Harry Potter und die Schatten der Vergangenheit - BEENDET

Hier könnt ihr eure Fanfictions und Gedichte zu Harry und seiner Welt vorstellen.

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Muggelchen
EuleEule
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Beitrag von Muggelchen »

Rest von Kapitel 198

Höflich verabschiedete sich Hermine von Draco und Lucius, um per Flohnetzwerk Remus in Hogwarts aufzusuchen. Nachdem sie gegangen war, blickte Lucius seinen Sohn fragend an, doch auch der sagte kein Wort.

„Draco, willst du mich nicht ins Bild setzen?“
„Wie Hermine schon sagte, ist das eine sehr private Angelegenheit, bei der ich mich nicht einmischen werde.“
„Na gut“, Lucius klang eingeschnappt, „dann bleibt mir nichts anderes übrig, als Severus tatsächlich einmal zu besuchen.“

Dabei verzog er das Gesicht, denn wenn er Hogwarts betreten sollte, würde Dumbledore in Windeseile davon erfahren, und Gespräche mit dem alten Mann waren ihm zuwider. Der Direktor machte sich häufig einen Spaß daraus, ihn mit unangenehmen Zweideutigkeiten zu torpedieren.

„Eigentlich komme ich wegen einer ganz anderen Angelegenheit zu dir, mein Sohn. Es geht um die Finanzen, die keinesfalls schlecht aussehen. Im Gegenteil.“
Draco lächelte einseitig. Mit Hilfe seines Vaters hatte er sich an einem Unternehmen beteiligt und endlich das bisher immer abgelehnte Mitspracherecht in der Geschäftsführung erhalten. „Wie kann ich dir helfen?“
„Ich hätte gern 20.000 Galleonen.“
„Darf ich fragen, wofür die sein sollen?“

Sein Vater presste die Lippen zusammen, weil er es unverschämt fand, von ihm gefragt zu werden. Früher waren Geldangelegenheiten nie ein Thema, das man ausdiskutieren musste.

„Wenn du es denn unbedingt wissen möchtest: Gründlich habe ich mir überlegt, den Ruf der Familie wie damals zu verbessern, indem ich Spenden überreiche.“
„Ah!“ Draco verstand. „Und welche Institutionen hast du im Auge?“
„Meine Güte“, ein Seufzer war zu vernehmen, „ist das deine Neugierde oder traust du mir nur nicht?“
„Nimm es mir nicht übel, Vater, aber es ist eine Mischung aus beidem.“
„Es ist doch immer wieder erfrischend zu erfahren“, stichelte Lucius, „wie die eigene Familie über einen denkt.“
Draco besaß die Frechheit aufzulachen. „Ich sagte doch, Vater, dass du es mir nicht übel nehmen sollst. Wenn Borgin & Burke's auf deiner Gönnerliste stehen sollte, wäre ich nicht sehr angetan von deinem Vorhaben.“
„Die benötigen ganz bestimmt keine Spende. Mit den Objekten, die du denen verkaufst hast – meine Sammlerstücke! –, wird sich der Laden gesundstoßen. Ich bin drauf und dran, den ein oder anderen Artikel zurückzukaufen.“
„Das werde ich nicht zulassen. Schwarze Magie übt sich negativ auf die Zauberer und Hexen aus, die ihr ausgeliefert sind. Warum sagst du mir nicht einfach, welcher Einrichtung du gern etwas spenden möchtest?“
„Also gut, wenn es dich so interessiert. Es gibt ein Genesungsheim mit geringem Jahresbudget, weil sie sich auf eine“, er druckste herum, „Erkrankung spezialisiert haben. Die Aussicht für die Patienten scheint hoffnungslos. Möglicherweise hilft eine Spende, ein wenig nach vorn zu blicken.“
„Und zusätzlich den Namen Malfoy mit etwas Positivem zu behaften“, warf Draco treffend ein.
„Ist das nicht in deinem Sinne?“
„Doch Vater, nur zu. Wie heißt das Genesungsheim?“
„Du magst es nicht glauben, aber ich habe den Namen vergessen. Geleitet wird es aber von einem Herrn Panagiotis, der die Opfer von Dementoren behandelt. Die Adresse habe ich in unserem Büro.“

Man konnte es drehen und wenden wie man wollte. Es war egal, ob sein Vater aus Nettigkeit spenden wollte oder aus Imagegründen. So oder so würde es dem Heim und auch den Malfoys zugute kommen.

„Welche noch?“ Langsam war Draco neugierig geworden.
„Ein Heim für muggelgeborene Zauberer und Hexen. Ich habe gehört, es wäre im Krieg von Todessern angegriffen worden.“ Damit dieser Satz nicht allein im Raum stehen würde, fügte Lucius rechtfertigend hinzu: „Ich schwöre, ich war nicht dabei – ich wusste davon nicht einmal etwas!“
„Ich habe nicht vor, dich an den Pranger zu stellen, Vater.“
„Gut“, erleichtert atmete Lucius aus, „es reicht nämlich vollkommen, dass ich auf sämtlichen Märkten und anderen Einkaufsgegenden wie Luft behandelt werde für die Dinge, die ich damals …“
„Du musst dich mir gegenüber nicht rechtfertigen“, beteuerte Draco, doch sein Vater hatte andere Pläne. Lucius war sichtlich aufgewühlt.
„Wenn es einer erfahren darf, dann du. Wärst du nicht gewesen, Draco, und auch nicht deine Mutter, hätte ich mit Severus zusammen …“ Verzweifelt suchte Lucius in Gedanken nach den damaligen Überlegungen, die er durchaus gehabt, aber nie mit jemanden geteilt hatte. Fluchtgedanken, die er immer für sich behalten hatte, weil das Leben von Frau und Kind auf dem Spiel stand. „Severus wurde genauso vom Dunklen Lord an der Nase herumgeführt wie ich. Ich hätte …“ Wieder fehlten ihm die Worte und er verfluchte die Unfähigkeit, seine Gefühle von damals korrekt ausformulieren zu können. „Ich habe nicht viel von Muggeln gehalten, das gebe ich zu. Noch heute ist es schwer für mich nachzuvollziehen, warum du unbedingt eine Muggelgeborene mit der gewichtigen Aufgabe der Trauzeugin zum Mitglied unserer Familienbande gemacht hast.“
„Das ist einfach, Vater. Ich sehe den Menschen, nicht mehr dessen Herkunft, denn sie tun es genauso. Man kann leichter mit Mitmenschen umgehen, wenn man sie auf den größten gemeinsamen Nenner bringt.“

Lucius konnte sich gegen das realitätsnahe Erlebnis nicht erwehren, dass ihn in diesem Moment übermannte. Mit einem Male schien er ein Jahr in der Zeit zurückgereist zu sein und er hörte glasklar die Stimme von Schwester Marie sagen: „Sie, Mr. Malfoy, sowie jeder andere Patient, egal ob Squib, Muggelstämmiger oder Halbblüter, sind alle auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, ob Sie es glauben oder nicht, und dieser gemeinsame Nenner ist meine Grundlage für den Umgang mit Patienten.“

„Vater? Geht es dir nicht gut?“
Von der Stimme seines Sohnes zurück in die Gegenwart geholt nickte er. „Du hast dich eben angehört wie meine Krankenschwester.“
„Wie wer?“, fragte Draco nach.
„Schwester Marie.“

Zufälle gab es ohne Zweifel. Jeder erlebte sie, manchmal sogar, ohne von ihnen zu wissen. So fragte in der Winkelgasse Sirius gerade bei seinem Kollegen Sid nach, weil er den Namen nicht korrekt verstanden hatte.

„Wer?“
Sid antwortete: „Schwester Marie.“
Ein wohlwollendes Lächeln, das man bis dato noch nie bei ihm gesehen hatte, ließ sich auf Sirius‘ Gesicht nieder. „Eine Krankenschwester also, mmmh?“ Mit dem Ellenbogen stieß Sirius seinen Kollegen motivierend an. „Wie oft sehen Sie Marie?“
Verschüchtert betrachtete Sid die Unterlagen vor sich, verstand aber kein Wort von dem, was er selbst geschrieben hatte, weil er an sie denken musste. „Miss Amabilis ist …“
„‘Miss Amabilis‘? Reden Sie nur in meiner Gegenwart so höflich über sie oder nennen Sie Ihre Herzensdame auch nicht beim Vornamen, wenn Sie mit ihr allein sind?“
„Ich würde es bevorzugen, wenn Sie Begriffe wie ‘Herzensdame‘ vermeiden würden.“
„Kommen Sie schon, Sid.“ Das erste Mal verwendete Sirius dessen Vornamen, was der mit einem Schulterzucken zur Kenntnis nahm. „Sag schon.“ Auch die persönliche Anrede wurde gestattet, zumindest wurde Sirius nicht von Sid zurechtgewiesen. „Sid?“
„Ich habe sie lange nicht mehr gesehen“, gestand der ehemalige Ministeriumsangestellte.

Auf der Stelle war Sirius still, doch in seinem Kopf hörte er die ganzen anfeuernden Worte, die er damals schon James gegenüber fallen gelassen hatte, um ihm den Rücken zu stärken, damit er endlich die Rothaarige aus dem eigenen Haus ansprechen würde. Bei Sid wusste Sirius nicht, welchen Tipp er sich zu Herzen nehmen würde. Bei James war es leicht gewesen, ihm Ratschläge zu erteilen. Immerhin war sein bester Freund zu der Zeit ein Teenager gewesen, der selbst merkwürdigste Ideen beherzigte. Sid war anders, völlig anders als James war. Reserviert, ordnungsliebend, anständig. Da war nicht der Anflug eines Lausbuben in ihm zu erkennen.

„Schreib ihr doch mal“, war der erste zaghafte Versuch, Sid einen Schubs in die richtige Richtung zu geben.
„Und wenn sie sich nicht mehr an mich erinnern kann?“
Sirius stöhnte laut und ausgedehnt. „Meine Güte, Sid. Schon daran gedacht, dass sie genauso an dich denken könnte wie du an sie? Weiß sie, wie sie dich kontaktieren könnte?“
„Nein, sie wusste nur, dass ich als Beistand beim Ministerium beschäftigt war, aber dort arbeite ich nicht mehr.“
„Da haben wir es doch!“, machte Sirius ihm klar, doch Sid verstand die Welt nicht mehr, so dass Sirius ihm auf die Sprünge half. „Stell dir vor, sie will dich wiedersehen. Wie soll sie dich finden? Das Ministerium wird ihr wohl kaum deine neue Adresse geben. Aber selbst wenn sie deine Adresse auf kuriosen Umwegen erhalten sollte, gibt es einen sehr großen Störfaktor, der ihren Versuch vereiteln wird: der Fidelius über deinem Haus.“

Einsichtig nickte Sid. Daran hatte er nicht gedacht. Insgeheim hatte er sich schon oft ausgemalt, sie würde mit einem Male vor seiner Tür stehen, aber das war nicht möglich, selbst wenn sie den gleichen Gedanken hegen sollte.

„Aber wenigstens weißt du, wo sie arbeitet. Du bist am Zug, Sid. Schreib ihr.“
„Und was soll ich ihr …“ Weil Sirius mit den Augen rollte, stoppte sich Sid und überlegte. Er hätte in der Tat eine Menge zu berichten. Seine neue Arbeit für die Initiative war etwas, auf das er sich was einbilden konnte.

Verträumt stellte Sid sich vor, wie Marie sich gerade liebevoll um einen Patienten kümmerte oder im Schwesternzimmer Krankenakten sortierte. Letzteres war tatsächlich ihre momentane Beschäftigung. Sie überprüfte Akten von Patienten, die zur Nachsorgeuntersuchung erschienen waren. Als sie am Ende die Stapel sortiert hatte, war nur eine Akte übrig. Die Akte eines ehemaligen Patienten, der nicht einmal auf die beiden Briefe des Mungos geantwortet hatte. Professor Puddle bemerkte, wie Marie die Mappe aufschlug.

