus, den Garten und natürlich das Kochen.

„Ich habe früher nie selbst gekocht“, gestand Narzissa. „Wir hatten einen Hauself, aber uns wird zumindest jetzt noch kein neuer bewilligt. Meine Schwiegertochter macht das meiste in der Küche.“
„Wo ist Ihre Schwiegertochter jetzt?“, wollte Marie wissen.
„Sie ist mit dem Kind und ihrem Mann oben.“
Mit strahlenden Augen schlug Marie vor: „Na, dann können sie doch hinunterkommen und mit uns zusammen essen!“

Das „Nein“ hatte Lucius entweder zu leise gesprochen oder er wurde absichtlich von Narzissa ignoriert, denn sie fuhr ihm über den Mund und hieß den Vorschlag gut. Gleich darauf machte sie sich auf den Weg, um Sohn und Schwiegertochter zum Essen zu holen.

Den kleinen Jungen trug Draco auf dem rechten Arm, weil der linke noch immer nicht vollständig verheilt war. Die Begrüßung fiel sehr freundlich aus. Marie kannte er von Hogwarts, wo sie sich um seine Wunde gekümmert hatte. Es gefiel Lucius gar nicht, dass das Thema, das er vorhin so schön eingeläutet hatte, nun wieder vom Tisch war. Themenwechsel lagen ihm am besten, wenn er sie mit einer sarkastischen Bemerkung einleiten konnte, doch diese waren heute fehl am Platz. So lauschte er dem Geplauder seiner Schwiegertochter, den witzigen Anmerkungen seines Sohnes und den gurgelnden Geräuschen von Charles, was noch das angenehmste Geräusch bei Tisch war. Draco war so frei, das erhoffte Thema der Beschäftigung anzusprechen. Das war Lucius' Thema und er riss sofort die Gesprächsführung an sich.

„Die Beschäftigungsstrategie weniger Einrichtungen ist wirklich vorbildlich. Das Mungos zählt nicht dazu, aber ich hatte neulich ein Gespräch mit Mrs. Gorsemoor.“ Bei Lucius' Worten horchte Marie auf, denn natürlich kannte sie den Namen der bekannten Heiler-Familie. Ihre Bewerbung für dieses Sanatorium war schon fertig geschrieben. „Die private Gönnerschaft als Sprungbrett einer Karriere wird dort wieder in Betracht gezogen.“ Niemand, nicht einmal sein Sohn, musste wissen, dass er den Stein ins Rollen gebracht hatte.
Skepsis war in der Familie Malfoy eine angeborene Eigenschaft, die auch Draco innehatte. „Tatsächlich?“
Er bestätigte seinem Sohn nochmals, was er eben gesagt hatte. „Natürlich werden nur Auszubildende angenommen, die auch entsprechende Qualifikationen haben. Diesen Schützlingen wird durch einen Mäzen ermöglicht, die Ausbildung finanziell tragen zu können.“
Maries Augen funkelten. „Das ist fantastisch! Dann muss ich mir nur noch einen Gönner suchen“, scherzte sie, lenkte damit das Gespräch jedoch genau in die Richtung, auf die Lucius spekuliert hatte.
„Wenn Sie mir gestatten, Marie, dann möchte ich diese ehrenvolle Aufgabe übernehmen.“

Die abrupt einkehrende Ruhe wurde nur von Charles missachtet, der den Löffel auf dem Teller quietschen ließ. Draco blinzelte einige Male, hatte dabei die Augen auf seinen Vater gerichtet und wartete neugierig, aber geduldig auf eine Erklärung. Susan nahm Charles den Löffel aus der Hand und blickte nacheinander zu Narzissa, Marie, Draco und Lucius. Als ihr Blick den seinen traf, zeigte sie ihm mit ihrer Mimik, dass sie von diesem Vorschlag sehr angetan war. Die Einzige, die im Vorfeld schon Bescheid wusste, war Narzissa. Es machte ihr Freude, die Überraschung in Maries Gesicht auszumachen.

„Ich ...“ Viele Gedanken gingen Marie durch den Kopf. In ihren Erinnerungen wollte sie eine Erklärung für dieses großzügige Angebot finden, doch sie fand keine spezielle. Vielleicht, dachte sie, war er der Meinung, ihr etwas schuldig zu sein. „Ich danke Ihnen vielmals, aber ich kann das nicht annehmen.“
Sie hätte ihm genauso gut ins Gesicht schlagen können, es hätte nicht weniger geschmerzt. „Wie darf ich das verstehen?“, fragte er unsicher nach.
Die Dankbarkeit in ihren Augen stand nicht mit ihren Worten im Einklang. „Ich kann es nicht annehmen ...“
„Ja, das sagten Sie bereits!“, kam es viel entrüsteter von ihm als er wollte.
„Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, Lucius. Es ist nur ...“ Sie klemmte verlegen eine Strähne hinter das Ohr. „Sie sind mir gegenüber zu nichts verpflichtet.“
Mit freundlicher Stimme lockerte er die Atmosphäre, als er bestätigte: „Natürlich nicht! Jedenfalls noch nicht, denn diese Verpflichtung möchte ich liebend gern auf mich nehmen, Marie. Bitte“, er beugte sich leicht vor und sah ihr direkt in die Augen, „bereiten Sie mir die Freude und lassen Sie mich für Ihre Ausbildung aufkommen.“
Knallhart sagte Susan an Marie gewandt: „Also, ich an Ihrer Stelle würde sofort zuschlagen!“
Diese Anmerkung nahm Lucius ihr nicht einmal übel. Im Gegenteil – er baute seine nächste Bemerkung darauf auf. „Hören Sie auf meine Schwiegertochter!“
Auch von Draco erhielt er unerwartet Unterstützung. „Greifen Sie zu, bevor er es sich noch überlegt.“
„Ich überlege es mir auf keinen Fall“, beteuerte Lucius. „Daran liegt mir viel zu viel. Das Gorsemoor ist eine hervorragende Institution, Marie. Sie können neben Ihrer Ausbildung als Heilerin sogar Ihren Meister in anderen Bereichen absolvieren. Wäre das nicht etwas für Sie?“ Lucius war geübt darin, jemandem etwas schmackhaft zu machen. Bei Severus hatte es damals auch funktioniert, als er ihn in Voldemorts Kreis einführen wollte. In dieser Situation gab es aber nichts Böses, nichts Hinterhältiges. „Marie?“
Sie war hin- und hergerissen. „Zu was verpflichte ich mich, sollte ich zusagen?“
„Zu gar nichts, das ist doch das Gute an der Sache“, versprach er.
„Das kommt ein wenig überraschend.“ Zaghaft formten sich ihre Lippen zu einem Lächeln. „Und ich werde das Gefühl nicht los, dass dieses Angebot der Grund für die heutige Einladung ist.“
„Möglicherweise liegen Sie damit sogar richtig.“ Sein Schmunzeln verriet ihr, dass sie sich nicht irrte. „Sie müssen sich nicht sofort entscheiden, aber“, jeder horchte gespannt auf seine Worte, „Mrs. Gorsemoor würde Sie gern zu einem Vorstellungsgespräch einladen. Ich war so frei, einen Termin für Freitag Vormittag auszumachen.“
„Oh“, war das Einzige, mit dem Marie ihrer Überraschung Ausdruck verleihen konnte. Ein zaghaftes Nicken war die Bestätigung, dem Gespräch mit Mrs. Gorsemoor beizuwohnen.
„Fabelhaft, ganz fabelhaft“, schwärmte Lucius. Niemand wusste genau, ob seine Worte der Scheibe von dem Fasan galt, von dem er sich etwas auftat oder aber der Zustimmung von Marie.

Alles lief bestens. Bei jedem.

Marie versprach, Mrs. Gorsemoor aufzusuchen. Severus und Wobbel machten Fortschritte und waren nur noch eine Mixtur davon entfernt, tatsächlich das Elixier des Lebens herzustellen, während die Hobbygärtner sich die Zeit nahmen, ihre Pflanzen für ein paar Stunden zu verhätscheln.

Drei Tage nach dem Säen der Pflanzen in Gewächshaus Nummer vier kümmerten sich Remus, Draco, Harry und Hermine im Beisein von Neville und Luna um die zukünftigen Zutaten für den Heiltrank. Das erste Mal konnte Hermine über einen längeren Zeitraum etwas Einzigartiges dokumentieren. Alle Helfer hatten sich bereit erklärt, bei jedem Besuch den Farbtrank einzunehmen. Auf diese Weise war es möglich, ausführlich festzuhalten, wie die Magie auf die Pflanzen einwirkte, besonders auf die, die keine eigenen, magischen Fähigkeiten besaßen. Aber auch die Magie der Pflanzen wirkte auf die Zauberer ein. Die Magie ihrer Freunde veränderte sich in der Gegenwart des Grünzeugs. Harry zum Beispiel leuchtete noch heller als sonst, war fast schon in weißes Licht gehüllt, während Hermines Braun- und Gelbtöne viel intensiver wurden. Das Tränende Herz übernahm ihre warmen Herbstfarben, wie auch die anderen Pflanzen die Nuancen ihrer Gärtner immitierten. Neville, der anfangs den Farbtrank nicht nehmen wollte, hatte Gefallen an dem violetten Schein gefunden, der bei ihm sehr dominant war. So konnte jeder seine tiefe Hingabe, die Selbstlosigkeit und seinen Opfermut sehen, machte damit im Nachhinein seinem Haus noch alle Ehre. Sein guter Wille und seine Loyalität drückten sich mit einem kräftigen Orange aus. Passend dazu zeichnete sich Lunas Ehrlichkeit und Offenheit in einem kräftigen Blau ab, während sich ihr verträumtes Wesen und ihr Verlangen nach Wohlbehagen sich in zarten Pastelltönen untermischten. Weil Neville auch ein Löwe war, kümmerte er sich um die Sonnenblume von Harry, der sich darüber beschwert hatte, sich um drei Pflanzen kümmern zu müssen, obwohl er nur zwei Hände hatte.

„Ich hätte Nicholas neuen Freund fragen sollen, ob er mir helfen kann“, scherzte er.
Remus' Stirn schlug Falten. „Wieso? Wer ist das?“
„Der Riesenkrake. Der hat Arme genug, um sich um alles zu kümmern.“ Mit einem Finger strich er über die weiße Blüte und bemerkte, wie das zarte Pfeilkraut geradezu an seiner Magie zu saugen schien, um noch mehr von der Farbenpracht in sich aufzunehmen. „Das ist wunderschön“, schwärmte er.

Es gab Momente im Leben, da agierte jede Person für sich selbst, ohne zu wissen, dass daraus etwas Gemeinschaftliches entstehen könnte. So ein Moment trat ein, als Remus, Hermine, Neville und Draco – von Harrys Bemerkung dazu angeregt – an ihre Pflanzen herantraten und diese im gleichen Augenblick berührten. Ein Feuerwerk wurde entfacht, gleich einer magischen Feuergarbe, denn durchweg alle Pflanzen sprühten synchron ihre Funken. Ein glitzernder Wall entstand, als Sonnenblume, roter Mohn, Zuckerbusch, Pfeilkraut, Goldregen, Tränendes Herz, Weinrebe, Eisenkraut und Glockenblume ihre farbigen Schwingen über den drei Federn des Sekretärs ausbreiteten.

„Wow!“ Zu mehr Worten war Draco nicht fähig, als er die bunte Farbkuppel bestaunte, die über dem dreieckigen Blumenkasten entstanden war.
Für Hermine war dieser Anblick zwar überraschend, aber keinesfalls neu. „Etwas ganz Ähnliches haben Severus und ich in Takedas Gewächshaus gesehen, nur viel größer. Das erstreckte sich über den gesamten Raum. Es gab sogar über dem Durchgang einen Rundbogen aus Magie, wo die eine Seite der Pflanzen zur anderen hinüberlangte.“
Nevilles Herz schlug höher. „Das muss ein umwerfender Anblick gewesen sein.“
„Das war es“, beteuerte Hermine mit Ehrfurcht in der Stimme.
„Seht mal“, mit einer Kopfbewegung deutete Harry auf die Federn, „sie beginnen zu glühen.“

Durch die lebendige Interaktion der Pflanzen untereinander wurden die Federn mit einer geballten Dosis blendender Magie getränkt, wodurch deren Zauberkraft verändert wurde. Jeder der hier Anwesenden war mit einem Teil von sich für Severus' Seele mitverantwortlich, die sich unverletzt in seinem zweiten Ich, der Patronusgestalt, verbarg. Hermine fragte sich, ob den anderen dieser Moment genauso bewusst war wie ihr. An Remus' respektvollen Gesichtszügen erkannte sie, dass zumindest er sich ganz genau darüber im Klaren war, welchem hoffnungsvollen Wunder er gerade beiwohnen durfte. Geradezu mit himmlischer Anmut nahmen die Federn gierig alles in sich auf, um später großzügig geben zu können. Den Moment, in welchem Draco die Bedeutung dieses Höhepunktes durchschaut hatte, konnte Hermine leibhaftig miterleben. Die Erkenntnis darüber ließ ihn die Augen aufreißen, so dass die grellen, gelben Blitze, die stetig in seiner Magie aufflammten, sich in ihnen widerspiegelten. Draco schluckte. Und staunte. Gleiches beobachtete Hermine bei Harry, der seinen Blick von diesem andersartigen Regenbogen nicht abwenden konnte. Seine ganze Körperhaltung, seine Mimik, seine Bewegungen – alles an Harry bekundete das höchstes Grad seiner Ehrerbietung für dieses übermächtige Phänomen, das er höher schätzte als sich selbst. Sie alle waren Gefangene der vollkommenen Farbgebung, die nur unter diesem günstigen Stern zum Leben erweckt werden konnte.

Einige Meter weiter blickten ein paar braune Augen verstohlen durch die leicht beschlagenen Scheiben ins Gewächshaus hinein. Das bunte Licht hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Severus fehlte, das musste er sich eingestehen, der Mut, um hoch erhobenen Hauptes einzutreten und zu verkünden, dass er das Elixier des Lebens herstellen konnte. Stattdessen beobachtete er mit einem angenehm schwermütigen Ziehen im Herzen das Resultat der vielen Mühe. Die Magie war, wenn man über sie nachdachte, eine sonderbare Sache, selbst für einen Zauberer. Dort drinnen, zwischen Orchideen und Affodillwurzeln, Löffelkraut und Liebstöckel, befand sich sein neues Leben, wie ein Palladion gut geschützt und umsorgt durch die Hände seiner Freunde.

An diesem Tag blieben Remus, Draco, Harry und Hermine bis zum späten Abend im Gewächshaus, weil sie wussten, dass heute ein besonderer Tag war.

Verfasst: 15.09.2012 21:59
von Muggelchen
210 Schwarzlicht




Der Fuchsbau war ein Synonym für Familie, Gastfreundlichkeit und Verbundenheit. Arthur hatte sein Versprechen gehalten und das durch einen Brand übel zugerichtete Heim wieder errichten lassen. Lediglich auf das oberste Stockwerk verzichtete man. So viele Räume benötigte keine Familie, deren Kinder längst aus dem Haus waren. Lange überlegte man hin und her, ob der Fuchsbau nach der Fertigstellung wegen der Gefahr durch Muggel mit einem Fidelius geschützt werden sollte, entschied sich jedoch dagegen. Alejandro Abello, Hopkins' rechte Hand, war tot. Dessen Sohn Pablo würde viele Jahre im Muggelgefängnis verbringen, genauso wie der Mörder Tyler. Die Gefahr, die durch Hopkins' Anhänger ausgegangen war, gab es nicht mehr. Ein starker Muggelabwehrzauber sollte reichen, zudem magische Schutzwälle, die eines Ministers würdig waren. Völlig verstecken wollten Molly und Arthur sich nicht. Einige Bürger aus dem in der Nähe liegenden Muggel-Dorf Ottery St. Catchpole kannten sie, von zwei Bauern bekam Molly sogar regelmäßig Milch, Wurst und Eier.

Das Erste, was Molly in ihrem neuen, alten Heim in Angriff nahm, war keinesfalls die Arbeit in der Küche. Auch ordnete sie die Möbel nicht neu an, kümmerte sich nicht um ihr Strickzeug und schon gar nicht machte sie sauber. Nein, Molly nahm sofort den Kamin in Anspruch. Die Organisation einer Hochzeit brachte eine Menge Strapazen mit sich. Für ihre Tochter und Harry nahm sie den Stress gern auf sich. Sollte später einer ihrer Buben auf die Idee kommen zu heiraten, müssten die sich an einen professionellen Organisator wenden. Noch einmal würde sie sich nicht in so eine aufwendige Arbeit stürzen, aber für ihr Töchterchen machte sie diese Ausnahme.

Vor dem Kamin hatte sie das dickste Kissen des Hauses gelegt, auf dem sie kniete, während sie mit der Dame von der Papeterie sprach.

„Hat sich Mr. Montalban bei Ihnen mit dem Menü gemeldet?“, fragte sie die junge Dame, die um einige Jahre jünger war als Ginny.
„Hat er, Mrs. Weasley. Wir haben probehalber eine Menükarte gefertigt, die wir ... Einen Moment bitte.“ Die junge Dame blätterte in Unterlagen. „Wir haben sie Freitag losgeschickt. Sie müsste heute bei Ihnen eintreffen.“
„Gut“, Molly war erleichtert, „ich melde mich bei Ihnen, wenn die Menükarte meinen Wünschen entspricht. Was ist mit den Platzkarten?“
„Die sind schon fertig und werden rechtzeitig direkt ins Schloss geliefert. Das ist schon mit dem Schlossbesitzer ausgemacht, Mrs. Weasley.“
„Prima!“ Es lief alles wie am Schnürchen. Am Fenster des Fuchsbaus klopfte es plötzlich. Molly schaute über ihre Schulter, dann wieder in den Kamin. „Ihre Eule ist gerade angekommen.“
„Dann sehen Sie sich die Karte in Ruhe an und melden Sie sich später nochmal. Sie können uns bis 20.00 Uhr erreichen.“

Es war nicht nur eine Eule, die auf dem Gartenzaun sitzend wartete – es waren zwölf. Nacheinander bezahlte Molly die Eulen, gab ihn eine Zwischenmahlzeit und nahm die Päckchen und Briefe entgegen, die sie allesamt auf dem riesigen Küchentisch ausbreitete. Da war sie auch, die sehnlichst erwartete Menükarte. Sie war ein Traum. Die Schrift war kitschig schnörkelig, ganz wie sie es sich erhofft hatte. Die Gäste hatten die Wahl zwischen einem Fleischgericht, Fisch, Geflügel oder etwas Vegetarischem. Dazu drei verschiedene warme Gerichte sowie drei kalte als Vorspeise und nochmals als Nachtisch. Das Essen war schon einmal perfekt. Die Aufzählung der Getränke war auch nicht zu beanstanden. Auf der Stelle gab Molly ihre Zustimmung, dass die Menükarten gedruckt werden konnte.

Der Service, bei dem Molly ein paar Kellner organisiert hatte, hatte ebenfalls einen Brief geschickt. Das Restaurant im Schloss Schnatzer, wo die Hochzeit stattfinden sollte, beschäftigte nicht genügend Kellner, die für die Bewirtung der Gäste herangezogen werden konnten. Für Musik war ebenfalls gesorgt. Die älteren Gäste durften sich an einem kleinen Orchester erfreuen, während für die jüngeren zwei Musikbands gebucht waren. Erst später würde jemand Musik auflegen. Außerdem hatte Molly etwas aus der Muggelwelt besorgt, dass laut des Geschäfts großen Anklang finden würde, aber so viel wusste sie von Muggeldingen nicht, als dass sie das bestätigen könnte. Das war auch erledigt, dachte sie und machte einen Haken auf ihrer To-do-Liste.

Der nächste Brief war die Auftragsbestätigung von dem Geschäft „Blumenmeer“. Die Dekoration war bestätigt, die Lieferung ebenfalls, der Brautstrauß und der für die Trauzeugin, die kleinen Gestecke für die Tische und die großen Kübel für die dezente Raumtrennung, damit man an den Tischen noch sein eigenes Wort verstehen würde. Alles würde pünktlich einen Tag vor der Hochzeit ins Schloss Schnatzer geliefert werden.

Das Unternehmen, das die Betreuung der Gäste übernehmen sollte, hatte Mappen mit Bildern ihres Personals gesandt, damit Molly diese Personen wenigstens schon einmal im Vorfeld zu Gesicht bekam. Zwei Teams schickte man ihr, insgesamt waren es vierzehn Herren und Damen. Sie hätte für die große Anzahl von Gästen lieber vier Teams gehabt, doch dafür war es zu spät. An ein mögliches Chaos glaubte sie dennoch nicht. Die meisten Gäste waren vom Wesen her geduldig und koordiniert – kurz gesagt: leicht zu handhaben. Die Zusagen der Personen, die eine Rede halten wollten, waren ebenfalls gekommen wie auch die Bestätigung der Personen, die sich bereit erklärt hatten, übliche Hochzeitsspiele zu organisieren. Nevilles Großmutter war eine von ihnen. Einzig auf die traditionelle Entführung der Braut hatte man aus aktuellem Anlass einstimmig verzichtet.

Molly atmete einmal tief durch und streckte die Beine von sich, zog sich unter dem Tisch sogar die Schuhe aus. So eine Planung, die keinerlei körperliche Anstrengung mit sich brachte, zehrte dafür umso mehr an den Nerven. Für Unterhaltung war gesorgt, für Kinderbetreuung ebenfalls und es waren auch sämtliche Zimmer im Schlosshotel frei, die kurzfristig für Gäste gemietet werden konnten, die nicht schon im Vorfeld eine Übernachtung angekündigt hatten. Fehlte noch ...

Mit einer Hand tippte sie sich auf die Lippen. Was fehlte noch? Es war etwas Wichtiges, das wusste sie. Mit einem Male machte sie große Augen und schlug sich eine Hand über den Mund, bevor sie in die leere Küche rief: „Die Portschlüssel!“

Die Portschlüssel sollten die Gäste sicher zum Schloss bringen. Damit sparte man Zeit und Geld. Aufgeregt rannte Molly zum Kamin und flohte ihren Mann an, der ausnahmsweise persönlich den Ruf entgegennahm, weil er einen Augenblick Zeit hatte.

„Molly, Schatz ...“
Sie unterbrach mit hektischer Stimme: „Arthur, sind die Portschlüssel genehmigt worden? Die für die Hochzeitsgäste?“
„Natürlich, Liebes. Nicht jeder bekommt einen, aber es gibt Gruppenportschlüssel. Ich bringe sie heute Abend mit, zusammen mit der Liste.“
Erleichtert atmete sie aus. „Da bin ich aber beruhigt!“ Viele Gäste kannten sich untereinander. Da war es günstig, dass sich einige Freunde trafen, um gemeinsam per Portschlüssel zum Schloss zu reisen.

Nachdem das Gespräch beendet war, machte sich Molly daran, die letzten Vorbereitungen für die Hochzeit zu treffen.

Arthur hielt sich am Kaminsims fest und stand gerade wieder auf, da klopfte es an seine Bürotür. „Herein!“ Der ungewöhnliche Anblick von Kingsley in Muggelkleidung brachte ihn ein wenig ins Wanken.
„Störe ich?“, fragte der dunkelhäutige Auror.
„Keineswegs. Habe nur eben mit Molly gesprochen. Sie organisiert doch die Hochzeit.“ Arthur grinste breit. „Ach, da möchte ich dich auch um etwas bitten, Kingsley. Pass auf der Hochzeit ein bisschen auf Alastor auf, ja? Er fühlt sich nicht wohl, wenn so viele Menschen auf einmal ...“
„Kein Problem, mach ich gern“, sagte Kingsley wie selbstverständlich zu.
„Danke. Ich befürchte nämlich, dass er sonst gleich nach der Trauung wieder verschwinden wird. Vielleicht wird Albus ihn auch etwas unter seine Fittiche nehmen.“ Arthur näherte sich seinem Besuch und fragte, als er an Kingsley herabblickte: „Du besuchst Mr. Geoffreys?“
„Das hatte ich vor, ja.“
„Dich könnte interessieren“, begann Arthur mit freundlichem Lächeln, „dass Dr. Fueller sich bereit erklärt hat, Muggel zu betreuen, die durch Zauberunfälle, ähm, beeinträchtigt wurden. Außerdem wird er in seinem Arbeitsumfeld Augen und Ohren offen halten, falls er andere Ärzte findet, die sich ebenfalls mit beiden Welten auskennen.“
Die Idee fand bei Kingsley Anklang. „Wir könnten in unseren Akten wühlen und nachsehen, welche Squibs in der Muggelwelt im Bereich der Medizin tätig sind. Das sollte nicht schwer sein, sie für so ein Projekt zu begeistern.“
„Ja.“ Arthur schaute betreten zu Boden. „Weil sie dann nicht nur das Gefühl haben, endlich gebraucht zu werden, sondern weil wir sie wirklich brauchen.“ Er rückte seine Brille gerade, bevor er anfügte: „Vielleicht kann man damit auch das Unrecht wiedergutmachen, das einige von ihnen durch ihre reinblütigen Familien erfahren mussten.“
„Eine Verbannung kann man nicht Wiedergutmachen.“
Arthur schüttelte den Kopf. „Nein, das kann man nicht. Aber die Ächtung, die ihnen von bestimmten Gruppierungen der Gesellschaft entgegengebracht wird, die könnte zurückgehen.“
„Hoffen wir das Beste.“ Kingsley reichte Arthur ein Pergament. „Deswegen bin ich eigentlich hier. Pablo Abello hat tatsächlich aus dem Gefängnis heraus das Sorgerecht für sein Kind beantragt.“ Weil Arthur erschrocken die Augen aufriss, winkte Kingsley ab. „Ist nur für die Akten, Arthur. Keine Sorge, der Antrag wurde von den Muggeln längst abgelehnt. In solchen Dingen sind sie manchmal schneller als wir.“
„Am besten erwähne ich diesen Versuch“, Arthur wedelte mit dem Pergament umher, „Unfrieden zu stiften, überhaupt gar nicht erst. Ich möchte Ginny nicht belasten.“
„Das wäre die klügste Lösung. Dann will ich mich wieder verabschieden. Ich werden Geoffreys aufsuchen und mit seinem Sohn und ihm nach einer Möglichkeit suchen, die ganze Angelegenheit wieder ins Reine zu bringen.“

Es würde keine leichte Sache werden, das wusste Kingsley. Absichtlich hatte sich er sich nicht bei den Geoffreys angemeldet, weil er davon ausgehen musste, bei Joel auf Ablehnung zu stoßen. Die Adresse des ehemaligen Geheimdienstlers war in den Unterlagen der Auroren festgehalten – in der Akte „Malfoy Manor“. Die Pentonville Road war Kingsley Ziel. Sie lag eine Straße von Kings Cross entfernt, was ein Vorteil war, denn das hieß, er kannte sich dort einigermaßen aus.

In London war es warm, aber bewölkt. Das Haus von Geoffreys lag in der Nähe einer Schauspielschule, deren Werbung Kingsley nicht übersehen konnte. Noch ein paar Schritte, dann stünde er vor dem Haus des Muggels. Seine Arbeit als Auror hatte ihm schon lange eingebläut, dass man mit allem rechnen musste; dass man sich nie auf einen möglichen Ablauf verlassen durfte, auch wenn man noch so logische Schlussfolgerungen zog. Es kam immer anders als man dachte. So gern sich Kingsley auch ein positiv verlaufenden Gespräch mit Geoffreys wünschte, er befürchtete, dass es eine Katastrophe werden würde. Er hoffte, dass Geoffreys und sein Sohn ihn wenigstens anhören würden, bevor sie ihn dahin wünschten, wo der Pfeffer wächst.

Vor dem gesuchten Haus macht Kingsley Halt. Er zögerte. In den Fenstern brannte Licht. Jemand war Zuhause. Die Schwierigkeit bestand darin, unauffällig die Gesprächsführung zu übernehmen, ohne sich anzubiedern. Kingsley gab sich einen Ruck und ging die paar Stufen hinauf. Auf dem Türschild stand der Name der Familie. Eine Mrs. Geoffreys hatte er noch nicht zu Gesicht bekommen. Innerlich stellte er sich drauf ein, dass jemand öffnen könnte, dem er noch nie begegnet war. Sein Zeigefinger fand die Klingel und betätigte sie. Die ertönende Melodie war ihm bestens bekannt. Man vernahm den Westminsterschlag. Als Erstes hörte er hinter der Tür ein grüßendes Miauen, dann Schritte auf quietschenden Dielen. Die Tür wurde geöffnet. Joel stand vor ihm, der das dunkelhäutige Gesicht vor sich erst zuordnen musste, bevor sich in dessen Mimik abzeichnete, wie wenig willkommen der Zauberer war.

„Ich weiß“, begann Kingsley mit bedächtiger Stimme, „dass Sie mir nicht trauen und mich für eine Menge verantwortlich machen.“
Joel schnaufte herablassend. „Ich mache Sie für das verantwortlich, was meinem Vater widerfahren ist.“
Ohne weitere Worte wollte Joel die Tür wieder schließen, da bot Kingsley an: „Ich kann Ihrem Vater die Erinnerungen an den Auftrag zurückgeben.“ Die Tür stoppte, doch Joels junges Gesicht war längst dahinter verschwunden. „Bitte, lassen Sie mich Ihnen einige Dinge erklären. Ich kann mir vorstellen, dass Sie viele Fragen haben. Ich bin bereit, Ihnen alles zu beantworten.“

Die Tür wackelte unentschlossen hin und her, bis sie letztendlich ins Schloss gedrückt wurde. Man wollte Kingsley kein Ohr leihen. Die Schritte auf den Dielen entfernten sich. Gerade überdachte er, ob er einen weiteren Versuch starten sollte, da kamen die Schritte wieder näher. Abrupt öffnete sich die Tür ein zweites Mal. Eine Sekunde später fand sich Kingsley plötzlich mit einer Handvoll getigertem Fell wieder. Joel hatte ihm aus unerfindlichen Gründen eine Katze in den Arm gedrückt, die erst verunsichert den fremden Mann beäugte, dann aber laut zu schnurren begann und sich kraulen ließ. Joel hatte alles genau beobachtet.

„Okay, Sie können von mir aus reinkommen“, gestattete Joel barsch. „Aber Sie halten sich hier an meine Regeln.“
Mit der Katze im Arm trat Kingsley ein, blickte sich in dem kleinen Flur um. Eine Menge Uhren waren hier angebracht. Ein Wecker stand auf dem Tisch, auf dem ein Telefon seinen Platz hatte. Eine Uhr hing an der Wand, die dritte hing gleich neben der Garderobe. Kingsley streichelte die Katze. „Was hat das für eine Bedeutung?“ Dem kleinen Tiger schaute er einmal in die bernsteinfarbenen Augen, dann blickte zurück zu Joel.
„Sie mag keine Menschen, die irgendetwas im Schilde führen. Versicherungsvertreter überleben die Begegnung mit ihr nur mit Kratzern im Gesicht.“
„Oh“, voller Ehrfurcht betrachtete Kingsley die liebe Katze, „da habe ich wohl Glück gehabt.“
Weitaus weniger angetan von dem überraschendem Besuch war der junge Mann, der ihn schroff anfuhr: „Also, was wollen Sie hier?“
„Mit Ihrem Vater reden.“
„Über was?“
„Über das, was nach unserer Zusammenarbeit passiert ist.“ Behutsam ließ Kingsley die Katze hinunter, die schnurstracks in ein Zimmer lief. Dabei stieß sie an eine Tür, die ein paar Zentimeter aufschwang. Dort im Wohnzimmer saß Geoffreys bewegungslos auf der Couch und starrte auf einen Fernseher, auf dessen Bildschirm gelbe Zeichentrickfiguren agierten.
„Und was ist damals passiert?“, wollte Joel wissen, der keine Anstalten machten, Kingsley aus dem Flur in eines der anderen Zimmer zu bitten. Das Misstrauen des jungen Mannes war so groß, dass Kingsley keine Ahnung hatte, wie er das Vertrauen gewinnen könnte.
„Einer unserer Ministeriumsmitarbeiter hat in einer Art und Weise gehandelt, die nicht notwendig war. Er hat Ihrem Vater und dessen Kollegen die Erinnerungen an den gesamten Einsatz genommen.“
„Alles klar“, spottete Joel. „Hat er sie in eine Papiertüte gesteckt und mitgenommen oder was?“
„Sie wurden gelöscht.“

Nach Kingsleys Geständnis herrschte betretenes Schweigen auf dem Flur. Nur dumpf konnte man die Stimmen aus dem Fernseher hören – die krächzende Stimme eines Clowns. In Joels Gesicht zeichneten sich nacheinander so viele verschiedene Gefühle ab, dass Kingsley kurz davor war, eine Hand auf die Schulter des jungen Mannes zu legen. Er stoppte sich selbst, weil diese Geste sehr wahrscheinlich falsch verstanden werden würde.

„Gelöscht ...“, wiederholte Joel in traurigem Tonfall. „Wenn die Erinnerungen gelöscht sind ...“ Nervös fuhr er sich durch die Haare, schüttelte dabei den Kopf. „Ich glaub einfach nicht, dass ich so ein Gespräch führe.“
„Joel“, seine bedächtige Stimme hatte so manch einen Kriminellen beruhigen können und Kingsley hoffte, bei diesem Muggel würde sie ebenfalls helfen. „Es war Unrecht, was man Ihrem Vater angetan hat.“ Joels Unterlippe bebte, als er Kingsley Erklärung hörte. „Der Mann, der das getan hat, handelte nicht im Sinne des Zaubereiministers.“
„Sie haben einen Minister?“
„Sicher“, bestätigte Kingsley. „Was wir nicht wussten: Der Angestellte gehörte einer Gruppierung an, die in unserer Welt verfolgt wird. Es sind Verbrecher.“
„Und solche Leute stellt man bei Ihnen ein? In einem Ministerium?“ Unverhofft erinnerte sich Joel an die vielen Schlagzeilen, die er in seinem Leben schon gelesen hatte. Sex, Drogen und Korruption gab es überall. „Manche Dinge sind bei Ihnen wohl doch nicht so anders.“
Kingsley lächelte erleichtert, als er ein wenig Verständnis in Joels Stimme ausmachen konnte. „Ich stehe Ihnen gern zur Verfügung“, bot er dem jungen Mann an. „Löchern Sie mich mit Fragen, Joel.“
„Vielleicht sollten wir uns lieber setzen.“

Joel ging voran ins Wohnzimmer und bedeutete Kingsley mit einer Geste, auf dem Sofa Platz zu nehmen. Geoffreys hatte den Gast natürlich bemerkt, doch er schien nicht erfreut, sondern verunsichert.