„Von wem ist die?“, wollte er wissen.
„Von Mr. Malfoy. Er war noch nicht hier.“
„Bringen Sie die Akte trotzdem wieder ins Archiv.“
Maries Kopf schnellte hoch. „Aber Professor, wollen Sie ihn nicht noch einmal darauf aufmerksam machen, wie wichtig diese Nachuntersuchung ist?“
„Soll ich jedem Patienten hinterherlaufen, der sich dem Rat eines anerkannten Heilers und eines Professors auf so ignorante Weise entzieht? Nein Marie, weg mit der Akte. Er soll nur nicht heulend angelaufen kommen, wenn der Zauber auf seiner Netzhaut sich am Ende doch als instabil erweist und langsam vergeht.“

Ohne auf eine Antwort von Marie zu warten, verließ Professor Puddle das Schwesternzimmer. Einen Augenblick lang saß Marie ruhig auf ihrem Stuhl, bis sie die Akte von Mr. Malfoy nochmals aufschlug. Als Erstes war oben links die neue Adresse notiert. Die Angabe des Zellentraktes in Askaban war durchgestrichen und durch „Malfoy Manor“ ersetzt worden. Offensichtlich war das Gebäude so bekannt, dass Eulen keine weiteren Angaben wie einen Straßennamen benötigten. Mit einem Zauber ließ sie alle Akten hinter sich herschweben, als sie den Weg zum Archiv einschlug. Danach hätte sie Feierabend. Gedankenverloren, weil sie in Erwägung zog, Mr. Malfoy persönlich zu schreiben, ging sie an ihrem Kollegen Mike vorbei, der nun ihre Schicht übernahm.

„Was machst du denn für ein Gesicht? Und seit wann grüßt du mich nicht mehr?“
Marie fuhr zusammen. „Mike, erschreck mich doch nicht so.“
Neugierig beäugte er die Akten, die hinter ihr in der Luft darauf warteten, weiterfliegen zu dürfen. „Malfoy?“, las er vor. „Du vermisst unseren Blonden doch nicht etwa?“
„Ich mag diese Spitznamen nicht. Ich mag es allgemein nicht, wenn ihr Patienten mit Spottnamen belegt.“
„Dann vermisst du vielleicht den Bürohengst?“ Ihr warnender Blick ließ ihn schmunzelnd erklären: „Er ist kein Patient.“
„Warum geben wir uns eigentlich nicht gleich gegenseitig Spitznamen? Ellen hat schon einen bekommen: Tölpelhafte Planschkuh.“
Mike runzelte die Stirn. „Von wem?“
Grinsend erwiderte sie: „Damals von Mr. Malfoy. Ich wette, alle Patienten haben auch für uns ihre eigenen Beinamen erfunden. Finde deinen heraus, Mike.“
„Ich will meinen gar nicht wissen“, winkte er ab. „Wir sehen uns nächste Woche. Schönen Feierabend.“
„Dir auch.“

Der „Bürohengst“ war derjenige, an den sie häufig denken musste. Die ganze Umgebung des Krankenhauses erinnerte sie an Mr. Duvall, selbst das Schwesternzimmer, in dem er mit ihr gesprochen hatte. Ihre Briefe ans Ministerium mit ihm als Empfänger waren allesamt zurückgekommen, die Frage an die Personalstelle, ob Mr. Duvall dort noch arbeiten würde, wurde ohne weitere Informationen verneint.

Im Archiv angekommen hatte sie beim Einordnen der Akten den Entschluss gefasst, Mr. Malfoy persönlich zu schreiben, ihm zu erklären, warum diese Nachuntersuchung nicht auf die leichte Schulter genommen werden sollte. Zuhause, in ihrer einsamen Zwei-Zimmer-Wohnung in London, verwirklichte sie den Brief an den ehemaligen Patienten, der ihr auf seltsame Weise ans Herz gewachsen war.

Am nächtlichen Himmel, während die meisten Zauberer und Hexen schliefen, fand reger Verkehr statt. Viele Posteulen flogen die Nacht hindurch, weil sie um diese Uhrzeit nicht mit Besenfliegern rechnen mussten. Bis auf die anderen Posteulen waren höchstens Fledermäuse unterwegs, die mit ihrem natürlichen Radar jedem Hindernis auswichen. Manchmal machten die Eulen auf einem hohen Ast Rast, um dem spektakulären Gesang einer Nachtigall zu lauschen. Auf diese Weise erhielt jeder magische Mensch schon früh am Morgen seine Post, auch die Schüler und Angestellten von Hogwarts.

Zwei Eulen landeten direkt vor Neville. Es gab nicht viele Menschen, die ihm schrieben, weswegen er im ersten Moment damit rechnete, die Eulen wären für die Person rechts oder links von ihm, aber beide verharrte stur vor seinem Teller. Auf beiden Umschlägen stand tatsächlich sein Name. Blickfang war eine bunte Briefmarke, die eine gemalte Biene zeigte. Die Zahl „60“ war das Einzige, das ihm von all den fremden Zeichen bekannt war. Den zweiten Brief beachtete er gar nicht mehr.

„Japan“, flüsterte Neville ehrfürchtig. Ein Brief von Takeda. Auf der linken Seite des Umschlags war der Stempel einer hiesigen Posteulerei zu sehen, die den Brief aus der Muggelpost übernommen und an ihn weitergeleitet hatte. Vorsichtig betastete er den dicken Umschlag und fuhr zusammen, als beide Eulen plötzlich laut schuhuten. Die eine wollte ihren Brief loswerden, die andere wollte ihre Bezahlung. „In der Eulerei gibt es Wasser, Futter und einen Platz zum Ausruhen.“ Die Eule verstand und schwirrte ab. Die andere ließ sich den zweiten Brief abnehmen, den er zunächst beiseite legte.

„Na, Neville“, grüßte Harry ihn im Vorbeigehen. Weil sein Freund nicht reagierte, kam Harry auf ihn zu, bemerkte dabei den Brief in Nevilles Händen. „Machst du ihn auf oder versuchst du, ihn mit Gedankenkraft zu öffnen?“
„Was?“
„Du stehst ja völlig neben dir, Neville, was ist los?“, fragte Harry mit einem Schmunzeln.
Völlig ernst erwiderte Neville: „Ein Brief!“
„Ja, das kann ich sehen. Von wem …“
„Takeda! Er hat mir geschrieben. Mir!“ Nevilles Begeisterung wich der Erinnerung an das Gespräch mit Hermine. Ein wenig enttäuscht erklärte er: „Natürlich hat er mir geschrieben. Hermine hat ihn darum gebeten.“
„Ist das der Professor, den Hermine neulich mal besucht hatte?“

Die Identität von Takeda war mit wenig Worten geklärt. Mehr konnte Harry nicht aus Neville herausbekommen, denn der verließ den Frühstückstisch, um in einem der Gewächshäuser den Brief und die mitgelieferten Samen der Zuckerbüsche in Augenschein zu nehmen. Der japanische Professor hatte ihm einige Tipps gegeben, für die Neville dankbar war.

Am Frühstückstisch hielt jeder der Lehrer einen Brief in den Händen, nur Harry nicht. Severus, der wie üblich neben ihm saß, las seinen Brief sehr aufmerksam. Als Harry sich umblickte, stand momentan keiner der Lehrer für ein lockeres Gespräch zur Verfügung. Jeder hatte seine Nase in das Schreiben gesteckt, selbst Remus.

„Ich komme mir etwas blöd vor“, murmelte Harry, der mit seinen Händen nichts anderes anzufangen wusste, als sich das Essen auf den Teller aufzutun.
„Warum?“, hörte er Severus neben sich fragen, der noch immer den Blick auf den Brief gerichtet hatte. „Weil du keine Einladung bekommen hast?“
„Eine Einladung wofür?“ Es traf Harry tatsächlich, dass offenbar alle Kollegen dieses bisher unbekannte Privileg miteinander teilten, nur er wurde außen vorgelassen.
„Ein Einladung zu deiner Hochzeit!“ Ein gemurmeltes „Idiot“ klang noch nach, doch Harry überhörte es großzügig, weil er gar nicht anders konnte, als breit zu lächeln.
„Tatsächlich? Das sind die Einladungen zur Hochzeit? Darf ich mal sehen?“

Severus‘ Stirn schlug Falten, doch er reichte Harry den Brief, der sofort begierig gelesen wurde.

„Wir heiraten in einem Schloss? Wow!“
„Warum so überrascht?“, wollte Severus wissen. Sein junger Kollege war so sehr von Zufriedenheit eingenommen, dass sie auszustrahlen schien. „Wusstest du etwa nicht, wo die Hochzeit stattfinden wird?“
„Wenn ich ehrlich bin: nein. Molly organisiert alles wunderbar. Wenn uns wichtige Dinge eingefallen sind und wir ihr Bescheid gaben, meinte sie nur, das wäre längst erledigt. Ihre Planung ist wirklich fantastisch, aber der Informationsfluss lässt ein kleines bisschen zu wünschen übrig.“
„Du wirst nicht einmal über den Ort der Zeremonie informiert?“
„Ist bestimmt keine Absicht“, winkte Harry gelassen ab. „Mich stört es nicht einmal. Ginny sagte neulich auch, es wäre ihr egal, wo, wann oder wie wir heiraten. Für sie zählt nur, dass wir heiraten und mir geht es genauso.“

Harry strahlte bis über beide Ohren, blickte sich dabei um und bemerkte, dass jeder, der diese Einladung zu Ende gelesen hatte, freundlich zu ihm hinüberblickte. Filius, Minerva, Poppy, Hagrid – Molly hatte niemanden vergessen. In den nächsten Tagen würde er nach dem Unterricht zusammen mit Ginny in die Winkelgasse gehen, um die Hochzeitsgarderobe ein letztes Mal anzuprobieren.

Die Posteulen suchten natürlich auch andere Orte auf, wie Malfoy Manor und auch die Apotheke. Langsam wurde Hermine der Papierkram zu viel. Schriftlichen Bestellungen wollten aufgenommen werden und die Kunden erwarteten die Beantwortung ihrer Anfragen nach Lieferzeit und möglichen Preisnachlässen. Ein Brief war dabei, den sie als Erstes lesen wollte und das war nicht die Einladung zur Hochzeit von Harry und Ginny.

Das Feldahornholz sollte gegen einen Aufpreis für die Expresssendung im Laufe des Nachmittags nach Hogwarts geliefert werden, natürlich aber nicht von Eulen, sondern von Angestellten des Sägewerks. Neville und Pomona waren informiert, dass sie die Lieferung entgegennehmen sollte. Hermine hielt die Rechnung in der Hand, die sie bei ihrem nächsten Besuch bei Gringotts begleichen wollte, also heute in der Mittagspause zusammen mit George. Erst jetzt öffnete sie den Umschlag mit der Einladung zu Ginnys und Harrys großem Tag. Die ganze Zeit über, als sie las, wurde der Bereich ihres Herzens wärmer und wärmer. Sie freute sich für ihre Freunde und war froh für die beiden, dass nach dem ganzen Hin und Her, nach dem Krieg und all den schlechten Erfahrungen endlich der Zeitpunkt gekommen war, den sie sich schon so lange ersehnt hatten. Auf ein Mal hatte sie einen unangenehmen Geruch in der Nase.

„Ihren Stab bitte“, hörte Hermine eine raue Stimme flüstern. Jemand, mit dem sie noch nicht gerechnet hatte, war an die Theke getreten und es war nicht George. Es war der Mann, der den Vielsafttrank bestellt hatte. Er richtete seinen Stab auf sie und wiederholte: „Ihren Stab, bitte! Tun Sie, was ich Ihnen sage. Ich möchte Sie nur ungern verletzten.“

Erschrocken blickte Hermine durch die Fenster auf die taghelle Winkelgasse. Die Menschen gingen an ihrem Schaufenster vorbei, blieben sogar stehen und schauten hindurch, aber niemand sah, dass sie bedroht wurde.

„Die Tür ist dicht, die Fenster mit einem Illusionszauber belegt. Schreien hilft auch nichts. Machen Sie keine Probleme und geben Sie mir endlich Ihren Stab.“

Seine Hand zitterte, doch sein Blick war kalt und entschlossen. Er würde nicht davor zurückschrecken, den gemeinen Fluch, der ihm unzweifelhaft auf der Zunge lag, auch anzuwenden.

„Miss Granger!“ Er wurde ungeduldig.

Langsam hob sie eine Hand, um nach ihrem Zauberstab zu greifen, den sie in ihrer Innentasche mit sich führte. Sie hätte nur eine Chance, den Mann zu überwältigen, aber es sah schlecht für sie aus. Er war auf der Hut, beobachtete jede ihrer Bewegungen. Würde sie auch nur den Mund leicht öffnen, wäre es bereits um sie geschehen, bevor sie überhaupt „Ex…“ rufen könnte – vom fehlenden „…pelliarmus“ ganz zu schweigen. Einer von den wenigen wortlosen Zaubersprüchen, die Harry der DA eingebläut hatte, war das Einzige, das helfen konnte, aber es war bereits zu spät, denn kaum, dass er ihren Zauberstab sah, wurde er ihr schon entrissen.

„Danke, Miss Granger“, sagte der Gauner, der ihren Stab vorsichtshalber einsteckte. „Und jetzt führen Sie mich zu meiner Bestellung, wenn ich bitten darf.“ Die auffordernde Bewegung mit seinem Stab ließ sie zusammenzucken. „Oh, keine Sorge“, besänftigte er sie ohne Erfolg. „Auf meiner Verbrechensliste ist Notzucht nicht verzeichnet, nur Diebstahl und Betrug. Ich möchte lediglich den Trank haben.“
„Aber …“ Sie war erschrocken, wie unsicher allein dieses Wort klang. „Er ist noch nicht fertig.“
Der Kunde mit dem üblen Körpergeruch schnaufte verachtend. „Nehmen Sie mich nicht auf den Arm. Ich weiß sehr genau, dass der Trank die letzten Tage nur noch etwas durchziehen muss. Er ist fertig und ich will ihn haben – sofort!“

Sie schluckte kräftig, doch der Kloß in ihrem Hals wollte nicht verschwinden. Wie in Zeitlupe begab sie sich ins Labor. Ihm war es zu langsam, weswegen er ihr einen Stoß gab.

„Gehen Sie schon schneller, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit!“

Mit einem Tuch abgedeckt fand sich im Labor sehr schnell der Kessel mit dem Vielsafttrank, der kurz vor der Einnahme nur noch einmal aufgekocht werden müsste und das, dachte sich Stringer, könnte er auch allein bewältigen.

„Zum Mitnehmen bitte“, scherzte Stringer, als er mit einem Wingardium Leviosa eines der gläsernen Abgabegefäße zu ihr hinüberschweben ließ.
„Hören Sie, Mister …“
„Nein, keine Unterhaltungen.“
„Ich dachte, wir hätten einen Deal“, rief sie ihm ins Gedächtnis zurück.
„Sicher hatten wir den. Sie glauben doch nicht, dass ich so einfältig bin und in die Falle tappe, die Sie mir ohne Zweifel stellen wollen. Was hatten Sie geplant?“ Er legte seinen Kopf schräg und zog beide Augenbrauen in die Höhe. „Leute von der Magischen Polizeibrigade, die mir auflauern? Nein, Miss Granger. Ich mag arm sein, aber ich bin nicht dumm.“

Hermine seufzte, füllte jedoch wie gefordert den Vielsafttrank behutsam in den Behälter um. Es war viel zu früh, um auf Severus‘ plötzliches Auftauchen zu hoffen, es sei denn, er wollte den Mittag mit ihr verbringen wollen. Nur eine Viertelstunde noch, dann würde George kommen, doch ob sie den Verbrecher so lange hinhalten konnte, bezweifelte sie. Als sie mit dem Umfüllen fertig was, versiegelte sie das Gefäß und stellte es auf den Tisch im Labor ab.

„Da ich es als erbärmlich empfinde, Sie mit dem Geld zu bezahlen, dass ich Ihnen gestohlen habe“, weder sie noch ihn überraschte es, dass beide sich über diesen Punkt im Klaren waren, „habe ich mich dazu entschlossen, für diesen Trank gar nicht zu bezahlen.“ Resignierend kniff Hermine die Lippen zusammen. Mit etwas anderem hatte sie auch gar nicht gerechnet. „Also dann, Miss Granger.“ Er hob seinen Stab.
„Warten Sie! Was haben Sie vor?“
Er wartete tatsächlich einen Moment, doch nur um zu erklären, was er im Schilde führte. „Ich kann nicht zulassen, dass Sie sofort die Bluthunde auf meine Fährte ansetzen.“
„Ich werde niemandem was sagen!“
Sein Gelächter hätte man bis zur Straße gehört, hätte er die Apotheke nicht schalldicht gezaubert. „Das glaube ich Ihnen sogar, dass Sie niemanden etwas sagen würden, denn die Sache ist die: Sie werden sich an gar nichts mehr erinnern können.“
„Was?“ Ihr Magen drehte sich einmal um sich selbst, als sich ihr eröffnete, dass der Mann sie mit einem Vergissmich-Zauber belegen wollte. Die aufkommende Panik unterdrückte sie schnell wieder. Sie musste einen klaren Kopf behalten. Sie musste Zeit gewinnen. „Tun Sie das nicht, ich bitte Sie!“ Ihre Augen suchten die nahe Umgebung ab, um irgendetwas zu finden, mit dem sie sich wehren könnte.
„Es wird nicht wehtun. Bleiben Sie einfach da stehen, wo Sie jetzt sind.“

Stringer hob seinen Stab und zielte. In diesem Moment sprang Hermine unerwartet zur Seite. Der Vergissmich traf das Glas mit dem eingeweckten Ingwer, das hinter ihr zerbarst. Sie griff nach dem ersten Gegenstand, den sie in die Finger bekam. Es war ein kleiner Mörser, den sie ihm entgegenwarf. Stringer duckte sich, feuerte gleich darauf nochmals einen Fluch ab, traf aber nur den Labortisch. Den zum Mörser gehörigen kleinen Stößel warf sie als nächstes. Stringer duckte sich erneut, doch als er den Gegenstand auf dem Boden fallen sah, lachte er auf.

„Wirklich goldig, wie Sie kämpfen, Miss Granger.“ Der handliche Stößel rollte unschuldig am Boden entlang. „Damit wollen Sie mich abhalten? Mit diesem süßen kleinen …“

Als er aufblickte, sah er nur noch, wie sich ein sechzig Zentimeter langer Bronzestößel seinem Gesicht näherte. So ein massives Werkzeug war mit dem menschlichen Kiefer nicht kompatibel, was man auch sehr gut hören konnte. Stringer schwankte einige Schritte, stürzte auf den Labortisch. Ein hölzernes Klappern war zu vernehmen, als ihr Zauberstab aus seiner Tasche fiel und auf den Boden aufschlug. Als er den Mund öffnen wollte, durchfuhr ihn ein stechender Schmerz. Der Kiefer war angebrochen, einige Zähne waren nach Hermines unerwarteter Attacke sehr locker. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass sie sich nach ihrem Stab bückte. Um ihr zu entkommen, griff er sich den Behälter mit dem Vielsafttrank und apparierte trotz seiner schlimmen Verfassung an einen ihr unbekannten Ort.

Obwohl er sie nicht mehr hören konnte, schrie sie ihm aus voller Kehle hinterher: „Ich hoffe du zersplinterst, du Mistkerl!“

Unverhofft waren Schritte zu hören, die eilig die Treppen hinunterkamen. Vielleicht war der Gauner wegen seiner Verletzung nicht weit appariert, vermutete Hermine. Mutig sprang sie aus dem Labor hinaus in den Flur, den Stab auf die Person gerichtet, die so schnell die Stufen hinuntergelaufen kam.

Der Fluch war gesprochen, bevor sie bewusst registrieren konnte, dass es sich um Severus handelte, der ihr zu Hilfe eilen wollte.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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Beitrag von Muggelchen »

199 Fügung des Schicksals




Der beigefarbene Fluch, den Hermine dem vermeintlichen Gauner entgegengeschleudert hatte, schoss in hohem Tempo auf Severus zu. Kurzerhand nahm der Tränkemeister eine Abkürzung und sprang über das Geländer. Der Fluch traf die Stufen und verpuffte lautlos. Severus hingegen landete weniger geräuschlos auf einem antiken Beistelltisch aus Mahagoni mit fein gedrechselten Beinen und eingearbeiteter Schublade, der krachend unter ihm zusammenbrach.

Fassungslos hielt sich Hermine eine Hand vor den Mund. Ihre Augen waren weit aufgerissen, als sie die Situation begriff. Sie hatte das Feuer auf Severus eröffnet, der wahrscheinlich nur mit ihr zusammen zu Mittag essen wollte. Das Kleinholz unter ihm, das einst ein edler Tisch gewesen war, lag in allen Richtungen verteilt auf dem Boden. Als er aufstehen wollte, sog er Luft durch die Zähne ein. Das abgesplitterte Stück der Schublade hatte sich in seinen Oberschenkel gebohrt. Nicht tief und schon gar nicht tödlich, doch schmerzhaft war es allemal.

„Ich werde nachlässig“, schimpfte er mit sich selbst, während er seinen Umhang nach oben zog, um die Wunde zu betrachten. Es blutete nur wenig. Das spitze Stück Holz war durch die Hose gedrungen und saß in etwa einen Zentimeter tief im Fleisch. Ohne zu Murren zog er es hinaus. Sein Zauberstab war wegen des ganzen Holzes auf die Schnelle nicht am Boden auszumachen, so dass er Hermine anblickte. Wut verspürte er keine mehr, als er die Reue in ihrem Gesicht bemerkte. Sie war noch immer geschockt. „Dir auch einen schönen guten Tag.“
„Oh Severus“, endlich konnte sie sich wieder regen, „es tut mir so leid.“
„Sei so nett und stopp die Blutung.“ Sofort kniete sie neben ihm nieder und tat, was er verlangte. „Und danach, junge Dame, unterhalten wir uns mal über gesellschaftliche Umgangsformeln – Lektion 1: die Begrüßung.“
Ganz zerknirscht blickte sie ihm in die Augen „Der Mann war hier! Er hat den Vielsafttrank gestohlen.“
„Was?“

Obwohl die Wunde noch nicht ganz verheilt war, war er in Windeseile auf den Beinen. Er reichte ihr seine Hand und half Hermine hoch.

„Ich habe unten etwas gehört“, erklärte Severus, „du hast geschrien.“
„Er ist appariert. Ich habe ihm gewünscht, er möge zersplintern.“
„Hat er dir was angetan?“ Um sie zu betrachten, nahm er sie bei den Oberarmen. Besorgt wanderte sein Blick über ihr Gesicht und weiter nach unten.
„Dieser Mistkerl hat mir einen Vergissmich entgegengeworfen.“
„Der offenbar nicht getroffen hat, sonst wüsstest du davon nichts mehr.“ Erleichtert darüber, dass sie unverletzt war, atmete er langsam aus. „Er hat also den Vielsafttrank?“ Sie nickte. „Welchen Behälter hast du ihm gegeben?“, wollte er plötzlich wissen.
„Irgendeines aus Glas.“

Neugierig hinkte Severus zum Labor hinüber. Durch den Sturz würde er mit vielen blauen Flecken zu rechnen haben. Als es unter seinen Füßen knirschte, erspähte er den zerbrochenen Mörser. Sie musste ihn zur ihrer Verteidigung geworfen haben, dachte Severus. Sein geschulter Blick registrierte die Zerstörung, mit der er den Tathergang rekonstruierte, als sie sich zu ihm gesellte.