„Herrje, habe ich den Boxkampf vergessen?“ Aufgelöst suchte Geoffreys nach seinem Portmonee, um Datum und Uhrzeit von seiner Freikarte fürs Boxen abzulesen.
„Dad, setzt dich wieder hin. Es ist alles in Ordnung.“
Geoffreys ignorierte seinen Sohn und zog das Eintrittsticket aus der Geldbörse. „In zwei Tagen“, murmelte er. „Sind die etwa schon um?“ Ein Hilfe suchender Blick in Richtung Sohn. „Wo sind Sie hin? Sie können noch nicht vorüber sein!“
„Dad, schau mal!“ Joel drückte einen Knopf auf der Fernbedienung und im Nu zeigte er Fernseher am oberen Rand Datum und Uhrzeit an, darüber hinaus auch die weniger interessante Information einer Sexhotline. „Siehst du? Heute ist noch heute, also keine Sorge.“
„Gut!“ Geoffreys setzte sich wieder, den Blick dabei starr auf das Datum am Fernseher fixiert. „Gut“, wiederholte er viel leiser. Als er sich vergewissert hatte, dass keine zwei Tage ohne sein Wissen vergangen waren, stellte er wieder da normale Fernsehbild mit den gelben Zeichentrickfiguren ein.

Die Zeit hatte Kingsley genutzt, sich ein wenig im Wohnzimmer umzusehen. Wie schon im Flur waren auch hier an vielen Stellen Uhren angebracht. Manche mit Datum, manche ohne. Einige waren digital, andere zum Aufziehen.

„Sie müssen entschuldigen, dass mein Vater Sie im Moment ignoriert“, sagte Joel, als er sich Kingsley näherte. „Er hat das Fernsehen als verbindliche Zeitangabe entdeckt. Er prüft nach, ob auch die Sendungen laufen, die laut Zeitung laufen müssten. Auf diese Weise geht er sicher, dass die Zeit normal verläuft.“
Kingsley war fassungslos. Niemals im Leben hätte er gedacht, dass ein Vergissmich-Zauber solche Auswirkungen mit sich bringen könnte. „Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll ...“, flüsterte er verlegen.
„Sie sagten, Sie beantworten mir alle Fragen.“ Joel betrachtete seinen Vater, der wie üblich die Uhrzeit im Fernsehbild aktiviert hatte. „Er stößt sicher zu unserem Gespräch dazu, wenn die Sendung vorbei ist. Dann weiß er genau, wie spät es ist. Also ...“ Er wandte sich wieder dem Gast zu. „Diese Zaubersache ist echt?“
Kingsley Stirn schlug Falten. „Ich dachte, das wüssten Sie?“
„Nein, ich wusste es nicht. Ich war skeptisch. Als ich Ihre Visitenkarten Stück für Stück auseinander genommen habe, da wurde mir ganz anders. Kein Chip, keine LCD-Anzeige. Ein Freund von mir meinte, das wäre gar nicht möglich, dass sich ein Bild von ganz allein ...“
Kingsleys Alarmglocken schrillten. „Sie haben meine Visitenkarte herumgezeigt?“
„'türlich. Außer meinem besten Freund kann ich ja sonst niemandem trauen.“
„Tun Sie das bitte nicht“, bat Kingsley eindringlich, denn sonst könnten die Vergissmich dem Freund von Joel einen Besuch abstatten.
„Sie ist dabei sowieso kaputt gegangen. Das Bild fror irgendwann ein. Ich habe die Streifen weggeworfen“, winkte Joel ab. „Im Internet habe ich nichts über eine echte Zauberwelt gefunden, nicht mal bei den Verschwörungstheorien. Erzählen Sie mir, was es damit auf sich hat und vor allem, wie Sie meinem Vater helfen wollen.“
„Ich beginne am besten bei dem zweiten Punkt. Erinnerungen können, wie es bei Ihrem Vater getan wurde, in unserer Welt gelöscht werden. Genauso gut kann man sie auch aus dem Gedächtnis herausnehmen und anderen zeigen.“

Diese Information musste der junge Mann zunächst verarbeiten. Auf Kingsley wirkte es so, als würde er in Gedanken einige Fragen formulieren, damit aber Schwierigkeiten haben, weil er nicht genau wusste, wie er sie stellen konnte.

„Joel, fragen Sie einfach drauf los“, forderte Kingsley ihm mit einem Lächeln auf.
„Warum? Damit Sie meinem Vater und mir nach dem Gespräch die Erinnerungen löschen können?“ Jetzt war er wieder in Angriffslaune. „Warum machen Sie so einen Blödsinn in Ihrer Welt überhaupt? Ich meine, wozu ist das gut?“
'Ja, warum eigentlich?', dachte Kingsley. „Es ist gut, um denen, die nicht zaubern können, seltsame Erfahrungen zu ersparen, die unter Umständen traumatisch sein können. Sprechende Mülltonnen, beißende Toiletten ...“
„Jetzt scherzen Sie aber“, unterbrach Joel schnaufend.
„Nein, wirklich nicht. Es gibt leider Zauberer, die sich Späße mit Mugg...“ Kingsley biss sich auf die Zunge, doch das halbe Wort war längst gesagt.
„Mugg? Was ist damit gemeint?“, bohrte der junge Mann nach.
„Als Muggel bezeichnen wir diejenigen, die nicht zaubern können. Es ist einfacher und schneller gesagt als“, er zuckte mit den Schultern, „'diejenigen, die nicht zaubern können'.“
„Aha“, Joel klang nicht sehr überzeugt. „Für mich hört es sich eher wie das Wort 'Nigger' an“, Joel blickte dem dunkelhäutigen Auror demonstrativ in die Augen, „was man auch nicht sagen sollte, weil es ein Schimpfwort ist. Bei dem Wort Muggel habe ich irgendwie das gleiche, ungute Gefühl.“

Dem provokanten Vergleich konnte Kingsley im ersten Moment nichts entgegenbringen. Hatte Joel etwa Recht? War 'Muggel' ein Schimpfwort? Es war nicht zu leugnen, dass einige Zauberer und Hexen mit der Verwendung der eingebürgerten Bezeichnung für nicht-Zauberer eine Diskriminierung beabsichtigten. Bei diesen Leuten konnte aber auch „Halbblut“ ein Schimpfwort sein, je nachdem, wie abwertend man es aussprach.

„Was soll ich darauf antworten?“, fragte Kingsley rhetorisch. „Es kommt drauf an, wer das Wort sagt, nicht wahr? Wenn ich von Muggeln spreche, dann meine ich nur die Bürger, die nicht der magischen Gesellschaft angehören.“
„Diese magische Gesellschaft empfindet sich selbst nicht zufällig als eine Art Herrenvolk, die mit den Muggeln machen können, was sie ...?“
„Jetzt gehen Sie wirklich zu weit, Joel! In unserer Welt gibt es Verbrecher genauso wie in Ihrer Welt. Bei uns herrschen Missstände wie überall auf der Welt. Es gibt anders Denkende, es gibt freundliche und es gibt gefährliche Menschen unter uns. Die meisten mögen Muggel, stammen sogar von ihnen ab oder haben einen geheiratet. Wir müssen unsere Gesellschaft trotzdem geheim halten.“
„Wieso das?“
„Wegen vieler Dinge. Es könnte Panik auf der ganzen Welt ausbrechen, wenn man von der Existenz von Zauberern und Hexen wüsste. Im schlimmsten Fall könnte sich die Geschichte wiederholen.“ Wie Hopkins es angestrebt hatte, fügte Kingsley in Gedanken hinzu.
Joel dachte einen Moment nach. „Da haben Sie vielleicht sogar Recht.“ Immer wieder war in Zeitungen zu lesen, dass man irgendwo in kleinen Dörfern in Afrika Mädchen oder Kinder als Hexen bezeichnete und sich ihrer auf brutale Weise entledigte. Solche Dinge geschahen in der großen, weiten Welt, aber das passierte doch nicht in der Zivilisation. „Großbritannien ist ein fortschrittliches Land. Wir würden niemanden verfolgen und umbringen. Warum also die Angst, erkannt zu werden?“
„Man könnte unsere Kräfte missbrauchen.“
„Ach ja? Für was zum Beispiel?“, hakte Joel nach.
„Bei uns dauert es keine drei Tage, bis wir ein Haus mit Magie erbaut haben.“
Sofort feuerte Joel zurück: „Wir können fertige Häuser kaufen und sie innerhalb eines Tages aufstellen.“ Sein harscher Tonfall tat Joel gleich darauf leid, weshalb er viel ruhiger anfügte: „Aber ich verstehe, was Sie meinen. Es ist vielleicht wirklich besser, dass sich Ihre Welt im Verborgenen hält. Es gibt eine Menge Spinner. Fanatiker, Sekten und so einen Krempel. Mir macht nur ein wenig Angst, dass Sie hier bei mir sitzen. Wenn wir nichts von Ihnen wissen dürfen, warum ...?“
„Ich habe Sie und Ihren Vater offiziell als Freunde eingetragen. Niemand wird Ihnen etwas tun dürfen, nur weil Sie von mir und meiner Welt erfahren.“
Nachdem Joel diese Information begriffen hatte, atmete er einmal tief durch. „Mir fällt ein Stein vom Herzen. Im ersten Moment habe ich nämlich geglaubt, Sie wollten uns die Erinnerung an das Treffen im Wartezimmer nehmen.“ Mitleidsvoll blickte Joel zu seinem Vater hinüber. „Aber wie wollen Sie ihm seine Erinnerungen wiedergeben?“
„Nicht direkt seine Erinnerungen“, verbesserte Kingsley, „sondern meine!“

Mit großen Augen schaute Joel sein Gegenüber an, weil er nicht verstehen konnte, was Kingsley damit meinte.

Einige Straßen von dem Haus der Geoffreys entfernt blickte ein Zauberer mittleren Alters genauso verständnislos drein, bevor er sich wieder fing.

„Was soll das heißen“, schimpfte Fogg, „dass Sie keinen Wolfsbanntrank mehr anbieten?“
Der Apotheker, ein Squib, überflog die anwesende Kundschaft – alles Muggel –, bevor er sich zu Fogg beugte und leise sagte: „Wir führen ihn schon seit zwei Monaten nicht mehr. Uns sind die Kunden weggeblieben, Sir. Ich muss Sie also bitte, eine andere Apotheke aufzusu...“
„Ich glaub es nicht!“ Wütend schlug Fogg mit der flachen Hand auf die Theke. „Sie stellen den Trank gar nicht mehr her?“
„Sir, bitte etwas leiser“, mahnte der Squib, dem aufgefallen war, dass ein Muggel-Ehepaar auf den Zauberer aufmerksam geworden war. Fogg war der Einzige, der bei der Wärme einen Umhang trug. „Ich habe gehört, dass die neue Apotheke in der Winkelgasse einen ganz vorzüglichen“, der Verkäufer dämpfte seine Stimme, „Wolfsbanntrank herstellen soll.“
„Verflixt und zugenäht!“
„Wenn Sie Ihre Lautstärke nicht drosseln, dann möchte ich Sie bitten, das Geschäft zu verlassen.“
„Können Sie mir das schriftlich geben?“, fragte Fogg völlig unerwartet.
„Was soll ich Ihnen schriftlich geben?“
„Dass Sie den Trank nicht mehr herstellen. Ich will das schriftlich haben!“
Der Verkäufer war es leid, mit so einem unangenehmen Kunden zu verhandeln. „Ich bin nicht dazu verpflichtet, Ihnen in irgendeiner Form ...“
„Sie“, zischte Fogg bedrohlich leise, „geben mir eine schriftliche Bescheinigung mit dem Stempel Ihrer Apotheke“, eine kurze Pause, in der sich Fogg über den Tresen lehnte, „oder ...“
„Oder was?“, blaffte der Apotheker zurück. „Hören Sie, es tut mir ja furchtbar leid, aber ...“
„Tun Sie es doch einfach. Geben Sie mir die schriftliche Mitteilung, dass Sie aufgrund mangelnder Kundschaft den Trank nicht mehr brauen. Was ist denn schon dabei?“
Der Apotheker bebte vor Wut. „ Wenn ich es mache, verlassen Sie dann die Apotheke?“
Grinsend nickte Fogg. „Sogar auf der Stelle!“

Der Squib ging an seinen PC und öffnete eine schriftliche Vorlage mit Logo und Adresse der Apotheke. Nach ein paar geschriebenen Sätzen druckte er das Geschriebene aus. Fogg betrachtete alles sehr genau, weil ihm Technik vollkommen unbekannt war und nahm am Ende das Stück Papier, das ihm der Apotheker überreichte. Fogg las unter dem Briefkopf folgenden Text:

„Bezüglich Ihrer Nachfrage müssen wir Ihnen leider mitteilen, dass wir aufgrund mangelnder Nachfrage von der Herstellung und Vergabe des Wolfsbanntranks absehen. Wir empfehlen Ihnen, für diesen speziellen Trank einen anderen Tränkemeister aufsuchen. Beim Ministerium können Sie kostenlos die Liste mit verfügbaren Abholstellen für den Wolfsbanntrank anfordern.

Mit freundlichem Gruß,
Ihre Merlin-Apotheke“

Der Text wurde wortlos von Fogg abgenickt, bevor er sich auf zur nächsten Apotheke machte. Die Merlin-Apotheke war die dritte gewesen, die ihm eine Abfuhr erteilte. Den Wolfsbanntrank bekam man nicht mehr überall. Es lohnte für die Apotheken nicht, ohne vorherige Bestellung von Kunden nur auf gut Glück einen ganzen Kessel von diesem hoch komplizierten Gebräu herzustellen, nur um festzustellen, dass es keine Käufer gab. Am Ende wurden die teuren Zutaten mit einem Evanesco vernichtet. Ein Verlust. Einige Apotheken hatten sich daher von den Ministeriumslisten streichen lassen, auf denen alle Tränkemeister verzeichnet waren, die diesen Trank anboten. Geld bekam man für jede Unterschrift auf den Tränkepässen – es fehlten jedoch die Tränkepässe. Nur vereinzelt besuchten diese speziellen Kunden die Apotheken. Bei der Merlin-Apotheke hatten den ganzen Monat über nur drei Personen nachgefragt, ob der Wolfsbanntrank erhältlich sei. Das war nichts im Vergleich zu Zeiten, in denen man den normalen Ablauf der Apotheke für drei Tage aussetzen musste, um sich komplett dem Wolfsbanntrank zu widmen. Da hatte es noch Gedränge gegeben, wenn die Werwölfe sich anmeldeten. Für einige Apotheken lohnte es sich mittlerweile viel mehr, die drei Tage dem normalen Geschäftsablauf zu widmen. Der Wolfsbanntrank wurde wegen des hohen Produktionsaufwands und des finanziellen Verlusts aus dem Angebot entfernt.

Die Inhaber der Granger-Apotheke wussten nicht, ob es nur bei ihnen so einen Ansturm auf den Wolfsbanntrank gab. Besonders Hermine wäre nie in den Sinn gekommen, dass ihre Vanille-Variante der Grund für viele Werwölfe sein könnte, den Pflichttrank trotz langer Wartezeit bei ihr einzunehmen. Weil ihr Trank angenehm roch und schmeckte, löste er nicht wie üblich starke Übelkeit aus oder – schlimmer noch – tagelange Magenkrämpfe. Der Aromastoff hatte ihn verdaulicher gemacht, wobei sich sicherlich eine gute Handvoll Kunden ausschließlich von der psychologischen Perspektive her von allen Nebenwirkungen geheilt sah. Was so gut duftete, konnte nicht krank machen.

Nur einmal war Hermine der Gedanke gekommen, dass der plötzliche Anstieg der Kunden möglicherweise mit einer größeren Ansteckung mit dem Werwolffluch zusammenhängen könnte. Der Gedanke war grauenvoll, wenn man davon ausging, ihre Kunden würden als Durchschnitt für alle Apotheken des Landes stehen. Multipliziert würde die Population der Werwölfe auf ein überwältigendes Gesamtergebnis von ... Den Gedanken schüttelte Hermine so schnell von sich ab wie er gekommen war. So viele Werwölfe könnte es nicht geben. Man konnte nur die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass sie mehr Kunden in ihre Apotheke lockte. Die Vorstellung, ihr verbesserter Wolfsbanntrank könnte so viel Anklang bei den Werwölfen finden, machte sie sprachlos. Konnte sie sich deshalb nicht mehr vor Bestellungen retten? Kamen wirklich so viele zu ihr, nur weil der Trank Geschmack hatte? Sie nahm sich vor, ihre Kunden das nächste Mal zu fragen. Der kommende Vollmond war für den zweiten Juli angekündigt – sechs Tage nach der Hochzeit. Schon am Montag nach der Trauung ihrer Freunde würde es einen Ansturm auf die Listen mit den Vorbestellungen des Wolfsbanntranks geben. Zum Glück, dachte Hermine, hatte sie in diesem Monat eine junge Frau, die dabei helfen würde, den normalen Geschäftsbetrieb aufrechtzuerhalten. Daphne würde sich um die Bestellungen und die normale Laufkundschaft kümmern, während Hermine und Severus rund um die Uhr den Wolfsbanntrank brauen würden. Aber bis dahin war es noch etwas Zeit.

Während sie in Gedanken versunken war und eine Affodillwurzel zwischen den Fingern drehte, kam Severus ins Labor. Der Anblick überraschte ihn, so dass er wie angewurzelt an der Tür stehenblieb und dabei zusah, wie sich Hermine mit dem Oberkörper auf den Tisch gelegt hatte, lunaesk in die Gegend blickte und mit einer Zutat spielte, die eigentlich vor einer halben Stunde hätte verarbeitet werden sollen. Hermine träumte. Sie bemerkte ihn nicht einmal, was er ausnutzte. Er stellte sich selbst die Aufgabe, aus ihren Gesichtszügen den Grund für ihre Träumereien auszumachen, doch er scheiterte. Sie war glücklich, das konnte er durchaus sehen. Auslöser könnte alles sein. Die bevorstehende Hochzeit ihrer besten Freunde könnte sie in so eine Hochstimmung versetzen, vielleicht aber auch die Gewissheit, in wenigen Tagen mit dem Brauen des Heiltranks beginnen zu können. Sie könnte sich auch nur darüber freuen, eine so frische Zutat in der Hand zu halten. Wenn Hermine sich an irgendetwas erfreute, auch wenn es nur eine Kleinigkeit war, dann zeigte sie auch, wie froh sie war. Ihre Gefühle zum Ausdruck zu bringen war ihr nie schwergefallen. Ihre negative Gefühle stellte sie genauso leidenschaftlich dar wie ihre glücklichen. Bei Hermine wusste Severus immer, woran er war. Sie verstellte sich nie und teilte ihm auch schon mal mit erhobener Stimme mit, über was sie sich aufregte. Diese Momente waren häufig am Anfang ihrer Zusammenarbeit aufgetreten. Anstatt sich wutentbrannt von ihm abzuwenden, hatte sich Hermine alles von der Seele gesprochen und sich ihm und seinen Launen gestellt, was nicht immer einfach war. Mittlerweile achtete jeder darauf, den anderen nicht zu verletzen, weder mit Herumschnüffelei noch mit spitzen Bemerkungen. Wenn Hermine persönliche Fragen hatte, dann stellte sie diese freiheraus. Es lag jedes Mal ausnahmslos an ihm, ob er darauf antworten wollte oder nicht. Sie drängte nicht. Vielleicht war gerade dieser gelassene Umgang mit ihm der Grund, warum er häufig über Dinge aus seiner Vergangenheit sprach, die er normalerweise wie die Pest mied. Niemanden ging es etwas an, wie er aufgewachsen war. Seine Eltern waren kein Thema, das er mit anderen teilen wollte.

Trotzdem hatte er auf Hermines Frage geantwortet, die da lautete: „Hattest du jemals wieder Kontakt mit deinem Vater, nachdem er in das Pflegeheim überwiesen wurde?“
„Nein!“, antwortete er ehrlich.

Es war ihm ein Rätsel, warum sie gerade diese Frage stellte. Als sie seine zusammengefügten Erinnerungen – sein Vermächtnis – gesehen hatte, war ihr sicherlich der Brief von der Sozialversicherung aufgefallen, die die Übernahme aller Pflegekosten für Tobias Snape bestätigte. Für Hermine bedeutete Familie sehr viel. Sie hatte freundliche Eltern, kam mit beiden wunderbar aus. Severus hingegen stammte aus zerrütteten Verhältnissen. Er brachte dem eigenen Vater zwar keinen Hass entgegen, dafür aber Verachtung wegen der Trunksucht und der daraus resultierenden, ärmlichen Verhältnisse, in denen er aufwachsen musste.

„Warum fragst du?“ In der Regel wäre er froh gewesen, wenn das Thema unter den Teppich gekehrt wurde, doch diesmal war er neugierig.
„Nur so“, erwiderte sie, als hätte sie keine Motivation, weiter herumzustochern. „Ich kann mir nur nicht vorstellen, wie das ist. Wie man wissen kann, dass der eigene Vater irgendwo lebt.“
„Deine Familie ist intakt. Ihr sorgt euch um den anderen, pflegt regelmäßigen Kontakt und dergleichen. Das war bei mir etwas anders.“

Eine Stille trat ein, die ihm mittlerweile vertraut war. Jetzt war er dran. Vorher würde sie das Thema nicht wieder ansprechen. Ihr war wichtig, dass er bereit war, darüber zu reden.

„Ich glaube nicht, dass er mich sehen möchte.“ Damit ließ er ihr eine Menge Möglichkeiten für Erwiderungen.
„Du könntest ihm doch mal schreiben. Vielleicht zu Weihnachten.“
„Und wie sollte so ein Brief deiner Meinung nach aussehen? Ein Einzeiler mit den Worten 'Ich wollte mich nur erkundigen, wie es dir geht.' oder soll ich vielleicht eine chronologische Abhandlung über mein Leben vorausschicken? Ich müsste erklären, was mich dazu bewegt hat, so plötzlich ein Lebenszeichen von mir zu geben.“ Missgelaunt murmelte er im Anschluss. „Ich mag es nicht, mich vor jemandem rechtfertigen zu müssen.“
„Das war auch gar nicht so gemeint.“ Hermine kam mit ein paar eingelegten Wasserhyazinthen zurück zum Arbeitstisch und öffnete das Glas. „Du musst dich vor niemandem rechtfertigen. Besonders nicht vor mir.“
„Aber du erwartest doch von mir, dass ich Kontakt mit ihm aufnehme!“
Erstaunte blickte sie ihm in die Augen. „Das erwartete ich überhaupt nicht. Aber“, sie legte den Kopf schräg, „wenn dir dieser Gedanke gekommen, dann musst du dich bereits eine ganze Weile damit beschäftigt haben.“

Verfasst: 15.09.2012 21:59
von Muggelchen
Rest von Kapitel 210

Über diese Worte ließ sie ihn nachdenken, während sie sich um die Zubereitung der Wasserpflanzen kümmerte. Es waren nicht immer die anderen, gestand sich Severus ein, die ihm irgendeinen Floh ins Ohr setzten. Es war sein eigenes Gewissen. Tatsächlich hatte er sich oft Gedanken über seinen Vater gemacht und sich vorgestellt, wie ein Treffen nach all den Jahren verlaufen könnte. Er kam jedes Mal zu der Ansicht, dass er auf diese vermutlich demütigende Erfahrung getrost verzichten konnte.

„Ich habe heute übrigens die Pflanzen im Gewächshaus geerntet.“ Ihre Stimme flatterte so zaghaft durch den Raum wie ein Spatz. „Wenn es dir passt, würde ich gern heute mit dem ersten Trank beginnen, Severus. Dreieinhalb Stunden benötigte ich zum Brauen.“
Das große Projekt – seine Heilung. Erst die jahrelange Suche seinerseits, gefolgt von hoffnungsloser Resignation. Zwanzig Jahre später Harrys freundliches Wesen, das ihm sein Geheimnis entlockte, Hermines Vermutungen, ihre Recherche und nun viel zu plötzlich ... „Heute schon?“ Ein paar Bedenken wegen der voraussichtlich unangenehmen Momente der Heilung schob er schnell wieder beiseite.
Ein flehendes Lächeln ihrerseits sollte ihm die Entscheidung erleichtern. „Nur, wenn du bereit bist.“

Sie meinte es so wie sie es sagte. Es lag an ihm. Sollte er unerwartet einen Rückzieher machen, würde sie traurig nicken und ihm auf nette Weise nahe legen, es nicht ganz aufzugeben, sondern nur zu verschieben. Sollte er tatsächlich zusagen, würde er noch heute vor dem Zu-Bett-Gehen den ersten Trank einnehmen, der in der Nacht hoffentlich Wunder wirkte und ihn am nächsten Morgen mit viel mehr Zuversicht und emotioneller Wärme aufwachen ließ. Es war eine Wunschvorstellung, dass alles so reibungslos verlaufen würde. Severus wusste, dass er genauso gut an dem Trank und der zu erwartenden Flut an Gefühlen zerbrechen könnte, wenn er keinen Halt fand.

Er räusperte sich. „Kann ich dir dabei helfen?“
Über seine indirekte Zusage gleichzeitig erstaunt und erfreut hörte Hermine auf, die Wasserhyazinthen zu schneiden. Stattdessen blickte sie ihm in die Augen. Mit einem warmen Lächeln brachte sie – das war wieder einer dieser Momente – ihre Freude zum Ausdruck. Sie räumte bereits ihren Tisch frei und sagte derweil: „Bei den Vorbereitungen kannst du mir helfen. Nur brauen muss ich laut Berechnung ganz allein.“
„Womit soll ich anfangen?“

Seine Hilfsbereitschaft war so sehr willkommen, dass Hermine ihre Arbeit mit den Wasserhyazinthen auf nächste Woche verlegte, um die frischen Zutaten für Severus' Heiltrank zu holen. Sie reichte ihm ein hölzernes Schneidebrett und legte das Tränende Herz darauf ab, mit dem er den Anfang machen sollte.

Gemeinsam begannen sie mit der Arbeit. Sie schnitten, zerrieben und zerdrückten die neun Zutaten nach der errechneten Anleitung. Der erwartete Smalltalk blieb aus, so dass er selbst die Initiative ergriff und ein Gespräch begann.

„Mr. Worple und Mr. Sanguini werden am 25. vorbeikommen. Mr. Worple sprach von großartigen Neuigkeiten.“
Hermines riss vor lauter Freude ihre Augen weit auf und strahlte dabei übers ganze Gesicht. „Dann war dein Trank bei Sanguini erfolgreich!“
„Das hat er nicht gesagt. Ich denke aber, dass ich nur noch wenige Modifizierungen vornehmen muss, bevor ich mir überlegen kann, wie ich diesen Trank auf den Markt bringe, ohne mich der verbotenen Forschung mit Blut schuldig zu machen.“
„Ach“, winkte sie lachend ab, „das bekommen wir schon irgendwie hin. Ich werde mal mit Percy sprechen.“ Sie seufzte erleichtert. „Ich glaube, du hast es geschafft!“ Weil er sie irritiert anschaute, erklärte sie: „Der Trank war ein Erfolg, da bin ich mir ganz sicher. Du hast es geschafft! Dank dir wird kein Vampir mehr dem Zwang unterliegen, Blut trinken zu müssen.“
„Warten wir es ab.“
„Sei doch nicht immer so pessimistisch. Was sollte Mr. Worple denn sonst für gute Neuigkeiten haben, außer dass der Trank wirkt? Du siehst immer alles so schwarz. Ein einziges Mal in deinem Leben solltest du einfach daran glauben, dass du Erfolg haben wirst.“
„Im Moment“, sagte er mit Bedacht, als er das Pfeilkraut vorsichtig auf dem Schneidebrett ausbreitete, „bin ich optimistischer als es mir gut tut, Hermine.“

Nicht der Erfolg mit dem Bluttrank war ihm wichtig, sondern der Trank, den seine Freunde nach langer Recherche und vielen Strapazen endlich erschaffen hatten. Severus musste unweigerlich an Remus denken, der völlig blauäugig die äußerst gefährlichen Samenkapseln des Gespenstischen Steinregens in einem Glas mit sich herumtrug, als wären sie liebliche Schmetterlinge. So lange schon war Remus ein stiller Helfer gewesen. Als Severus die Farbenpracht im Gewächshaus gesehen hatte, da war ihm klar geworden, das auch Neville und selbst Luna mit ihrem uneigennützigen Wesen einen Teil zu seiner Genesung beisteuerten.

Für Hermine war sehr deutlich geworden, wie viel ihm das Gelingen des Trankes bedeutete. Laut der Arithmantikaufgabe konnte man fest damit rechnen, dass die hinterm Brustbein gelegene Wachstumsdrüse – der Thymus –, die den Rest der Seele hielt, durch den Tank wieder aktiv werden würde; dass sie neue Teile zum alten Kern produzieren würde. Es wäre allein Hermines Versagen, sollte sich keine Besserung bei Severus zeigen. Ihre größte Angst war, ihn in dieser Hinsicht zu enttäuschen. Es durfte nichts schiefgehen.

Severus bemerkte nach einiger Zeit, dass Hermines Hände zitterten.

„Hermine, vielleicht solltest du einen Augenblick ausruhen?“
„Was?“ Aufgescheucht warf sie ihm einen Blick zu. Die Spannung war ihr anzusehen. Sie hatte hässliche Falten auf der Stirn. „Mit mir ist alles okay“, wollte sie ihm weismachen.
Während Severus den Mohn verarbeitete, riet er ihr: „Ein paar Minuten. Mach eine Pause und ...“
„Severus, pass auf!“

Hermine wedelte wild mit ihren Händen und deutete auf das Schneidebrett. An sich herabblickend bemerkte er die Klinge des Messers, das im zweiten Fingerglied seines linken Zeigefingers steckte. Noch blutete es nicht. Um die Zutaten nicht zu beschmutzen, ging er einen Schritt zur Seite, zog dann das Messer heraus. Er hatte die Schnittwunde nicht bemerkt, auch jetzt tat sie nicht weh. Auf der Stelle war Hermine bei ihm, nahm ihn am Oberarm und führte ihn zum Waschbecken.

„Komm, halt ihn unter kaltes Wasser.“ Das Blut landete in dem Becken aus Emaille und hinterließ rosafarbene Schlieren, als es hinuntergespült wurde. Es sah beinahe so aus wie die Magiefarben, wenn sie verblassten. Eine Hand griff nach seiner. Mit einem kitzelnden Zauberspruch hatte Hermine die Schnittwunde im Nu behandelt. Die geheilte Stelle betrachtend fragte sie: „Wie konnte das passieren?“
„Ich ...“ Es war sicherlich nur vorübergehend. „Die Finger sind taub“, gestand Severus flüsternd.
„Du fühlst nichts?“ Unbewusst drückte sie seine Hand viel fester. „Seitdem das dunkle Mal brannte?“
„Ja, nach der Behandlung der Wunde fühle ich nur wenig. Greifen kann ich, aber das ist nur mechanisch.“
Hermine strich über seine Hand. Er verfluchte diesen Moment, weil er nichts spüren konnte. Als sie ihm in die Augen blickte, versprach sie: „Darum kümmere ich mich später. Lass mich erst den Trank brauen.“

Alle Zutaten waren vorbereitet, das Feuer unter dem Kessel entfacht. Severus' Hilfe wurde nicht mehr benötigt. Er fragte nicht einmal, ob er dabei bleiben sollte. Hermine war schon, auch ohne dass er ihr auf die Finger schaute, nervös genug. Severus verabschiedete sich mit den Worten, noch im Verkaufsraum einige Artikel in die Regale einzusortieren, bevor er sich in sein Zimmer zurückziehen würde. Dreieinhalb Stunden lang würde er unter Herzrasen leiden, bis sie mit dem Becher zu ihm kommen und der Trank das erste Mal seine Lippen benetzen würde.

In diesen dreieinhalb Stunden passierte auch an anderen Orten eine Menge.

Zusammen mit Eleanor Monaghan wartete Harry in „Dirk Willems' Stube“, einem auserwählten Restaurant in der Zaubererwelt, auf ihren Sohn. Schon während des Gesprächs mit Dr. Fueller und Kingsley hatte sich Harry bereiterklärt, Eleanor zu begleiten, wenn sie ihren als Kleinkind geraubten Sohn nach fast vierzig Jahren wiedersehen würde. Eleanor war verständlicherweise das reinste Nervenbündel. Ständig blickte sie in den Spiegel ihrer Puderdose und überprüfte ihr Äußeres.