„Er stand ungefähr hier, wo ich jetzt stehe.“ Severus ging weiter ins Labor hinein. „Der Vergissmich hat das Glas mit dem Ingwer erwischt. Du hast dich hierher gerettet.“ Er deutet auf die Stelle, die er meinte.
„Woher weißt du das?“
„Weil der Mörser dort stand. Du hast damit und mit dem Stößel geworfen.“ Severus ging zurück zu der Stelle, wo Stringer gestanden hatte. „Hier ist Blut. Mit irgendetwas musst du ihn getroffen haben.“ Aufmerksam blickte er sich um, bis er den großen Bronzestößel bemerkte, der nicht an seinem Platz stand. Er ging hinüber und nahm ihn in die Hand, fühlte mit leichten auf und ab Bewegungen das Gewicht. „Mit dem hier hast du ihm zugesetzt. Wo hast du getroffen?“
„Im Gesicht.“
Mitleidig verzog Severus selbiges, als er sich den schweren Stößel anschaute. „Welches Gefäß hast du für den Vielsafttrank genommen?“
„Ich weiß nicht. Er hat es mir gegeben.“

Mit wachem Auge betrachtete er die bereitstehenden Glasbehälter, die für die Mitnahme durch Kunden gedacht waren. Eines der Abgabegefäße fehlte.

„Verdammt“, fluchte er leise.
„Was ist?“
Severus zeigte auf das Glasgefäß neben der Lücke. „Ich habe das daneben für unseren Freund bereits mit einem Fahndungszauber belegt. Schade, dass er sich für ein anderes entschieden hat. Ansonsten wüssten wir nun, wo er sich befindet.“
„Sollen wir irgendjemandem Bescheid geben, dass sich ein Verbrecher Vielsafttrank besorgt hat?“, fragte sie kleinlaut.
„Wem denn? Dem Ministerium vielleicht? Damit machen wir uns selbst strafbar, denn der Trank hätte angemeldet werden müssen. Es hätte funktionieren können, den Mann zu fassen, aber leider wurde nichts daraus.“
„Ich könnte Tonks davon erzählen. Sie macht das bestimmt nicht offiziell. Ich kann den Mann gut beschreiben!“
„Hat er Mann sonst noch etwas gesagt oder getan?“, fragte er sie neugierig.
„Nein, er meinte nur, dass er arm wäre, aber nicht dumm.“
Severus schnaufte. „Das trifft auf eine Menge Leute zu.“ Zaghaft ergriff er sie am Oberarm. „Mit was für einen Fluch hast du mich überhaupt angegriffen?“
„Das möchtest du bestimmt nicht wissen, Severus“, erklärte sie beschämt.
„Sag schon.“
„Den habe ich von den Zwillingen gelernt, die haben ihn erfunden. Es ist ein leichter Fluch, der keine bleibenden Schäden hinterlässt, aber nichtsdestotrotz sehr wirkungsvoll ist und die Person für mindestens fünf Minuten außer Gefecht setzt.“
„Und?“, forderte er sie auf.
Ihr Gesicht versuchte sie so unschuldig wie nur möglich aussehen zu lassen, als sie ehrlich antwortete, wenn auch sehr leise: „Fred nennt ihn schlichtweg ‘Eierquetscher‘.“
Um seiner Erleichterung Ausdruck zu verleihen, fasste sich Severus an die Brust. „Da bin ich aber heilfroh, dass ich schnell genug reagiert habe.“

An der Tür zur Apotheke hörte man es plötzlich laut klopfen. Schnell wurde es zu einem Pochen. Beide begaben sich in den Verkaufsraum. Sie sahen George an der gläsernen Tür. Er blickte durch die Scheibe, woraufhin Hermine grüßend winkte, doch er sah sie nicht. Selbst als Severus hinüber zur gläsernen Tür ging und direkt vor George stand, wurde er nicht von dem jungen Mann wahrgenommen. George ging ein paar Schritte hinüber zum Schaufenster und klopfte dort. Mit einer Hand am Türknauf bemerkte Severus, dass sie sich nicht öffnen ließ.

„Der Dieb hat gesagt, er hätte einen Illusionszauber gesprochen und man würde von außen auch nichts hören können.“
„Ah“, machte Severus erleuchtet, denn den passenden Gegenzauber kannte er. Hermine war so geistesgegenwärtig, mit einem Aufrufezauber Severus‘ Zauberstab herzuholen, der noch immer bei dem zerbrochenen Tisch lag.

Mit einem Wutsch seines Stabes waren die Täuschungszauber entfernt. George erschrak, als er scheinbar aus dem Nichts Hermine und Severus auftauchen sah. Irritiert betrat er die Apotheke.

„Von außen sah es aus, als wäre geschlossen.“ Sein verwirrter Blick wanderte zu Severus hinüber. „Guten Tag, Professor Snape.“
Höflich entgegnete er: „Guten Tag, Mr. Weasley.“

Man teilte George brühwarm mit, was eben in der Apotheke vorgefallen war. Für Severus schien es fast so, als würde sich der junge Mann Vorwürfe machen.

„Warum haben es nur alle auf dich abgesehen, Hermine?“
„Ich habe einfach nur Pech gehabt, das ist alles. Mach dir keine Sorgen, selbst ohne Zauberstab konnte ich mich bestens wehren.“ Hermine verspürte keine Angst, so wie nach dem Überfall auf dem Weg zu Gringotts.

George nickte, dennoch fühlte er sich verantwortlich, weil er nicht schon ein paar Minuten früher zu ihr gekommen war, um wie üblich gemeinsam die Einnahmen wegzubringen.

„Gehen wir noch zu Gringotts?“
„Ja, ich komme mit. Warte einen Moment.“

Mit Severus‘ Hilfe sammelte sie die Säcke mit den abgezählten Galleonen zusammen. In der Zeit, die Hermine bei der Bank verbrachte, zauberte Severus eine schnelle Mahlzeit in der Küche zusammen. Seine Gedanken schwirrten um den Verbrecher und darum, dass Hermine ihm nur mit viel Glück entkommen war. Es hätte böse enden können. Severus konnte es gar nicht mehr abwarten, die Schule zu verlassen. Dann würde er sich wenigstens keine Sorgen mehr machen müssen. Wer aber, fragte er sich, wollte mit dem Vielsafttrank etwas anstellen?

Fogg stellte sich eine ähnliche Frage, nur nicht die, wer etwas mit dem Vielsafttrank anstellen wollte, sondern warum sie von dieser Idee nicht längst abgelassen hatten. Spätestens als Stringer plötzlich ohne linken Fuß im gemieteten Zimmer des Wirtshauses erschien, war für Fogg klar, dass er keine Aufregung dieser Art mehr haben wollte. Der gläserne Behälter mit dem Vielsafttrank rollte unversehrt auf dem Boden umher, auf dem Stringer zusammengesackt war und sich vor Schmerzen krümmte. Mit einer Hand hielt er sich den Kiefer, mit der anderen griff er nach dem fehlenden Fuß.

„Herrje, was ist denn mit dir passiert? Wo ist dein Fuß? Den brauche ich, um ihn wieder anzusetzen!“ Als hätte der Wirt das Flehen von Fogg gehört, stürmte der auch schon das Zimmer. Mit vor Ekel verzogenem Gesicht hielt er in seiner Hand den vermissten Fuß, der an der abgetrennten Stelle nicht nur schlimm aussah, sondern auch bestialisch stank.
„Ihr Freund tauchte plötzlich in der Küche auf und als er wieder apparierte, ließ er den Fuß zurück“, erklärte der Wirt, der Stringer am Boden liegen sah. „Um Himmels Willen, wir müssen den Fuß wieder anbringen, sonst ist er verloren.“

Das Zersplintern war eine schmerzhafte Angelegenheit. Die magisch abgerissene Gliedmaße musste sofort wieder mit entsprechendem Zauberspruch angefügt werden. Zum Glück lernte man diesen Notfall-Spruch, wenn man seine Apparier-Lizenz machte. Zusammen mit dem Wirt fügte Fogg den stark nach Buttersäure riechenden Fuß wieder an.

„Ich glaube“, begann der Wirt besorgt, „Ihrem Freund fehlt noch etwas ganz anderes.“
Fogg kniete sich neben den Verletzten und griff nach dessen Hand, mit der er sich noch immer den Kiefer hielt und nichts zu hören schien. „Lass mal sehen.“ Nur zögerlich zeigte Stringer seinen mit Blut verschmierten Mund. Ein Teil der Wange war dick und in den buntesten Farben angeschwollen. Die Unterlippe blutete stark. Als Fogg in den Mund seines Freundes schauen wollte, konnte der ihn nicht öffnen. Stringer atmete heftig, die Augen waren fest zusammengepresst und der Schweiß ließ ihm von der Stirn, was den ekelhaften Körpergeruch nur verstärkte. „Was genau tut weh?“, wollte Fogg wissen. Sein Freund deutete auf den Unterkiefer. „Ist er gebrochen?“ Stringer nickte, fuhr wegen des unerwarteten Schmerzes zusammen, den diese kleine Bewegung mit sich zog.
Der Wirt hatte alles mit angehört. „Soll ich einen Heiler rufen? Ich kenne einen, der billig ist, und der stellt auch keine Fragen.“
„Ich weiß nicht“, murmelte Fogg, blickte dann vom Wirt zu seinem Freund. „Sollen wir einen Heiler holen?“

Mehr als einmal nicken konnte Stringer nicht und selbst das verursachte so große Schmerzen, dass er sich wünschte, in Ohnmacht zu fallen. Fogg kümmerte sich um seinen Freund genauso gut, wie der sich vor zehn Jahren schon um ihn gekümmert hatte, nachdem ein Werwolf ihn so schlimm zugerichtet hatte.

Den Vorfall in der Apotheke würde Stringer nicht so schnell vergessen. Auch bei Hermine war das Erlebnis noch immer sehr präsent, aber ohne die begleitende Angst, es konnte nochmals geschehen. Severus äußerte die Vermutung, dass der Mann zurückkommen könnte, um sie zum Schweigen zu bringen. Hermine hingegen hatte das Gefühl, dass der Dieb alles daransetzen würde, ihr nie wieder über den Weg zu laufen. Diese Aussage beruhigte Severus kaum. Einzig die Aussicht, dass er die kommenden Tage wegen des Wolfsbanntrankes die meiste Zeit bei ihr sein würde – auch nachts – ließ ihn einigermaßen gut schlafen. Außerdem hatte er wegen der beginnenden ZAG- und UTZ-Prüfungen endlich Zeit, die Apotheke mit Zaubersprüchen gegen Überfälle abzusichern. Die Schüler waren kurz vor der Prüfungszeit so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie ihre Lehrer in Ruhe ließen. Die fünften und siebten Klassen würden in ein paar Tagen bereits geprüft werden, was für Severus eine Menge Freizeit bedeutete, denn wegen der Prüfungstermine fielen meist die regulären Unterrichtsstunden für diese Klassen aus. Mit seinen Kollegen hatte er bereits ein paar Stunden getauscht, so dass er früher Feierabend haben würde.

Der Andrang für den Wolfsbanntrank war schon vor dem 31. Mai groß. Vorbestellungen gab es so viele, dass Severus kurzfristig einen zweiten großen Kessel kaufen musste, damit jeder Kunde bedient werden konnte. Die Tage vor Vollmond arbeiteten Severus und Hermine wie die Brunnenputzer.

„Mr. Fogg“, grüßte Hermine den Kunden freundlich, der noch so spät am 1. Juni für seinen Trank kam.

Er rang sich ein Lächeln ab. Sie wusste nicht – davon war er überzeugt –, dass sein Freund derjenige gewesen war, der sie überfallen hatte. Sie hatte Stringer übel zusammengerichtet. Zwar hatte sein Freund kein Wort über den Vorfall verloren, aber Fogg ahnte, dass sie ihn ohne Zauberstab angegriffen haben musste. Der vom Wirt empfohlene Heiler hatte den Kiefer wieder richten können, auch die Zähne wieder an ihren Platz geschoben, doch der Schmerz würde noch einige Zeit bleiben. Irgendeinen Nachteil musste die Behandlung durch so einen Quacksalber ja haben, nörgelte Fogg in Gedanken.