„Du siehst gut aus“, kam Harry ihr mit seiner Bestätigung zuvor, als sie ihre Puderdose erneut öffnen wollte. Diesen Hinweis hatte sie verstanden. Das goldene Accessoire landete in der Handtasche. Wieder und wieder blickte sie zur Tür, dann auf ihre Armbanduhr.
„Es ist schon zehn vor halb“, stellte sie mit bebender Stimme fest.
„Der Termin ist doch erst um halb, Eleanor. Keine Sorge, er kommt schon pünktlich.“
Die Tür öffnete sich. Eleanors Herz blieb beinahe stehen, doch es trat nur ein alter Mann ein, der von seiner Frau begrüßt wurde. „Ich weiß nicht“, verlegen nahm sie ein Schluck Wasser, „ob ich das überstehe.“
„Warum nicht? Du hast mir doch erzählt, dass er dir sehr schnell geantwortet hat und sofort dieses Treffen arrangierte. Er will dich sehen und er ist mit Sicherheit genauso nervös wie du.“
„Deine Worte in Gottes Ohr.“ Sie holte tief Luft und versuchte, sich zu beruhigen. „Und wenn ich ihn enttäusche?“, fragte sie kleinlaut.
Harry schenkte ihr ein warmes Lächeln. „Das kannst du gar nicht. Und wenn doch, dann liegt es an ihm und nicht an dir. Ich glaube aber, dass er dich sehr willkommen heißen wird. Zumindest war er nicht von der Tatsache abgeschreckt, dass du keine Hexe bist. Das ist schon ein großer Pluspunkt, wenn du mich fragst.“
„Dass das Ministerium ihn überhaupt so schnell ausfindig machen konnte ...“
„Wenn mein Freund“, er dachte an Kingsley, „etwas anpackt, dann muss man nicht lange warten. Es gab nur zwei Kinder mit dem Geburtsdatum deines Sohnes, bei denen keine Mutter angegeben war – das andere war ein Mädchen. Außerdem stimmte der Name des Vaters, den du angegeben hast.“
„Ich sterbe gleich vor Aufregung.“
Harry tätschelte ihren Unterarm. „Bitte nicht, ich bin in Erster Hilfe nicht sonderlich gut.“

Die Tür des piekfeinen Restaurants öffnete sich erneut. Harrys Blick fiel auf einen gutaussenden Mann in Sirius' Alter, den er seit langer Zeit nicht mehr gesehen hatte. Dieser Mann, den Harry nicht sonderlich leiden konnte, hielt in einer Hand einen üppigen Blumenstrauß, in der anderen zwei verpackte Geschenke, deren Form auf Bücher hinwiesen. Innig hoffte Harry, dass es nicht dieser Mann war, der den verlorenen Sohn von Eleanor darstellte, denn das würde bedeuten, er müsste einen ganzen Abend mit ihm verbringen. Der Mann blickte sich neugierig um. Sein Blick traf den von Harry. Erstaunlicherweise kam er nicht sofort auf ihn zugestürmt, sondern nickte ihm nur grüßend zu, bevor er sich erneut umschaute. Er suchte jemanden und kam nicht auf die Idee, dass die Frau an Harrys Seite die Person sein könnte, die er suchte.

„Ist er das?“, fragte Eleanor. „Er sieht aus wie mein Ex!“
„Tatsächlich? Dann mache ich mal auf uns aufmerksam“, bot Harry freundlich an, obwohl er unter normalen Umständen lieber heimlich das Restaurant verlassen hatte.

Harry suchte erneut den Blickkontakt. Es dauerte einen Moment, bis der Mann ihn anschaute und auch die Handbewegung korrekt deutete, denn Harry winkte ihn heran. Unsicher bahnte sich der ehemalige Kollege einen Weg durch die vielen Tische, bis er bei Harry stand.

„Guten Abend, Mr. Potter“, grüßte der Herr galant, doch das falsche Lächeln fehlte, das sonst immer sein Gesicht zierte.
„Mr. Svelte“, Harry nickte ihm zu, „gehe ich recht in der Annahme, dass Sie hier Ihre Mutter erwarten?“
„Woher …?“ Valentinus' Blick wanderte von Harry hinüber zu der älteren Dame, deren Augen bereits mit Tränen gefüllt waren. „Sie sind …?“, hauchte er überwältigt. Er selbst musste kräftig schlucken. Die Geschenke und die Blumen legte er auf dem Tisch ab, bevor er seiner Mutter aufhalf. „Miss Monaghan? Eleanor Monaghan?“ In ihrem Gesicht wechselten sich Trauer und Freude ab. Trauer darüber, dieses Kind erst als erwachsenen Mann an die Brust drücken zu können und Freude darüber, dass es am Ende endlich passierte. Ohne dass er sich wehrte, fiel ihm seine Mutter um den Hals und drückte einmal fest zu, bevor sie sofort wieder losließ.
„Es tut mir leid“, schluchzte sie. Für ihn war sie eine Fremde. Dieser Gedanke löste eine Träne aus dem Kanal, die über ihre Wange rollte. Eine Entschuldigung nahm Valentinus nicht an. Stattdessen wiederholte er ihre Geste.
„Setzen wir uns doch“, schlug er vor, damit sie nicht die Aufmerksamkeit der anderen Gäste erregten. „Ich ...“ Jetzt war es wieder da, das Lächeln von Valentinus, doch diesmal, das gestand sich Harry, war es echt. Valentinus schluckte erneut, kämpfe mit den aufgewühlten Gefühlen. „Ich bin völlig überwältigt.“
Seine Mutter schien ihn trotz der langen Zeit der Trennung zu verstehen. „Es geht mir genauso. Wir haben uns eine Menge zu erzählen.“
Vor sich hin lächelnd betrachtete Valentinus seine Mutter, bemerkte dabei, dass er von Harry beobachtet wurde. „Mr. Potter, warum …?“
„Ich habe Ihre Mutter begleitet. Sie kennt sich in der Zaubererwelt doch nicht aus.“
„Ah!“ Strahlend weiße Zähne machten Lockhart den Titel für das charmanteste Lächeln streitig. „Dafür danke ich Ihnen ganz herzlich.“

Ab jetzt war Harry nur noch ein stiller Beobachter. Er sah dabei zu, wie Valentinus seiner Mutter die Blumen überreichte, auch die beiden Geschenke. Eines davon war ein Bilderrahmen mit einem uralten Muggel-Foto, an dem der Zahn der Zeit genagt hatte. Man konnte sich bildlich vorstellen, wie Valentinus dieses Foto in den Unterlagen seinen Vaters gefunden hatte und es wie einen Schatz hegte, weil es das einzige Bild seiner Mutter war. Es stellte sich heraus, dass Valentinus die ganze Zeit über nicht einmal mit Genauigkeit sagen konnte, ob die Frau auf dem Bild tatsächlich seine Mutter war, aber das Gefühl, schilderte Valentinus, war so stark, dass er davon ausgegangen war.

Harry beobachtete, wie Eleanor das zweite Päckchen auspackte. Hier lag Harry mit seiner Vermutung richtig. Es war ein Buch. Valentinus hatte es selbst verfasst. Ein Buch über ...

„Kniesel?“, fragte Eleanor verdutzt. „Was sind Kniesel?“
„Du hast nie einen gesehen?“ Natürlich nicht, schalt er sich in Gedanken selbst und fragte auf der Stelle: „Magst du Katzen?“
„Aber ja, ich habe fünf!“, bestätigte Eleanor.
Valentinus lächelte selig. „Dann wirst du meine Rabauken lieben.“

Ja, dachte Harry mit einem Schmunzeln, Mutter und Sohn hatten sich wahrlich gefunden. Die beiden nahmen nur am Rande wahr, dass er sich von ihnen verabschiedete. Er verließ die zwei nach einer Stunde, als man gerade den Vater von Valentinus als Gesprächsthema entdeckt hatte. Der war während des Krieges vor vier Jahren gefallen, hatte nie über die Muggel-Mutter gesprochen. Das war das Letzte, was Harry noch hören konnte, bevor er den Kellner aufsuchte und im Voraus die Rechnung für den Tisch beglich, an dem man eine kleine Wiedervereinigung feierte.

Über den Kamin flohte Harry nachhause. Wie üblich landete er sehr unsanft auf dem Boden. Er hatte sich schneller wieder aufgerichtet als Ginny gucken konnte. Sie blickte von der Couch über ihre Schulter.

„Bist du gestolpert?“
„Ich doch nicht“, winkte er beschämt ab und klopfte sich die Asche vom Umhang. Er hörte ein Schluchzen. „Weinst du?“
„Ich doch nicht“, wiederholte sie seine Worte, während Harry um das Sofa herumging und Nicholas angekuschelt in ihren Armen sah. Die roten Wangen, die verstopfte Nase und die Atmung des Jungen verrieten Harry, dass er gerade lauthals geweint haben musste. „Was ist denn passiert?“
„Ach, er ist beim Spielen an die Kante gerannt“, sie deutete auf einen Schrank, „und hat sich den Kopf gestoßen.“
„Beim Spielen? Da muss es ja wild zugegangen sein. Was habt ihr denn gespielt?“ Seinen Umhang hängte er an die Garderobe, bevor er sich neben Ginny setzte.
„Wir haben Löwendompteur gespielt. Ich war der Löwe“, verkündete sie stolz. Weil er verblüfft dreinschaute, erklärte sie: „Ich habe einen Löwen nachgemacht – habe dabei gebrüllt und mit den Tatzen gedroht – da ist weggelaufen und vor lauter Lachen hat er nicht drauf geachtet, wohin er läuft. Der Schrank war im Weg.“
„Hört sich trotz des kleinen Unfalls nach Spaß an.“ Er kitzelte Nicholas, der seinen Tränen beinahe dadurch vergaß. „Zeigst du mir, wie du den Löwen machst, Ginny?“
„Wie bitte? Kommt gar nicht in Frage!“
„Ach, bitte“, nörgelte er lang gezogen.
„Nein!“
„Wie hast du das gemacht? Bist du auf allen vieren am Boden gekrochen?“ Harry stand auf, nur um in die Knie zu gehen. „Und hast du dabei wild geknurrt?“

Harry schüttelte den Kopf wie ein Löwe, der mit seiner prächtigen Mähne für Respekt sorgen wollte. „Grrr“, machte er, womit er sofort Nicholas' Aufmerksamkeit erregte. Der Junge drehte sich in Ginnys Armen, um dem verspielten Vater zuzusehen, wie der langsam auf allen vieren um den Tisch schlich. Harry knurrte dabei, musste aber auflachen, als Nicholas fröhlich quiekte und mit einem Finger auf ihn zeigte. Am Sessel angekommen versteckte sich Harry einen Moment dahinter, bevor er – sofern es in dieser Position möglich war – einen Hechtsprung machte. Der Junge schrie so laut, dass Ginny um ihr Trommelfell bangen musste. Nicholas rutschte von Ginnys Schoß hinunter und suchte hinter einem Beistelltisch Schutz.

„Du“, er näherte sich Ginny, „hättest dich auch besser in Sicherheit bringen sollen.“ So schnell konnte Ginny gar nicht von der Couch springen. Sie fand sich plötzlich unter Harry begraben, der sie kitzeln wollte. Seine Hände strichen an ihren Seiten entlang, um eine geeignete Stelle zu finden, die auch sie zum Quieken bringen würde. Für wenige Sekunden war es spaßig, bevor ein beklemmendes Gefühl sie übermannte. Grob packte sie ihn an den Oberarmen und drückte ihn von sich, verlor aber gegen sein Körpergewicht, auch wenn er nicht gerade schwer war. Im Hintergrund hörte man Nicholas' lachen. Als Ginny sich heftig zu wehren begann, hielt er inne und blickte auf sie herab. „Ginny?“ Ihre Augen waren weit aufgerissen, sie atmete flach. Flüsternd versprach er: „Ich tu dir doch nicht weh.“ Wie in Zeitlupe schloss sie ihre Augen, nur um sie kurze Zeit wieder zu öffnen, weil sie noch mehr Gewicht auf sich verspürte. Nicholas hatte erst die Couch erklommen, dann seinen Vater, um es sich auf dessen Rücken gemütlich zu machen. Ginny hatte sich wieder unter Kontrolle und begann zu lachen. Als es klopfte, bat Harry den Gast herein.
Minerva, die wegen einer schulischen Angelegenheit mit Harry sprechen wollte, trat ein und blieb einen Moment wie angewurzelt stehen, um das skurrile Bild in sich aufzunehmen. Einen Augenblick später empfahl sie trocken: „Bei einer menschlichen Pyramide machen in der Regel die Herren den Anfang, dann kommen die Damen und erst zum Schluss ganz oben die Kinder.“

Über menschliche Pyramiden dachte Hermine im Moment gar nicht nach, durchaus aber über eine bestimmte Reihenfolge – und zwar die, in der sie die Zutaten in den Kessel werfen musste. Die zerstoßenen Sonnenblumenkerne kamen hinzu, gleich darauf zog sie eine acht mit dem Löffel, rührte einmal im Uhrzeigersinn, bevor die zerhackten Mohnblüten in den Kessel wanderten. Eines ihrer Augen war immer auf ihre Berechnung gerichtet. Jeden Handgriff hatte sie aus der Arithmantik in die Tränkebrauerei übersetzt.

Der Schweiß ließ ihr an den Schläfen herab. Immer wieder tupfte sie ihre Stirn ab wie ein Chirurg, der bei einer wichtigen Operation zugange war. Bei Hermine sah es ganz ähnlich aus. Ihr Projekt war genauso wichtig wie eine lebensrettende Operation, sogar noch viel wichtiger. Das Zittern ihrer Hände hatte sie unter Kontrolle bekommen, dafür schwitzte sie wie in einer Sauna. Trotzdem wagte sie es nicht, den Kessel zu verlassen, um das Fenster zu öffnen. Es könnte in genau diesem Moment etwas geschehen, das den Trank zunichte machte. Drei Stunden hatte Hermine bereits hinter sich gebracht. Die letzten dreißig Minuten waren die Hölle, nicht nur wegen der schwierigen Aufgabe, minutengenau die Zutaten unterzumengen und dabei ständig die Temperatur des Feuers zu verändern. Jetzt, so kurz vor dem Ziel, lagen Hermines Nerven blank. Immer wieder kam die Frage auf, was sie tun sollte, wenn der Trank nicht wirken würde? Sie würde es wieder versuchen. Und wieder und wieder.

Das Tränende Herz kam an die Reihe. So viele Erinnerungen fluteten ihren Geist. Die Prophezeiung, in der diese Pflanze erwähnt wurde, ohne sie man ihre Bedeutung verstand. Die vielen Nachforschungen und die Nächte, die sie sich um die Ohren gehauen hatte. Die Hilfe ihrer Freunde, die zur Stelle waren, wenn sie gebraucht wurden. Die umfangreichen Berechnungen, die dafür gesorgt hatten, dass Hermine tagelang nur von Zahlen und Formeln träumte. Das brennende Mal, das alle Todesser beinahe das Leben gekostet hätte. Und am Ende die letzte Zutat für den Heiltrank – jene, deren Blütenblätter sie gerade in den Händen hielt. Für einen Moment schwamm die rosafarbene Masse oben auf, bevor Hermine sie mit wohl überlegten Rührbewegungen dem Trank untermischte. Es fehlte nur noch eines. Die schwarzen, weichen Schwungfedern des Sekretärs beinhalteten die wertvollste Zutat: die Kopie einer Seele, die ein Teil von Severus war und die den Thymus anregen sollte, die Seele erneut wachsen zu lassen. Sich der sakralen Bedeutung bewusst, die diese Federn nicht nur für den Trank, sondern auch für Severus hatten, blickte Hermine hoffnungsvoll in den Kessel. Rühren durfte sie nun nicht mehr. Die klein geschnittenen Federn mussten von allein zergehen. Mit Hilfe der beseelten Animagusform durfte Severus endlich auf ein normales Leben hoffen, vor allem auf ein normales Gefühlsleben.

Die Zeit war um.

Hermine löschte das Feuer. Jetzt lag es an Severus. Er konnte den Trank innerhalb der nächste sechs Stunden zu sich nehmen – warm oder kalt, wie er wollte. Nach diesen sechs Stunden würde die verdoppelte Seele des Sekretärs verfliegen, den Trank damit unbrauchbar machen. Behutsam füllte sie den Heiltrank in einen der Becher, in denen sie normalerweise den Wolfsbanntrank verteilte. Diese stabilen Gefäße konnte man mit einem Deckel schließen, was sie vorsichtshalber auch tat, damit ihr auf dem Weg zu Severus' Schlafzimmer nicht noch ein Malheur passierte.

Mit jeder Stufe, die sie hinaufstieg, fühlte sie sich wie jemand, der mit einem Gnadenerlass in der Hand einen Mann aufsuchte, der für über zwanzig Jahre schuldlos in einem dunklen Verlies dahinvegetierte. Dieser Gedanke berührte sie so sehr, dass sie sich vor seiner geschlossenen Zimmertür mit dem Ärmel erst die Augen trocknete, bevor sie klopfte. Der Hund grüßte mit einem einzigen Bellen. Man hörte das Quietschen eines Stuhls, gefolgt von Schritten. Die Tür öffnete sich weit.

„Komm rein“, bot er an, als würde er sie jeden Abend in seinem Zimmer erwarten.
Wortlos trat sie ein und fand erst ihre Stimme wieder, als er die Tür schloss. Der Hund rannte ihr um die Beine, aber davon ließ sie sich nicht irritieren. Sie blickte Severus in die Augen. „Der Trank ist fertig.“ Er hatte den Becher in ihren Händen längst bemerkt. Severus war vollkommen steif. Es schien, als hätte die Erlösung, die nach so langer Zeit endlich zum Greifen nahe war, ihm einen großen Schock versetzt. Er nickte. Mit zarter Stimme erklärte sie: „Innerhalb von sechs Stunden muss er genommen werden.“ Wieder konnte er nur nicken. „Severus?“
Seine Schweigsamkeit war auffällig geworden, so dass er sie überspielen wollte und endlich den Mund aufmachte. „Stell ihn dort ab“, er deutete auf den Beistelltisch neben seinem Stuhl, in dem er gerade gelesen hatte.
Seiner Bitte kam sie nach. Vorsichtig platzierte sie den Becher neben einem Sachbuch mit dem Titel „Blut und seine Kraft“. Weil sie noch bei ihm bleiben wollte, nahm sie das Buch und begann mit leichter Konversation. „Ist es gut?“
„Verbesserungswürdig.“
Hermine blätterte in den ersten Seiten und bemerkte rote Stellen, die sehr an die damaligen Zaubertränkehausaufgaben von Ron und Harry erinnerten. „Was markierst du hier?“
„Die Fehler.“
„Warum frage ich eigentlich?“, murmelte sie belustigt. „Ist es für deine Arbeit mit dem Bluttrank?“
„Nein, nur interessehalber. Ich habe noch nicht alle meine Bücher hier. Einige benötige ich noch in Hogwarts, bis die Schule ...“ Der Anblick des Bechers auf dem Tisch, bei dem sie stand, ließ ihn stocken, was Hermine nicht entgangen war.
„Nimmst du den Trank gleich?“
„Ich weiß nicht“, erwiderte er unsicher. „Vielleicht nachher, wenn ich zu Bett gehe.“
Hermine befeuchtete sich die Lippen, bevor sie sie leicht zusammenpresste. Er hatte Angst. Sie achtete auf ihren Tonfall und darauf, dass er keine Sorge in ihrer Stimme ausmachen würde, als sie fragte: „Soll ich bei dir bleiben?“
„Das ist nicht notwendig, danke.“
Sie hatte ihm an seinem Krankenbett sehr deutlich gemacht, dass sie wegen möglicher Komplikationen bei ihm bleiben wollte. „Ich werde nach dir sehen.“ Nochmals blickte sie auf den Becher, bevor sie anfügte: „Es wäre eine Schande, die ganze Mühe wegzukippen. Da steckt eine Menge Herzblut und Schweiß drin.“
Angewidert verzog er das Gesicht und fragte trocken: „Darf ich die Zutatenliste vorher nochmal sehen?“
Hermine lachte und damit fiel eine Menge Last von ihr ab. „Das war doch nur so eine Redensart.“ Erleichtert über seinen Humor atmete sie einmal tief durch. „Ich komme vor dem Schlafengehen nochmal vorbei.“

Eine einzige Stunde verging langsamer als die dreieinhalb, in denen sie den Trank gebraut hatte. Nervös blätterte sie sich durch unzählige Bücher, fand aber keines, dass ihren Gedanken Ruhe gönnte. Fellini hatte sich im Schlafzimmer vor dem hektischen Frauchen in Sicherheit gebracht. Als die erste Stunde um war, hielt Hermine es nicht mehr aus. Sie wollte zu ihm. Vielleicht benötigte er längst ihre Hilfe? Wenn nicht, würde er sich womöglich belästigt fühlen, weil sie durch ihre Fürsorge so aufdringlich war – oder gar zu neugierig, weil sie sehen wollte, ob er den Trank schon genommen hatte. Mit einem Male hatte sie eine Idee, die ihren Besuch bei ihm rechtfertigen würde. Aus dem Badezimmer, das sie sich mit ihm teilte, holte sie eine Plastikflasche mit flüssigem Inhalt, mit der sie schnurstracks zu seiner Tür lief. Sie klopfte und wie vorhin bellte auch dieses Mal der Hund, doch die Tür öffnete sich nicht. Als er auf das zweite Klopfen auch nicht antwortete, überkam sie die Angst. Aufgeregt betätigte sie die Klinke. Es war tatsächlich geöffnet. Drinnen brannte Licht. Der Stuhl, auf dem er gesessen und gelesen hatte, war leer. Der Becher stand nicht mehr auf dem Beistelltisch.

'Er hat ihn genommen!', schrie ihr Innerstes wiederholt. „Severus?“ Keine Antwort. Ihre Beine trugen sie von ganz allein hinüber zum Bett, dessen Vorhänge bereits zugezogen waren. „Severus?“ Auf dem Nachttisch konnte sie den leeren Becher ausmachen. Ihre Hände teilten den Vorhang. „Seve...“ Er lag nicht im Bett. Stattdessen saß er, bereits mit einem Nachthemd bekleidet, auf der gegenüberliegenden Seite, so dass sie nur seine Rückseite sehen konnte. Ebenfalls konnte sie sehen, dass er den Kopf hängen ließ. „Severus“, hauchte sie in der Hoffnung, er würde irgendein Lebenszeichen von sich geben. Langsam ging sie um das Bett herum und betrachtete ihn. Er war sich ihrer Anwesenheit bewusst, doch mit geschlossenen Augen schien er zu wünschen, dass sie fortgehen würde. Diesen Wunsch erfüllte sie ihm nicht. Ihr lag daran, die Falten aus seinem Gesicht zu vertreiben, die für so viele Sorgen standen. Sie setzte sich links neben ihn, doch noch immer öffnete er seine Augen nicht. Mit einer Hand ergriff sie seine linke und zog sie auf ihren Schoß. Weil er neugierig wurde, blinzelte er. Hermine schob den Ärmel hoch und löste den schmalen Verband an seinem Unterarm. Die kleine Wunde betrachtete sie sehr genau.

„Ich glaube, ab heute kann es an der Luft heilen. Du bist hoffentlich nicht einer von den Patienten, die sich gern den Schorf abpulen?“, scherzte sie mit vorgetäuschter Heiterkeit. „Es wird von allein heilen.“ Seine Hand wollte er wieder wegziehen, da griff sie nach seinem Handgelenk. Hermine setzte sich weiter aufs Bett, winkelte dabei ein Bein an, das sie auf die Matratze legte. Auf diese Weise war sie Severus zugewandt. Seine Hand legte sie auf ihr Knie. „Ich hab doch versprochen, ich kümmere mich darum.“
„Um was?“ Seine Stimme schockierte sie. Sie klang so verletzlich. Er litt.
„Um die Taubheit.“ Um nichts in der Welt würde sie fragen, wie der Trank bei ihm wirkte. Sie war bei ihm und konnte ein Auge auf ihn werfen. Das genügte ihr. Sie öffnete die Verschlusskappe der Flasche und tat sich etwas von der klaren Flüssigkeit auf die Hand.
Der seltsame Geruch, der auch ein wenig in den Augen brannte, ließ ihn fragen: „Was ist das?“
„Franzbranntwein.“
„Hast du das selbst gebraut?“
Sie rieb beide Hände aneinander und schüttelte dabei den Kopf. „Habe ich aus einer Muggelapotheke. Mir stinkt das zu sehr, um es selbst zu machen.“ Mit ihren Fingerspitzen strich sie vorsichtig an seinem Unterarm entlang, umging dabei großzügig die wunde Stelle, als sie den Franzbranntwein einmassierte. „Das fördert die Durchblutung.“ Ihre Daumen glitten an den Seiten seines Unterarms hinab zum Handgelenk. „Hast du Kopfschmerzen oder Schwindel? Seh- oder Sprachstörungen?“
„Nein.“
„Da bin ich erleichtert. In der Regel können solche Missempfindungen wie Taubheit mit einem Schlaganfall einhergehen. Was die taube Stelle betrifft: Im Mungos gab es ähnliche Fälle. Patienten, denen großflächig Gewebe des Körpers nachgewachsen war, kämpften anfangs mit Taubheitsgefühlen. Das Gleiche wird bei dir aufgetreten sein. Morgen werde ich es aber genauer unter die Lupe nehmen.“ Sie knetete bereits seinen Handballen. „Ist es immer taub oder nur manchmal?“
„Nicht immer, aber zu oft. Manchmal kribbelt es.“
„Kribbeln ist in deinem Fall gut“, beteuerte sie. „Das bedeutet, dass das Gefühl langsam wiederkommt.“ Da hatte sie das Thema, ohne es zu wollen, doch angesprochen. Innig hoffte sie, dass er ihre Worte auf den Arm münzte. Severus äußerte sich jedoch gar nicht, blieb völlig still. Sein Blick war auf seine Hand gerichtet, deren Finger von ihr zaghaft gestreichelt wurden, so dass sie neugierig fragte: „Fühlst du noch immer nichts?“
Wie in Zeitlupe schloss er seine Augen, das Gesicht vor lauter Gram verzogen, bevor er flüsterte: „Ganz im Gegenteil.“
Von seinen Worten besorgt wollte sie wissen: „Tut es weh?“ Allein seine Mimik sprach Bände. „Was fühlst du?“ Ihre Frage war unnötig, denn sie sah, wie ratlos er mit dem war, was der Trank in ihm ausgelöst hatte. „Möchtest du dich nicht hinlegen?“
Severus' Bewegung, als er den Kopf schüttelte, war genauso schwach wie seine Stimme. „Dann wird es nur noch schlimmer.“
„Was wird schlimmer?“ Langsam machte sie sich sorgen. „Severus, wenn du mir nicht genau sagst, was mit dir ist ...“
„Ich lege mich hin“, unterbracht er, um sie zu beruhigen oder ihr einen Gefallen zu erweisen, doch damit ließ sie sich nicht hinhalten.

Der schwere Stoff am Ärmel seines Nachthemdes rutschte von allein wieder hinunter. Wie ein betagter Mann, der nichts mehr zu verlieren hatte, zog er bedächtig die Decke zurück und stieg ein. Bis zur Nasenspitze deckte er sich zu und schloss die Augen. Hermine verweilte noch einen Moment an seiner Seite und überlegte, ob sie die Rolle der Freundin übernehmen sollte, die an seinem Fußende sitzend über ihn wachen würde. Unerwartet sprang Harry aufs Bett und kuschelte sich am Fußende zusammen. Die Rolle hatte er ihr genommen, also wurde sie waghalsiger.

Hermine ging zurück ins Bad, nahm eine schnelle dusche und machte sich für die Nacht fertig. Mit einem Schlafanzug bekleidet suchte sie erneut sein Zimmer auf und steuerte zielsicher auf das Bett zu. Severus fuhr zusammen, als er eine Bewegung auf der Matratze vernahm. Ungefragt legte sie sich neben ihn.

„Hermine?“ Er rollte sich auf die Seite.
„Schlaf weiter“, riet sie ihm, obwohl ihr bewusst war, dass er nicht ein Auge zugemacht haben konnte. Von Harry hingegen hörte man schon ein leises Pfeifen aus der Nase. Der Hund schlief.

Im schwachen Schein des zunehmenden Mondes glitzerten Severus' Augen. Er blickte sie an. Einige Minuten lang. Nicht mehr. Er betrachtete ihr Haar, das sich – sonst so widerspenstig – an ihren Hals schmiegte, an die Schulter und den Busen. Bei dem Anblick fühlte er einen Flügelschlag in seinem Herzen. Ein Gruß des Sekretärs. Unerwartet, aber von ihm willkommen griff sie nach seiner Hand, die neben dem Kopfkissen lag. So wäre er gern eingeschlafen: Mit seinem Gesicht dem ihren gegenüber ruhend, doch an Schlaf war nicht zu denken.

Um den Hund nicht zu wecken, fragte Hermine ganz leise: „Tut es sehr weh?“ Die Antwort war ein leichter Druck an ihrer Hand. „Wie ist das?“ Sie konnte es sich nicht in ihren kühnsten Träumen vorstellen, wie es ihm gerade erging.
„Es ist ...“ Eine Weile suchte er nach den richtigen Worten, bis er sie gefunden hatte. „Meine Gedanken kommen nicht zur Ruhe. Ich erinnere mich an Dinge, an die ich schon oft zurückdenken musste, nur diesmal ...“ Einer dieser Gedanken lenkte ihn ab und er verlor den Faden.
Sie glaubte zu verstehen. „Du siehst alles in einem anderen Licht?“
„Ja.“ Er seufzte leise. „Wie in einem Licht, dass ich nicht sehen kann.“
„Wie Schwarzlicht“, sagte sie geistesabwesend.
„Es sind die gleichen Erinnerungen, aber doch sind sie anders. Ich kann es nicht beschreiben.“
„Die Gedanken bedrücken dich?“
Sie hörte ihn leise durchatmen. „Es ist, als hätte ich vor Jahren ein Buch gelesen und jetzt stellt sich heraus, dass alles wahr ist.“
Hermine nahm ihre andere Hand und umfasste mit beiden die seine. „Du siehst deine Erinnerungen nicht mehr distanziert. Jetzt berühren sie dich.“ Ihr Kommentar passte optimal zu seinem Gefühlszustand. Er äußerte sich nicht. „Erzähl mir, an was du denkst?“

Severus kämpfte mit sich, versuchte schweigsam, sich seinen Gefühlen zu stellen. Nicht mehr sein Unterarm war verwundet, es war sein Inneres. Der Trank hatte sein Kernstück angeraut und empfindlich gemacht, damit neue Seelenteile an ihm haften bleiben konnten. Noch ein klägliches Seufzen.

„An früher“, hauchte er als späte Antwort.
Sie fühlte mit ihm. „Wenn ich dir nur helfen könnte ...“

Hermines Worte blieben ihr im Hals stecken, als sie einen schwachen Schein unter der Bettwäsche bemerkte. Sie ließ seine Hand los und tastete im Dunkeln nach der Decke. An seinem Hals bekam sie den Stoff zu fassen. Langsam zog sie den leichten Stoff hinunter. An seinem Brustkorb machte sie die Quelle des Schimmers aus. Der Heiltrank, der ihn von einem Wesen hinüberwandeln sollte zum anderen, wirkte. Seine Seele war wie der Nachthimmel – nicht schwarz, aber finster und durchwachsen mit den Umrissen heller Wolken, hinter denen der Mond wartete, bis er hindurchbrechen konnte.

Voller Staunen blickte Severus an sich hinunter und griff nach dem fahlen Licht. Die Pflanzen hatten Hermines Erfindung in sich aufgenommen und die Fähigkeit, Magie sichtbar darzustellen, selbst noch als Zutat bewahrt. Der aktive Thymus zeichnete sich flimmernd ab. Wie eine Fackel flackerte das magische Licht hin und her, wurde größer und kleiner und spiegelte Severus' eigenes unruhiges Gemüt wider. Den Mund zu einem stummen Wort geformt betastete er das leuchtende Brustbein mit zitternder Hand. Das, was er damals nicht mit den Händen greifen konnte, als es sich nach seiner schrecklichsten Tat in Nichts auflöste, war endlich wieder da – zwar noch unvollständig, biegsam und zerbrechlich wie ein junger Bowtruckle, aber bereit zu wachsen.

„Vielleicht fühlst du dich besser, wenn du an das Heute denkst“, legte ihm Hermine ans Herz. Ihre Hand fand die gleiche Stelle an seinem Körper, als sie nach seiner Hand griff, um mit ihm gemeinsam die Reise ins Traumland anzutreten. Dankbar wünschte er eine gute Nacht.

Sein letzter Gedanke, fernab von all den Scheußlichkeiten seines Lebens, war der an Hermine. Sie war alles andere als eine Schönwetterhexe, denn sie nahm nicht Reißaus, wenn das Leben ungemütlich wurde. Auf sie könnte er zählen, wenn der Funke, den Freunde entzündet hatten, in den nächsten Tagen zum schmerzenden Feuer werden würde.

Verfasst: 17.09.2012 11:12
von Muggelchen
211 Was das Leben verspricht




Träume konnten irritieren, wenn der Träumer eine angenehme Kindheit in einer intakten Familie vor dem geschlossenen Augenlid sah, die es so nie gegeben hatte. Sie konnten andererseits berühren, sobald man sich am fast vergessenen Grab der Mutter wiederfand und den eigenen Vater beim Weinen betrachtete, als wäre es erst gestern gewesen. Manch ein geträumter Moment sorgte für Belustigung, besonders wenn Lily die Hauptrolle spielte. Gewisse Dinge, die einem das Unterbewusstsein in bunten Bildern darstellte, stimmten zudem nachdenklich, wie die vorgegaukelte, konventionelle Zukunftsversion mit Frau, Haus und Hund. Ein geregeltes, ruhiges Leben war ihm immer fremd gewesen. Vielleicht war gerade das der Grund, warum er sich danach am meisten sehnte – nach Normalität.

In der Nacht, in der Severus den ersten der sieben Heiltränke eingenommen hatte, erlebte er die gesamte Gefühlspalette. Dreimal wachte er auf. Noch im Augenwinkel sah er die seltsamen Traumgebilde, die sich erst verflüchtigten, als er genauer hinschaute. Beruhigend war stets der Anblick von Hermine, die neben ihm im Bett lag und fest schlief. Sie holte ihn mit ihrer bloßen Anwesenheit in die Realität zurück, in das Heute. Jedes Mal lag sie anders da: auf der Seite, auf dem Bauch, zum Schluss auf der anderen Seite. Selbst im Schlaf war sie sehr lebendig. Ein Blick auf die Uhr offenbarte, dass in eineinhalb Stunden Hermines Wecker klingeln würde. Severus rollte sich zur Seite und schloss die Augen. Normalerweise wäre er jetzt schon aufgestanden. Heute aber benötigte er diese Zeit, um sich innerlich auf den Tag vorzubereiten. Der gestrige Abend hatte ihn bereits überwältigt. Lang zurückliegende Momente wurden unerwartet mit Gefühlen begleitet. Severus befürchtete, dass er während der gesamten Zeit, in der er die Tränke einnehmen musste, keine große Hilfe in der Apotheke sein würde. Schon gestern hatte er sich von Erinnerungen einnehmen lassen, hatte sich treiben lassen. Es war unmöglich gewesen, die Gedankengänge zu stoppen. Jeder kleine Moment, jede Situation, die nur flüchtig durch seinen Geist schweben wollte, wurde durch die wachsenden Arme der Seele festgehalten und emotional analysiert. Die meisten der Erinnerungen drehten sich – wie hätte es anders sein sollen – um Lily. Liebe, Eifersucht, Kummer – das waren die Gefühle, die überwogen. Selbst die schönen Erlebnisse mit ihr taten rückblickend weh, zogen doch alle den bitteren Geschmack der Trauer nach sich. Erst mit Hermine an seiner Seite wurden seine Gedanken auf aktuelle Geschehnisse gelenkt, auf die schöne Dinge und Momente, so dass er endlich einschlafen konnte.

Im Bett dösend ergründete er seinen momentanen Gefühlszustand. Noch immer bewegten ihn besonders die unangenehmen Erinnerungen, wenn auch nicht mehr so heftig wie gestern. Trotzdem konnte er nicht leugnen, dass er sich anders fühlte – dass er überhaupt wieder fühlte und zwar ausnahmslos. Dieser Zustand hielt an. Es war nicht wie die goldene Magiekugel, die Harry ihm versehentlich gegen die Brust geschleudert hatte. Die Wirkung des Trankes war beständig und würde nicht verfliegen – ganz im Gegenteil. Mit jedem weiteren Trank würde er intensiver fühlen können, bis er wieder vollkommen war.

Lautlos und mit mehr Elan als er erwartet hatte schwang er sich aus dem Bett und suchte das Badezimmer auf. Zu seinem Erstaunen zeigte das Spiegelbild nicht die Veränderung, die er im Innern spürte, obwohl er sich so sicher gewesen war, dass jeder Mensch aus seinem Gesicht ablesen könnte, dass eine himmlische Wandlung in ihm vorging. Der Bäcker am Ende der Straße, bei dem er manchmal Frühstück besorgte, würde es genauso erkennen können wie Harry. Es war ein ähnliches Gefühl wie jenes, das er damals hatte, wenn er von einem Treffen mit Voldemort zurückgekommen war. Ein Gefühl gleich der Angst, dass jede Person die Schandtaten aus seiner schuldvollen Mimik herauslesen könnte. Severus war anfangs zu der Ansicht gelangt, dass die Menschen ihn einfach zu sehr ignorierten, um ihn überhaupt einmal anzusehen. Sein Gesichtsausdruck hätte ihn verraten, da war er sich anfangs sicher gewesen. Doch es stellte sich heraus, dass es nie daran lag, dass seine Mitmenschen ihm nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt hatten, um völlig blind gegenüber dem Verrat an ihnen zu sein. Das war es nicht gewesen. Es war die Tatsache, dass man einem Menschen bei bestem Willen nicht am Gesicht ablesen konnte, welche grausamen Geheimnisse er im Abgrund seiner Seele verbarg. Niemand sah ihm an, dass er einmal dem Mord an einem Muggel beiwohnen musste. Dabei war er sich sicher, dass jeder es sehen müsste, wo es sich schon angefühlt hatte, als würde sich sein schlechtes Gewissen in sein Gesicht einmeißeln. Furchen, die mit jeder neuen Gräueltat wuchsen und sich vertieften, sich wie ein Relief aus schlimmer Erfahrung und gelebtem Gram in sein Gesicht schnitzten und unweigerlich für jedermann zu sehen sein mussten.

Es war nie etwas zu sehen. Das Gesicht, das er nach außen zeigte, war eine Maske, mit der er die Schuld seiner Seele vertuschte.

Severus starrte in den Badezimmerspiegel und schüttelte den Kopf. 'Geht das wieder los', brummte er missgestimmt. Der junge Muggel, mit dem Bellatrix ihre Spielchen gespielt hatte: Das war einer dieser Gedanken, der ihn nicht loslassen wollte, den er um seiner Seele Willen reflektieren musste. Die Erinnerung an einen Augenblick, der sein Wesen geschwärzt hatte. Severus war wütend, weil er seit gestern ständig die Vergangenheit im Kopf nachspielte, er diesmal jedoch mit ganz neuen Empfindungen kämpfen musste. Manchen Situationen stand er keinesfalls mehr gleichgültig gegenüber, wie dem Schicksal von Neville, dessen Eltern im Mungos zu nichts anderem mehr fähig waren als sich dem Tagesplan der Krankenschwestern unterzuordnen. Wie konnte Neville so ein Leben ertragen? Wie ertrug Augusta Longbottom das Schicksal, ihren geistesabwesenden Sohn mehrmals wöchentlich zu besuchen? Früher hatte ihn nie interessiert, was andere Menschen fühlten, aber jetzt, nach diesem ersten Trank …

Schuld war von allen anderen das Gefühl, mit dem er am besten vertraut war. Das machte es keinesfalls leichter, mit ihr zu leben. Manchmal hatte Severus gehofft, irgendjemand – Minerva, Arthur oder sogar Moody – würde ihn durchschauen, würde alle begangenen Missetaten an seiner steifen Körperhaltung oder seinem verbissenen Gesichtsausdruck ablesen. Doch keiner von ihnen stellte Fragen, keiner verdächtigte ihn. Erst Albus wusste, was wirklich in seinem Innersten vorging. Es war, als würde Albus direkt in ihn hineinsehen und bestens wissen, wie es um ihn stand. Ein einziger Blick vom Direktor schien so kraftvoll wie ein Legilimens. Schon vor dem Ewigen See kannte Albus beide Seite an ihm: die sichtbare und die unsichtbare.

„Verdammt“, hauchte Severus und stützte sich auf dem Becken ab, weil ihm der Gedanke an Bellatrix' Verbrechen auf den Magen schlug. Sein Kopf hing vornüber. Severus nutzte eine seiner Okklumentik-Übungen, um den Geist zu leeren. Er wollte an nichts denken, nicht an die kleinste Kleinigkeit, denn sonst würde das Schuldempfinden ihn womöglich zerreißen.
„Severus?“ Eine weibliche Stimme an der Badezimmertür, gefolgt von einem zaghaften Klopfen. „Bist du da drin?“ Innerlich seufzte er. Sie würde ihn ausquetschen und ihn mit der Frage löchern, wie es ihm heute Morgen ging. Die Türklinke wurde hinuntergedrückt, doch er hatte abgeschlossen. „Severus?“ Hermine klang besorgt. „Severus, bitte ...“ Er wollte nicht mit ihr über seine Gefühle sprechen. Solche Dinge lagen ihm nicht. Er würde sie nicht hereinlassen, egal wie sehr sie darauf pochte. Diesmal klang sie fordernd: „Severus, mach bitte auf, ich muss dringend auf die Toilette!“
In Windeseile war er an der Tür und öffnete sie. „Hermine ...“ Ihre braunen Augen strahlten eine große Vertrautheit aus. Ein neues Empfinden übermannte ihn. In ihrer Nähe fühlte er sich wohl.
„Darf ich …?“ Hermine trat von einem Bein aufs andere.
„Oh, selbstverständlich.“ Galant öffnete er die Tür viel weiter und trat heraus. „Bitteschön.“

In der Zeit, in der Hermine ihrer Morgentoilette nachging, kleidete er sich an und marschierte in die Küche, um das Frühstück vorzubereiten. Eine Aufgabe, die er nicht unbedingt gern tat – er tat es eher aus Gewohnheit. Was mit Lebensmitteln zu tun hatte übernahm er, weil alles, was er zubereitete, ihm schmeckte. Sogar beim Frühstück gab es Dinge, die Hermine in den Sand setzte, selbst wenn es nur Rühreier waren wie die, die er gerade in die Pfanne schlug. Hermine konnte wie auf Kommando Milch überkochen lassen, Toast zu dunkel rösten und sie würzte allgemein viel zu sparsam. Einzig die Kategorie „heiße Getränke“ überließ er freiwillig ihr, denn die Zubereitung von Kaffee und Tee lag ihr besser als ihm. Hermine hatte sich nie darüber beschwert, dass er sie nicht an den Herd ließ. Sie schien sogar froh darüber zu sein, weil sie sich nicht mehr täglich aufs Neue mit Missgeschicken lächerlich machte.

Das Geräusch einer Tür im oberen Stock holte ihn in die Gegenwart zurück. Erschrocken blickte er auf seine rechte Hand, die den Salzstreuer wie wild über den Rühreiern auf und ab schüttelte. Abrupt hielt er mit der Bewegung inne und blickte starr auf das Frühstück in der Pfanne. Wie lange stand er hier schon und würzte das Gericht?

„Mmmh“, hörte er an der Tür. Hermine schnupperte wie ein Hund und hatte sofort die Witterung aufgenommen. Langsam näherte sich dem Herd. „Ich hab Hunger. Was gibt es denn?“ Ein Blick über seine Schulter. Buschige Haare an seiner Wange. „Eier!“, stellte sie erfreut fest. Sie fand eine Gabel, um von dem Rührei zu kosten.
„Hermine, nicht ...“
Die Warnung kam zu spät. Hermine hatte den Happen längst im Mund und kaute. Sie verzog das Gesicht, hielt eine Hand vor den Mund und suchte derweil nach dem Abfalleimer. Wenige Sekunden später spuckte sie das Ei aus, nur um gleich darauf Severus mit lebendigem Glitzern und verschmitztem Lächeln anzusehen. „Vielleicht eine klitzekleine Prise zu viel Salz“, scherzte sie, zeigte dabei mit Daumen und Zeigefinger einen kleinen Abstand. „Oder ist das Ei gepökelt?“
„Ich war wohl in Gedanken“, murmelte er verlegen, nahm dabei die Pfanne und leerte sie über dem Mülleimer.
„Weißt du, was man in der Muggelwelt sagt, wenn etwas versalzen ist?“
„Zum Glück handelte es sich lediglich um Rührei und nicht um Suppe.“ Die Pfanne stellte er in den Abwasch. „Möchtest du noch Ei? Ansonsten gibt es Toast.“
Hermine verneinte und öffnete stattdessen den Vorratsschrank. „Severus? Dein Käse hier“, sie deutete auf ein besonders kräftig riechendes Objekt, „ist von ganz allein ein Stockwerk tiefer gekrochen. Darf ich ihn wegwerfen?“
Sofort war er bei ihr und musterte den Verdächtigen. „Nein, der ist jetzt richtig durch!“
Als er den Teller mit dem verformten Käse herausnahm und auf den Tisch stellte, fragte sie schockiert: „Du willst den doch nicht etwa essen?“
„Was soll ich denn sonst mit ihm anstellen? Tief schürfende Gespräche über die Kunst der Käserei fallen wohl aus.“ Severus stellte Toast, Butter und Marmelade auf den Tisch, während er ihrer Stimme lauschte.
„Das ist eklig!“, sagte sie belustigt.
„Nein, da irrst du.“ Er deutete auf den Käseleib, der schon über den Tellerrand hinweggekrochen war. „Der ist jetzt reif und wird wunderbar schmecken. Sollte ich eines Tages Casu Marzu essen, dann darfst du den Käse – von mir aus auch mich – als eklig bezeichnen.“
Hermines Stirn schlug Falten. „Was bitteschön ist ...?“
„Das möchtest du nicht wissen, Hermine“, versicherte er ihr mit einem sanften Kopfschütteln, bevor er einseitig lächelte.

Das Frühstück verlief zu Severus' Erleichterung sehr entspannend. Sie unterhielten sich über alles und nichts. Ein direktes Gespräch über ihn und seinen Gefühlszustand wurde vermieden.

„Ich hab mir was überlegt, Severus.“ Gespannt blickte er von seinem Kaffee auf. Ihre Lippen stellten ein sanftes Lächeln zur Schau, das die ganze Zeit über nicht schwinden wollte. „Wir müssten über Umwege Sirius dazu kriegen, eine bestimmte Sache in den neuen Gesetzestexten unterzubringen. Ich bin der Meinung, das Verbot, mit Blut zu experimentieren, sollte für gewisse Forschungszwecke aufgehoben werden.“
„Was genau meinst du?“
Hermine griff hinüber zum Toast. „Es ist doch ungerecht, für Vampire nicht nach einer annehmbaren Lösung für ihr Problem suchen zu dürfen. Werwölfe haben ihren Wolfsbanntrank. Vampire sollten die gleiche Chance bekommen. Natürlich darf man nicht wahllos mit Blut hantieren, dafür ist es einfach zu kraftvoll. Der Hauptbestandteil der Nahrung von Vampiren ist aber nun einmal Blut. Man kann es gar nicht vermeiden, damit zu forschen, wenn man ein Heilmittel finden möchte, nicht wahr?“
„Und wieso soll gerade Black dabei helfen?“
„Na, er kümmert sich doch um die Gesetzesänderungen. Das Augenmerk liegt dabei auf der Diskriminierung von Halb- und Mischwesen, die er im Gesetz beseitigen möchte. In meinen Augen werden Vampire diskriminiert, wenn man mit alten Verboten verhindert, dass ihr Durst eines Tages mit Sicherheit“, sie nickte zu Severus hinüber, „durch die Forschungsergebnisse eines viel versprechenden Zaubertränkemeisters“, sie zwinkerte ihm zu, „unterdrückt oder gar gestillt werden kann. Es reicht, wenn die Gesetze diesbezüglich etwas gelockert werden.“
„Ah, ich verstehe. Sobald es legal ist, Forschung mit Blut zu betreiben, gehe ich mit dem Trank an die Öffentlichkeit.“
„So dachte ich es mir. Auf diese Weise kann dir auch keiner zuvorkommen, es sei denn, andere haben auch seit Jahren illegal experimentiert.“

Unterhaltungen mit ihr bereiteten ihm Freude – Freude, die er endlich auch spüren konnte. Ihre Überlegungen waren seinen eigenen Gedankengängen sehr ähnlich. Sie machte kluge Vorschläge, überdachte all ihre Worte. Hermine interessierte sich für seine Projekte.

Tagsüber blieb Hermine in der Apotheke, während Severus den Weg nach Hogwarts antrat. Den Unterricht ging er gelassen an. Die Schüler durften einen Aufsatz über ein Thema ihrer Wahl schreiben, mindestens dreißig Zentimeter Pergament verlangte er. Die Kinder verhielten sich ruhig und arbeiteten. Nur zwei der Jungen alberten still miteinander herum, was Severus aus den Augenwinkeln bemerkte. Er schritt nicht ein, sondern beschäftigte sich zur Tarnung mit seinen Unterlagen, während er wieder einmal seine Gedanken schweifen ließ. Aufhalten konnte er das unangemeldete Abdriften in die Vergangenheit sowieso nicht, also kämpfte er erst gar nicht dagegen an. Als er hier saß und seinen unkonzentrierten Blick über die ruhige Klasse schweifen ließ, dachte er zwangsweise an die eigene Schulzeit. Es fanden sich eine Menge wunderschöner Momente, die sich hier in diesem Klassenzimmer unter den weniger wachsamen Augen von Professor Slughorn abgespielt hatten. Lily und er an einem Kessel. Sie kicherte und machte Witzchen, flüsterte ihm dabei ins Ohr. Ihren warmen Atem spürte er noch heute und eine angenehme Gänsehaut formte sich auf seinen bedeckten Unterarmen.

Als der Unterricht vorbei war, gaben die Schüler ihre Aufsätze ab. Manch einer hatte mehr geschrieben als gefordert war, besonders die Schüler, die sich dank der freien Wahl mit ihrem Lieblingsthema befassen konnten, um durch einen guten Aufsatz die Gesamtnote in Zaubertränken aufzubessern. Sie verschwanden nach und nach leise aus dem Raum.

Per Zauberstab wischte Severus die Tafel, rückte die Stühle gerade und brachte die Pergamente der Schüler in sein privates Büro. Das Gefühl, das ihn in seinem Arbeitszimmer übermannte, war genauso verwirrend wie die Träume, die ihn heute Nacht heimgesucht hatten. Hinter diesen steinernen Mauern waren so viele Dinge geschehen. Gespräche mit Albus drängten sich seinem Geist auf, die Trauer um Lily kam wie eine Welle des Unheils auf ihn zugerollt. Diese wieder aufwallenden Gefühle, denen er damals mit der Einnahme des Ewigen Sees entflohen war, trafen ihn so unerwartet, dass er sich erschrocken an die Wand drückte und den Atem anhielt. War der Schmerz in der Brust normal? Mit Herzflattern stürzte er hinüber zur Verbindungstür, die ins Labor führte. Furchtsam knallte er die Tür hinter sich zu und atmete tief durch, doch es wurde nur noch schlimmer.

Dieser Raum, das Labor – Brutstätte von bahnbrechenden Ideen und Aufenthaltsort während seiner Freizeit, aber auch Geburtsort des scheußlichsten Trankes, den die Zaubererwelt je entwickelt hatte. Die eine Stelle auf dem Boden. Schweiß brach auf seiner Stirn aus. Dort hatte er gelegen, als er seine Seele verstümmelte. Noch nie zuvor hatte er sich Gedanken um diesen schlimmsten Moment gemacht und dabei etwas empfunden, doch jetzt brachte der Heiltrank ihn dazu, seine Tat selbstkritisch zu beurteilen – vor allem aber, die Erinnerung an diesen finsteren Tag das erste Mal emotional zu durchleben. Er war Kritiker seines damaligen Verhaltens. Oh, wie falsch war es gewesen, sich mit dieser grausamen Tat der Seele zu berauben. Scham über diesen Fehler kam auf. Severus spürte rückwirkend seine eigene Feigheit, seine Angst vor einem Leben, das von der Trauer um Lily regiert wurde. Mitgenommen griff er sich an die Brust und wünschte die schlimmen Gefühle fort. Konzentrieren! Er musste seine Gedanken im Zaum halten. Verzweifelt suchte er nach etwas Schönem. Severus blickte sich um, zwang seinen aufgewühlten Geist zur Ruhe. Jeder Stuhl, das Bücherregal, der Arbeitstisch – alles hier drinnen war auch mit wohligen Erlebnissen verbunden. Mit Erinnerungen an die Zeit, in der Hermine bei ihm ihre Ausbildung gemacht hatte. An diesem Gedanken hielt er so lange fest, bis er das seelische Gleichgewicht wiedergefunden hatte.

„Professor?“ Die Stimme des jungen Schülers erschreckte Severus. Er hatte nicht bemerkt, dass seine Augen geschlossen waren.
„Mr. Foster?“ Seine eigene Stimme klang deutlich angeschlagen.
„Sir“, der junge Mann kam näher, „geht es Ihnen gut?“ Ein besorgter Blick. „Kann ich Ihnen irgendwie helfen, Professor?“
„Nein“, wollte Severus gelassen abwinken, doch das Wort kam ihm so gequält über die Lippen, dass Mr. Foster sich ernsthaft Sorgen machte und seinen Professor am Oberarm nahm.
„Setzen Sie sich doch einen Moment ...“
„Mr. Foster!“ Es kostete Severus eine Menge Kraft, die Maske der Gleichgültigkeit wieder aufzusetzen. „Was haben Sie hier verloren?“
„Sie, ähm“, Gordian musterte seinen Lehrer skeptisch, bis er entschied, nicht anzumerken, wie blass er war. „Sir, Sie haben mich heute früh gebeten, Sie vor dem Mittagessen aufzusuchen.“
„Hab ich?“ Verschwommen erinnerte er sich an die kurze Aufforderung, die von all den neu erlebten Momenten verdrängt wurde. „Ja, natürlich. Folgen Sie mir bitte.“ Severus führte den Schüler zurück in das Büro. Aus seiner Schreibtischschublade entnahm er ein Schreiben, das er dem künftigen Schulabgänger überreichte.
„Für mich?“ Zögernd nahm Gordian das Schriftstück in die Hand. Als er sich bewusst wurde, dass er die Referenz in den Händen hielt, die der Professor ihm ursprünglich verweigert hatte, strahlte er über das ganze Gesicht. „Vielen Dank, Sir. Sie wissen gar nicht, wie viel mir das bedeutet! Damit stehen mir alle Türen offen.“
Severus fühlte sich – und das erstaunte ihn – durch diese Worte geschmeichelt. „Unfug, mit Ihren Noten stehen Ihnen auch ohne meine persönliche Empfehlung alle Türen offen.“
„Nicht alle, Sir, aber mit dem hier“, er wedelte fröhlich mit der Referenz, „schon.“
„Sie haben sich in Ihrem jungen Alter schon sehr viele Gedanken über die Zukunft gemacht, nicht wahr?“
„Musste ich doch, Sir. Ich war noch keine acht Jahre alt, als nach Professor Dumbledores Tod der Krieg ausbrach. Niemand wusste, ob ich überhaupt eine Zukunft haben würde.“
„Dafür, dass Sie keine Zukunft vor Augen hatten, haben Sie eine Menge gelernt, Mr. Foster und das, obwohl alle Zaubererschulen geschlossen waren.“
Gordian nickte. „Hauptsächlich haben mich meine Eltern unterrichtet.“ Das erste Mal in diesem Schuljahr sprach der Slytherin so vertraut mit seinem Hauslehrer, wie es in den anderen drei Häusern gang und gäbe war. „Jede freie Minute haben sie genutzt, um mir Zaubersprüche beizubringen, die mir das Leben retten sollten. Es herrschte in unserer Familie weniger die Befürchtung, keine Zukunft zu haben. Es überwog die Hoffnung auf bessere Zeiten. Und auf diese Zeiten sollte ich vorbereitet sein.“
Severus bewunderte die Familie dieses Jungen. Anstatt sich zu verstecken oder sich gar aus lauter Angst Voldemort anzuschließen, hatten sie all ihre Kraft ins Überleben gesteckt, ohne dabei den Glauben an das Gute auf der Welt zu verlieren. „Ihre Eltern sind beneidenswert mutig.“
„Ja, das sind sie.“ Ein leiser Seufzer war zu vernehmen. „Und wir hatten eine Menge Glück.“

Dieses Glück mochte bedeuten, dass sie einen Todesserüberfall überlebt hatten, für einen Augenblick dem Tod ins Auge blicken mussten. Severus wollte nicht genauer darüber nachdenken. Stattdessen hielt er einen Smalltalk mit dem jungen Mann, der normalerweise erst in der fünften Klasse wäre, hätten seine Eltern ihn nicht so sehr aufs Leben vorbereitet. Das Gespräch überraschte Severus. Mit seinen Schülern sprach er selten über private Probleme. Früh hatte er den Slytherins eingebläut, bei Problemen mit Schülern der anderen Häuser selbst tätig zu werden und einen Besuch bei ihm nur als letzten Schritt in Betracht zu ziehen. Seine Schüler waren selbstständig. Sie kümmerten sich um ihre Probleme. Manchmal, so glaubte er heute, hatte er den Bogen überspannt. Die Schüler waren nicht einmal zu ihm gekommen, wenn es notwendig gewesen wäre. Nicht einmal, wenn er sich auf seine Menschenkenntnis verließ und bei einem Schüler damit rechnete, bald um Hilfe gebeten zu werden, waren sie gekommen. Sie hätten zu ihm kommen müssen! Niemals hätte er einen Schüler, der wirklich Hilfe brauchte, verlacht und weggeschickt. Erst jetzt, so wenige Tage vor Ende des Schuljahres – wenige Tage noch, bevor sein neues Leben in der Apotheke beginnen würde – war sich Severus darüber bewusst geworden, dass es in einigen Situationen notwendig war, die Hilfe aus freien Stücken anzubieten, anstatt zu warten, bis jemand auf einen zukam. Die Schüler hatten aufgrund seines mürrischen Wesens die Messlatte für erwähnenswerte Probleme zu hoch gehängt. Sie hatten wahrscheinlich befürchtet, dass die Belanglosigkeit ihres Anliegens ihn verärgern würde.

Da war einmal ein Schüler, ein paar Jahre, bevor Harry in Hogwarts eingeschult wurde, erinnerte sich Severus. Ein schmächtiger 16jähriger Slytherin. Eines Morgens im November fand man ihn auf dem untersten Absatz der Treppe zum Glockenturm. Auf den vereisten Stufen war er ausgerutscht, hatte sich den Kopf aufgeschlagen und lag stundenlang bewusstlos in der Kälte. Poppy hätte es richten können, wäre es in der Nacht nicht so kalt gewesen. Der Junge wurde schwer krank, stand trotz aller möglichen Heiltränke mit einem Bein im Grab. Soweit Severus sich entsinnen kann, hatten die Eltern ihn aus der Schule genommen. Damals wurde diese Sache offiziell als Unfall abgetan, doch einzig Severus ahnte, was der Schüler wirklich vorgehabt hatte. Die Seile im Glockenturm waren stabil. Severus hatte Anzeichen gesehen, hatte bemerkt, dass der Schüler eine Last auf sich geladen hatte, der er nicht standhalten konnte. Liebeskummer konnte besonders im Teenageralter eine große Bürde bedeuten. Severus hatte erwartet – fest damit gerechnet –, dass der Schüler sich ihm anvertrauen würde. Immerhin hatte er allen Schützlingen deutlich vermittelt, dass ein Gespräch mit ihm als letzte Problembehebung in Betracht gezogen werden konnte. Der verunfallte Schüler hatte jedoch einen anderen Weg für die Lösung all seiner Probleme eingeschlagen. Zum Glück war der Versuch durch die dünne Eisschicht auf den Stufen zum Glockenturm vereitelt worden.

Severus schreckte hoch, als ein Buch im Regal umkippte. Wie lange hatte er hier im leeren Klassenzimmer gestanden und über Dinge nachgedacht, die so viele Jahre zurücklagen? Keine Spur von Gordian. Der musste sich entfernt haben, als er bemerkte, dass sein Lehrer für Zaubertränke nicht mehr ansprechbar war. Zum Glück war Gordian nicht mehr hier, dachte Severus erleichtert. Der würde sonst sicher an seiner Mimik ablesen, wie schmerzhafte der alte Selbstvorwurf war, den er sich wegen des zu Schaden gekommenen Jungen machte.

'Dieses Nachtrauern muss aufhören!', sagte Severus in Gedanken zu sich selbst, als er den Weg in die große Halle einschlug. Er würde es begrüßen, wenn solche Erinnerungen ihn nicht berühren würden. Andererseits zeigte ihm sein unerwartetes Mitleid, dass er unweigerlich auf dem Weg der Besserung war.

Vieles an der großen Halle erinnerte ihn auch an die schönen Gefühle, die er zum Glück ebenfalls zu spüren im Stande war. Hier hatte er die herrlichsten Weihnachtsfeste seines Lebens verbracht. Fernab von den angespannten Festen Zuhause, wo Vater viel zu schnell die Flasche Whisky leerte und sich betrunken auf die Couch legte, während Severus seine enttäuschenden Weihnachtsgeschenke öffnete. Dieses Stückchen heile Welt mit seinem verzauberten Dach machte die nüchternen Kindheitserinnerungen wieder wett. Hier war es hell, geräumig, gemütlich. Severus mochte die große Halle.

Während der Mittagspause saß er zwischen Harry und Remus. Das erste Mal bemerkte Severus, wie natürlich die beiden mit ihm umgingen. Das war ein völlig neues Gefühl. Echte Freunde bis auf Lily hatte er in seiner Kindheit und Jugend nicht gehabt. Nie gab es einen besten Freund, mit dem er mal über Männerangelegenheiten sprechen konnte. Remus bot ihm wie selbstverständlich ein Getränke an, und Harry reichte wortlos das Gemüse. Im Gegenzug gab er ungefragt die Sauciere an Remus weiter. Derweil fragte man ihn wie jeden Tag nach dem Wohlbefinden. Weil er die Verpflichtung verspürte, ehrlich zu antworten, rutschte ihm heraus: „Mir geht es gut. Allgemein sehe ich dem Genesungsprozess sehr positiv entgegen.“ Remus und Harry waren im ersten Moment um Worte verlegen. Nicht weil sie die Situation unangenehm fanden, sondern weil sie nicht wussten, ob sie Einzelheiten erfragen durften. Severus blickte zu seiner Rechten, wo er den zufriedenen Gesichtsausdruck von Remus bemerkte und darüber hinaus deuten konnte. Bei manchen Menschen konnte man offensichtlich doch am Gesicht ablesen, was in ihnen vorging. Die unverfälschten Gefühle stellte Remus ohne Scheu zur Schau. Er freute sich für ihn. Zu seiner Linken erwartete ihn ein breit grinsender Harry, dessen grüne Augen noch mehr glitzerten als der silberne Rand seiner runden Brille. Beide erfuhren heute morgen von Neville, dass die Zutaten, die sie gemeinsam gezogen hatten, bereits von Hermine geerntet und verarbeitet worden waren, doch keiner sprach es an.

Ein Gespräch mit Albus blieb heute zum Glück aus. Die Erinnerungen, die sein alter Freund in ihm wecken würde, könnten Severus mit Leichtigkeit in ein Häufchen Elend verwandeln.

Gegen 16 Uhr ging Severus zurück in die Apotheke. Wie jeden Tag hatte er Kisten mitgebracht, mit denen er nach und nach seine Habseligkeiten umsiedelte – von Hogwarts in die Winkelgasse, seinem neuen Zuhause. Das Bett gehörte ihm nicht. Albus hatte es gespendet, wie auch den Kleiderschrank und das Bücherregal, den Schreibtisch, die beiden Stühle und die kleine Kommode. Von Spinner's End war nichts mehr übrig geblieben, nachdem Todesser das Haus in Schutt und Asche gelegt hatten. Er besaß keine alten Erbstücke, nur das bisschen Hab und Gut, das er durch seine Beschäftigung in Hogwarts und dem daraus resultierenden Umzug in die Kerker in Sicherheit gebracht hatte. Severus war unangenehm ergriffen, als er heute bemerkte, wie wenig Materielles er besaß, nicht einmal eigene Möbel. Sein Vermögen befand sich überwiegend in Gringotts. Es bestand aus seinem jahrelang gesparten Gehalt und dem Preisgeld für den erhaltenen Merlinorden. Trotz seiner finanziellen Beteiligung an der Apotheke besaß er noch genug Geld, um in ein neues Leben zu starten.

Hermine befand sich entweder im Verkaufsraum oder im Labor, er hatte noch nicht nachgesehen. Stattdessen ging er ins Erdgeschoss und suchte den kleinen Garten hinterm Haus auf. Ein kurzer Moment zum Luftholen, um sich nach diesem bewegenden Tag auf die Begegnung mit ihr vorzubereiten. Wenige Pflanzen zogen sie im Hinterhof selbst, andere mussten sie bestellen. In einer Ecke des hoch eingezäunten Gartens probierte Hermine den Dünger von Neville aus, um selbst ein Gefühl für die Wachstumsgeschwindigkeit zu bekommen. In der anderen Ecke sah Severus den hoch gewachsenen Baldrianstrauch, gleich darunter den Kater, den er Hermine zu Geburtstag geschenkt hatte. Fellini war jetzt ganz offensichtlich geschlechtsreif geworden.

Schnurstracks marschierte Severus ins Labor, doch dort traf er sie nicht an. Vorsichtig lugte er in den Verkaufsraum. Bis auf Daphne und Hermine war niemand hier, kein Kunde.

„Hermine? Kann ich dich kurz sprechen?“, fragte er zaghaft.
„Um was geht es denn?“ Sie hatte ihn missverstanden und näherte sich ihm nicht, um unter vier Augen miteinander zu reden, sondern wartete darauf, bis er frei vor Daphne sein Anliegen vorbringen würde. „Nur raus damit“, neckte sie ihn. Ihrem Wunsch kam er gern nach.
„Die momentanen Aktivitäten deines Haustieres könnten unangenehme Folgen mit sich bringen, weshalb ich dir nahelegen möchte, besser mal nach ihm zu sehen.“
„Wieso, was macht er denn?“
„Er, ähm ...“ Beide blickten ihn erwartungsvoll an, so dass er sich einen Ruck gab und offen erklärte: „Dein Kater begattet Nachbars Katze.“
„Er …?“ Eine Schrecksekunde. „Das kann er doch nicht machen!“ Aufgescheucht stürmte sie zu Severus. „Wo ist er?“
„Im Garten.“

Severus folgte Hermine zum Hintereingang. Der Kater und seine Auserwählte waren noch da – und weiterhin rege bei der Sache. Die weiße Katze ließ sich genüsslich in den Nacken beißen. Fellini blickte seinem Frauchen in die Augen, hielt dabei mit seinen Beckenbewegungen jedoch nicht inne, während er seine Unschuldsmiene aufsetzte.

„Herrje, die Weiße ist eine preisgekrönte, reinrassige Knieseldame!“ Sie seufzte, deutete auf Fellini. „Und er ist nur ...“
Severus unterbrach: „Er ist offensichtlich voll und ganz ihr Typ.“
„Aber“, Hermine fuhr sich mit einer Hand durchs Haar, „was soll ich jetzt machen? Ich werde Ärger bekommen. Der Besitzer von der Weißen wohnt vier Häuser weiter. Der wird sich über Nachwuchs von einem Mischling bestimmt nicht freuen.“
„Es ist unser Garten, Hermine. Deinen Kater trifft keine Schuld, sollte dieses Techtelmechtel Folgen haben.“
„Hast ja recht. Ich meinte aber, was soll ich jetzt machen?“ Entgeistert betrachtete Hermine die beiden koitierenden Miniatur-Raubkatzen.
Gelassen hob und senkte Severus einmal die Schultern und empfahl: „Ihn in Ruhe lassen.“ Er wandte sich bereits zum Gehen um. „Es ist immerhin sein erstes Mal“, fügte er amüsiert hinzu, bevor er sich ins Labor begab.