„Guten Abend, Miss Granger.“ Aus seinem Umhang fischte er den Tränkepass, den er ihr stolz präsentierte.
„Ah, Sie haben sich registriert. Das ist gut. Hat Mr. Black Ihnen helfen können?“, erkundigte sie sich höflich.
Den Tränkepass legte Fogg auf die Theke, bevor er antwortete: „Hat er. Wenn die neuen Gesetze kommen, sieht es wahrlich rosig für mich aus.“ Seit dem Besuch bei der Initiative malte er sich jeden Abend vor dem Zu-Bett-Gehen aus, wie demnächst sein Leben verlaufen würde. Sorgenfrei und friedlich.
Ihr ehrlich gemeintes Lächeln galt nur ihm. „Das ist wunderbar, Mr. Fogg. Wenn Sie einen Moment warten möchten? Ich hole schnell den Trank.“

Der Trank war fix genommen, der Tränkepass – der echte – von ihr unterzeichnet.

„Sagen Sie, Miss Granger, ich suche etwas gegen Schmerzen. Was können Sie mir da empfehlen?“
Um den Kunden korrekt beraten zu können, fragte sie nach Details: „Was für eine Art Schmerzen? Da gibt es nämlich viele Mittel für verschiedene Körperstellen.“
„Ähm, es sind eher Zahnschmerzen.“
„Zahnschmerzen? Dann sollten Sie vielleicht lieber zu einem Heiler gehen.“
Fogg schüttelte den Kopf. „Es ist nicht für mich, sondern für einen Freund. Seit“, er stockte und dachte sich schnell eine Geschichte aus, „einer Schlägerei, wo er eine Menge abbekommen hat, hat er starke Zahnschmerzen. Er kann nichts Festes mehr essen.“
„So schlimm ist es? Ihr Freund sollte wirklich zu einem Heiler gehen.“ Sie ahnte, warum Fogg ihr auswich und fragte geradeheraus: „Geht es ums Geld? Wenn Ihr Freund einen Heiler nicht bezahlen kann, dann könnte ich ihn mir mal ansehen.“ Stolz deutete sie auf die Urkunde, die hinter ihr an der Wand hing. Die Urkunde vom Mungos, die bestätigte, dass auch sie eine Heilerin war. Bevor er absagen konnte, hängte sie schnell noch hintendran: „Umsonst.“
„Ich weiß das wirklich zu schätzen, Miss Granger, aber …“ Sie hatte befürchtet, dass ein Aber folgend würde.
„Was ist das Problem, Mr. Fogg? Ich kannte lange Zeit mittellose Menschen und mir macht es wirklich nichts aus, wenn Ihr Freund in einem heruntergekommenen Haus leben sollte oder“, sie zuckte mit den Schultern, „zerrissene Kleidung trägt. So etwas muss niemandem peinlich sein.“
So leise, dass sie es kaum verstehen konnte, murmelte Fogg: „Ich bin kein schlechter Mensch.“
„Mr. Fogg, ich würde Ihnen gern helfen.“
„Aber es geht nicht.“ Diesmal hörte sie seine leise gemurmelten Worte, als er zu sich selbst sprach: „Nicht Sie.“ Er war sichtlich verzweifelt, rieb sich nervös eine Augenbraue. „Bitte vergessen Sie einfach, dass ich gefragt habe.“
„Mr. Fogg, warten Sie!“

Widerwillig stoppte er an der Tür. Seit mindestens zehn Minuten hatte die Apotheke offiziell geschlossen. Hermine war an ihn herangetreten, betrachtete sein Profil. Er konnte ihr nicht in die Augen sehen.

„Beschreiben Sie mir genau, wo er Schmerzen hat und welcher Art die sind.“

Mit einer zitternden Hand berührte Fogg seine Wange, strich über den eigenen hohen Wangenknochen und ließ seine Finger übers Schläfenbein und das Kieferngelenk gleiten, bis er unten am Kinn angekommen war. Die Beschreibung der Verletzung konnte sie zweifelsohne einem bestimmten Mann zuschreiben, trotzdem behielt Hermine die Ruhe. Weil sie Severus im Labor arbeiten hörte, fühlte sie sich sicher. Wenn Mr. Fogg, wie sie vermutete, ein Freund von dem Dieb war, musste er wissen, dass die geschilderten Verletzungen sie aufmerksam machen würden. Er hatte es mit Absicht getan, hatte mit Absicht darauf hingewiesen, wer sein Freund war.

„Warten Sie einen Moment, Mr. Fogg. Ich werde etwas holen, das Ihrem Freund helfen wird.“

Schon war sie auf dem Weg ins Labor, in dem Severus die Kessel reinigte. Er blickte auf und wollte gerade eine Unterhaltung beginnen, da bemerkte er die Falte an ihrer Nasenwurzel – sie konzentrierte sich auf irgendetwas. Hermine stand nur da und dachte angestrengt nach.

„Hermine, kann ich dir bei irgendetwas helfen?“
„Ich weiß nicht.“ Sie wollte Mr. Fogg nicht in Schwierigkeiten bringen, wollte aber den Dieb zur Rechenschaft ziehen. „Was soll ich nur tun?“
„Sag mir einfach, was das Problem ist.“

Sollte sie ihm davon erzählen, würde Severus sofort hinausstürmen und sich das Freundchen zur Brust nehmen, aber das durfte nicht geschehen. Dann hatte sie eine zündende Idee. Sie griff zu einen kleinen Glasgefäß mit Binderrand, in dem einen Pulver untergebracht war, welches bei Knochenfrakturen Anwendung fand. Sie öffnete den Bindfaden, der das Papier löste, das den Inhalt vor Schmutz schützte, ihm aber genügend Sauerstoff zuführte.

„Severus, wie lange brauchst du, um das hier“, sie nahm eines der kleinen verschraubbaren Holzgefäße zur Hand, „mit deinem Fahndungszauber zu belegen?“
„Hermine?“
„Severus bitte! Es muss schnell gehen. Mach es einfach, wenn es in kurzer Zeit möglich ist!“

Auf der Stelle nahm Severus ihr das Holzgefäß ab und begann mit seinen komplizierten und offenbar selbst erfundenen Sprüchen, denn sie hatte keinen einzigen davon jemals gehört. In dieser Zeit war es ihm zu seinem Bedauern nicht möglich, die vielen Fragen zu stellen, die sich ihm aufdrängten. Im ersten Moment hatte er vermutet, der Dieb wäre hier, aber in der nächsten Sekunde war dieser Gedanke bereits zu den Akten gelegt. Hermine musste irgendeine Vermutung haben, aber er konnte erst später fragen.

Der letzte Spruch war gesagt. Severus reichte ihr das mit dem Fahndungszauber belegte Holzgefäß mit Schraubverschluss, in welches sie sofort etwas von dem Knochenpulver gab.

„Reich mir bitte das Zweihorn-Hornpulver.“
Ohne Widerworte gehorchte er, doch als sie das Pulver des Zweihorns unter das andere mischen wollte, griff er ein. „Das wird die Wirkung von dem Knochenpulver mindern!“
Ihr wissender Blick bestätigte seine Annahme, dass sie sich darüber im Klaren war. „Er darf ruhig etwas leiden“, sagte sie ungewöhnlich kaltherzig.
„Ist er etwa da draußen?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, aber das hier wird uns hoffentlich zu ihm führen.“ Mit dem Deckel verschraubte sie die Öffnung des Gefäßes, schüttelte danach einmal kräftig.

Hermine hatte schon damit gerechnet, dass Mr. Fogg gegangen sein könnte, doch er wartete noch immer an der Tür, den Blick reumütig auf den Boden gerichtet.

„Hier, Mr. Fogg.“ Ihre Stimme ließ ihn kurz zusammenfahren. Misstrauisch beäugte er das kleine Holzgefäß in ihrer Hand. „Hiervon soll ihr Freund einen Teelöffel in einem Glas warmen Wasser auflösen und trinken. Heute Abend nur einmal, ab Morgen dreimal täglich.“
Fogg nahm ihr das Holzgefäß mit so großer Vorsicht ab, als würde es Gift enthalten. Mit bebender Stimme wollte er erfahren: „Es bringt ihn nicht um, oder?“

Jetzt war sich Hermine sicher, dass Fogg genau Bescheid wusste. Er hatte ihr absichtlich einen Hinweis gegeben, mit dem sie seinen Freund als den gesuchten Dieb identifizieren konnte. Trotzdem sorgte er sich und wollte auf keinen Fall, dass sein Kumpan leiden müsste.

„Nein, es wird ihn nicht umbringen“, beruhigte sie ihn. „Es wird den Schmerz lindern. Möglich, dass es etwas länger dauert.“
Seufzend betrachtete er nochmals das Gefäß. Er lehnte nicht ab, trotz seiner Bedenken. „Was bin ich Ihnen schuldig?“
„Ich sagte doch, es wäre umsonst.“

Dass Fogg dem Frieden nicht ganz traute, war ihm unverkennbar anzusehen. Seine Augen waren zusammengekniffen. Er spielte sehr wahrscheinlich mit dem Gedanken, den Schraubverschluss zu öffnen und am Inhalt zu riechen. Zu Hermines Überraschung schaute er ihr in die Augen, auch wenn ihn das eine Menge Überwindung kostete. Sehr lange konnte er den Blickkontakt nicht halten.

„Danke, Miss Granger.“
„Guten Abend noch, Mr. Fogg. Wir sehen uns Morgen zum zweiten Wolfsbanntrank?“

Er nickte zaghaft, als würde er nicht dran glauben, sondern eher mit einem Weltuntergang rechnen.

Der kurze Weg von der Winkelgasse in die Nokturngasse zog sich für Fogg ins Unermessliche. In der einen Sekunden überlegte er, das Holzgefäß wegzuwerfen, in der nächsten wollte er Stringer damit Erleichterung verschaffen, obwohl die Vermutung nahe lag, die Apothekerin hätte etwas getan. Es könnte das Heilmittel sein, das sie manipuliert haben könnte oder vielleicht das Gefäß selbst, befürchtete er. Wäre er an ihrer Stelle, würde er nach einer Möglichkeit zur Bestrafung seines Freundes suchen. Hätte man ihm so übel mitgespielt, würde einen hinterlistigen Plan aushecken. Andererseits war die Apothekerin so freundlich und nachsichtig, dass er von ihr nichts Böses erwartete.

Fogg entschloss sich dazu, Stringer das Mittel zu verabreichen. Die Konsequenzen wollte er tragen.

In der Zwischenzeit hatte Hermine die Apotheke geschlossen und war zu Severus ins Labor gegangen. Ein Stück Pergament lag auf dem Tisch vor ihm, über das er gebeugt stand. Auf dem Pergament hatte sich wie von Zauberhand eine Straßenkarte visualisiert, auf der ein roter Strich den Weg aufzeichnete, den Fogg mit dem verzauberten Gefäß in der Tasche genommen hatte.

„‘Der Gehängte‘ in der Nokturngasse“, sagte er, ohne aufzublicken.
„Wie bitte? Wer ist gehängt worden?“
„So heißt das Gasthaus dort, aber die Bezeichnung Bruchbude passt wesentlich besser. Unser Mr. Fogg hat dort augenscheinlich ein Zimmer genommen.“ Severus richtete sich auf. Der Rücken war durchgestreckt, die Augen aufgeweckt und voller Tatendrang. „Ich werde ihm nachgehen.“
„Nichts wirst du tun!“ Der Befehlston war selbst ihr unheimlich, dabei stammte er aus ihrer eigenen Kehle. „Ich meine“, begann sie zaghafter, „das hat noch Zeit. Die haben im Moment ganz andere Probleme. Der Dieb ist außer Gefecht gesetzt. Mein Mittelchen wird ihm nicht so schnell auf die Beine helfen und Mr. Fogg steht kurz vor der Verwandlung, wird also auch keinen Vielsafttrank einnehmen können, weil sonst die Wirkung des Wolfsbanntranks beeinträchtigt wird.“
„Aber …“
Sie fuhr ihm über den Mund. „Nein Severus, es ist unklug, sofort hinterherzugehen. Fogg wird misstrauisch sein und genau damit rechnen. Wir sollten bis nach Vollmond warten, damit sie nicht mehr so vorsichtig sind.“ Weil er seufzte, schlug sie vor: „Ich kann immer noch Tonks einen Tipp geben.“
„Hermine“, er wollte sich mit dem bestimmenden Ton durchsetzen, „das sind Verbrecher! Was kann es Wichtigeres geben, als sie für ihre Taten zur Rechenschaft zu ziehen?“
Mit todernster Miene erwiderte sie: „Einen Blumenkasten bauen.“

Severus verzog den Mund. Er war sauer, wollte sich aber nicht auf eine Diskussion mit ihr einlassen.