Hermine ließ Fellini seinen Spaß und folgte Severus nach innen. Er war erstaunt darüber, dass sie ihn mit einer Umarmung grüßte und sich dann aus dem Staub machte, um wieder im Verkaufsraum tätig zu werden. Eigentlich hatte er damit gerechnet, dass sie ihn wenigstens jetzt fragen würde, wie der Trank bei ihm wirkte. Er wusste, dass sie vor Neugierde fast platzte. Ihr Verhalten zeigte ihm, wie sehr sie ihn und seine persönlichen Angelegenheiten respektierte. Vielleicht würde er ihr im Laufe des Abends von seinen neu gelebten Erinnerungen erzählen.

Um 18 Uhr hatte Hermine die Apotheke geschlossen. Gegen halb zwölf war die Arbeit im Labor erledigt. Der zweite Trank war gebraut. Severus hätte bis zum Morgengrauen Zeit, ihn einzunehmen. Hermine ging nach oben und kam ihrer abendlichen Reinlichkeit nach. Sie schnappte sich danach den Becher mit dem zugeschraubten Deckel, die Flasche Franzbranntwein und auch ein Kästchen. Damit marschierte Hermine schnurstracks zu Severus' Zimmer und klopfte. Die Tür öffnete sich schnell. Severus war noch vollständig angekleidet, während die magischen Stickereien der Knieselbabys auf ihrem Pyjama übermütig Purzelbäume schlugen.

„Oh“, kommentierte Hermine den Status seiner Kleidung. „Ich dachte, du wärst schon bereit.“
Seine Stirn schlug Falten. „Bereit wofür?“
„Ich sagte doch gestern, dass ich heute deinen Arm genauer untersuchen möchte.“
Severus musterte sie von oben bis unten. Dem Gesamtbild war ein gewisser Unterhaltungswert nicht abzusprechen. „Es ist erst kurz nach Mitternacht.“
„Na ja“, druckste sie herum. „Ich dachte, du würdest heute wahrscheinlich früher schlafen gehen als sonst.“

Noch immer hatte sie ihn nicht wegen der Wirkung des Trankes angesprochen, doch sie machte deutlich, wie sie den Verlauf des Genesungsprozesses einschätzte. Sie war der Überzeugung, es würde ihn überanstrengen und müde machen.

„Ich habe noch keine Lust, mich schlafen zu legen“, erwiderte er gelassen, um ihr zu signalisieren, dass sie mit ihrer heilerischen Einschätzung falsch lag. Über ihre Fehleinschätzung freute sie sich, denn Hermine lächelte breit.
„Das ist gut“, beteuerte sie, wechselte das Thema von der Seele wieder zurück zur Gliedmaße. „Trotzdem möchte ich deinen Arm untersuchen. Ich möchte sehen, wie schnell die Nerven im neu gewachsenen Gewebe empfinden können.“ Sie hob die kleine Kiste mit ihm unbekannten Inhalt und schüttelte sie. „Das hier habe ich heute von einem Besuch bei meiner Mutter und ihrer besten Freundin mitgenommen.“
„Und was ist da drin?“ Eine Augenbraue wanderte fragend nach oben, bevor er die nicht ernst gemeinte Möglichkeit nannte: „Selbst gebackene Kekse mit einem absoluten Härtegrad von 120?“
Hermine traute ihren Ohren kaum, musste aber grinsen. „Ich höre wohl nicht recht? Ein absoluter Härtegrad von 120?“ Sie dachte einen Moment nach und fand ein Beispiel. „Das ist der Härtegrad von Quarz!“ Auch bei seinem einseitigen Lächeln blieb sie einigermaßen ernst. „Damit kann man Fensterscheiben einritzen.“
Seine Mundwinkel zuckten. „Das könnte man mit Keksen auch, wenn sie nur hart genug sind und du – das weiß ich – kannst diese Voraussetzung mühelos erfüllen.“
„Frechheit“, murmelte sie vorgetäuscht erbost. „Für diese Spitze backe ich dir zu Weihnachten ein Extra-Blech.“ Jetzt konnte sie ihre gute Laune nicht weiter verbergen und lachte drauf los, während sie es sich auf dem Sofa gemütlich machte. „Nein, es sind keine Kekse. Die Freundin meiner Mutter – eine ehemalige Kommilitonin – hat nach ihrem Studium ihr Spezialgebiet weiter verfolgt.“
„Welches wäre?“, fragte er nach.
„Neurologie. Hier drin“, sie klapperte mit dem Inhalt der Kiste, „befindet sich womöglich eine alt bewährte Heilmethode für die Taubheit in deinem Unterarm.“
„Ach ja? Um was handelt es sich?“ Severus nahm neben ihr Platz und blickte auf das Kästchen. Hermine öffnete es und zeigte ihm den Inhalt, vor dem Severus zurückwich. Es waren viele, einzeln vergepackte Nadeln mit bunten Plastiksteckköpfen. „Und was hast du damit vor?“
„Die Nervenbahnen anregen.“
Er fragte sich ernsthaft, wozu sie die Nadeln benötigte. „Wie soll das vonstatten gehen?“
„Das nennt sich Akupunktur, Severus. Damit kann man unter anderem neurologische Störungen beheben.“
„Du willst mich damit stechen?“, fragte er verdutzt nach.
„Das war der Sinn der Sache. Bei Behandlungen von Schlaganfallpatienten wird das häufig eingesetzt, wenn gewisse Taubheiten auftreten.“
„Nicht mit mir, Hermine. Ich bin der Überzeugung, dass sich der Arm allein regeneriert, sobald die Wunde vollständig verheilt ist.“
„Nein!“, widersprach sie. „Wir machen Akupunktur!“
„Warum bestehst du so darauf?“
„Weil“, sie nickte mit dem Kopf hin und her, „ich das heute über mich ergehen ließ. Ich hab es mir zeigen lassen. Sie hat mir vorgeführt, wie man sticht, an welchen Stellen und wie tief.“
Im ersten Moment blickte er sie irritiert an, bevor Schadenfreude über sein Gesicht huschte. „Du hast dir deinen Arm behandeln lassen, damit du es lernst?“
„Beide ...“, murmelte sie.
„Entschuldige, das habe ich nicht verstanden.“
Sie grinste. „Beide Arme.“ Hermine zog die Ärmel des Schlafanzugs hoch, weshalb einige der gestickten Kniesel auf dem Rücken Schutz suchten. Man sah an ihren Unterarmen nur noch undeutlich leicht errötete Stellen. „Hier waren die Nadeln drin. Man sieht nicht mal mehr alle Einstiche.“
„Können wir die Nadeln bitte auf morgen verschieben?“, fragte er hoffnungsvoll nach. Weil sie enttäuscht wirkte, schlug er vor: „Ich rechnete heute mit der gestrigen Behandlung.“
Hermine spitzte die Ohren. „Hat es denn gut getan?“
„Ja, er wurde heiß und kalt, fing nach etwa dreißig Minuten an zu kribbeln.“
„Kribbeln ist fantastisch!“, bestätigte sie voller Begeisterung. Bei ihr kribbelte es momentan auch, nur an anderen Stellen. „Ich sagte ja, es sorgt für eine gute Durchblutung. Dann machen wir nochmal das, wenn es hilft.“ Die Kiste stellte sie auf den Tisch, griff stattdessen zum Franzbranntwein.

Verfasst: 17.09.2012 11:12
von Muggelchen
Rest von Kapitel 211

Severus legte seinen Gehrock ab und öffnete die Knöpfe am Ärmel seines Hemdes. Er legte den Arm frei und setzte sich wieder neben sie. Hermine untersuchte seinen Arm zuerst gründlich. Die Wunde, die das dunkle Mal mit seinem Brand für eine Erneuerung vorbereitet hatte, war mit keinem medizinischen Fall vergleichbar. Phönixtränen schrieb man außergewöhnliche Heilkräfte zu, doch noch nie war bekannt geworden, wie sie bei großen Wunden wirkten. Konnten die Phönixtränen das Gewebe nicht nur nachwachsen lassen, sondern tatsächlich auch die feinen Nervenbahnen wieder korrekt miteinander verbinden? Es gab keine Berichte darüber, was auch der Grund für Hermines Befürchtung war, der Arm könnte gefühlsarm bleiben. Ihre Diagnosesprüche brachten keinerlei Erkenntnisse. Alles schien normal zu sein. Vielleicht mussten die neuen Nervenbahnen wirklich nur leicht stimuliert werden, zum Beispiel mit Wechselduschen des Unterarms oder eben mit einer einfachen Massage.

Den Zauberstab legte Hermine auf den Tisch, bevor sie zum Franzbranntwein griff. Der strenge Geruch von Kampfer trat aus und wurde noch intensiver, als sie die Flüssigkeit in den Händen warm rieb. Es brannte ein wenig in den Augen. Gleich darauf fühlte er die belebende Wirkung an seinem Unterarm, in den Hermine das Heilmittel einrieb.

„Ich hab mir Gedanken gemacht, Severus.“ Jetzt war der Moment gekommen, wo sie fragen würde, vermutete er, und er ließ sie sprechen. „Über den Wolfsbanntrank.“ Sie bemerkte, wie er stutzte. „Es sind jeden Monat so viele Anmeldungen bei uns, dass ich annehmen muss, ganz Schottland fliegt hier ein, nur um bei uns den Trank einzunehmen.“
„War es nicht das, was du wolltest?“
Sie blickte auf. „Nein, ich wollte den Trank für die Werwölfe nur angenehmer gestalten. Ich habe die Originalrezeptur mehrmals vor der Nase gehabt, und von Remus weiß ich aus erster Hand, wie grauenvoll dieser Trank schmeckt, wie er den Magen aufwühlt. Das hat mir leid getan. Ich wollte es ändern.“
„Dann war es also reine Herzensgüte?“, scherzte er.
„Na ja, ein bisschen verdienen wollte ich schon daran, aber wenn die uns weiterhin die Türen einrennen, werden wir uns bald auf den Wolfsbanntrank spezialisieren müssen und so eine berufliche Einschränkung lasse ich nicht zu.“ Sie ergriff seine Hand und massierte den Ballen mit kreisenden Bewegungen. „Deshalb dachte ich, wir könnten vielleicht Lizenzen verkaufen. Jeder, der nach meinem Rezept brauen will, muss mir eine kleine Gebühr zahlen. Nicht viel, nur ein paar Sickel pro Kunde. Die Gewinnspanne ist sowieso vom Ministerium vorbestimmt. Man bekommt nur elf Galleonen. Ein paar Sickel davon genügen mir völlig. Dann würde sich die Kundschaft auch wieder besser auf die Apotheken und Tränkemeister verteilen.“ Ihre Finger strichen sanft über seine, obwohl der Franzbranntwein längst verflogen war.
„So ähnlich“, begann er mit vom erfrischenden Effekt des Kampfers ganz rauer Stimme, „ habe ich es mir mit dem Bluttrank vorgestellt. Er wird sich sicherlich, wie auch der Wolfsbanntrank, einer politischen Regel unterordnen müssen, aber er wird nichtsdestotrotz für viel Wirbel bei den Tränkemeistern sorgen.“
„Stimmt. Es ist eine großartige Erfindung von dir, aber sie wird dich nicht reich machen. Belby hatte auch nur jede Menge Ruhm geerntet, weil seine Erfindung zum Wohle der Gesellschaft war.“
„Ruhm öffnet einem Türen, Hermine. Belby profitierte sein gesamtes Leben lang von seinem bekannten Namen.“
„Ah, ich verstehe“, sie tätschelte seine Hand, „du willst dir also erst einen Namen machen.“
„Natürlich! Wenn wir beide mit außergewöhnlichen Arbeiten Aufmerksamkeit auf uns ziehen, dann wird unser Geschäft explodieren. Du hast bereits mit dem Vanillegeschmack für Aufsehen gesorgt. So etwas muss man erst einmal erreichen.“
„Luna meinte damals schon, ich sollte mit meinen Stimmungsaufhellern an den Markt gehen. Sie hätten allen wunderbar geholfen.“
Severus ließ seine Finger kneten, während er sagte: „Die werden wir auch noch erfolgreich vermarkten sowie deinen Farbtrank und später vielleicht sogar den Trank“, er blickte zu dem Becher mit dem Heiltrank, „den du für mich braust. Vielleicht kann man damit tatsächlich Menschen behandeln, die von einem Dementor geküsst wurden.“
Hermine blickte neugierig auf. „Dann heißt das, er wirkt bei dir?“, flüsterte sie ehrfürchtig.
Trotz der Erleichterung darüber, dass sie endlich gefragt hatte, fiel seine Antwort minimal aus, denn er erwiderte lediglich: „Bestens!“
„Das freut mich, Severus. Ich habe schon Angst gehabt, etwas könnte schiefgegangen sein und dass alles umsonst gewesen wäre. Gibt es auch keine unangenehmen Nebenwirkungen?“
Severus betrachtete verzückt, wie seine Hand von den ihren umfasst wurde. „Nebenwirkungen nicht im eigentlichen Sinne. Ich ...“ Er hatte das Bedürfnis, offen zu sprechen. „Meine Gedanken schweifen. Manchmal bemerke ich es nicht einmal. Ich bin unkonzentriert.“
Sie drückte seine Hand und scherzte: „Dann solltest du bis zum Ende der Einnahme besser keine Tränke mehr brauen. Wir wollen doch keinen Brauunfall provozieren.“

Eine Viertelstunde lang hatte sie seinen Arm gestreichelt, massiert und geknetet. Der Franzbranntwein sollte besser nicht in die Augen kommen, deswegen entschloss sich Hermine, sich die Hände zu waschen. Zu Severus' Erstaunen kam sie danach zurück in sein Zimmer und setzte sich wieder auf die Couch.

„Ich werde Draco fragen, wie ich das am besten anstellen kann“, sagte Hermine entschlossen.
„Von was redest du jetzt wieder?“ Ihren Gedankengängen konnte er wegen der kleinen Pause nicht mehr folgen, bat daher um Aufklärung.
„Wegen der Lizenzsache mit dem Wolfsbanntrank. Draco verdient sich doch mit solchen Dienstleistungen was hinzu, nicht wahr? Er hilft bei finanziellen Fragen, berät einen und verlangt einen kleinen Obulus für seine cleveren Ideen, wie man aus Geld und Geschäft noch mehr macht.“
„Ja, Draco macht eine Menge. Pass auf, sonst möchte er noch in unser Geschäft einsteigen. Sein kleines Imperium beinhaltet mittlerweile die breite Palette von wirtschaftlicher Beratung, finanzieller Unterstützung für Jungunternehmer und die gewinnbringende Beteiligung an anderen Firmen.“ Ungefragt suchten seine Gedanken wieder nach Assoziationen zu vergangenem Momenten. „Er ist wie sein Vater.“
„Wer? Draco?“
Severus lächelte. „Ja. Der gleiche Schlag Mensch.“
Schnaufend bemerkte Hermine: „Draco mag ich aber viel lieber als seinen Herrn Papa.“
„Geld hat den Malfoys stets viel bedeutet. Sie wussten schon immer, wie sie ihr Vermögen vergrößern können.“ Severus war von diese scheinbar vererbte Eigenschaft beeindruckt. „Draco hat allerdings zusätzlich den Weg der Uneigennützigkeit eingeschlagen. Das hat seinen Vater nie interessiert.“
„Das interessiert ihn auch heute nicht.“ Hermine zuckte mit den Schultern. „Na ja, ich werde mal mit Draco drüber reden. Womöglich findet sich am Samstag eine freie Minute.“
Severus stutzte. „Samstag?“
„Jaaa“, erwiderte sie lang gezogen. Er hatte es nicht vergessen, aber er kam im Moment nicht drauf. Mit einem Schmunzeln half sie ihm auf die Sprünge. „Du weißt schon, die Hochzeit von Harry und Ginny. Dafür haben wir uns doch die neue Garderobe gekauft.“
„Ah, natürlich.“
„Die Portschlüssel sind heute übrigens gekommen. Es kommen Samstag früh noch ein paar Leute zu uns.“
„Was denn für Leute?“, fragte er irritiert nach.
„Das ist ein Sammelportschlüssel. Der wird erst aktiv, wenn alle Personen ihn berühren, für die er gemacht wurde. Wir benutzen ihn mit fünf anderen Personen: Fred, George, Verity, Remus und Tonks.“
„Hoffen wir, es wird keiner krank, sonst ist der Portschlüssel nicht mal mehr so viel wert wie der alte Schuh, aus dem man ihn gemacht hat.“ Severus gönnte sich ein halbseitiges Lächeln. „Gehe ich dann Recht in der Annahme, dass George Weasley noch ungebunden ist? Denn soweit ich weiß, ist die junge Dame namens Verity seit einigen Jahren die Lebensgefährtin seines Zwillingsbruders.“
„Wow!“, machte Hermine erstaunt. „Das nenne ich Beobachtungsgabe. Aber du hast Recht. George kommt allein, weil er niemanden hat, den er mitbringen möchte.“ Sie grinste. „Er hätte eine Freundin fragen können, er kennt ja genug Leute. Den Gefallen hätten ihm einige gemacht, aber er wollte nicht nur mit einem Gefallen am Arm auf der Hochzeit aufkreuzen. Nicht dass noch jemand falsche Schlüsse zieht. Er ist Single und das sollen die anderen ruhig wissen. Er braucht keine Pseudo-Freundin zum Vorzeigen.“
Severus nickte zustimmend. „Diese Ansicht teile ich.“

Im ersten Moment rutschte ihr das Herz in die Hose, als sie Severus' Kommentar vernahm. Schon einige Male hatte sie ihn gebeten, sie auf eine Feier zu begleiten und jedes Mal hatte er zugesagt, wenn manchmal auch nur mit Ach und Krach. Wollte er ihr jetzt durch die Blume sagen, dass Schluss damit war? Dass sie Feiern in Zukunft nur noch getrennt besuchen würden, damit die Freunde keinen falschen Eindruck bekommen? Remus war längst der Meinung, Severus und sie wären zusammen. Selbst ihre Eltern ahnten, dass Severus mehr als nur ein Geschäftspartner für sie war, sonst hätte ihr Vater ihm nicht so zweideutige Fragen gestellt. Manch einer ging bereits fest davon aus, dass Severus und sie liiert wären. Viktor beispielsweise wollte während ihrer letzten Unterhaltung gar nicht wissen, ob, sondern wie lange sie schon zusammen waren. Aber nein, dachte Hermine, sie waren nicht nur nach außen hin ein Paar. Sie empfand zu viel, als dass es nur Freundschaft sein könnte. Ihm ging es nicht anders, aber er konnte es vielleicht nicht genau beurteilen. Möglicherweise verwirrten ihn die ganzen Erinnerungen, die plötzlich mit Gefühlen verbunden waren. Sie hoffte nicht, dass er sich erst jetzt über seine wahren Emotionen klar wurde und in Hermine höchstens eine Freundin sah. Hermine wusste, sie war mehr als das.

„Das heißt dann, wir schlagen am Samstag wie üblich Hand an Hand auf der Hochzeit auf?“ Damit hatte sie eindeutig offenbart, dass sie für viel mehr in ihrer Beziehung bereit war. Sie wollte sich offen eingestehen, dass sie nicht mehr nur aufgrund von Gerüchten ein Paar darstellten, sondern aus freien Stücken. Lange blickte Severus ihr in die Augen. Er ließ sich Zeit, weil von seiner Antwort so viel abhing. Am Ende kam er gar nicht dazu, etwas zu sagen. Seine Geste sprach stattdessen Bände, als er seine Hand an ihre Wange legte und sie mit dem Daumen streichelte. Hermine freute sich über diese positive Äußerung, die mehr sagte als tausend Worte. Sie legte ihre Hand über seine. „Ich bin müde. Ich leg mich hin.“
Weil sie nicht zur Tür ging, sondern sie sich seinem Bett näherte, fragte verdutzt: „Hier?“
Gelassen drehte sie sich um. „Ich dachte, wir könnten wie gestern … Na ja, nebeneinander eben. Nur für den Fall, dass etwas Unerwartetes passiert.“ Seine leicht gehobene Augenbraue nannte sie schelmisch eine Lügnerin, was sie nicht auf sich sitzen lassen wollte. „Wenn du nicht möchtest, dann gehe ich zu mir rüber.“
Severus verneinte wortlos, nickte zum Bett hinüber und scherzte: „Nur zu, ich zähle auf deine ausgeprägte Tugendhaftigkeit.“
Ein Grinsen konnte sie sich nicht verkneifen, als sie schäkerte: „Vertrau mir in dieser Angelegenheit nicht einfach blind, Severus.“
„Das tu ich nicht. Ich weiß sehr genau, wie ich deine Worte deuten darf und darüber bin ich froh.“

Severus nahm den Heiltrank ein, den Hermine auf dem Tisch abgestellt hatte. Gleich darauf ging er ins Badezimmer, während Hermine „ihre Seite“ des Bettes bestieg. Sie war aufgeregt. Ihr Herz pochte hinauf bis zur Kehle. Einen genauen Grund dafür gab es nicht. Es würde eine ganz normale Nacht werden, genau wie gestern. Vielleicht war die knappe Bestätigung seinerseits, dass auch er dazu bereit war, die Beziehung vor der Öffentlichkeit nicht weiter zu verheimlichen, die Ursache für die Schmetterlinge im Bauch. Einige Freunde würden sicherlich aus allen Wolken fallen, wie Ron oder Angelina. Harry wäre im ersten Moment vielleicht ein wenig überrascht, würde sich damit aber schnell mit der neuen Situation abfinden. Remus und Luna würden ihnen beiden dazu gratulieren, dass sie endlich selbst dahinter gekommen waren, und Neville war auch nicht blind. Leute wie Takeda hingegen würde so eine Bekanntmachung nicht ein bisschen überraschen. Fast alle Gäste der Körperschaft hatten Hermine und Severus als Paar wahrgenommen.

Als Severus ins Bett kam, war Hermine noch immer hellwach. Nach Schlafen war ihr offenbar noch nicht, denn sobald er sich neben sie gelegt das Licht gelöscht hatte, grüßte sie ihn mit dem Beginn einer neuen Unterhaltung.

„Severus, meinst du, wir können uns später auf geschäftlicher Basis mit Neville einigen? Ich möchte gern Zutaten von ihm kaufen, wenn er mit seiner Ausbildung fertig ist und sich selbstständig macht. Bei ihm weiß ich hundertprozentig, dass er mit Herz bei der Sache ist und die Pflanzen Qualität haben werden.“
„Warum nicht? Auf diese Weise wird auch er von einer Zusammenarbeit profitieren. Wenn herauskommt, dass wir uns exklusiv von ihm beliefern lassen, werden auch andere seine Produkte zu schätzen wissen. Und später, wenn sich alles ein wenig gelegt hat ...“ Er nannte Beispiele. „Wenn wir nicht mehr bei Vollmond überfüllt sind, wenn wir genug Geld verdienen, dann kümmern wir uns um weitere Forschungsprojekte.“ Ein zufriedenes Seufzen entwicht ihm, als er sich die Zukunft so lebhaft und ganz nach seinen Wünschen ausmalte. „Wir könnten zum Beispiel studieren, was für Erinnerungen der verstorbene Alchimist zurückgelassen hat.“
„Was für ein …?“ Es dämmerte ihr. „Ah, die Erinnerungen, die Harry uns geschenkt hat. Wie kommst du jetzt auf die?“
„Bevor ich mit dem Stein der Weisen gearbeitet habe, habe ich einen Blick in jede einzelne Erinnerung geworfen. Es gibt eine Menge guter Denkansätze, die mit unserem vereinten Wissen bestimmt vervollständigt werden könnten.“
Hermine war still geworden, als wäre sie – wie Severus – an eine besondere Erinnerung geraten, die sie vollkommen einnehmen wollte. Unerwartet flüsterte sie: „Ich frage mich, was er damit vor hat.“
„Wer hat mit was etwas vor?“
„Ich meine Harry mit dem Elixier. Warum wollte er es? Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken.“
Sie hörte Severus belustigt schnaufen. „Solche Übermächtigkeiten wie das Elixier des Lebens kann man getrost in Harrys Hände legen. Auch eine orientalische Öllampe, die einen Dschinn beherbergt und somit unvorstellbare Macht verleiht, ist bei ihm genauso sicher wie wertvolle Schätze. Harry kann nicht verführt werden“, behauptete Severus.
„Ginny ist da aber anderer Meinung“, konterte Hermine kichernd.
„Du weißt, was ich meine. Die Dunklen Künste beißen sich an ihm die Zähne aus. Harry kann nicht von der schwarzen Magie verführt werden.“
„Und deswegen ist es dir egal, was er damit anstellt, weil du weißt, dass Harry ein guter Mensch ist.“
„Das ist ...“ Ihren Satz nahm er in Gedanken auseinander. „Das hört sich an wie ein Zitat aus einem billigen Groschenroman, aber ja, im Prinzip ist es so. Ich befürchte nicht, dass Harry Unfug damit anstellt. Hätte ich auch nur geringste Zweifel gehabt, hätte ich ihm diese Bitte abgeschlagen.“
„Du vertraust ihm“, brachte sie es auf den Punkt.
„Es ist an der Zeit ...“, er stockte. „Nach all den Jahren kann ich ihm ein wenig von dem Vertrauen zurückgeben, das er mir entgegengebracht hat.“

Unerwartet rutschte Hermine an ihn heran. Ihre Finger suchten nach seiner Hand. Sie ergriff seine linke und zog sie in die Mitte des Bettes. Ihre Beine berührten versehentlich seinen Oberschenkel.

„So viel zu deiner Tugendhaftigkeit“, scherzte er mit vorgespielt enttäuschter Stimme.
Sie verharmloste ihr Verhalten. „Ach, ich wollte doch nur sehen, wie es dem Arm geht. Spürst du was?“
Ihre Fingerspitzen strichen über die Oberseite des Unterarms. Gänsehaut formte sich, die sogar Hermine fühlen konnte. „Ja“, hauchte er als Antwort. „Ich sagte doch, es ist nicht immer taub. Deine Behandlung wirkt Wunder.“
Er sah ihre Zähne im Mondlicht glänzen, was ihm vor Augen hielt, dass sie breit lächeln musste. „Ich bin froh, dass ich helfen konnte.“ Sie drückte seine Hand und schloss die Augen.

Vor dem Einschlafen dachte Hermine über ihre Zukunft nach. An ihre Arbeit als Tränkemeisterin und ihr Leben mit Severus. Ihm kamen die gleichen Gedanken. Doch nicht nur Hermine und Severus waren in der stillen Zeit des Übergangs vom Wachen zum Schlafen mit Wunschträumen beschäftigt.

Harry und Ginny teilten den Wunsch nach einem erfüllten Leben. Einer sportlichen Karriere bei Eintracht Pfützensee schien nichts mehr im Weg zu stehen. Ginny würde an der Seite ihres Bruders Quidditch spielen. Harry hingegen war noch uneins mit sich selbst. Er liebte Hogwarts. Es war sein Zuhause, aber alle Kinder werden einmal flügge – auch er. Die Kataloge der Immobilienmakler machten Lust auf mehr. Ein Haus mit einem Wassergrundstück war Harry ins Auge gefallen. Das Gebäude selbst war extrem renovierungsbedürftig, weshalb es seit Jahren leer stand. Nach der Hochzeit, das nahm er sich fest vor, würde er mit Ginny über ein eigenes Haus sprechen und über seine Idee, mit ganz jungen Kindern arbeiten zu wollen.

In dieser Nacht hatte sich Maries Wunschtraum, eine Anstellung im Gorsemoor-Sanatorium zu bekommen, in einen Alptraum verwandelt. Sie träumte von einem grauenvoll verlaufenden Vorstellungsgespräch mit vielen Patzern. Nacheinander waren ihr Fehler unterlaufen, Tollpatschigkeiten und böse Versprecher.

Nicht schweißgebadet, dafür aber mit rasendem Puls wachte Marie auf. Dies war einer von den Tagen, bei denen man von Anfang an ein schlechtes Gefühl hatte. Es würde sie nicht wundern, wenn die Toilettenspülung heute ihren Geist aufgeben würde oder ein Vogel im Vorbeiflug sein Geschäft auf ihrem Kopf verrichten würde. Marie hatte ein ganz schlechtes Gefühl für heute. Trotzdem machte sie sich fertig, um bei Mrs. Gorsemoor vorzusprechen.

Umrandet von Mischwäldern war das magische Sanatorium vor neugierigen Blicken gut geschützt. Muggelabwehrzauber taten ihr Übriges. Marie hatte die Apparation gewählt, damit ihr Albtraum nicht wahr werden und sie unbeholfen aus dem Kamin stolpern würde. Die Umgebung war ein Traum. Ein Sanatorium im Grünen. Das Gebäude war gut in Schuss, auch wenn hier und da etwas ausgebessert werden könnte. Am Empfang begrüßte man sie herzlich und erklärte ihr den Weg zum Büro der Leiterin. Auf ihrem Weg traf Marie bereits auf Professoren, Auszubildende und Patienten und jeder hatte ein Lächeln für sie übrig.

„Mrs. Amabilis?“, fragte plötzlich eine Frauenstimme, als Marie gerade an die Bürotür klopfen wollte.
Marie drehte sich um. Das Gesicht der Leiterin Adina von Gorsemoor war schon einige Male durch die Presse gegangen. „Miss“, verbesserte Marie freundlich und hielt ihr Hand entgegen, die gleich ergriffen wurde.
„Treten Sie doch bitte ein.“ Im Büro bot Mrs. Gorsemoor ihr einen Stuhl an. „Die Bewerbungsunterlagen, die Sie mir zukommen ließen, habe ich mit Interesse gelesen. Was mich jedoch wundert ist das fehlende Abschlusszeugnis vom Mungos. Dort waren sie immerhin die längste Zeit beschäftigt.“
Verlegen strich sich Marie mit einer Handfläche über ihren Arm. „Das liegt daran, dass Professor Puddle mir trotz mehrmaliger Aufforderung noch keines ausgestellt hat.“
„Hat er nicht?“ Marie schüttelte beschämt den Kopf, weshalb Mrs. Gorsemoor nachhakte. „Hatten Sie Probleme mit ihm?“
Das war eine Fangfrage, wusste Marie. Man sollte niemals über seinen vorherigen Arbeitgeber schlecht sprechen. „Es gab am Ende eine kleine Auseinandersetzung.“
„Eine kleine?“, fragte die abgebrühte, dennoch elegante Sanatoriumsleiterin nach. „Ich kenne Professor Puddle. Er ist in der Regel ein zuversichtlicher Mann.“
„Ich habe mich wohl unbeliebt gemacht.“ Maries Albtraum wollte sich offenbar für dieses Vorstellungsgespräch manifestieren. Es lief schlecht.
„Erzählen Sie mir ein wenig über sich, Miss Amabilis.“

Erleichtert darüber, dass sie nicht über Professor Puddle sprechen musste, erzählte Marie von ihrer Arbeit, von ihren Vorlieben und Fähigkeiten und natürlich von ihrem Traum, die Heilerausbildung zu bestehen. Sie beeindruckte mit ihrem Fachwissen, das sie sich durch entsprechende Literatur selbst angeeignet hatte.