„Kommst du mit?“, fragte sie unverhofft.
„Wohin?“
„Nach Hogwarts. Ich wollte mit dem Kasten anfangen. Die Bretter sind schon da. Mein Arbeitsmaterial habe ich auch.“ Hermine griff nach den beiden Handwerks-Büchern von Lockhart und wedelte damit, weshalb er nochmals das Gesicht verzog. „Komm schon.“
„Und wann gedenkst du, den Wolfsbanntrank für den morgigen Tag zu beginnen?“
„Das wollte ich früh am Morgen machen.“
Severus schüttelte den Kopf. „Willst du durcharbeiten? Schon wieder? Das geht nicht lange gut.“ Er verschränkte seine Hände hinter dem Rücken und schlug vor: „Du gehst nach Hogwarts und ich beginne den neuen Trank.“
„Nein, Severus. Sobald ich weggefloht bin, machst du dich doch auf den Weg zu Fogg, richtig?“
„Möglich.“
Sie seufzte. „Der Dieb ist nur zweitrangig. Im Moment sind beide nicht dazu imstande, irgendetwas anzurichten. Lass Mr. Fogg Morgen und Übermorgen nochmal kommen und seinen Wolfsbanntrank nehmen. Ich habe im Gefühl, dass die beiden nicht weglaufen werden und selbst wenn“, Hermine zuckte mit den Schultern, „ist mir das ehrlich gesagt völlig egal. Es gibt momentan andere entscheidende Dinge, um die wir uns kümmern sollten.“

Mit ihrer Meinung war er gar nicht zufrieden, dennoch wollte er sich ihre Prioritäten annehmen. Er wollte sie nicht beunruhigen.

„Von mir aus“, er klang eingeschnappt, „dann werde ich Mr. Fogg eben keinen Besuch abstatten, aber ich werde trotzdem hier bleiben und mit den Tränken beginnen.“
„Aber …“
Er schnitt ihr das Wort ab. „Es sind zwischenzeitlich zwei große und ein mittlerer Kessel, die mit Zutaten gefüllt werden möchten. Du würdest es zeitlich nicht bewältigen können, diese Mengen an Wolfsbanntrank erst am frühen Morgen zu brauen. Geh schon nach Hogwarts und bastel ein wenig mit Hilfe von Lockharts einschlägigen Werken wie ‘Bauen für Blödiane‘. Ich kümmere mich um die Tränke.“

Es war eine Vertrauenssache, dachte Hermine. Zwar war sie sich sicher, dass es ihn geradezu zu Mr. Fogg zog, um gegen die Ungerechtigkeit vorzugehen, aber auf der anderen Seite vertraute sie ihm.

„Gut, ich bin dann bei Neville. Soll ich Harry mitnehmen? Ich wollte Fellini auch mitnehmen.“
„Du hast dich schnell erholt“, sagte Severus erstaunt.
Sie blickte ihn fragend an. „Inwiefern?“
„Ich kann mich noch daran erinnern, als du auf der Straße überfallen worden bist. Du hattest tagelang damit zu kämpfen.“
„Vielleicht“, sie grübelte über die Wahrheit, die er ihr gerade an den Kopf geworfen hatte, „bin ich nur viel sicherer geworden, jetzt wo ich weiß, dass ich auch ohne Zauberstab solche Situationen meistern kann. Wie oft wird man schon überfallen? Den Zwillingen ist das nur zweimal passiert und das in all den Jahren. Ich hoffe, ich habe für die nächsten Jahre meine Ruhe. Aber du hast Recht, ich habe mich schnell erholt. Ich lasse mich nicht mehr aus der Ruhe bringen. Es war ja kein Inferi oder Todesser, der mich angegriffen hat, es war nur ein stinkender Dieb.“
„Und das nimmst du auf die leichte Schulter?“
„Nein!“, widersprach sie aufgebracht. „Aber was soll ich denn tun? Wenn ich eine Anzeige bei der Polizeibrigade machen sollte, dann wird herauskommen, dass ich den Vielsafttrank ohne Formular für einen Kunden gebraut habe und muss selbst mit einer Strafe rechnen. Ich kann nur Tonks Bescheid geben, dass sie sich die Sache mal ‘privat‘ anschaut.“
„Ich könnte genauso gut …“
„Aber ich will nicht, dass du dort hingehst! So wie dir geht es nämlich auch mir: Ich möchte mir auch keinen neuen Tränkemeister suchen müssen, sollte dir etwas passieren.“
„Nun gut, wie du meinst. Ich bleib hier in der Apotheke und bereite die Tränke vor. Nimm Harry mit, dann ist er wenigstens etwas draußen.“

Sofort begann er damit, die Zutaten an den Tisch zu holen, um den Wolfsbanntrank für den nächsten Tag vorzubereiten – parallel in allen drei Kesseln. Hermine beobachtete ihn noch einen Moment. Sie war sich sicher, dass er nichts Dummes anstellen würde.

Wegen der Tiere flohte sie zweimal, weil sie sie nicht auf einmal mit zu Harry und Ginny nehmen konnte. Nachdem sie auch den Hund geholt hatte, wurde sie fröhlich quiekend von dem kleinen Jungen begrüßt, der im Schlafanzug mit hochgerissenen Armen auf sie zugestolpert kam.

Der Hund war von dem Jungen auch sehr angetan und lief mit aufgestellten Ohren und hängender Zunge hinüber. Als er Nicholas neugierig beschnupperte, fiel der Junge durch einen kleinen Schubs mit der feuchten Nase auf den Allerwertesten. Mit großen Augen beguckte sich Nicholas den weißen Hund, bevor er mutig die kleinen Hände hob und das Fell knetete.

„Ein neues Tier.“ Harry schmunzelte. „Nicholas ist ganz verrückt nach Tieren. Hedwig musste schon ‘leiden‘ und sogar Fawkes hat sich von ihm anfassen lassen.“
„Fawkes?“, fragte Hermine nach. „Er lässt sich wieder anfassen?“
„Nein, nur von mir. Von Nicholas fühlt er sich wohl nicht bedroht. Bei Ginny und jedem anderen will er immer noch zuzuhacken.“ Harry schaute zur Seite und betrachtete Hermine, die wiederum Nicholas und den Hund beobachtete. „Hermine, du siehst irgendwie mitgenommen aus.“
„Das glaube ich dir sogar. Die letzten Ereignisse waren alles andere als schön.“
„Was ist passiert?“
„Man hat mich überfallen“, noch bevor Harry sich Sorgen machen konnte, entwarnte sie, „und der hat von mir mächtig eins auf die Rübe bekommen.“
„Meine Güte, was ist nur los?“ Er legte eine Hand auf ihren Rücken. „Was hast du nur an dir, dass jeder dich als Opfer auserkort?“
„Ich bin mir ganz sicher, dass es der gleiche Mann war, der mich schon auf dem Weg zur Bank abgefangen hat. Das erste Mal konnte ich ihn nicht sehen, aber riechen.“
Harry rümpfte die Nase. „Riechen?“
„Um es kurz zu machen: Er stank und zwar nach altem Schweiß, so stechend wie Buttersäure. Wirklich widerlich.“
„Nach dem Quidditch bin ich zwar auch reichlich durchgeschwitzt …“
Hermine schüttelte den Kopf. „Das ist aber frischer Schweiß, Harry. Der muss nicht unbedingt unangenehm riechen. ‘Mein‘ Dieb stinkt, als hätte er sich wochenlang nicht gewaschen und trotzdem immer wieder Quidditch gespielt.“
„Zeig das Schwein an!“
Auch hier musste Hermine den Kopf schütteln. „Das ist leider nicht so einfach. Ich habe da einen Fehler gemacht, den ich ausbaden müsste.“ Er öffnete bereits den Mund. „Nein Harry, das erzähl ich ein anderes Mal. Ich muss zu Neville. Er wartet schon.“

Unerwartet fühlte Hermine etwas an ihrem Umhang. Als sie hinunterschaute, stand dort Nicholas, der sich bei ihr festhielt. Sie setzte ihren Weg nicht fort, ohne vorher ihren Patensohn auf den Arm genommen und mit ihm ein wenig gekuschelt zu haben.

Kniesel und Hund folgten ihr, als sie in der Dämmerung zu den Gewächshäusern marschierte. Harry blieb draußen, aber Fellini wollte mit rein. Hinten im Gewächshaus sah sie bereits die Lieferung. Bretter aus Feldarhorn.

„Hermine“, grüßte Luna, mit der Hermine nicht gerechnet hatte. Neville war natürlich ebefalls da und auch Pomona. Letztere verabschiedete sich jedoch.
„Dann wünsche ich euch viel Spaß. Bis dann.“ Die Lehrerin für Kräuterkunde winkte den dreien freundlich zu, bevor sie sie allein ließ.
„So“, Neville atmete einmal tief durch, „das gesamte Gewächshaus gehört uns allein.“
„Tatsächlich? Das wäre gar nicht notwendig gewesen.“
„Auf die Weise haben wir aber mehr Ruhe, Hermine. Wir können tun und lassen, was wir möchten.“
Luna war bereites an der Ecke des Gewächshauses, wo die Bretter verstaut waren. „Dann schlage ich vor, wir fangen an.“
Aus ihrer Innentasche zog Hermine gerade den Bauplan, als sie aufhorchte. „Ihr wollt beide mithelfen?“
Die beiden nickten enthusiastisch. „Natürlich nur, wenn magische Influenzen das Projekt nicht gefährden“, gab Neville zu bedenken.
„Ich denke nicht. Das ist wirklich lieb von euch.“

Zusammen mit Neville und Luna betrachteten sie die Bauanleitung, auf der alle Maßangaben verzeichnet waren. Die Arbeit war schnell aufgeteilt. Luna kümmerte sich um die runden Blumenkästen, die später in das Gerüst eingefügt werden sollten, das Neville und Hermine gemeinsam errichteten. Der erste Schritt war, die Bretter in die richtige Länge zu sägen. Man mochte über Gilderoy Lockharts magischen Fähigkeiten sagen, was man wollte. Sein großes Geschick, die Arbeit anderer Menschen in einem Buch zusammenzufassen, war unschlagbar. Jeder einzelne Spruch, egal ob zum Sägen, Schleifen oder Fräsen, ging mit Leichtigkeit von der Hand. Das Schönste war jedoch, dass die drei während ihrer Arbeit eine Menge Spaß miteinander hatten und viel zusammen lachten. Fellini machte es sich derweil am Fenster bequem, wie er es damals schon gern getan hatte, als Hermine noch in Hogwarts wohnte. Neville hatte dem Kniesel eine alte Decke hingelegt. Harry tobte stattdessen draußen herum. Man konnte manchmal zwei Hunde bellen hören.

Nach einer ganzen Weile, die wegen der guten Laune wie im Flug vergangen war, klopfte es. Vorsichtig öffnete sich die Tür und ein zotteliger Kopf lugte hinein. Es war Hagrid.