„Darf ich fragen“, begann Mrs. Gorsemoor vorsichtig, „wie Ihr Verhältnis zu Mr. Malfoy ist?“
„Lucius Malfoy?“, fragte Marie nach. Nachdem ihr Gegenüber genickt hatte, fuhr sie fort: „Er war für etwa ein Jahr mein Patient.“
Diese Antwort stellte Mrs. Gorsemoor nicht zufrieden. „Inwiefern hat sich diese Beziehung gefestigt?“
Marie wusste nicht, was die potenzielle Arbeitgeberin hören wollte und erwiderte daher: „Wir hatten unsere Höhen und Tiefen. Es war nicht immer leicht mit ihm.“
„Ich meinte eher ...“ Mrs. Gorsemoor verbat sich selbst den Mund, womit sie unbewusst Maries Neugierde weckte.
„Mrs. Gorsemoor? Fragen Sie mich einfach! Frei von der Leber weg“, ermutigte Marie die Frau.
„Gut, ich will ehrlich sein: Sind Sie Mr. Malfoys Geliebte?“
„Was?“ Marie riss die Augen weit auf, begann dann zu lachen. „Bei Merlin, nein! Er ist überhaupt nicht mein Typ. Außerdem“, ein flüchtiger Gedanke an Sid, „habe ich einen Freund.“
Mrs. Gorsemoor fiel sichtlich ein Stein vom Herzen. „Das beruhigt mich ungemein. Wissen Sie, wir hatten hier schon während des Krieges Probleme mit Intrigen und Machtspielchen und ich möchte verhindern, dass das wieder anfängt.“ Mit einem Blick wollte Mrs. Gorsemoor versichern, dass ihre Frage nicht böse gemeint war. „Dann will Mr. Malfoy Ihnen aus reiner Dankbarkeit die Ausbildung finanzieren?“
Marie hob und senkte die Schultern. „Es hörte sich so an, als ich neulich beim Abendessen mit seiner Familie zusammen war. Ich glaube, er fühlt sich mir gegenüber verpflichtet.“
„Nun, solang Mr. Malfoy mir nicht in meine Geschäftsführung reinreden möchte, ist mir herzlich egal, wer hier wem unter die Arme greift.“ Deutlich konnte man heraushören, dass Mrs. Gorsemoor wenig von den Malfoys hielt. „Das bringt mich auf einen anderen Punkt, den ich ansprechen möchte. Wir bieten nämlich für unsere Mitarbeiter Behandlungsmöglichkeiten an. Wie sieht es mit magischen Erbschäden in Ihrer Familie aus?“
„Erbschäden? Wir haben nie welche gehabt. Ich dachte eigentlich, nur Reinblüter könnten damit Probleme bekomme.“
Mrs. Gorsemoor stutzte. „Ja, sind Sie denn nicht reinblütig?“
„Nein, Madam.“ Irgendetwas arbeitete im Kopf von Adina von Gorsemoor, so dass sich Marie nicht verkneifen konnte, sarkastisch anzumerken: „Ich habe nicht gewusst, dass das eine Voraussetzung für den Job wäre.“
„Was?“ Adina war aus ihren Gedanken gerissen. „Oh, nein! Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Dann sind Sie halbblütig oder muggelgeboren?“
„Halbblütig“, erwiderte Marie knapp. Wenn es darauf hinausgehen sollte, dass man viel Wert auf Reinblütigkeit legen würde, wollte Marie hier nicht arbeiten. „Warum haben Sie angenommen, ich wäre reinblütig?“
„Weil … Na ja, Mr. Malfoy tritt als Ihr Gönner in Erscheinung. Ich hätte nie gedacht ...“ Ein leichtes Zögern. „Weiß Mr. Malfoy das?“
„Dass ich halbblütig bin? Ja, das weiß er. Das war einer der Momente, den ich als 'Tief' bezeichnen möchte. Es war ein sehr angespannter Augenblick gewesen, als ich es ihm offenbarte. Er hatte nicht geahnt, dass meine Mutter ein Muggel ist.“ Plötzlich konnte Marie dem Gedankengang von Mrs. Gorsemoor folgen. „Oh, Sie dachten, ich wäre reinblütig, weil Mr. Malfoy für seine rassistische Einstellung bekannt ist.“
„So in etwa, ja. Seine Ansichten sind bekannt, daher bin ich überrascht, dass er Sie unterstützt, Miss Amabilis.“ Murmelnd fügte sie hinzu: „So kann man sich in einem Menschen täuschen.“ Ein paar Pergamente aus den Bewerbungsunterlagen wurden überflogen. „Also, warum sagten Sie hatte Professor Puddle Ihnen noch kein Zeugnis ausgestellt.“
Innerlich stöhnte Marie auf. „Er hasst mich.“ Das war deutlich, dachte sie. So deutlich, dass Mrs. Gorsemoor die Neugier ins Gesicht geschrieben stand. „Ich gebe zu: Ich habe meine Kompetenzen überschritten und Heilmittel bei einem Patienten angewandt, die ich nicht hätte benutzen dürfen.“
Mrs. Gorsemoor lehnte sich zurück und machte sich für eine längere Geschichte bereit, die sie liebend gern hören wollte. „Fahren Sie fort.“
„Mr. Malfoy war gerade bei mir als … Sie haben bestimmt davon gehört, dass die Todesser ein, ähm, kleines Problem mit dem Mal von Voldemort hatten.“ Mrs. Gorsemoor nickte, also erzählte Marie weiter: „Er war gerade bei mir, als es passierte. Es war nicht zu übersehen, dass die Wunde tödlich sein würde, sollte man sie nicht umgehend behandeln und da griff ich zur Murtlap-Essenz und anschließend zu den Phönixtränen und probierte deren Wirkung an der Wunde aus.“
„Dann stammt diese Behandlungsmethode von Ihnen?“ Marie nickte bescheiden. „Hut ab, Mrs. Amabilis! Auch in meinem Haus gab es zwei Fälle. Ohne die Information aus dem Mungos hätte ich die beiden nicht retten können. Es klang allerdings so, als wäre es Professor Puddles Idee gewesen.“
Angewidert verzog Marie den Mund. „Das sieht ihm ähnlich. Ach, was soll's. Ich habe mit ihm nichts mehr zu tun. Er hat mich dafür bestraft, mich als Heilerin aufgespielt zu haben. In seiner Beurteilung über mein Handeln hat er nicht mit einbezogen, dass ich damit das Leben eines Patienten retten konnte.“
„Mit der Einstellung, dass das Leben eines Patienten gewichtiger ist als die eigene Karriere, passen Sie hier wunderbar rein, Miss Amabilis.“ Ein freundliches Lächeln folgte den netten Worten. „Welches Gebiet interessiert Sie besonders? Zaubertränke, Kräuterkunde?“
Lange musste Marie nicht überlegen. „Fluchschäden! Damit habe ich mich schon als Kind beschäftigt. War immer ein Steckenpferd von mir.“
„Sie wissen, dass Sie neben Ihrer Ausbildung als Heilerin auch gleichzeitig eine der Fachrichtungen studieren können?“
„Das kostet aber extra, oder?“, fragte Marie unsicher nach.
Mrs. Gorsemoor zuckte gelassen mit den Schultern und grinste. „Solange Mr. Malfoy dafür aufkommt, müssen Sie sich doch keine Gedanken machen.“ Die Direktorin des Sanatoriums reichte einige Pergamente an Marie weiter. „Ihr Vertrag. Lesen Sie ihn in Ruhe. Ich hoffe auf eine Zusammenarbeit.“
Irritiert über die fast schon schnelle Zusage wollte Marie wissen: „Und das, obwohl ich vom Mungos noch kein Zeugnis habe?“
„Ich sagte doch bereits, dass ich Professor Puddle kenne.“ Adina zwinkerte Marie zu. „Er ist zuverlässig, wie ich schon sagte, aber er ist auch ein arroganter Volldepp.“

Die beiden Damen lachten. Es stellte sich heraus, dass Mrs. Gorsemoor mit Professor Puddle zusammen in Hogwarts war. Sie kannte seinen launischen Charakter, der meist zum Fiesling tendierte. Es folgte ein angenehmer Plausch über Merlin und die Welt. Der Albtraum hatte sich für Marie zum Glück nicht bewahrheitet. Mit dem Vertrag in der Hand, den sie nur noch unterzeichnen musste, machte sie sich auf den Weg zu Sid, mit dem sie zum Mittagessen verabredet war. Ihm lag viel daran, den Vertrag zu lesen, bevor sie ihn unterschreiben würde. Diesmal besuchte er sie in ihrer Wohnung in der Winkelgasse.

In der Seitenstraße neben Flourish und Blotts lag nicht weit entfernt das Gasthaus „Der Gehängte“. Die Nokturngasse war schon eine üble Gegend, stellte aber lediglich die Verbindungsstraße zu noch viel zwielichtigeren Gegenden dar. Foggs Ziel war das Gasthaus. Er kam gerade vom Werwolf-Unterstützungsamt, bei dem er sich informiert hatte, ob sich ein Zaubertränkemeister weigern darf, den Wolfsbanntrank an einen bestimmten Kunden zu verkaufen. Die Antwort war nicht eindeutig, ließ aber subtil verlauten, dass sich ein Tränkemeister strafbar machen würde, sollte er in Notfällen einem Werwolf den Trank verweigern. Das wäre eine mutwillige Gefährdung der Öffentlichkeit und würde mit dem Entzug der Tränkemeisterlizenz und einer saftigen Geldstrafe enden. Das bedeutete wiederum, dass die Granger-Apotheke ihn nicht abweisen dürfte, selbst wenn ihm gegenüber ein Hausverbot ausgesprochen worden war – und das hatte Miss Granger getan, dachte Fogg. Es lag ihm fern, den Wolfsbanntrank von ihr zu erzwingen, aber für den Fall, dass er in der Gegend keinen anderen Tränkemeister finden würde, hielt er sich diese Option offen. Die Neuigkeit wollte er unbedingt Stringer mitteilen, doch der war sehr wahrscheinlich noch im Mungos. Erst gestern hatte sein übel riechender Freund wegen des Fluchs eine Voruntersuchung über sich ergehen lassen. Heute wollte man bereits mit der Behandlung beginne. Fogg konnte sich gar nicht vorstellen, wie es in Zukunft sein würde, wenn Stringer mal nicht diesen ätzenden Buttersäuregeruch verströmte.

Zum Mittagessen hatte Fogg zwei gebratene halbe Hähnchen besorgt – wohl bemerkt gekauft und nicht gestohlen. Bis zur Rückkehr seines Freundes würde er sie mit einem Zauber warmhalten. Einer der wenigen Sprüche, die er von seiner Gattin gelernt hatte. Seine Frau nebst der Schwiegereltern würde er, sobald die neuen Gesetze in Kraft treten, aus seinem Haus werfen. Es gehörte ihm. Es war sein Vermögen, das die Familie ihm gestohlen hatte, nur weil er unter dem Fluch litt. Die Gesichter der drei konnte er sich gut vorstellen. Alle drei wären schockiert über seine unerwartete Herzlosigkeit. Die sollten sich an die eigene Nase fassen, dachte Fogg wütend, als er die Tür des gemieteten Zimmers öffnete.

Frische Luft wehte ihm entgegen, was dank seines verfluchten Freundes Seltenheitswert besaß, besonders wenn die Fenster geschlossen waren. Die Informationsbroschüren des Werwolf-Unterstützungsamtes legte er zunächst auf den kleinen Tisch neben der Tür ab, damit er sich den Umhang ausziehen konnte. Die Wartezeit im Ministerium war lang gewesen, der Weg zu einer Toilette noch länger, so dass er seine Blase an ihre Grenzen brachte, denn die Wartenummer wollte er auf keinen Fall verlieren. Die eigene Toilette war sein nächster Halt. Zielstrebig eile er zur Badezimmertür und riss sie auf, nur um wie angewurzelt im Türrahmen stehenzubleiben und auf Stringer zu blicken. Der hatte es sich mit der neusten Ausgabe des Tagespropheten auf der Toilettenschüssel gemütlich gemacht, um erst die reißerischen Artikel zu lesen, bevor er die Journalisten dieses Revolverblattes auf seine ganz eigentümliche Art und Weise ehrte: Er riss ein großes Stück schriftstellerischer Tätigkeit ab und wischte sich damit den Allerwertesten.

„Das kann hier noch einen Moment dauern“, versuchte Stringer so gelassen wie nur möglich zu vermitteln. Peinliche Situationen wie diese waren der Tod jeder Kommunikation – und vor allem jeder Coolness.
„Tut mir echt leid.“ Verlegen blickte Fogg auf die abgeplatzten Fliesen am Boden. „Ich habe nicht gewusst, dass du schon zurück bist.“ Dann dämmerte Fogg, warum ihm dieses Detail entgangen war. Kein beißender Geruch! Er blickte seinem Freund erwartungsvoll in die Augen. „Die Heiler haben es geschafft, oder? Ich rieche nichts mehr!“ Er nahm einen tiefen Atemzug, bevor ihm sein Fehler eine intensive Geruchsuntermalung von Stringers derzeitiger Tätigkeit bescherte.
„Hey“, drängte Stringer, „ich hab gesagt, das dauert hier noch einen Moment. Selbst wenn ich von dem Stinkefluch befreit bin, dann heißt das noch lange nicht, dass ich alle Dinge im Leben komplett geruchslos verrichten kann. Also, wenn du bitte die Tür ...“

Das Wort „Entschuldigung“ hörte man am Ende nur noch gedämpft, weil Fogg die Badezimmertür längst hinter sich geschlossen hatte. Natürlich war es unangenehm, seinen besten Freund auf dem Klo zu überraschen, aber solche Dinge geschahen einfach und man musste damit leben, dachte Fogg, als er die öffentliche Toilette des Gasthauses aufsuchte, um seiner Blase Erleichterung zu verschaffen. Zurück im Zimmer richtete er die halben Hähnchen auf Tellern an. Möglicherweise litt Stringer nur an den Nebenwirkungen eines Heiltrankes, die den Magen anregten, denn sein Freund war noch immer auf der Toilette. Zum Glück hatte Fogg den Tagespropheten schon gelesen. Er hörte die Spülung, dann den Wasserhahn, bevor sich die Tür öffnete und Stringer ins Zimmer trat. Beide sprachen die peinliche Situation nicht an. Fogg war von ganz anderen Dingen angetan, zum Beispiel vom Geruch des Essens, das er endlich wahrnehmen konnte. Wenn Stringer in der Nähe gewesen war, hatte man nie etwas anderes gerochen als alten Schweiß.

„Hähnchen?“ Stringer strahlte. „Daran habe ich heute morgen erst gedacht.“ Schwungvoll gesellte er sich zu Fogg an den Tisch. „Wie war dein Ausflug ins Ministerium?“
Fogg schüttelte den Kopf, grinste dabei breit. „Das Ministerium ist scheiß egal! Erzähl mir lieber, was die im Mungos gemacht haben. Offensichtlich hat es gewirkt!“
Das breite Lächeln ahmte Stringer nach, während er Fleisch von einer Keule mit den Fingern abzog. „In den letzten elf Jahren hat sich einiges im Mungos geändert. Andere Heiler, andere Diagnosemethoden. Erst hat man nach einem Fluch gesucht, aber keinen gefunden.“
Fogg runzelte die Stirn. „Keinen einzigen? Deine Frau hat dir aber einen Fluch entgegengeschleudert, oder?“
Erst stopfte sich Stringer das Essen in den Mund. Von Kaubewegungen unterbrochen antwortete er: „Hat sie! Sie muss mir vorher allerdings heimlich etwas verabreicht haben, die Kuh.“
Fogg riss die Augen auf. „Einen Trank?“
Heftig nickte Stringer, während er das Geflügelfleisch hinunterschluckte. „Sie hat mich vergiftet! Die Heiler haben mir alles genau erklärt. Die Partikel des Tranks setzen sich in den Drüsen fest, besonders in den Schweißdrüsen. Dort verändern sie die Produktion von Schweiß, was für den Gestank sorgte.“ Ein Schluck Butterbier von gestern spülte das Hähnchen hinunter. Gespannt wartete Fogg darauf, dass Stringer die Geschichte von seinem Besuch im Mungos weitererzählte und das tat der auch. „Die von der Abteilung für Fluchschäden haben mich zur Abteilung für Vergiftungen geschickt und die haben den Grund für den Gestank tatsächlich gefunden. Ein einfacher Heiltrank hat geholfen, der war nicht einmal teuer. Sie haben mir erklärt, dass das hinterlistige Geschenk meiner Frau die eigene Fähigkeit, Gerüche wahrzunehmen, extrem beeinträchtigt hat. Zum Beweis ließen sie mich nach der erfolgreichen Behandlung an einer Probe riechen, die den gleichen Geruch hatte wie mein Körper im vergifteten Zustand.“ Stringer schnaufte. „Ich sag dir, mir ist speiübel geworden. Mir war nie bewusst, wie mein Körpergeruch auf andere wirkte.“ Perplex schüttelte er den Kopf. „Wie hast du das nur über elf Jahre ausgehalten?“
Fogg spitzte die Lippen, zuckte dann mit den Schultern und erwiderte todernst: „Ich habe durch den Mund geatmet.“

Im ersten Moment schaute Stringer seinen Freund entgeistert an, bis er plötzlich so laut losprusten musste, dass ihm sogar ein Stück Hühnchen aus dem Mund fiel. Die gute Laune steckte Fogg an und er stimmte in das Gelächter seines Freundes ein.

„Warte einen Moment!“ Fogg bewegte sich zur Tür und verschwand. Schritte waren zu hören, die nach unten in die Schankstube führten. Von dort kam Fogg nach nicht mal einer Minute mit einer Flasche in der Hand zurück. „Elfenwein!“ Gerade eben vom Wirt erworben. Fogg betrachtete das mit Blumenmuster verzierte Etikett, bevor er zwei Gläser einschenkte und eines davon Stringer reichte. „Ist ein ganz edler Tropfen. Stoßen wir darauf an, dass du ab heute deinen Fluch los bist.“
Stringer drehte das Glas in seiner Hand, sein Gesicht war mit einem Mal ganz ernst geworden. „Ich wünschte, wir könnten eines Tages in gleicher Angelegenheit auf dich anstoßen.“

Ein Wunschtraum. Gegen den Werwolfsfluch gab es keine Heilung.

Verfasst: 20.09.2012 17:08
von Muggelchen
212 Mein Name ist Harry Potter




Selbst engagierte Tränkemeister wie der verstorbene Belby hatten niemals die Vermutung geäußert, man könnte den Werwolfsfluch komplett aufheben. Severus sah das nicht anders. Nicht mal die Schmerzen der Verwandlung konnte man den Betroffenen nehmen. Vorteil des Wolfsbanntrankes war einzig die Tatsache, dass die Personen in der tierischen Gestalt noch über ihren menschlichen Verstand verfügten. Im Fall von Hermines Trank kam noch die Erleichterung des wohligen Geschmacks hinzu, der für eine gute Verträglichkeit sorgte. Eine komplette Heilung war jedoch nicht möglich. Genauso sah Severus es bei Vampiren.

Nach dem Unterrichtsende machte sich Severus wieder auf den Weg zur Apotheke, während er an das Treffen mit Mr. Worple und Mr. Sanguini dachte, welches für Freitag angedacht war. Severus war längst aus Hogwarts verschwunden, als Harry an die Tür des verlassenen Büros in den Kerkern klopfte. Ein Schulterzucken später nahm er den Kamin in seinem eigenen Zimmer, um in die Apotheke zu flohen. Die Ankunft war alles andere als graziös, denn Harry torkelte und landete auf dem Gesäß. Der Kniesel kam sofort zu ihm gelaufen und sah nach dem Rechten, ließ sich dabei auch gern streicheln. Als Harry die Stufen hinunter ins Erdgeschoss ging, wurde er am unteren Treppenabsatz bereits von Severus erwartet.

„Ich habe den Kamin gehört.“ Hämisch grinsend fragte Severus: „Bist du gefallen?“
Ertappt presste Harry die Lippen zusammen. Die Reise über den Kamin lag ihm nach all den Jahren noch immer nicht. „Irgendwann lerne ich es noch“, versicherte er ihm. Als er bei ihm angekommen war, erinnerte Harry ihn: „Ich wollte noch etwas abholen. Du weißt schon ...“
Severus konnte damit wenig anfangen. „Du hast das Elixier, was möchtest du noch?“
„Ähm“, Harry fuhr sich durchs wirre Haar, „den Stein zurück?“
Den hatte der Tränkemeister ganz vergessen. „Oh, der muss noch im Destillierapparat befestigt sein.“

Harry folgte Severus ins Labor. An einem der Tischenden stand Hermine. Sie schnitt eine Frucht, die nach Pilzen aussah.

„Hallo Harry“, grüßte sie mit einem Winken, „komm bloß nicht näher. Die Sporen machen furchtbar viel Dreck.“
„Hi Hermine, läuft alles bestens?“
„Alles läuft ganz wunderbar“, beteuerte sie lächelnd, während sie zu Severus hinüberschaute und wortlos bestätigte, dass auch der Heiltrank keine Probleme machte.

Severus öffnete gerade den Destillierapparat. Aus der Haltevorrichtung löste er den Stein der Weisen, den er im Anschluss mit einem weißen Tuch polierte. Er ging ein paar Schritte auf Harry zu, hielt den Stein dabei zwischen Zeigefinger und Daumen. Harry hielt eine Hand auf, doch Severus ließ den Stein nicht los.

„Severus?“
Der Tränkemeister zuckte kurz zusammen, als er angesprochen wurde. „Ja hier“, Severus ließ den Stein über Harrys offener Hand schweben, doch noch immer gab er ihn nicht her.
„Fällt es schwer, davon abzulassen?“, fragte Harry mit Verständnis in der Stimme.
Severus gab sich einen Ruck und drückte den Stein in Harrys Hand. „Wozu brauchst du ihn eigentlich?“, wollte er von Harry wissen. „Dich interessieren weder Zaubertränke noch Alchemie! Außerdem ...“

Es klopfte an der Labortür. Daphne kündigte zwei Gäste an, die sie nach einem Okay von Severus hereinbitten sollte. Es waren die Herren, die er erst am Freitag erwartete. Mr. Worple und Mr. Sanguini traten ein. Worples Blick fiel sofort auf Harry.

„Ah, Mr. Potter höchst persönlich.“ Der bebrillte Zauberer freute sich sichtlich über den prominenten Gast. „Darf ich Ihnen die Hand schütteln?“
„Wenn ich sie in einem Stück zurückbekomme, gern“, scherzte Harry und reichte dem Mann die Hand. Ohne nachzudenken grüßte Harry auf gleiche Weise die andere Person, die ihm bekannt vorkam, doch auf den Namen kam er nicht. Auch ahnte er nicht, dass der Mann ein Vampir war. Noch während er dem gutaussehenden Mann die Hand schüttelte, kam ihm das Gesicht mehr und mehr bekannt vor. Erschrocken hielt Harry mit dem Gruß inne, als seine Erinnerungen endlich die Identität des Mannes klären konnten. „Wir haben uns schon einmal gesehen“, sagte Harry, bevor er einmal kräftig schlucken musste.
Sanguini nickte und erklärte völlig gelassen: „Auf einer Weihnachtsparty von Professor Slughorn.“
„Mr. Worple“, Severus verschaffte sich Gehör, „wir waren zu Freitag verabredet.“
„Ja, aber es ist uns ein Malheur unterlaufen. Die letzte Dosis wurde versehentlich verschüttet“, erklärte der Vampir-Experte reumütig.
„Diese besagte, letzte Dosis hätte schon vor einer Woche eingenommen werden müssen!“
„Das ist richtig, Professor Snape, aber es schien alles normal zu sein. Kein Verlangen, keine Nebenwirkungen. Wir haben gehofft, mein Freund würde bis Freitag ohne eine weitere Dosis auskommen, aber heute ... Na ja, es wird brenzlig.“

Severus schaute hinüber zu Sanguini, der allgemein sehr ruhig wirkte. Der Vampir hielt sich im Zaum, unterdrückte die aufkommende Lust auf Blut und wartete geduldig, bis man ihm einen Trank verabreichte. Den Gefallen tat ihm Severus. Aus einem Schrank nahm er eine Phiole, die er Sanguini reichte. Im Nu war sie geleert worden. Sanguini schloss erleichtert die Augen. Der Drang war wieder unter Kontrolle, gar nicht mehr zu spüren.

Da man Harry nicht gebeten hatte zu gehen, wartete er still. Er beobachtete das Szenario und lauschte dem Gespräch zwischen Severus und Sanguini.

„Wann haben Sie die letzte Dosis genommen?“, wollte Severus in Erfahrung bringen.
Aus seinem schwarzen Umhang zückte der Vampir eine Liste, die er kurz überflog. „Vor 24 Tagen.“
„Das ist erstaunlich“, murmelte Severus, bevor er in normaler Lautstärke erklärte, „die Wirkung des Tranks war für zwei Wochen bestimmt.“ Severus musterte den Vampir vor sich. „Wie fühlen Sie sich?“
„Jetzt wieder bestens. Ich kann feste Nahrung zu mir nehmen, ohne dass mir übel wird. Verlangen habe ich keines, wenn der Trank noch wirkt.“
„Das ist ein überraschendes Ergebnis.“
Mr. Worple knüpfte an dieser Stelle an. „Ich sagte doch, dass es großartige Neuigkeiten gibt. Das Gute ist, dass bei einer ausgelassenen Dosis der Instinkt nicht auf einen Schlag zurückkommt. Man kann sich darauf einrichten und rechtzeitig eine weitere Dosis nehmen.“

Deswegen war Sanguini so ruhig gewesen. Er fühlte zwar, dass er den Bluttrank benötigte, war er war nicht so in Bedrängnis gekommen, dass er jemanden angefallen hätte. Selbst als er Harry die Hand reichte, hatte er nicht nach dessen Puls gefühlt. Severus könnte noch einige Modifizierungen vornehmen, so dass eine Dosis für einen ganzen Monat anhalten würde. Sein Trank war so oder so ein Erfolg.

Die schriftlichen Testresultate zum Trank, die Sanguini gründlich festgehalten hatte, wechselten den Besitzer. Severus reichte ihm im Austausch die neue Variante des Bluttrankes. Vielleicht konnte diese Version den Durst bereits für ganze vier Wochen ausschalten.

Nachdem Mr. Worple und Mr. Sanguini gegangen waren, wartete Harry noch einen kurzen Moment, um das seltsame Treffen Revue passieren zu lassen. Am Ende quälte ihn eine Frage.

„Was geht denn hier ab?“ Der persönliche Empfang im Labor – ein Vampir –, der Tausch von Tränken und Informationen. Das alles kam Harry nicht ganz legal vor.
„Forschung“, erwiderte Severus knapp.
„Etwa die Blutsache, die du mal vor Ewigkeiten angesprochen hast?“ Mit einem Lächeln fügte Harry hinzu: „Der Trank, über den du mit mir nicht sprechen wolltest.“
„Und aus gutem Grund.“ Severus begann damit, die gebrauchten Glasbehälter zu spülen, die Sanguini ihm zurückgegeben hatte. „Die Forschung mit dem Trank ist, wie du erstaunlicherweise ganz von selbst bemerkt hast“, ein freundlich spottendes Lächeln extra für Harry, „nicht besonders legal, daher möchte ich so wenig Menschen wie nur möglich einweihen.“
„Ah“, machte Harry erleuchtet. „Und? Bringt es was?“
Diesmal übernahm Hermine die Antwort: „Severus wird damit berühmt werden“, trällerte sie fröhlich, während sie die geschnittenen Pilze in einen Topf mit kochendem Wasser warf.
„Das ist klasse!“, freute sich Harry, der Severus unerwartet heftig auf die Schulter schlug. „Dann verlieren die Zeitungsfritzen vielleicht mal das Interesse an mir und stürzen sich auf dich.“
Mit einem Tuch trocknete Severus die Glasphiolen, blickte dabei über seine Schulter zu Harry. „Nicht wenn ich es verhindern kann.“

Die abgetrockneten Phiolen belegte Severus mit einem Zauber, der – so vermutete Harry – desinfizierend wirkte. Gleich darauf drehte sich Severus zu Harry um. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch nichts wollte über seine Lippen kommen. Stattdessen musterte Severus den jungen Mann in Bewunderung und Schauer. Diese Augen riefen wohl behütete Erinnerung hervor, doch das Gesamtbild Harrys trübte das Schwelgen in ihnen. Vielmehr noch als an Lily musste Severus nun an die peinlichen Momente und die empfangenen Boshaftigkeiten denken, die er keinem anderen mehr zu verdanken hatte als James Potter. Hass war ein genauso gefährliches Gefühl wie die Liebe; beides konnte blind machen. Severus war blind geworden. Er sah nicht Harry, sondern James.

„Severus?“, fragte ihn sein Gegenüber. Severus quälte sich damit, dem negativen Gefühl nicht nachzugeben. Es war nicht Harry selbst, sondern die Erinnerung an dessen Vater, die ihn in Rage brachte. Um alles in der Welt wollte Severus verhindern, dass er vor den Augen von Hermine und Harry einen seiner geistigen Aussetzer bekam. Es war bereits unangenehm gewesen, dass Gordian ihn so erlebt haben musste. Bei dem Schüler waren die ausgelösten Erinnerungen jedoch schön gewesen, die von James Potter hingegen waren durchweg erniedrigend, so dass Severus arge Mühe hatte, sich ihrem Einfluss zu widersetzen. „Severus?“, fragte Harry nochmals. In Severus‘ Augen gab es nur eine Möglichkeit, einer voraussichtlich blamablen Situation zu entkommen – den Raum zu verlassen.
„Bitte entschuldigt mich“, rang sich Severus mit hörbar angeschlagener Stimme ab, bevor er das Labor verließ und nach oben flüchtete.

Hermine trat nervös auf der Stelle, blickte abwechselnd zur Tür und auf ihren Kessel. Der Drang war stark, das Gebräu unbeaufsichtigt zu lassen und Severus zu folgen. Harry bemerkte ihre plötzliche Ruhelosigkeit. ‚Dann stimmte es also!‘, dachte Harry. Severus nahm den Trank, der ihm seine Seele zurückgeben sollte.

Ihr in die Augen blickend fragte Harry geradeheraus, weil er sich der Antwort so sicher war: „Seit wann nimmt er ihn ein?“
„Gestern war es der zweite Trank“, erwiderte sie ehrlich und äußerst besorgt.
„Was meinst du, warum er gegangen ist?“
Hermine zuckte mit den Schultern. „Er sagte, er ist manchmal gedankenverloren. Das stört ihn, aber es gehört offensichtlich zum Heilprozess dazu.“
„Was gehört dazu?“
„Dass Severus all die Erinnerungen durchleben muss, die ihm gerade durch den Kopf gehen“, erklärte sie mit klangloser Stimme. „Wenn du dich an etwas erinnerst, Harry, dann hast du bestimmte Emotionen damit verknüpft. Hat man ein frommes Leben geführt, sind die wiedererlebten Gefühle vermutlich entspannend. Nichts wäre dabei, dessen man sich schämen müsste.“ Sie seufzte und fuhr mit gedämpfter Stimme fort: „Bei Severus ist das ein wenig anders. Sein Leben war kein Zuckerschlecken. Die ganzen grausamen Momente kommen wieder, die er durch den Heiltrank viel intensiver nacherlebt.“
„Und ich hab ihn erinnert“, leuchtete Harry ein. Alle Freunde seiner Eltern hatten ihm gesagt, er würde wie sein Vater aussehen. „Ich verstehe. Sag ihm später doch bitte, dass ich ihm das nicht übel nehme.“
„Das werde ich.“
Trotz des vielen Drecks, vor dem Hermine anfangs noch gewarnt hatte, kam er näher und drückte Mut machend ihre Schulter. „Das wird schon, Hermine. Mach dir nicht so viele Sorgen. Ich vertraue deiner Berechnung. Es wird bestimmt nichts geschehen, was du nicht hättest einkalkulieren können.“ Er lächelte so lange, bis sie ihn endlich nachahmte. „Ich verabschiede mich dann.“
„Du gehst schon?“ Es wäre ihr lieb gewesen, wenn sie mit jemandem über Severus und dem, was er durchmachte, reden könnte.
„Ich muss. Kingsley hat sich für heute angekündigt. Er bringt zwei Muggel mit.“
Hier wurde Hermines Sorge um Severus sofort von ihrer Neugier abgelenkt. „Was will denn Kingsley mit zwei Muggeln bei dir?“
„Er will mein Denkarium benutzen.“ Mehr wusste selbst Harry nicht. „Mit offizieller Gewährung des Ministeriums.“
„Warum benutzt Kingsley nicht eines von denen, die im Ministerium stehen? Findest du das nicht seltsam?“
Harry stutzte. „So, wie du das hinterfragst, hört sich das wirklich merkwürdig an.“
„Er hätte auch Albus fragen können, der hat auch ein Denkarium. Für mich hört sich die ganze Sache eher privat an als offiziell.“
„Mmmh“, summte Harry. Er hatte nicht einmal einen Ansatzpunkt, der ihm Kingsleys Anfrage erklären konnte. „Na, ich werde sehen, was er möchte.“
„Halt mich auf dem Laufenden. Ich möchte wissen, was daraus geworden ist.“

Harry verabschiedete sich von Hermine und ging die Treppen nach oben, weil er über den Kamin zurück nach Hogwarts flohen wollte. Er rechnete damit, dass Severus sich in sein Schlafzimmer zurückgezogen hätte, weswegen er an der angelehnten Wohnzimmertür nicht klopfte. Umso überraschter war er, als er Severus dabei erwischt, wie er einem unschuldigen Hundespielzeug in Form einer Ente den Hals umdrehte. Harry war zum falschen Augenblick am falschen Ort. Severus‘ Kopf schnellte hoch, als er Harry eintreten hörte. Wie unangenehm Stille doch sein konnte. Es wäre unhöflich, Severus nicht wenigstens auf Wiedersehen zu sagen, wenn ihm schon keine Entschuldigung über die Lippen kam.

„Ich wollte nur nachhause flohen“, rechtfertigte Harry sich mit einer Stimme, in deren bebenden Tonlagen die alte Furcht vor dem Tränkemeister mitschwang. Vielleicht sollte Harry die gleiche Taktik anwenden, die schon bei Hermine funktioniert hatte? Er wagte einen Versuch. „Kingsley will mit zwei Muggeln zu mir kommen, um das Denkarium zu nutzen. Hast du eine Idee, was er vorhaben könnte?“
Die Gesichtszüge lockerten sich, ebenso der Todesgriff um den gummierten Entenhals. Die gesunde Skepsis des ehemaligen Spions weckte wie erhofft die Neugierde. „Zwei Muggel?“, fragte Severus verdutzt nach.
Harry nickte. „Kingsley hat mir versichert, dass es nicht gegen das Gesetz wäre.“
„Warum beantragt er nicht die Nutzung eines der ministeriumseigenen Denkarien?“

In diesem Moment wurde Harry klar, wie sehr sich die Gedankengänge von Hermine und Severus ähnelten.

„Es könnte …“ Severus legte den Zeigerfinger auf die Lippen und dachte nach, bevor sich die erste Theorie in seinem Kopf formte. „Bei euch sieht es eher wie bei einem Muggel aus. Ihr habt kaum Krimskrams wie magische Uhren, sich bewegende Gemälde und auch keine seltsamen Haustiere.“ Severus musterte Harry. „Du bist sogar wie ein Muggel gekleidet.“ An sich herabblickend beäugte Harry seine Turnschuhe, die Jeans und das T-Shirt. Severus hatte Recht. „Ihr seid in den Augen von Muggeln normal eingerichtet, habt keine ausgefallenen Möbelstücke.“
„Bei mir sitzt ein Baby-Phönix auf der Vogelstange“, erinnerte Harry ihn witzelnd.
„Das Tier geht ohne sein auffälliges Federkleid auch als normaler Vogel durch. Einen anderen Grund für Kingsley kann ich mir nicht vorstellen. Ich nehme an, du weißt nicht, um welche Muggel es sich handelt?“
„Nein.“ Das Lächeln verging ihm, als er sich vorstellte, er würde nachher womöglich Tante Petunia und Dudley oder Vernon gegenüberstehen. Aber was sollten die von ihm wollen? „Er wird doch nicht meine Verwandten anschleppen?“
Severus zuckte gelassen mit den Schultern. „Warum sollte er das tun?“ Er deutete auf den Kamin. „Finde es heraus.“ Harry stellte sich in den Kamin und griff nach dem Flohpulver. Er hörte Severus noch sagen: „Erzählt mir später, um was es ging.“

Etliche Kamine später landete Harry wieder in Hogwarts – laut purzelnd. Ginny, die gerade Kinderwäsche mit dem Stab zusammenlegte, fuhr erschrocken zusammen.