„Professor Snape?“, fragte der Wildhüter.
Für einen Moment ließ Hermine von der Arbeit ab, um sich Hagrid zuzuwenden. „Der ist nicht da, worum geht es denn?“
„Das is‘ doch sein Hund, oder?“ An sich hinunterblickend stand der weiße Hund zwischen seinen Beinen und schnupperte die Luft des Gewächshauses.
„Ja, ich habe ihn mitgebracht“, bestätigte Hermine. „Ich wollte ihm nur etwas Auslauf geben.“
„Gut, ich muss nämlich jetzt in den Verbotenen Wald und nehm Fang mit. Es reicht, wenn ich auf einen Angsthasen aufpassen muss.“
Hermine stutzte. „Ist Harry auch ein Angsthase?“
„Weiß nich‘, er war noch nie mit.“ Durch seine Körpergröße hatte Hagrid einen wunderbaren Überblick über den Raum. Ihm entging nicht, dass Neville und Luna mit Holz hantierten. „Was macht ihr denn Schönes?“
„Wir, ähm, wir bauen einen Blumenkasten.“
„Feldahorn?“ Neugierig kam Hagrid einige Schritte näher, um einen Blick auf das Holz zu werfen. „Es gibt da ‘nen magischen Lack, der macht’s witterungsbeständig.“ Der Halbriese schaute zu Neville hinüber und lachte. „Aber wem erzähl ich das? Neville weiß das sicher.“

Im Schloss versuchten Harry und Ginny, den Jungen ins Bett zu bringen, doch der lief noch sehr munter im Wohnzimmer umher und suchte sich etwas zum Spielen. Die fliegende Stoffeule, die er eines Tages von Ron bekommen hatte, war eines seiner Lieblinge, doch wenn sich Hedwig in der Nähe aufhielt, war das Kuscheltier abgeschrieben.

„Er will einfach nicht ins Bett“, beschwerte sich Ginny. Als sie Nicholas mit Hedwig greifen sah, vermutete sie laut: „Vielleicht wird er bei seiner Tierliebe später mal Lehrer für die Pflege magischer Geschöpfe?“
„Hey“, warf Harry ein, „vor kurzem hast du noch gesagt, er würde mal ein berühmter Quidditch-Spieler werden.“
„Meine Vermutungen werden noch mehrmals die Richtung wechseln.“
Harry schnaufte. „Und wenn er anfängt zu sprechen, dann wird er deiner Meinung nach womöglich sogar ein Philosoph?“
„Nein“, winkte sie ab, „nicht bei dem Vater.“

Gerade wollte Harry gegen die nicht ernst gemeinte Beleidigung protestieren, da hielt er inne, denn er war nicht der leibliche Vater. Dieser Gedanke tat weh.

„Harry?“ Er schaute zu ihr hinüber. „Ich meine durchaus dich!“
„Gut, da bin ich aber beruhigt“, entgegnete er erleichtert und mit einem schüchternen Lächeln. Dann fiel ihm wieder ein, was sie kurz zuvor gesagt hatte und wetterte dagegen. „Du hältst mich also nicht für einen dieser großen Denker?“
„Nein.“ Mit aller Mühe versuchte Ginny ernst zu bleiben, doch es gelang ihr nicht, denn die Mundwinkel zogen sich wie von selbst nach oben.
„Na warte.“

Mit leicht gebückter Haltung und zu Krallen geformten Finger schlich er zu Ginny hinüber, die das Spiel schon kannte. Harrys Gesichtsausdruck brachte sie zum Lachen, denn er machte eine Hexe nach, wie man sie aus Muggelmärchen kannte. Ein Auge war leicht zugekniffen, das andere weit offen. Mit nach hinten gezogenen Lippen entblößte er seine Zähne.

„Du siehst echt gruselig aus, Harry. So müsste man dich mal fotografieren und das Bild dann zum Tagespropheten schicken. Ich bin sicher, nach der Veröffentlichung bekommst du keine Fanpost mehr.“ Als er näher kam, wich sie zurück, konnte sich aber nicht mehr zurückhalten und lachte einfach drauf los. „Vergiss es, Harry. Du wirst verlieren.“
Mit verstellter Stimme krächzte er: „Ich will doch nur deinen Finger fühlen, ob du schon genug drauf hast, damit ich dich verspeisen kann.“
Sie kicherte. „Zeig mir erst mal, was du drauf hast.“

Unerwartet stürmte Harry auf sie zu und umarmte sie, so dass sie ihre Arme nur noch eingeschränkt bewegen konnte. Mit ihren Fingern kitzelte sie ihn an der Seite, woraufhin er seinen Rumpf verdrehte, damit sie die empfindlichen Stellen nicht erreichen würde, aber er versagte. Lachend versuchte er, ihre Arme zu fassen zu kriegen, aber sie wehrte sich, schnaufte dabei abwechselnd vor Anstrengung und um gegen das Gelächter anzukämpfen, das aus ihr herausbrechen wollte. Plötzlich drehte sie den Spieß um, als sie ihn an den Handgelenken packte. Nun wehrte sich Harry etwas grober, bis beide auf dem Boden endeten. Ginny hatte Harry unter sich begraben und hielt seine Arme über dem Kopf fest.

„Ich sagte doch, dass du verlieren wirst“, sagte sie mit triumphierendem Grinsen. „Versuch nicht mit jemandem zu rangeln, der mit sechs großen Brüdern aufgewachsen ist.“
„Bei einem Zaubererduell sähe die Sache anders aus.“
„Ja, deswegen raufe ich mit dir auch viel lieber.“ Sie beugte sich nach vorn und gab ihm einen Kuss auf die lächelnden Lippen. „Wie sieht es aus? Darf der Sieger sich was wünschen?“
„Natürlich, aber nichts Unanständiges“, bestätigte er mit gespielt ernster Miene.

Dass Nicholas neben ihnen stand und auf die Eltern herabblickte, hatte keiner so schnell bemerkt. Wenig graziös setzte sich der Junge neben Harrys Kopf und griff nach der runden Brille.

„Oh nein, dabei habe ich sie erst vorhin geputzt“, stöhnte Harry, der Nicholas abzulenken versuchte, doch die Brille schien sehr interessant zu sein. Mit einem Male legte sich Nicholas einfach quer über Harrys Brustkorb.
„Ha!“, machte Ginny. „Ich habe Verstärkung bekommen.“
„Ihr habt euch gegen mich verschworen. Na warte …“ Harry begann den Jungen zu kitzeln, der sich mit hohen Schreien und lautem Quieken krümmte. „Du bist doch ganz müde“, versuchte er dem Kleinen einzureden. „Kannst die Augen gar nicht mehr aufhalten.“ Nicholas verstand natürlich noch nichts, aber er seufzte erschöpft.
„Wenn ich ihn in die Nähe des Bettes bringe, dann fängt er an zu nörgeln“, erklärte Ginny.
„Da hab ich eine Idee!“

Vorsichtig drehte sich Harry, der noch immer am Boden lag, auf den Bauch. Wie selbstverständlich kletterte Nicholas auf seinen Rücken. Als sich Harry behutsam aufrichtete, hielt Ginny den Jungen am Schlafanzug fest. Auf Händen und Knien bewegte sich Harry langsam auf das Schlafzimmer zu. Der Junge war so abgelenkt, dass er gar nicht merkte, auf dem Rücken seines Vaters in Richtung Bett zu reiten.

Kaum hatte Nicholas‘ Wange das kleine Kissen berührt, schloss er die Augen und schlief ein.

Schlaf war eine erholsame Angelegenheit, wenn man genug von ihm bekam. Stringer konnte wegen der Schmerzen in seinem Gesicht zwar einschlafen, wachte aber mehrere Male mitten in der Nacht auf. Das Trinken fiel ihm schwer. Weil er die Lippen nicht zu viel bewegen wollte, da das die Muskeln der Wange und somit die geschwollene Stelle reizte, passierte es häufig, dass das Wasser an seinen Mundwinkeln hinunterlief. Der Schmerz war nach der Einnahme des Pulvers, das Fogg ihm besorgt hatte, erträglich geworden, war aber immer präsent. Stringer konnte direkt fühlen, wie sich die Risse in seinem Kiefer wieder schlossen. Er wünschte sich nur, es würde schneller gehen, denn an dem Tag nach Vollmond, am Freitag, würde Potter mit seiner Verlobten in die Winkelgasse kommen. Der Plan schien wasserdicht. Selbst die beiden Squibs von Hopkins, die sich getraut hatten, nach einem Fortschritt zu fragen, waren von der Aussicht begeistert. Mit Hilfe des Vielsafttrankes sollte Fogg in Form von Sirius Black erst einmal Potter ablenken und in eine ruhige Gasse führen. Dort würde er warten, um Potter mit drei verschiedenen Zaubersprüchen handlungsunfähig zu machen. Zusammen mit Fogg und den beiden Squibs wollten sie mit ihrem Opfer zu Hopkins apparieren, wo sie das restliche Geld in Empfang nehmen würden. Eine Menge Geld, mit der sie sich sogar ein kleines Haus kaufen und zusätzlich einen Fluchbrecher engagieren könnten.

„Kannst du nicht schlafen?“, hörte Stringer neben sich die verschlafene Stimme von Fogg.
„Nein.“ Wegen der geschwollenen Wange hörte sich das Wort sehr dumpf an.
„Du solltest von der Suppe essen, sonst klappst du noch zusammen.“ Gerade eben richtig erwacht streckte sich Fogg und drehte sich auf den Rücken. „Du hast seit dem Unfall nichts mehr gegessen. Wenn du die Sache durchziehen möchtest, brauchst du deine Kräfte.“ Stringer murrte, woraufhin Fogg vorschlug: „Wir können noch immer verschwinden. Ich bin mir ganz sicher, dass wir in Zukunft viel Glück haben werden.“
„Du bist viel zu optimistisch“, nuschelte Stringer. „Was muss noch alles passieren, damit du nicht mehr voller Zuversicht bist?“
„Auch wenn schlimme Dinge passieren, kann etwas Gutes folgen.“
Bei dem hellen zunehmenden Mond konnte Fogg sehen, dass sein Kumpel mit den Augen rollte. „Nenn mir auch nur ein Beispiel“, forderte Stringer mit giftigem Tonfall.
„Ich wurde von einem Werwolf gebissen und habe danach einen sehr guten Freund kennen gelernt“, kam wie aus der Pistole geschossen. Fogg hatte Stringer damit mundtot gemacht.

Ohne zu fragen machte Fogg per Zauber etwas von der Hühnersuppe warm, die Stringer abends nicht hatte essen wollen. Mit einer Tasse kam er zurück zum Bett und reichte seinem Freund die kräftigende Brühe. Stringer begann mit kleinen Schlucken und tatsächlich tat es nicht mehr so weh.