„Bei Merlin!“ Sie fasste sich mit der freien Hand ans Herz. „Das müssen wir aber langsam mal lernen, Harry.“ Ein freches Zwinkern offenbarte, dass sie ihn nur auf den Arm nahm.
„Hat sich King nochmal gemeldet?“ Sie schüttelte den Kopf. „Dann müssten sie jeden Moment …“

Es klopfte. Für nicht Magie erprobte Muggel wäre das gemeinsame Flohen über den Kamin zu gefährlich. Sie könnten in Panik geraten und sich am nächsten Kamin den Kopf aufschlagen oder sich die Hand brechen. Harry sah gerade noch, dass Wobbel die Klinke berührte und sie hinunterdrückte. Hoffentlich würde niemand einen Herzanfall bekommen, hoffte Harry innig. Kingsley erschien im Türrahmen und versperrte den zweien hinter ihm die Sicht. Sein Blick fiel auf Wobbel. Erschrocken blickte Kingsley sich um und erspähte Harry, blickte dann nochmal zu Wobbel. Mit einem Handzeichen machte Harry seinen Elf klar, still zu verschwinden. Nachdem Wobbel das Zimmer verlassen hatte, trat der erste Gast ein.

„Hallo Kingsley“, grüßte Harry, bevor er sich den beiden Herren hinter seinem Freund vorstellte. „Hallo, mein Name ist Harry Potter.“ Oft musste er diesen Satz in seinem Leben nicht sagen, weil jeder Zauberer wusste, wer er war.

Der ältere Muggel – etwa Kingsleys Jahrgang – grüßte verbal. Der jüngere hingegen nickte nur und nahm das Wohnzimmer in Augenschein. Sein Blick fiel auf eine Fotografie auf dem Kaminsims: Harrys Eltern, die sich verliebt unter fallenden Laubblättern drehten. Eine der wenigen magischen Dinge im Zimmer und gerade das musste der junge Mann entdecken.

„Harry, das sind Mr. Geofferys und sein Sohn Joel.“ Kingsley deutete zu dem jüngeren hinüber, der sich bereits dem Kamin genähert und den Rahmen in die Hand genommen hatte.
„Hallo“, sagte Harry zu Joel, der staunend das Bild untersuchte und sich nicht im Geringsten angesprochen fühlte.
Kingsley wandte sich an Geoffreys. „Wir haben besprochen, was wir heute machen möchten.“ Geoffreys nickte, hatte offensichtlich keine Angst. Mit dem Finger zeigte Kingsley auf das Denkarium, das Harry in einer Ecke des Zimmers abgestellt hatte. „Das dort ist das Becken, von dem ich gesprochen habe. Dort gebe ich meine Erinnerung hinein.“
„Ich hab es mir überlegt, Mr. Shacklebolt“, sagte Geoffreys unerwartet befangen. „Ich möchte doch, dass Sie mich begleiten.“
„Das geht in Ordnung.“ Schon Kingsleys Stimme wirkte wie ein Beruhigungsmittel.
„Ähm“, machte Harry kleinlaut auf sich aufmerksam. Es wirkte, denn Kingsley drehte sich zu ihm um. „Darf ich wissen, um was es geht?“
„Darf ich das später erklären? Wir beide“, Kingsley blickte kurz zu Geoffreys und lächelte breit, „wollen heute Abend noch einen Boxkampf gemeinsam ansehen.“
„Boxen?“ Harry hatte die widerliche Assoziation zu Dudley, der laut der letzten Information von Mrs. Figg ein regional bekannter Boxkämpfer war. „Und warum braucht ihr vorher das …?“ Er nickte zum Denkarium hinüber.
Kingsley wollte ihm keine Erklärung schuldig bleiben. „Darf ich knapp antworten?“ Harry bejahte wortlos, so das Kingsley erklärte: „Mr. Geoffreys wurden unerlaubterweise Erinnerungen gelöscht. Ich möchte diese Lücken so gut es geht mit meinen Erinnerungen füllen.“

Die Frage, was genau geschehen war, verkniff sich Harry. Stattdessen gab er grünes Licht und beobachtete noch, wie Kingsley sich eine Erinnerung aus der Schläfe zog, in die kurze Zeit später die beiden Männer gemeinsam mit der Nase eintauchten. Harry setzte sich aufs Sofa und legte gemütlich ein Bein hoch, bevor ihm wieder einfiel, dass ja noch jemand hier war. Über die Rückenlehne hinweg blickte Harry zu Joel hinüber, der wiederum besorgt seinen Vater beobachtete, dabei noch immer das Bild vom Kamin in den Händen hielt.

Weil der Gast jünger war als er – Harry schätzte ihn auf achtzehn Jahre – überlegte er nicht lange und duzte ihn ungefragt: „Möchtest du etwas zu trinken?“ Joel fuhr aufgrund der Stimme zusammen. Auch er hatte Harrys Anwesenheit ganz übersehen.
„Nein, lieber nicht“, erwiderte er zögerlich.
Die Antwort irritierte Harry einen Augenblick, bevor er dem Gast die zweite nette Geste entgegenbrachte – eigentlich die dritte, wenn man Harrys höfliche Begrüßung hinzurechnete. „Setz dich doch.“ Immer wieder betrachtete Joel seinen Vater, während er die Couch ansteuerte und wie in Trance Platz nahm. Die ganze Zeit war Harry nett gewesen, doch Joel hatte ihn nicht einmal voll zur Kenntnis genommen. Stattdessen starrte er zu seinem Vater hinüber. Harry spürte, dass sein Gast sich fürchterlich sorgte. Eine Erklärung könnte Joel die Angst nehmen. „Hat Kingsley, ähm, ich meine Mr. Shacklebolt erklärt, was die beiden da tun?“
Verdattert blickte Joel seinen Gastgeber an, bevor er nochmals einen Blick auf seinen Vater warf. Mr. Shacklebolt hatte es tatsächlich erklärt, aber so richtig glauben konnte Joel es nicht. Er räusperte sich und gab Shacklebolts Erklärung so weit wieder, wie er sich daran erinnern konnte. „Er sagte, sie sehen sich eine Erinnerung zusammen an.“
Harry nickte. „Das ist ein bisschen so wie fernsehen, nur dass man ins Bild eintaucht. Ins Geschehen einwirken kann man aber nicht.“ Joel öffnete den Mund, doch er verkniff sich die Frage, ob Harry ein Zauberer oder ein Muggel war. Stattdessen blickte er wieder auf das Bild in seinen Händen. Harry kommentierte: „Das sind meine Eltern.“
„Wohnen sie auch hier?“, wollte Joel wissen.
„Nein, sie sind verstorben.“
„Oh …“
„Ist schon lange her“, winkte Harry ab, damit Joel nicht glaubte, als hätte er alte Wunden aufgerissen.
„Meine Eltern“, begann Joel leise, „haben sich getrennt, nachdem man meinem Vater …“
Harry half seinem Gast bei dem Satz auf die Sprünge. „Die Erinnerung genommen hat.“
„Ja.“ Mehr wollte Joel nicht von sich preisgeben. Er stand auf, um das Bild wieder auf dem Kaminsims abzustellen. Als er sich umdrehe, fiel sein Blick auf die Vogelstange und die darunter befestigte Schale. Neugierig ging er ein paar Schritte drauf zu und sah eine weiße Eule, die ein nacktes, großes Küken wärmte, das keinesfalls von ihr stammen konnte. „Ich hab noch nie eine Eule von Nahem gesehen.“
„Das ist Hedwig“, stellte Harry vor. „Sie ist bei mir, seit ich elf Jahre alt bin.“
Joel beäugte die Schneeeule, traute sich aber nicht, sie zu berühren. „Ich hab eine Katze Zuhause, eine getigerte.“ Von Hedwig schaute er zu dem nackten Vogel hinunter. „Was ist das für einer?“
„Das, ähm …“ Harry kam in Verlegenheit. „Hör mal, ich weiß nicht, wie viel ich dir sagen darf.“
Joel kam zurück zur Couch und nahm Platz. „Mr. Shacklebolt meinte, er hätte uns offiziell als seine Freunde eingetragen.“
„Wirklich?“, staunte Harry. „Dann muss ich mich ja nicht zurückhalten. Das da“, er nickte zur Feuerschale, „ist ein kleiner Phönix.“
Mit einem Blick, als hätte Harry den Verstand verloren, schaute Joel sein Gegenüber an. „Ein Phönix? Etwa von der Sorte, die sich alle 3000 Jahre durch Feuer erneuern?“
„3000 Jahre?“, wiederholte Harry, erinnerte sich dabei vage, dass er in alten Märchen so eine Zahl gelesen hatte. „Er hält sich nicht an so einen langen Zyklus. Einmal habe ich erlebt, wie er brannte. Ich hab mich wahnsinnig erschrocken“, erinnerte sich Harry.
„Warum erschrocken? Bist du kein Zauberer?“
„Doch schon, aber das wusste ich ja anfangs nicht. Erst als ich diese Schule hier besuchte, da wurden mir die Augen geöffnet.“
Nervös blickte sich Joel um. „Das hier ist eine Schule?“
„Ja, für kleine Hexen und Zauberer.“
„Du siehst mir nicht wie ein Schüler aus.“ Mit den Worten brachte Joel seine Skepsis zum Ausdruck.
„Ich war mal einer. Jetzt arbeite ich hier als Lehrer. Ich habe …“

Die Tür zum Schlafzimmer öffnete sich und Nicholas tapste herein. Mit seinen neuen Zähnen hatte er den Sauger von seiner Milchflasche fest im Griff, damit er beim Gehen mit den Armen das Gleichgewicht halten konnte. Die Plastikflasche baumelte fröhlich von seinem Mund herab.

„Wer will denn da nicht schlafengehen?“, fragte Harry den Jungen, als der bei ihm an der Couch stand. Zu Joel sagte Harry: „Das ist mein Sohn, Nicholas.“ Ein Blick nach hinten verriet ihm, dass auch Ginny eingetreten war. „Und meine zukünftige Frau. Wir heiraten diesen Samstag.“
„Hallo“, grüßte der Muggel zurückhaltend, weil er sich jetzt in der Minderheit fühlte.

Ginnys sonst so unbefangene Art neuen Menschen gegenüber war durch ihr Erlebnis mit Hopkins etwas getrübt. Dennoch sprang sie über ihren Schatten und brachte dem Gast all ihre Aufmerksamkeit entgegen, womit sie einen guten Eindruck hinterließ. Bei ihr nahm Joel das angebotene Getränk sogar an.

Nach einer Weile blickten alle drei zum Denkarium hinüber, in welches Kingsley und Geoffreys noch immer ihre Nasen getaucht hatten.

„Wie lange wird das eigentlich dauern?“, fragte Joel, nachdem er auf die Uhr geschaut hatte. Eine Stunde war schon fast um.
„Wenn sie alles in Echtzeit ansehen, dann kann es schon einige Stunden in Anspruch nehmen“, erwiderte Harry, der nicht wollte, dass seinem Gast langweilig wurde. „Allerdings wollten die beiden heute noch zu einem Boxkampf gehen. Wir könnten uns in der Zwischenzeit doch das Schloss ansehen, wenn du möchtest?“ Joel zögerte, so dass Harry es ihm schmackhaft machen wollte. „Vielleicht sehen wir auch einen Geist?“
„Es gibt hier Geister?“ Harry nickte. „Cool!“ Im Nu war Joel von der Couch aufgesprungen und bereit für ein kleines Abenteuer, doch die Sorge um seinen Dad ließ ihn wieder zögern. „Wird es ihm auch gut gehen, wenn sie fertig sind?“
„Kingsley ist ja bei ihm. Ich würde mir da keine Gedanken machen“, versicherte Harry.

Zusammen mit Joel wanderte Harry im Flur herum. Er blieb mit seinem Gast im Erdgeschoss, weit weg von den sich bewegenden Treppen, die den Muggel schockieren könnten. Sie warfen ein Blick in das Klassenzimmer, in welchem Firenze damals seinen Unterricht geführt hatte und machten sich danach auf den Weg zum Pausenhof. Joel sprach dort mit einigen der Siebtklässler, die nicht viel jünger waren als er selbst. Ein Mädchen zeigte ihm, wie sie aus einem gefalteten Papierflieger einen kleinen Vogel zauberte. Auf ihrem Rückweg trafen sie tatsächlich noch auf Sir Nicholas, der sich so vornehm ausdrückte und so überaus höflich agierte, dass Joel darüber hinwegsehen konnte, dass er ein Geist war.

Kingsleys Idee fruchtete. Wenn auch Geoffreys seine eigenen Erinnerungen nicht zurückbekommen konnte, so wusste er endlich, was in der Zeit, die man ihm raubte, geschehen war. Für Geoffreys war besonders hilfreich zu erfahren, dass er sich nichts eingebildet hatte – dass sein Gefühl ihn nicht trügte und man ihm tatsächlich einige Stunden seines Lebens genommen hatte. Er war nicht psychisch krank, er bildete sich nichts ein. Geoffreys war immer gesund gewesen, und er hatte in Kingsley zum zweiten Mal in seinem Leben einen Freund gefunden.

Wenige Tage vergingen. Tage, in denen Severus den Heiltrank einnahm, den Hermine jedesmal frisch braute. Obwohl man Zeit hatte, sich darauf vorzubereiten, kam er ganz plötzlich, dieser eine Tag. Nicht der Tag, an dem Severus‘ den letzten Trank einnehmen würde, sondern der Tag der Hochzeit von Harry und Ginny.

An diesem Samstag hatte Hermine die Apotheke geschlossen, was sie im Vorfeld all ihren Kunden persönlich gesagt, aber auch mit einem Schild an der Tür mitgeteilt hatte. Der magische Friseur ein paar Türen weiter hatte beim Anblick ihrer buschigen Haarpracht gewagt zu stöhnen. Trotzdem konnte er ihre wirren Locken bändigen, ein wenig zusammenstecken und vor allem in die Höhe türmen.

Wieder in der Wohnung über der Apotheke angekommen stieß Hermine auf Severus, der gerade das Badezimmer frei machte. Um die dürren Hüften war ein weißes Handtuch geknotet. Er betrachtete Hermines Haarpracht und entschloss sich, mit seiner Meinung nicht zurückzuhalten.

„Warum so aufgebauscht?“, fragte er unschuldig.
„Das nennt man ‚hochgesteckt‘ und nicht aufgebauscht“, wies sie ihn zurecht. „Mach mich nicht unsicher, Severus. Ich bin jetzt schon ein Nervenbündel.“
Gelassen ging er zu seiner Zimmertür hinüber. Seine nassen Haare tropften und hinterließen eine feuchte Spur am Boden. „Es ist nur eine Hochzeit“, versuchte er ihr weiszumachen, aber auch sich selbst. Vom Gefühl her war es diesmal mehr als nur eine gesellige Angelegenheit. Es war viel mehr als das emotional ausgebremste Gefühl, dem er auf Dracos Hochzeit ausgesetzt war. Heute fühlte Severus, was wirklich hinter diesem Tag stand. Es war der neue Lebensabschnitt eines Mannes, der viel für ihn getan hatte. Heute würde Harry das bekommen, was er sich so sehr wünschte. Das Schönste war, dass Severus es ihm gönnte.
Bei offener Badezimmertür wusch sich Hermine die Hände, damit sie sich weiter unterhalten konnten. „Nachher gegen zehn kommen die anderen, da sollten wir fertig sein.“
„Das sind noch drei Stunden! Ich frage mich sowieso, wie du den Herrn überreden konntest, seinen Laden für dich schon so früh zu öffnen.“
„Ich hab ihn nur angelächelt und ‚bitte, bitte‘ gesagt. Klappt bei den meisten Herren“, erwiderte sie mit einem kecken Grinsen. Beim Abtrocknen der Hände fiel ihr Blick auf die feuchte Kernseife, die er für seine Dusche benutzt haben musste. Alles andere stand noch unberührt an seinem Platz. Zurück auf dem Flur fragte sie neugierig: „Sag mal, benutzt du die Kernseife auch zum Haarewaschen?“
Ertappt blickte er weg, bevor er sich sammelte und zurückschoss: „Ich werde meine Hygienegewohnheiten mit niemandem diskutieren.“
Seine Hand hatte die Tür zum Schlafzimmer bereits aufgestoßen, da hörte er ihre Stimme sagen: „Das erklärt aber vieles.“
„Was erklärt das?“, brummte er missgelaunt. Wenn sie diskutieren wollte, dann war er bereit dazu, sie auf nette Weise in Grund und Boden zu argumentieren.
„Schon gut, schon gut. Ich sage ja gar nichts mehr.“ Mit diesen Worten steuerte sie ihr eigenes Schlafzimmer an, weil hier ihr Kleid hing. Womit sie nicht rechnete, war, dass Severus ihr folgte.
„Nein, Hermine, jetzt will ich es wissen! Was erklärt das?“
Sie drehte sich zu ihm. An ihrem Gesichtsausdruck erkannte er, dass sie keine Lust auf diese Unterhaltung hatte, sollte sie im Streit enden. Seinerseits hatte sie nichts dergleichen zu befürchten. Hermine gab sich einen Ruck. Wenig ernst erklärte sie: „Kernseife wirkt extrem entfettend. Deine Haare brüllen wahrscheinlich schon bei ihrem Anblick ‚Hilfe, Hilfe, wir werden wieder ausgetrocknet!‘.“ Sie musste sich ein Lachen verkneifen, während sie sich ihr Kleid zurechtlegte.
„Ich kann dir versichern“, Severus lehnte sich gelassen an den Türrahmen, „dass mein Kopfhaar des Sprechens nicht fähig ist.“
„Und das ist dein Glück, Severus. Wenn sie nämlich reden könnten, würden sie dir die Meinung geigen.“ Diesmal lachte sie wirklich, weil sein Gesichtsausdruck nahe an ein Schmollen herankam.
„Und wie kann ich da Abhilfe schaffen?“ Die Antwort wollte er durchaus hören, auch wenn er das nicht zugeben wollte.
„Normales Shampoo, nichts weiter. Keine Extra-Behandlung, keine Kur-Packungen. Einfach nur normales Shampoo. Wird ein, zwei Wochen dauern, bis sich die Talgproduktion wieder im Normalbereich einpendelt.“
Severus legte den Kopf schräg und dachte über eine Äußerung nach, die er wenig später machte. „Das nächste Mal vielleicht.“
„Gut, dass das geklärt ist.“ Hermine strich über ihr blaues Kleid. „Ich würde mich jetzt nämlich gern umziehen.“
„Vor dem Frühstück?“
„Ich frühstücke nicht, Severus. Ich bin viel zu aufgeregt dafür.“
Severus führte eine Hand an den Knoten des Handtuches, weil der sich langsam gelockert hatte. „Wie du meinst. Ich werde nicht ohne eine Kleinigkeit im Magen aufbrechen.“

Severus zog nicht gleich seine neue Garderobe an, sondern eine Hose und ein Hemd. Wozu drei Stunden lang aufgedonnert herumlaufen? Mit legerer Kleidung machte er es sich in der Küche bequem, um etwas Toast zu sich zu nehmen. Wenig später war Hermine bei ihm. Sie trug bereits das neue Kleid. Ihre Hände waren seltsam zum Rücken gebeugt.

„Severus, du musst mir mal helfen. Ich bekomme es alleine nicht zu.“
„Hat das nicht ein wenig Zeit? Ich frühstücke gerade.“ Ihr gereiztes Schnaufen ließ ihn den angebissenen Toast zurück auf den Teller legen. Zuerst wusch er sich die Hände, bevor er sich zur Verfügung stellte. Hermine drehte sich um und zeigte ihm ihren entblößten Rücken – und gelbe Unterwäsche. Er schmunzelte. „Dann hast du ja doch nicht geflunkert.“
„Womit?“, wollte sie wissen, blickte dabei über ihre Schulter.
„Dass du durchaus auch mal die Farbe Gelb trägst.“

Beim untersten Haken machte er den Anfang. Er konnte es gar nicht verhindern, dass seine Finger ihre Haut am Rücken berührten, wenn er an dem Stoff zog. Haken für Haken verankerte den Verschluss, während die Wärme ihrer Haut ihn träge werden ließ. Der unerwartete Wunsch, mehr von ihrer Haut zu berühren, machte sich in ihm breit. Als er schließlich an ihrem gelben Büstenhalter ankam, dessen Verschluss selbst mit Haken versehen war, wurde ihm ganz warm. Ein nicht genauer zu definierendes Prickeln schoss durch Severus hindurch, konzentrierte sich auf den Magen und sackte letztendlich hinunter in die Leistengegend. Am Ende sah er sich mit einem Problem konfrontiert, das er seit dem Ende seiner Pubertät erledigt glaubte.

„Danke, Seve…“ Sie hielt inne, weil Severus in Windeseile die Küche verließ und nach oben stürmte. Hermine wunderte sich nicht lange darüber, sondern fiel stattdessen über seinen angebissenen Toast mit Marmelade her, achtete dabei penibel darauf, dass nichts auf ihr neues Kleid tropfte.

Sorgen um ihn machte sie sich nicht. Im wahrsten Sinne des Wortes war er vor seinen Gefühlen geflohen, besonders vor ihrer Intensität. Sie waren so kräftig, dass Severus sich zusammenreißen musste, nicht genauso intensiv auf sie zu reagieren. Es wäre so leicht, dem Impuls einfach nachzugeben und bei der empfundenen Wut über James schlichtweg Harry als Blitzableiter zu verwenden und ihm die Fehler seines Vaters anzulasten. Dieses Mal, da war sich Hermine sicher, hatte Severus den Raum nicht aufgrund einer aufkommenden Erinnerung verlassen. Er durchlebte nämlich nicht nur seine Erinnerungen sehr heftig, sondern auch den normalen Alltag. Seit über zwanzig Jahren war Severus wieder in der Lage, gegenwärtige Situationen mit Emotionen zu verbinden. Die leicht zu ertragene Gleichgültigkeit allem gegenüber ist der gewaltigen Palette der einfühlsamen Wahrnehmung gewichen. Er fühlte sein Leben wieder. Einzig musste er noch lernen, damit wieder umzugehen. Verliebtheit war auch ohne einen verstärkenden Heiltrank ein sehr gewaltiges Gefühl, dachte sie grinsend. Deswegen war er gegangen, da war sich Hermine ganz sicher. Zudem stand er vorhin dicht bei ihr, so dass sie es fühlen konnte. Severus‘ natürliche Schutzreaktion vor zu intensiven Gefühlen war, wie schon bei Harry, auch bei ihr die Flucht. Nur so glaubte er, den klaren Verstand zu behalten. Hermine nahm sich vor, ihm in Zukunft entgegenzukommen, um ihm zu erlauben, gerade diesem einen Impuls bedenkenlos nachgeben zu dürfen. Sie wollte ihm heute Abend auf der Hochzeit so heftige Signale geben, gegen die das Eröffnungsfeuerwerk der Quidditch-Weltmeisterschaften blass aussehen würden.

Gerade diese Hochzeit würde für Severus‘ heilende Seele eine Bewährungsprobe darstellen. Jedes Gesicht, jede Situation könnte Erinnerungen aufwühlen, mit denen er sich an Ort und Stelle auseinander setzen müsste. Sirius war so ein Kandidat, dachte Hermine. Mit einem einzigen falschen Wort könnte er Severus in Rage versetzen. Hier müsste sie helfend einschreiten oder schon im Vorfeld entgegenwirken, so dass es gar nicht erst zu einer Streiterei kommen würde. Hermine war sich aber im Klaren darüber, dass es nicht Sirius war und auch nicht sie selbst, der heute den womöglich heftigsten Gefühlsausbruch bei Severus herbeirufen würde. Das würde nur Albus zustande bringen. Die jahrelange, sehr tiefe Verbundenheit zwischen den beiden Männern hatte sich am Ende des Krieges deutlich gezeigt, denn da war Severus‘ trotzt des Ewigen Sees dazu in der Lage gewesen, eine für seine Verhältnisse sehr heftige Reaktionen auf Albus‘ unerwartete Rückkehr zu empfinden. Albus wusste alles über Severus‘ Kindheit, wusste über jeden noch so intimen Gedanken Bescheid, seit er ihn damals mit Legilimentik geprüft hatte. Der Direktor war der wahrscheinlich wichtigste Mensch in Severus‘ Leben. Darauf war Hermine selbst gekommen. Dass sie damit richtig lag, hatte Severus ihr vorhin sogar bestätigt, als er sie bat, in der Nähe zu bleibe, sollte er auf Albus treffen.

Verfasst: 20.09.2012 17:09
von Muggelchen
Rest von Kapitel 212

Sehr bald waren George, Fred und Verity eingetroffen, die es sich in der Küche gemütlich machten. Severus hatte sich bereits die neue Garderobe angezogen und wartete im Flur, direkt an der offenen Tür zu Küche. Remus und Tonks fehlten noch, damit man gemeinsam den Weg zum Schloss Schnatzer einschlagen konnte. Zu Severus‘ Leidwesen reiste man nicht sofort, als die beiden letzten gekommen waren. Alle Gäste waren viel zu früh hier. Niemand hatte Probleme damit, die Wartezeit zur zeitlich festgelegten Abreise per Portschlüssel zu überbrücken. Niemand, außer Severus. Er ließ die anderen miteinander reden, beteiligte sich aber nicht an den Gesprächen, die er nicht einmal konzentriert verfolgte. Stattdessen betrachtete er George Weasley, der tatsächlich ohne Begleitung zur Hochzeit erschien. Der junge Geschäftsmann unterhielt sich angeregt mit Remus. Der wiederum hatte Severus im Flur erspäht und kämpfte sich ein wenig später an Fred und Verity vorbei, um Severus Gesellschaft zu leisten.

„Wo ist Hermine?“, fragte Remus.
Severus nickte die Treppen hinauf. „Sie holt den Portschlüssel. Ich denke, wir sind dann alle reisebereit.“
„Ich bin schon ganz aufgeregt“, gestand Remus, wischte sich dabei die verschwitzten Hände an der Hose ab, womit er zum Glück keine sichtbaren Spuren hinterließ.
„Warum?“
„Warum?“, wiederholte Remus verdutzt, auch ein wenig vorwurfsvoll. „Harry heiratet endlich! Das ist ein großes Ereignis, zumindest für mich. Ich wünschte nur …“ Den Rest des Satzes samt des Wunsches, Lily und James könnten diesem Ereignis beiwohnen, schluckte er hinunter, um einen neuen zu beginnen. „Endlich finden die beiden das, was sie sich verdient haben.“
„Höre ich da etwa Neid heraus?“, stichelte Severus mit halbseitigem Lächeln. „Sofern ich informiert bin – und ich bin sicher, Black hält dich ebenfalls auf dem Laufenden – sind die neuen Gesetze so gut wie fertig.“

Severus hatte Recht. Es war zum Greifen nahe. Noch in diesem Jahr könnten Tonks und er heiraten. Remus‘ Gedanken drifteten. Jetzt schon sah er Tonks vor seinem inneren Auge, und wie der legale Nachwuchs um ihre Beine tänzelte.

„Ich bin mit Sicherheit der erste Werwolf, der nach den neuen Gesetzen heiratet“, versicherte er äußerst von sich überzeugt, während Severus still seinen Worten lauschte. Remus warf einen verliebten Blick in die Küche, wo Tonks ihm gerade zuzwinkerte. „Sie wird die Erste sein“, erzählte Remus außerhalb ihrer Reichweite, „die eine Trauung beim Ministerium anmeldet. Wir würden nicht einmal groß feiern wollen, würden es einfach tun, uns einfach das Ja-Wort geben.“ Remus entwich ein kleiner Seufzer. „Wir wollen keinen einzigen Tag mehr verlieren.“

Remus wartete auf eine Reaktion von Severus, doch es kam keine. Entweder war Severus von dem Thema Hochzeit allgemein nicht besonders begeistert oder er würde gerade wieder einen dieser Momente erleben, in denen er nicht ansprechbar war. Remus tippte auf Letzteres. Irritierend war es allemal gewesen, als er gestern erst wegen einer schulischen Angelegenheit mit Severus sprach und dabei Zeuge wurde, wie sein Kollege für Zaubertränke gedanklich vom Kurs abkam. Remus war sich sicher, dass Severus auch jetzt nicht reagieren würde, genau wie gestern.

„Severus?“, probierte Remus vorsichtig aus, inwiefern Severus sich seines Umfelds bewusst war.
„Ja?“, kam unerwartet zurück.
„Oh“, Remus hatte sich geirrt, „ich dachte, du wärst … Na ja …“
„Ich wäre was?“, fragte Severus verwundert.
„Du hast eben nichts mehr gesagt …“
„Ich werde doch so weise gewählte Worte nicht mit einem Zwischenkommentar verschandeln“, scherzte Severus, der noch immer nicht wusste, auf was Remus hinauswollte. Der blickte ihn nämlich besorgt an.
„Als wir uns gestern unterhalten haben, da warst du …“
„Oh“, machte diesmal Severus, der sich peinlich berührt daran erinnerte, dass besagte Unterhaltung in einer intensiven Auseinandersetzung mit gewissen Hassgefühlen endete. Anstandshalber begann er mit einer Entschuldigung. „Es tut mir leid, dass ich unserer gestrigen Konversation ab einem gewissen Punkt nicht mehr aufmerksam folgen konnte“, kam viel formeller über seine Lippen, als es seine Absicht war. Einem Freund gegenüber sollte man nicht so distanziert klingen, weswegen Severus sich dazu entschloss, gleich noch den Grund für seine Unaufmerksamkeit zu nennen. „Ganz offenbar stellt diese“, er suchte nach einem passenden Wort, „Zerstreuung eine normale Begleiterscheinung des Heiltrankes dar.“
„Dann …“ Remus zögerte einen Augenblick, bevor er über seinen Schatten sprang und persönlicher wurde. „Dann nimmst du den Trank tatsächlich schon?“ Severus nickte lediglich, woraufhin Remus in Erfahrung bringen wollte, wie die Genesung sich bemerkbar machte, doch es kam lediglich ein Wort über seine Lippen: „Und?“ Damit ließ er Severus jede Möglichkeit, dem Gespräch aus dem Weg zu gehen, sollte es ihm zu persönlich werden.
Zu Remus‘ Erstaunen wurde Severus genauer, indem er erwiderte: „Ich deute das als Frage getarntes Bindewort einfach mal als Erkundigung nach meinem Wohlergehen.“
„Dann geht es dir also gut.“ Remus nickte erleichtert. „Ich bin beruhigt, dass es keine Komplikationen gibt.“

Beide schauten zur gleichen Zeit die Treppe hinauf, weil Hermine gerade mit einem Springseil – dem Portschlüssel – in der Hand hinunterkam.
„Hermine, du siehst blendend aus“, lobte Remus ihr Erscheinungsbild, was eine zarte Röte in ihr Gesicht zauberte.
Sie wollte sich gerade bedanken, da warf Severus mit hochgezogener Augenbraue ein: „Die jungen Leute scheinen sich aus der alten Tradition nicht mehr viel zu machen.“
„Was für eine Tradition?“, fragte Remus nach.
Severus schlug bereits den Weg zur Küche ein, als er im Vorbeigehen mit einem Schmunzeln erwiderte: „Dass man als Gast die Braut nicht in den Schatten stellen sollte.“
Hermine war im ersten Moment verunsichert. Sie blickte Severus entgeistert hinterher und fragte Remus: „Was sollte das?“ Kritisch blickte sie an sich herab.
„Es ist alles in Ordnung, Hermine“, versicherte Remus. „Wenn ich mich nicht irre, meint Severus es als Kompliment.“

In der Küche wartete man gemütlich, bis der Abreisezeitpunkt gekommen war und jeder das magische Springseil berühren musste.

Ganz ähnlich ging es Harry. Mit Nicholas im Arm wartete er zusammen mit Wobbel und Shibby auf Ginny, doch die ließ sich im Bad sehr viel Zeit. Dabei hatten sie hier in Hogwarts keine Vorbereitungen zu machen. Ihre Hochzeitsgarderobe wartete in einem Zimmer des Schlosses Schnatzer. Ebenso wie Hermine, die Ginny beim Ankleiden helfen würde und Ron, der auf gleiche Weise für Harry verantwortlich war – die Trauzeugen.

„Ich werd mal nach ihr sehen“, sagte Harry, während er Nicholas auf dem Boden absetzte, gleich neben die große Tasche mit Windeln, die der Junge eigentlich nur noch selten benötigte. Heute bei der vielen Aufregung wollte man aber sichergehen, dass der Knabe die Sprache der Blase nicht missdeutete und im Laufe des Tages womöglich ein Malheur passierte, weil er von dem bunten und lauten Geschehen abgelenkt war.

Durchs Schlafzimmer hindurch steuerte Harry das Bad an, in welchem sich Ginny aufhielt. Die Tür stand offen, so dass er sie nur leicht anstoßen musste, damit er eintreten konnte. Ginny wühlte in ihrem Kosmetiktäschchen herum, hatte bereits zwei runde Puderdosen in der Hand. Ohne es zu wollen erschreckte Harry sie, weil er mit dem Fuß an den kleinen Abfalleimer stieß. Ginny fuhr herum. Ihre Augen waren angsterfüllt, als sie zwei Schritte zurück machte und sich an die Wand drückte. Schützend hielt sie sich die Fäuste vor die Brust. Panik in ihrem Gesicht.

„Ginny“, hauchte er.
„Ich hab mich nur erschrocken“, winkte Ginny ab. Ihre Wangen waren dabei nicht so rosafarben, wie man es von einer Braut erwarten könnte, sondern kreidebleich.
„Das war ein bisschen mehr als ‚nur erschrocken‘.“

Kraftlos stieß sie sich von der Wand ab, zupfte verlegen ihr Hemd gerade. Ihre zusammengebissenen Zähne signalisierten ihm, dass sie dagegenreden wollte, sich herausreden wollte, aber sie gab auf. Mit dem Blick gen Boden gerichtet zog sie ihre Nase hoch, dann noch einmal, bevor sie bemerkte, dass sie weinte. Es war ihr unangenehm. Eine Hand vor dem Gesicht sollte ihre Schwäche verbergen.

„Tut mir leid, Harry. Ist gleich vorbei“, winselte sie.
„Von heute auf morgen wird das nicht besser werden.“
„Ist nur der Stress“, blockte sie.
„Du weißt, dass ich dir das nicht glaube. Ich kenne deine Albträume. Ich weiß, wie sehr du dich fürchtest, dass dich jemand unerwartet anfasst.“ Vorsichtig legte er eine Hand auf ihre und zog sie an sich heran, um sie zu umarmen. Sofort lockerten sich ihre Verspannungen.
„Das ist genau der Stress, den ich meine“, begann sie zu erklären. „Ich will nicht wie ein aufgeschrecktes Huhn von einer Ecke in die nächste flattern, weil ich mich vor irgendetwas erschrecke. Ich will mich nicht fürchten!“ Sie nahm einen tiefen Atemzug, um ihre unruhige Stimme zu glätten. „Ich möchte die ganze Scheußlichkeiten, die ich erlebt habe, den Krieg und all die schlimmen Erlebnisse, nicht mehr mit mir herumschleppen. Ich will das hinter mir lassen, weil heute“, ein erleichterter Seufzer, „ein neues Leben beginnt.“
Harry drückte sie an sich. „Das tut es. Manche Dinge brauchen aber einen Moment länger, um sie zu verdauen. Glaub mir, ich spreche da aus Erfahrung.“ Ein kurzer Gedanke an Cedric. „Du kannst heute nicht einfach einen Schlussstrich ziehen. Das wird die Ängste nicht vertreiben, nur unterdrücken.“ Diesmal seufzte er, presste dabei seine Wange an ihre Schläfe. „Du weißt, dass du das nicht allein durchstehen musst“, erinnerte er sie mit beruhigendem Tonfall. „Ich habe da jemanden kennen gelernt. Der kann dir helfen.“
„Ich möchte den Muggel-Arzt nicht sehen“, nörgelte Ginny.
„Den meine ich gar nicht, der ist selbst dort Patient. Ich meine einen Squib. Er kümmert sich um Muggel, die von Zauberern angegriffen und misshandelt wurden. Und da dachte ich“, er lehnte sich zurück und blickte ihr in die Augen, „es ist kein so großer Unterschied, wenn er auch eine Patientin hat, wo das genau andersherum ist.“ Ihre Tränen waren längst versiegt, bemerkte er erleichtert. „Als ich mit Eleanor da war, hat Dr. Fueller auch mit mir gesprochen. Ich versichere dir, der Mann kann zuhören! Ohne es zu merken hab ich mir ein paar Dinge von der Seele geredet, die mich bedrücken.“
„Ach ja?“ Ginny hatte wieder gute Laune. Sie grinste Harry an, bevor sie im Spiegel ihre Erscheinung überprüfte, besonders die Augen. Nichts war geschwollen. „Was hat er dir geraten?“
„Er meinte“, Harry lachte bei der Erinnerung daran, „dass ich ein Buch schreiben soll. So viel Grausamkeiten könnte man nur in geballter Form Herr werden, sagte er.“
„Vielleicht ist das gar keine schlechte Idee“, überlegte sie laut.
„Ein Buch zu schreiben?“
„Ja, das vielleicht auch. Ich meinte aber diesen Dr. Fueller.“ Endlich nahm sie die Hilfe an, die Harry ihr anbot. „Ich kann es ja versuchen, aber nur, wenn du mitkommst.“
„Ah“, er grinste, „Gruppentherapie! Da kenne ich so einige, denen das auch ganz gut tun würde.“
„Ja, Sirius zum Beispiel“, meinte sie keinesfalls abwertend. „Wenn der plötzlich zum Kind wird …“
„Ach“, winkte Harry gelassen ab, „der hat sich gebessert, seit er verheiratet ist und mit seiner Zeit was anzufangen weiß. Ich dachte eher an Alastor. Seine eigentümliche Angewohnheit, immer nur aus dem eigenen Flachmann zu trinken, zähle ich nicht mehr unbedingt zu den normalen Vorsichtsmaßnahmen eines Ex-Aurors.“
„Seine Angst ist begründet. Er hat eine Menge Feinde“, leierte Ginny auswendig herunter, wie jeder es tat. Remus war der gleichen Meinung, selbst Albus, aber nicht Harry.
„Alastors Feinde gibt es nicht mehr, und wenn doch, dann laufen sie als feige, verängstigte Verlierer umher, aber nicht mehr als streng durchorganisierte Kriminelle, die einem gefährlich werden könnten. Ich glaube, er könnte mal ein wenig Entspannung vertragen.“ Er drückte ihre Hand. „Und wir beide auch. Ich werde heute nicht von deiner Seite weichen“, versicherte er ihr, um ihr die Angst zu nehmen. „Und wenn doch, dann ist noch Hermine für dich da sowie eine Unzahl an Freunden, die alle auf dich aufpassen.“
Ginny strahlte über das ganze Gesicht. „Dann lass uns gehen. Ich brauche nur noch …“
Sie griff zu ihren Puderdosen, weshalb Harry den Kopf schüttelte und mit verzücktem Lächeln sagte: „Wir brauchen nichts, Ginny, überhaupt nichts. Im Gegenteil. Heute ist der Tag, an dem wir alles bekommen.“

Ginny kommentierte seine Äußerung mit einer kräftigen Umarmung.

Die beiden Elfen und der aufgeregt quiekende Nicholas warteten im Wohnzimmer auf Harry und Ginny, mit denen sie per Portschlüssel ins Schloss gelangten.

Auch in der Apotheke griff man nacheinander nach dem Springseil. Wie ein Magnet klebte der Portschlüssel an der Hand. Man verlor sich in kleinen Unterhaltungen, während man auf den magisch vorgegebenen Abreisezeitpunkt wartete. Das erwartete Ziehen im Bauchnabel kündigte die Reise an. Ab jetzt sollte man sich auf die harte Landung konzentrieren. Viele Zauberer und Hexen landeten bäuchlings oder auf dem Allerwertesten. Die magischen Wirbel waren stark und unberechenbar. Man musst konzentriert bleiben, um nicht …

Severus war so sehr damit beschäftigt, sich auf eine graziöse Landung vorzubereiten, dass er sie verpasste und Fred rücklings in die Arme fiel. Die Zwillinge stabilisierten Severus, so dass er nicht zu Boden ging. Trotzdem war dem Tränkemeister die Situation unangenehm. Andererseits kommentierte niemand seinen Schnitzer.

Als Erstes beäugte Severus die Gegend. Der Portschlüssel hatte sie nur wenige Minuten Gehweg vom Schloss entfernt auf der gut gepflegten Wiese abgesetzt. Niemand sonst war zu sehen. Vom Schloss weg blickte Severus zu dem kleinen Pavillon hinüber, der von zwei großen Bäumen umgeben war. Severus nahm schnelle Bewegungen wie von kleinen, flinken Tieren in den Baumkronen wahr, kümmerte sich aber nicht weiter darum, denn er wurde von Hermine plötzlich an die Hand genommen.

„Hab ich was verpasst?“, fragte Severus unschuldig. Ihm war nicht entgangen, dass die anderen sich unterhalten hatten.
„Nein“, sie grinste, „wir wollten jetzt ins Schloss gehen. Kommst du mit?“ Im Sonnenlicht war ganz deutlich der blaue Stich in Severus‘ Garderobe zu sehen, doch sie hütete sich davor, ihn darüber in Kenntnis zu setzen.
„Erwartet man etwas von mir?“
Sie verneinte wortlos und zog Severus an der Hand hinter sich her, weil die anderen bereits einige Schritte vorgegangen waren. „Ich werde mich gleich mit Ginny treffen und werde erst nach der Trauung wieder zu dir stoßen. In der Zwischenzeit“, ihre andere Hand landete beschwichtigend auf seinem Unterarm, „kannst du dir ja das Schloss ansehen. Schau dir all die dunklen Nischen an, damit wir später wissen, wo wir suchen müssen.“
„Ich habe nicht vor“, erwiderte er ein wenig grantig, „mich die ganze Feierlichkeit über zurückzuziehen.“
Hermine strich über seinen Arm, während sie mit der anderen Hand weiterhin seine hielt. „Ich meinte ja auch, dass wir dann wissen, wo wir Alastor zu suchen haben. Der wird sich wieder mit dem Rücken an die Wand stellen und überall Verdächtige sehen.“

An der großen Tür zum Schloss wartete ein Rothaariger, der sich bei näherer Betrachtung als Ron entpuppte. Er begrüßte seine Brüder und die anderen, bevor er sich Hermine ansah. Bei ihrem Anblick verlor er die Kontrolle über seine Gesichtszüge. Argwöhnisch beobachtete Severus, wie der Mund des jungen Mannes leicht offen stand.

„Wow, Hermine“, lobte Ron, während sein Blick an dem ausladenden Ausschnitt klebte.
„Ron?“ Amüsiert fuchtelte sie mit ihren Händen vorm Oberkörper umher, zeigte dann, nachdem sie seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, auf ihr Gesicht. „Hier oben spielt die Musik.“
Er grinste schelmisch. „Du siehst klasse aus. Warum hast du so etwas nicht mal früher getragen?“ Früher, als sie noch zusammen waren, schwang ungesagt in seiner Frage mit. Selbst Severus, der die Begegnung von Hermine und Ron unauffällig, aber dennoch aufmerksam beobachtete, hatte diese Anspielung vernommen.
„Weil es blöd ausgesehen hätte, mit Abendkleid und Stöckelschuhen gegen Todesser zu kämpfen“, konterte Hermine mit frechem Funkeln in den Augen.
Ron spitzte die Lippen, nickte dabei langsam und musterte Hermine nochmals von oben bis unten. „Es hätte aber Stil gehabt“, scherzte er. An alle gerichtet informierte er: „Mum ist drinnen. Wer ihr bei etwas helfen möchte, kann sich gern an sie wenden. Wer nicht helfen möchte“, ein berechnender Blick zu Severus hinüber, „der kann sich die Zeit so vertreiben. Und George …?“ Das persönlichere Gespräch mit seinem Bruder blieb von allen ungehört, außer von Severus, der die Ohren spitze und hörte, wie Ron sagte: „Habe gehört, dass Viktors Frau bei Mum angefragt hat, ob ihre Cousine kommen dürfte. Das zur Info, falls die Schnecke was für dich sein sollte.“
Den Rest des Gesprächs hatte auch Fred verfolgt, der vorgetäuscht echauffiert fragte: „Was denn, Ron? Hast du für George nicht einmal eine Liste mit den ledigen Damen aufgestellt?“
Vorwurfsvoll schüttelte er den Kopf, doch Ron konterte sofort: „Die Liste hat Mum konfisziert.“

In einigem Abstand folgte Severus den anderen ins Schloss hinein. Dort zerstreute sich die kleine Gruppe. Hinten an der Treppe standen Angelina und Molly, die gerade jemandem vom Kinderbetreuungsservice einige Anweisungen gab. Allein Viktor und seine Frau brachten die sechs eigenen Kinder mit, weil sie die während des gebuchten Wochenendes nicht Zuhause lassen wollten. Verity und Tonks boten Molly ihre Unterstützung an, während Ron und Hermine den Weg nach oben einschlugen, um Harry und Ginny in ihren Zimmern aufzusuchen. Die Zwillinge flüsterten sich gegenseitig etwas ins Ohr und trugen dabei den gleichen, misstrauisch machenden Gesichtsausdruck wie in der Schule, kurz bevor sie eine Schandtat ausheckten.

Jetzt, so dachte Severus, war er ein paar Stunden allein. Die Nebenwirkungen des Heiltrankes musste er allein durchstehen, bis Hermine ihre Schuldigkeit als Trauzeugin getan hatte. Er seufzte. Wenn er Pech hatte, würde das gleiche Gefühl in ihm aufkommen wie an jenem herzzerreißendem Tag, an dem er von der Hochzeit von Lily und Potter erfahren hatte. Regulus hatte ihm die Neuigkeiten überbracht; der wusste es von seinem Bruder. Womöglich würde ihn die heutige Hochzeit sogar an die vergangene von Lucius und Narzissa erinnern, ahnte Severus mit Magenschmerzen, weil ihn das wiederum an Draco erinnern würde. An den Unbrechbaren Schwur. An Albus … Die grauenvollste Tat gegen einen anderen Menschen war der geplante Mord an seinem väterlichen Freund. Fünf Jahre die vermeintliche Schuld ertragen zu müssen hatte Severus geprägt.

„Was ist?“, hörte er plötzlich neben sich, so dass Severus herumfuhr. Remus war bei ihm geblieben, was ihn erstaunte.
„Etwa keine Lust“, Severus hob eine Augenbraue, „Molly ein wenig zur Hand zu gehen?“
„Wenn ich ehrlich bin, nein. Ich muss nicht immer helfen“, antwortete Remus im ersten Moment selbstsicher, doch dann kamen Zweifel. „Oder?“ Erwartete man von ihm, dass er wie immer zur Stelle war, wenn Not am Mann war?
Für Severus stand die Antwort fest. „Nicht, wenn du nicht möchtest.“
Remus nickte, blickte sich dabei in dem hohen Eingangsbereich mit ihren weißen Wänden und der goldenen Verzierung um. „Und was wollen wir jetzt machen?“
„Wir?“ Severus klang nicht skeptisch, sondern wirklich überrascht.
„Irgendwie müssen wir doch die Zeit totschlagen. Wir haben noch“, Remus blickte auf die Uhr, „über drei Stunden bis zur eigentlichen Trauung.“
„Drei Stunden?“
Remus hob die Schultern und sie wieder fallen. „Das ist der Nachteil, wenn man den gleichen Portschlüssel nimmt wie die Trauzeugen. Dass die früher hier sein müssen als alle anderen Gäste ist verständlich.“
„Nun“, Severus atmete gelassen durch, „dann werde ich Hermines Ratschlag beherzigen und mir die Nischen ansehen.“
„Die was?“ Dann dämmerte es Remus. „Du willst dich doch nicht wirklich …“
„Ich will mir das Schloss ansehen“, warf Severus erklärend ein. Er ließ Remus die freie Wahl, ihn zu begleiten oder allein losziehen zu lassen.

Das Schloss Schnatzer wartete auf seine insgesamt etwa 450 Gäste und das, obwohl die Feier nicht öffentlich war. Aufdringliche Journalisten musste man nicht befürchten, genauso wenig wie Bombenanschläge, auch wenn Alastor als einzige Person anderer Meinung war. Gegen sein Motto „Immer wachsam!“ kam auch nicht der Frieden an, weil in seinem eigenen Innern Krieg herrschte. Natürlich war auch Alastor früher gekommen als alle anderen, um sich im Schloss nach möglichen Feinden umzusehen.

Als Severus und Remus gerade einen Weg eingeschlagen hatten, der – was sie nicht wussten – sie zur Küche führen würde, liefen sie Alastor über den Weg. Der glaubte im ersten Moment an Gefahr. Im Bruchteil einer Sekunde stufte Alastor diese Begegnung jedoch als unbedenklich ein. Nicht in jeder Person sah er potenzielle Attentäter, die mit Hilfe des Vielsafttranks die Identität eines Gastes oder des Personals angenommen hatte, um ungestört in der Küche das Essen zu vergiften oder am Traualtar eine magische Bombe anzubringen, um mit einem Schlag die Großen und Mächtigen von der Bildfläche zu räumen. Es klang paranoid und vielleicht war es das auch, dachte Alastor, aber es konnte trotzdem niemals schaden, ein Auge auf alles zu haben. Das Gleiche dachte er offenbar von Severus.

„Alte Gewohnheiten wird man nicht so schnell los“, sagte er zum ehemaligen Todesser, wobei für Remus nicht klar war, ob die eigenen Spionagetätigkeiten des Aurors gemeint waren oder die von Severus.
Der hingegen wusste, dass Alastor ihn direkt angesprochen hatte. „Damit können Sie Recht haben“, gab Severus offen zu. Wozu lügen? Ihm lag genauso viel daran, mögliche Gefahrenquellen aufzuspüren. Severus suchte jedoch nicht gezielt nach ihnen, so wie Alastor es tat. Er machte nur eine entspannende Schlossbesichtigung. Etwaige Risiken für die Gesellschaft würden Severus dank seiner Aufmerksamkeit nebenbei auffallen. Severus‘ Vergangenheit als Todesser machte ihn für Alastor zu einem dieser möglichen Risiken.
Remus fühlte die Spannung in der Luft, weswegen er eingriff und versicherte: „Wir sehen uns nur das Schloss an.“
Der ehemalige Auror vertraute Remus‘ Aussage. Alastors Skepsis hatte Severus‘ gegenüber ein wenig nachgelassen, besonders weil jedem bekannt war, wie viel Vertrauen Albus in Severus setzte. Das bedeutete nicht, dass Alastor den Tränkemeister mochte oder ihm gar vertraute, sondern nur, dass er ihn nicht mehr unentwegt im Auge behalten wollte. Alastor nickte Remus zu. „Passt im ersten Stock bei dem Balkon auf, der ist einsturzgefährdet. War gerade auf dem Weg zum Schlossbesitzer, damit die das hier absperren. Nicht auszudenken, wenn eines der Kinder dort herumtollt oder jemand, der im Laufe des Abends einen Drink zu viel genommen hat.“ Sicherheit war für Alastor ein weiträumiges Gebiet, denn selbst solche Dinge entgingen ihm nicht.
Remus lächelte. „Danke für die Warnung.“

Gerade wollte jeder seinen Weg fortsetzen, da kam ein junger Mann um die Ecke gebogen. Ein gut aussehender Herr Anfang dreißig, der bei den Damen unter den Gästen sicherlich für Schwärmerei sorgen könnte. Nichtsdestotrotz war er Fremder.

„Wer sind Sie?“, fragte Alastor barsch.
Der Mann stoppte abrupt, zeigte dann auf sich und lächelte. „Richard Van Tessel.“

Der Name war Remus bekannt, denn es war der Familienname des alten Adelsgeschlechts, das dieses Schloss besaß. Die Van Tessels waren seit einem Jahrhundert keine einflussreiche Familie mehr und gesellschaftlich von geringer Bedeutung. Der soziale Sturz kam mit der Blutschande – die Vermählung eines Van Tessels mit einem Muggel. Der junge Mann hatte sich nicht einmal mit Baron vorgestellt, denn er legte ganz offensichtlich keinen Wert darauf.

Alastor musterte ihn: „Sie sind der Schlossbesitzer? Sie sind doch keine 150 Jahre alt.“
„Nein, Sir“, der junge Mann lachte, „ich trage denselben Namen wie mein Urgroßvater. Der wird heute Abend übrigens bei den Feierlichkeiten vorbeischauen, um einem alten Schulfreund Hallo zu sagen.“
„Und wer soll das bitte sein?“, hakte Alastor nach.
„Albus Dumbledore.“ Richard Van Tessel nickte den dreien zu. „Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden? Ich möchte eine Tür versiegeln. Der Balkon im ersten Stock darf nicht betreten werden.“
„Ah“, Alastor blühte auf, „genau deswegen wollte ich mit Ihnen sprechen. Ich werde Sie begleiten, junger Mann.“

Wahrscheinlich wollte Alastor einfach nur mitgehen, um zu überprüfen, ob Van Tessel auch der war, der er behauptete zu sein. Wieder allein auf dem Gang nahm Severus einen Duft wahr, der ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ.

„Wir könnten uns mal den Saal ansehen, indem die Trauung stattfindet“, schlug Remus vor, damit er sich jetzt schon anschauen konnte, wo er laut Plan nachher sitzen würde. „Oder hast du einen anderen Vorschlag.“
Severus hatte die Tür entdeckt, hinter der der Duft am stärksten war. Gerade kam eine junge Frau mit einem Tablett heraus, das sie auf einen der Rollwagen stellte. Etwas Gebäck und Kaffee für die ersten Gäste, die sich bereits im Schloss aufhielten. Severus erwiderte daher: „Wir könnten uns auch erst eine Tasse Kaffee besorgen. Mein Frühstück ist etwas karg ausgefallen.“
Remus hielt sich den knurrenden Magen, als er die Hörnchen in dem großen Korb bemerkte. „Ich habe heute noch gar nichts gegessen.“
Die junge Küchenhilfe bemerkte die beiden. „Guten Tag, gehören Sie zu den Hochzeitsgästen?“ Remus nickte. „Es tut mir leid, dass das Frühstück noch nicht aufgebaut ist. Möchten Sie jetzt schon einen Kaffee oder Tee?“

Das Angebot nahm besonders Severus dankend an. Er war viel gelassener, wenn sein Tag mit mehr als nur einer Tasse Kaffee begann.

Weit weg in einer kleinbürgerlichen Einfamilienhaussiedlung, fernab von allem Magischen, hatte eine andere Person heute früh freiwillig auf ihren morgendlichen Kaffee verzichtet. Vor lauter Aufregung peitschte der hohe Blutdruck ihr die Röte ins Gesicht.

„Alles in Ordnung, meine Liebe?“, fragte ihr beleibter Gatte, der sich gerade den Aktenkoffer griff. „Möchtest du nicht doch mitkommen? Ich könnte das Einzelzimmer in ein Doppelbettzimmer umbuchen.“
„Du gehst übers Wochenende auf Geschäftsreise“, hielt sie ihm vor Augen. „Ich würde mich die drei Tage nur langweilen.“ Ihr Mann lächelte ihr zu, womit er sich selbst ein Mondgesicht verpasste. „Ich werde das schöne Wetter lieber nutzen, um den Garten auf Trapp zu bringen“, log sie nur zur Hälfte.

Den morgigen Sonntag würde sie von morgens bis abends bei den Beeten verbringen. Heute aber – und davon hatte sie weder ihrem Ehemann noch dem Sohn erzählt – besuchte sie eine Hochzeitsfeier. Auch ohne Kaffee war sie schon aufgeregt genug.

Dem Gatten im Auto winkte sie noch mit Kusshand hinterher, bevor sie zurück ins perfekte Eigenheim ging, derweil einen kritischen Blick auf das Unkraut im Garten warf. Sie musste sich nur noch für die Feier umziehen. Ein schlichtes, dennoch elegantes Kleid hatte sie für heute gewählt. Um nichts in der Welt wollte sie zwischen all den merkwürdigen Leuten auffallen, doch genauso wenig wollte sie den heutigen Tag verpassen. Vielleicht wollte sie nur in Erfahrung bringen, was er heute war, wie er sich entwickelt hatte, auch wenn sie sich ständig eingeredet hatte, dass es ihr egal sein könnte.

Die überraschende und vor allem unerwartete Einladung zur Hochzeit hatte sie eines Vormittags mit einer Eule erhalten, als sie allein Zuhause war. Die ganze Familie war eingeladen, doch Petunia hatte sie vor Vernon und Dudley versteckt. Ihr Mann würde sowieso niemals mitgehen, würde sich wahrscheinlich schon wegen der puren Einladung so sehr aufregen, dass man um seine Herzfunktion fürchten müsste. Allein Petunia wollte entscheiden, ob sie Harry gegenübertreten wollte oder nicht. Vielleicht wollte sie unbewusst Vergleiche ziehen und sehen, wie weit er im Leben gekommen war, wie unbedeutend oder wichtig er war. Vielleicht wollte sie auch einfach nur nach all den vielen Jahren sehen, wie sehr sich Harry verändert hatte. Ob er noch eine runde Brille trug, ob seine wirren Haare noch immer die Narbe verdeckten und vor allem wer die Frau war, die er für sich gewählt hatte.

Petunia hatte Angst. Ihr war nicht wohl bei dem Gedanken, den ganzen Tag mit Zauberern und Hexen zu verbringen, die einem Ringelschwänze anzaubern konnten und Spaß daran fanden, Menschen aufzublasen. Ihre Erlebnisse mit der magischen Welt waren nicht die besten. Sie war zudem völlig unsicher, wie Harry auf sie reagieren würde. Sollte er wütend werden und – wie damals – spontan irgendwelche schrecklichen Zauberdinge vollbringen, wäre sie ihm hilflos ausgeliefert. Anderseits wusste sie von Mrs. Figg, mit der sie sich nachher zur Abreise treffen würde, was Harry alles für Hürden überwunden hatte, um für Frieden zu sorgen. Auf diese Weise war sie immer auf dem Laufenden geblieben, auch wenn sie ihren Neffen seit seiner Volljährigkeit nicht mehr persönlich gesehen hatte. Sie war über den Krieg informiert. Petunia tat Zauberer gern als Missgeburten ab, dennoch war sie sich damals über die drohende Gefahr bewusst, die von Voldemort ausging. Er war es gewesen, der ihr die Schwester genommen hatte. Der dafür gesorgt hatte, dass Harry in ihrer Familie endete.

Kritisch musterte Petunia sich im Spiegel, richtete ihr blondes Haar. Sie griff nach einer weißen Jutetasche, in der sie zwei Hochzeitsgeschenke untergebracht hatte. Niemand sollte ihr unterstellen können, sich nicht dem großen Ereignis entsprechen zu verhalten. Ein Geschenkgutschein von Tiffany’s mit einem ansehnlichen Betrag hatte sie für das Brautpaar gewählt. Darüber hinaus hatte sie ein Geschenk in dezentes Papier eingewickelt. Es war eine große Mappe mit einem Stück Vergangenheit. Ein ganz persönliches Präsent für Harry.

Über Geschenke machte man sich im Mungos gerade gar keine Gedanken. Viel zu mühselig war es gewesen, Frank und Alice die Krankenhauskluft auszuziehen, damit sie in etwas Nettes schlüpfen konnte. Luna und Augusta hatten Alice ein hübsches Kleid angezogen, das viele praktische Vorteile besaß. So konnte man bei ihr beispielsweise nicht sehen, dass sie eine Windel für Erwachsene trug. Bei Nevilles Vater sah es anders aus. Die Krankenschwester hatte geholfen, seinem Vater Hemd und Hose anzuziehen. Die Beinkleider waren im Schritt so eng, dass die Windel sich sichtbar unter dem Stoff abzeichnete. Die Schwester musterte ihren Patienten, der schon auf der Janus Thickey-Station lag, bevor sie ihre Ausbildung überhaupt begonnen hatte. Sie kannte dieses Ehepaar gar nicht anders. Beide waren ein hoffnungsloser Fall.

„Man könnte ihm vielleicht eine leichte Decke über den Schoß legen“, schlug die Schwester vor, während sie zaghaft an der Hose herumzupfte. Frank lachte unerwartet. Wahrscheinlich weil es kitzelte. Sein Blick konnte den eines anderen Menschen nicht lange halten. Zu nervös huschten seine Augen hin und her, reagierten auf alles, was einen Reiz im Gehirn auslöste. Nur verarbeiten konnte er diese Reize nicht. Die dafür wichtigen Nervenbahnen waren durch die Folter mit dem Cruciatus-Fluch durchtrennt. „Ich hoffe nur, dass die Feier nicht zu viel für die beiden wird.“
Neville hatte die gleichen Bedenken geäußert, nachdem seine Großmutter ihm von Mollys Vorschlag erzählte, auch seine Eltern trotz ihrer Situation an der Hochzeit teilnehmen zu lassen. „Deswegen kommen Sie ja mit“, brachte er es auf den Punkt.
Von der anderen Seite des Raumes hörte man Lunas Stimme. „Deine Mama ist fertig. Sieht sie nicht hübsch aus?“

Neville blickte hinüber. Sie sah tatsächlich hübsch aus. Auf jeden Fall anders. Alles würde an seiner Mutter gut aussehen, solange das Nachthemd des Mungos nicht mit im Spiel war. Die Haare waren zu kurz, registrierte Neville zum wiederholten Male. Die Pflege seiner Eltern war für die Schwestern einfacher, wenn die Patienten kurze Haare hatten. Alice trug einen praktischen Haarschnitt und keinen, der schön aussah. Luna kniete neben dem magischen Rollstuhl, streichelte dabei die Hand von Alice. Seine Mutter reagierte. Ruckartig drehte sie den Kopf, um zu sehen, was die Berührung auslöste. Alice blickte auf die Hand, die ihre streichelte. Unkontrolliert formten ihre Gesichtsmuskeln ein Lächeln.

Seine Großmutter richtete das Wort an ihren Enkel. „Neville, du machst dir viel zu viele Gedanken.“
„Tu ich das?“, stellte er als Gegenfrage. „Ich kann mich noch gut an den Zoobesuch erinnern. Der verlief nicht gerade vorbildlich.“ Das Brüllen mancher Tiere hatte seine Eltern so aufgeregt, dass sie den Ausflug auf der Stelle abbrechen mussten.
„Die liebe Kathleen kommt mit“, Augusta deutete auf die Schwester, „und Molly hat mir versichert, dass auch sie Vorkehrungen getroffen hat. Es gibt einen Ruheraum für die beiden und eine Rundum-Betreuung.“
„Aber denken Sie daran“, begann Kathleen, „dass wir um neun spätestens wieder hier sein müssen. Es wird sonst zu unruhig für die anderen Patienten der Station, wenn wir zu spät zurückkommen.“
„Ich sehe da überhaupt kein Problem“, versicherte Augusta, die hinüber zu ihrem Sohn ging und über seine kurzen Haare strich. Sofort wandte er den Kopf, um über die Schulter zu blicken. Sie nutzte den Moment, um ihm einen Kuss auf die Stirn zu geben. „Sie müssen mal raus, Neville. Diese Hochzeit wird viele alte Freunde zusammenbringen. Ich bin davon überzeugt, dass es das Richtige ist, den beiden diese Möglichkeit auch zu geben.“
Einerseits verstand er seine Großmutter, aber sie sollte ihn auch verstehen. „Ich mache mir nur Sorgen, dass etwas passiert und niemand schnell genug handelt.“
„Moment“, warf Kathleen vorgetäuscht beleidigt ein, „ich trage die Verantwortung für die zwei und ich werde meinen Job ausgezeichnet machen!“
„Das war auch nichts Persönliches“, beschwichtigte er die Schwester. „Ich …“ Er verstummte, schüttelte hilflos den Kopf.

So viel könnte passieren. Ein Erstickungsanfall, ein Kreislaufkollaps – war alles schon dagewesen. Am Ende war es Luna, die ihm alle Angst nehmen konnte. Sie ging so selbstverständlich mit seinen Eltern um, dass er ihr die Freude nicht nehmen wollte, beide auch am heutigen Tag um sich zu haben. Sie gehörten zur Familie.

„Dann sind wir alle fertig?“, fragte Neville in die Runde. Der Portschlüssel war eine Wäscheleine, die sofort an Frank festklebte, als sie ihm die Schnur in die Hand drückten. Die Rollstühle waren mit einem extra starken Stabilisierungszauber versehen, so dass die Landung wenigstens für seine Eltern eine ruhige Angelegenheit werden würde. Sie konnten nicht umkippen.

Ein Ziehen im Bauchnabel. Die Reise begann. Die Wäscheleine war der einzige Portschlüssel, der direkt ins Schloss führte.

Bei der Landung im ersten Stock des Schlosses half Luna Nevilles Großmutter, das Gleichgewicht zu behalten. Nevilles hatte weniger Glück. Seine Landung war nur weich, weil er auf der Tasche mit den Utensilien für seine Eltern gelandet war. Bäuchlings lag er vor den Füßen einer Person, die erschrocken Aufschrie. Ein Blick nach oben verriet, dass es Harry war.

„Mannomann, habt ihr mich erschreckt!“ Harry reichte seinem Freund die freie Hand, um ihm aufzuhelfen. In der anderen Hand hielt er selbst eine Tasche. In diesem Moment kam Wobbel mit Nicholas aus der Tür hinter Harry. Der ELf sah noch, wie Neville dankend die Hand nahm, um sich wieder aufzurichten. Harry musterte die Tasche, auf der Neville gelandet war. „Scheint eine sanfte Landung gewesen zu sein. Was ist da drin?“
„Windeln“, erwiderte Neville, der wiederum die Tasche in Harrys Hand beäugte. „Und was hast du da drin?“
„Auch Windeln“, gestand Harry verlegen, weil er eben erst begriffen hatte, dass Nevilles Eltern auch welche tragen würden. „Molly meinte, die Kinderbetreuung im Erdgeschoss wäre schon besetzt. Wobbel wollte mit Nicholas mal vorbeischauen.“ Er reichte die Tasche an Wobbel weiter. „Unten ist auch der Wickelraum, deswegen verstauen wir die Tasche dort.“

Die Röte schoss ihm ins Gesicht und Harry konnte nichts dagegen tun. Wortlos schaute er seinem Elf hinterher, der mit Nicholas zusammen einen Blick auf die vorhandenen Spielmöglichkeiten für die kleinen Gäste werfen wollte. Diesen kurzen Moment benötigte er, um sich wieder zu sammeln.

Neville hob seine Tasche auf und richtete das Wort an Harry. „Tut mir leid, dass wir dich erschreckt haben. Ich dachte, jeder wüsste Bescheid, wann wir hier ankommen.“
Harry registrierte erst jetzt bewusst die anderen, grüßte die Schwester, Luna und Nevilles Oma. Als sein Blick auf die beiden Menschen im Rollstuhl fiel, gestand Harry: „Ich wusste nicht einmal, dass deine Eltern kommen werden.“
„Sie werden nicht die ganze Zeit dabei sein, das wäre zu viel Aufregung. Die Trauung und vielleicht noch ein Stündchen danach.“

Wie paralysiert näherte sich Harry der Frau im Rollstuhl, die gedankenverloren den Blick wandern ließ. Sie kannte er besonders gut von dem Foto, auf dem sie zusammen mit seiner Mutter auf einem Karussell fuhr. Eine junge Frau, die nur so vor Gesundheit strotzte und fröhlich lachte. Vorsichtig, um sie nicht zu erschrecken, kniete er sich neben sie, um Nevilles Mutter zu grüßen.

„Hallo“, sagte er vorsichtig, erntete damit jedoch vollkommene Ignoranz. Der neue Ort mit seiner golden glitzernden Verzierungen an den Wänden war zu viel Ablenkung für Alice.
„Nimm ihre Hand“, riet Neville. „Dann weiß sie, dass jemand bei ihr ist.“
Den Ratschlag nahm Harry an. Langsam legte er ihre Hand in seine und grüßte nochmals: „Hallo, ich bin der Sohn von Lily und James.“ Nach einem kurzen Augenblick fügte er hinzu: „Mein Name ist Harry Potter.“

Flüchtig, als hätten die Namen – oder die Berührung – etwas in ihr ausgelöst, trafen sich ihre Blicke. Der ihre war flatterhaft. Für einen kurzen Moment schaute sie ihm mit konzentrierter Fixierung die grünen Augen, bevor das Muster der Wand hinter Harry ihr Interesse weckte und der Blickkontakt abbrach.