„Stell dir vor“, begann Fogg, als er sich an das Kopfende des Bettes lehnte, „wir würden in ein paar Monaten zu Geld kommen. Zu sehr viel Geld. Würde es sich dann nicht lohnen, die restliche Zeit nur von ein paar Almosen zu leben? Keine Raubzüge mehr, keine Straftaten. Nur warten, bis das Leben wieder schön wird.“
Höhnend fragte Stringer: „Sag mal, hattest du eben einen Traum oder warum erzählst du so einen Mist? Wenn das Warten Glück und Geld bringen soll, hätten wir uns deiner Theorie schon früher widmen können.“
„Ich meine es ernst!“
Jetzt wurde Stringer hellhörig. „Was hast du geplant? Den großen Coup, nachdem wir uns zurücklehnen können?“
„Hörst du mir überhaupt zu? Ich habe gesagt, keine Straftaten mehr!“ Fogg stand nochmals auf, um das zweite Fenster zu öffnen. Das andere war wegen des Gestanks die ganze Nacht sperrangelweit auf. Sein Blick fiel auf den Mond. Noch zwei Tränke und dann würde er sich in einen Werwolf verwandeln. Den Vollmond hat er seit zehn Jahren nicht mehr gesehen, nicht durch menschliche Augen.
„Hast du etwa deine Frau kontaktiert?“, fragte Stringer barsch.
Fogg schnaufte. „Bin ich irre? Nein, ihre Eltern haben mir damals klar gemacht, was passieren wird, sollte ich mich mir ihr nähern.“
„Mmmh“, machte Stringer, „ich dachte nur, weil du scheinbar von ihr geträumt hast.“
Fogg setzte sich erneut aufs Bett, war im ersten Moment mit der Anmerkung überfordert. Nach einem kurzen Augenblick konnte er sich dazu äußern. „Warum sollte ich von ihr geträumt haben?“
„Ach, vergiss es einfach“, murmelte Stringer in seine Tasse mit Brühe, deren letzte Pfütze er hinunterkippte. Er wollte das Thema nicht weiter behandeln. „Wenn du mir beweisen kannst, dass wir in Zukunft ein besseres Leben haben könnten, dann lasse ich mich vielleicht davon überzeugen, von der Entführungssache die Finger zu lassen.“

Genau das war Foggs Problem. Er wusste, wie herrisch Stringer werden konnte. Wüsste der von dem Vermögen, das ihm zustand, würde Stringer ihm dazu raten – nein, eher dazu drängen –, jetzt schon beim Ministerium das Hab und Gut zurückzufordern. Doch erst nach den neuen Gesetzen könnte man in solchen Fällen das Vermögen vor beiden Seiten in Sicherheit bringen, bevor ein Urteil gefällt werden würde. Jetzt bestand noch die Möglichkeit, und so schätzte Fogg seine Schwiegereltern ein, dass sie alle wertvollen Gegenstände und die Galleonen aus dem Verlies wegbringen würden. Stringer war kein geduldiger Mensch, wenn es um Reichtum ging. Er durfte ihm nichts sagen, versuchte es deshalb auf andere Weise.

„Und wenn ich dir mein Wort gebe?“ Von Stringer nahm Fogg die leere Tasse entgegen, die er auf den Nachttisch stellte.
„Dein Wort?“ Das Wort von Fogg zählte viel, auf jeden Fall mehr als sein eigenes, dachte Stringer. Der Mann log einfach nie, es sei denn, um an Geld zu kommen, damit sie etwas zu essen besorgen konnten. So verkniff sich Stringer jeden Kommentar und kam ins Grübeln. „Was hast du vor?“
Fogg seufzte. „Die von der Initiative …“
„Herrje“, unterbrach Stringer, „ich wusste, dass die dein Gehirn gewaschen haben.“
„Das ist nicht wahr. Die sind sehr nett gewesen. Glaubst du, wir sind die Einzigen in der Zaubererwelt, denen man Unrecht tut?“
„Nein, bitte keine Moralpredigt. Nicht um“, er blickte auf die Uhr, deren Zeiger er im Mondlicht erkennen konnte, „halb drei in der Frühe. Ich bin jetzt wirklich nicht aufnahmefähig.“
Foggs gedrückte Stimmung ließ ihn flüstern: „Ich will Potter nicht entführen.“
„Und ich will mir nicht länger jeden Morgen die Frage stellen, wie wir den Tag überstehen können. Gute Nacht.“

Am folgenden Tag nahm Fogg seinen zweiten Wolfsbanntrank in der Granger Apotheke ein. Sofort hatte sich Hermine erkundigt, wie es seinem Freund gehen würde. Foggs Befürchtung, sie würde ihnen die Polizeibrigade auf den Hals hetzen, war umsonst gewesen. In seinen Augen schien sie nicht einmal besorgt oder nachtragend, obwohl beide wussten, denn Zweideutigkeiten wurden absichtlich fallengelassen, dass der Dieb und sein Freund ein und dieselbe Person war.

„Wo gehen Sie eigentlich hin, wenn Sie sich verwandeln?“, wollte sie am Tag vor Vollmond wissen, als er als letzter Kunde für den Tag seinen dritten Trank einnahm.
„Im Sommer gehe ich meistens in den Wald. Diesmal hat der Wirt aber angeboten, den Keller zu benutzen. Er will den Raum schalldicht zaubern und möchte zusätzlich, dass ich eingesperrt werde.“
„Es ist gut, dass er Sie im Haus lässt. Für Morgen sind heftige Gewitter angesagt.“ Sie versuchte ermutigend zu lächeln. „Eine unterschwellige Angst wird bei den Menschen wohl immer bleiben.“
„Ich nehme es ihm auch nicht übel“, versicherte Fogg. „Bisher haben mich alle fortgejagt, wenn sie davon erfahren haben. Ist schon ein Wunder, dass der Wirt überhaupt das Angebot gemacht hat.“
Mit mitleidigem Gesichtsausdruck nickte Hermine. „Was ist mit Ihrem Freund? Ist er auch ein Werwolf?“
„Nein, der hat ganz andere Probleme.“
„So?“ Hermine drehte sich um und suchte im Regal nach etwas, das sie fand und in die Hand nahm. Sie hielt dem Kunden provozierend ein Stück parfümierte Seife entgegen, doch der schüttelte nur den Kopf.
„Das wird nicht helfen.“
„Hat er es schon versucht?“
Er bestätigte mit einem Nicken. „Das macht es noch schlimmer.“ Weil sie auf weitere Informationen wartete, fügte er hinzu: „Es ist ein Fluch müssen Sie wissen.“
„Ein Fluch? Von so einem habe ich noch nie gehört.“
„Wir auch nicht. Und das Mungos war ebenfalls ratlos. Sie haben ihn nach nur zwei Tagen abgewiesen.“
Verständnisvoll presste sie die Lippen zusammen. „Ich würde ja meine Hilfe anbieten, denn in der Regel interessieren mich solche außergewöhnlichen Fälle, aber unter diesen Umständen ist mir nicht wohl bei dem Gedanken.“
„Das ist auch gar nicht notwendig, Miss Granger. Außerdem verstehe ich Ihre Abneigung voll und ganz. Ich wünschte, es wäre anders gekommen. Alles.“

Weil Mr. Fogg nicht ging, sondern an der Theke stehen blieb, betrachtete sie ihn einen Moment. Er schien seine Taten zu bereuen. Sein Kumpan war scheinbar aus einem anderen Holz geschnitzt und er wusste das.

„Was haben Sie vor?“, wollte sie wissen. Sie hoffte, dass er diese Frage in Bezug auf den Vielsafttrank verstehen würde, wie es von ihr gedacht war.
Fogg wurde unruhig. „Ich versuche es abzuwenden.“
„Was haben Sie vor?“ Diesmal fragte sie viel bestimmender.
Auch Foggs Stimme war tonangebend. „Ich habe es unter Kontrolle!“
„Mr. Fogg“, sie entschloss sich für ihre warme Stimme, „wenn Sie Hilfe benötigen …“
Er schnaufte ungläubig. „Sie haben wohl in jeder Lebenslage einen guten Tipp.“
„Natürlich, das steht sogar in meinem Horoskop.“ Die Situation war wieder aufgelockert. Fogg schien amüsiert, weshalb Hermine ihr Anliegen vorbrachte. „Wenn Sie nicht weiter wissen – und Sie können mir glauben, dass ich dieses Gefühl in- und auswendig kenne –, dann gebe ihn Ihnen gern einen Ratschlag. Erst neulich hat mir jemand gesagt, muss man manchmal einfach vertrauen können.“ Hermine beugte sich über die Theke zu ihm. „Sie brauchen auch keine Angst zu haben, dass ich gleich zu den Auroren laufe.“
„Nein, dass Sie das nicht tun, haben Sie bereits bewiesen.“
„Sehen Sie?“, hielt sie ihm scherzhaft vor Augen.
Fogg nickte. „Eines Tages werde ich Ihnen das Geld zurückgeben, das verspreche ich. Auch das für den Vielsafttrank.“ Dies war das erste deutliche Schuldeingeständnis seinerseits. „Ich weiß Ihr Hilfsangebot zu schätzen, Miss Granger, aber ich kümmere mich allein drum. Es wird nichts passieren, dafür sorge ich.“
„Das hoffe ich, Mr. Fogg. Ansonsten wissen Sie, wie Sie mich erreichen können.“

Nachdem Fogg gegangen war, verschloss sie die Tür hinter ihm. Als sie sich umdrehte, stand Severus mit verschränkten Armen an den Türrahmen gelehnt.

„Tut mir leid, wenn ich das sagen muss, aber deine Gutmütigkeit grenzt an Dummheit.“
Beleidigt schoss sie zurück: „Ich denke nicht, dass es dumm ist, eine Straftat ohne Polizeiaufgebot zu verhindern. Es kann reichen, einfach mal zu den Menschen durchzudringen und an sein Gewissen zu appellieren.“
„Schon daran gedacht, dass er dich nur an der Nase herumführen könnte? Naive Menschen nutzt man gern aus.“
„Ach“, machte sie aufgebracht, „jetzt bin ich plötzlich naiv? Ich fasse es ja nicht!“
„Du gibst dich ihm gegenüber blauäugig, auch wenn du es nicht bist. Leider kannst du nicht in seinen Kopf schauen, ob er dir nur den reumütigen Ganoven vorspielt oder ob es ihm ernst ist.“
„Stimmt, ICH kann nicht in seinen Kopf schauen. Vielleicht wirst du wirklich nachlässig, Severus, sonst wäre dir längst die Idee gekommen, Legilimentik anzuwenden.“
„Jetzt wirst du wirklich frech!“, beschwerte er sich. „Du reitest uns immer mehr in diese Sache rein und wirfst mir vor, nachlässig zu werden?“
„Meine Güte“, stöhnte Hermine, „die Situation ist sowas von verfahren.“ Ein entschuldigender Blick traf den seinen. „Severus, wir können da nichts machen. Wenn ich das anzeige und die Sache mit dem Vielsafttrank rauskommt, wird denen egal sein, was mein Motiv war. Ob ich die Sache persönlich klären wollte oder nicht – ich hätte den Trank nicht ohne Formular brauen dürfen. Kommt dieser Verstoß ans Tageslicht, werden mir alle Braulizenzen entzogen, die eine Absegnung vom Ministerium benötigen und da ist leider auch der Wolfsbanntrank mit bei. Das kann ich nicht riskieren!“
„Noch weniger kannst du riskieren, dass die beiden in anderer Gestalt irgendeinen Unfug anstellen und dabei erwischt werden. Dann wird man sie nämlich befragen. Ich glaube nicht, dass du den Dieben so viel bedeutest, dass sie dich um jeden Preis schützen wollten. Man würde herausbekommen, von wem der Vielsafttrank stammte. Sollte es so ablaufen, machst du dich nicht nur dem illegalen Tränkebrauen schuldig, sondern auch als Mittäterin einer Straftat. Ich will mir nicht einmal vorstellen, wie schlimm das enden kann.“
„So eine verdammte Scheiße!“, brach es unkontrolliert aus Hermine heraus.
„Einen Wortschatz derber Art heiße ich in der Regel nicht gut, aber an dieser Stelle stimme ich dir voll und ganz zu.“

Ihre Hand zitterte, als sie mit ihr die Augen bedeckte. Sie war mit den Nerven am Ende. Endlich war sie fast am Ziel, was einen Heiltrank für Severus betraf und dann passierte ihr so ein Missgeschick, bei dem ihre Karriere nur noch an einem seidenen Faden hing. Kurz nachdem der Dieb den Trank bestellte, hätte sie das Ministerium informieren müssen. So wäre es leichter gewesen zu behaupten, die Bestellung wurde nur aus Furcht entgegengenommen, weil der Mann ihr sonst etwas angetan hätte. Nun war der Trank längst gebraut und in den falschen Händen. Es war zu spät.

Hermine spürte Finger an ihrem Handgelenk. Severus zog die Hand von ihrem Gesicht weg. Die Misere, in der sie sich befand, konnte er nachvollziehen.

„Wir regeln das auf meine Weise, Hermine. Keine Widerrede!“ Er führte sie in die Küche, wo längst das Teewasser kochte. Während er ihr einschenkte, erklärte er seinen Plan. „Wir wissen, wo die beiden untergekommen sind und wie ihre momentane gesundheitliche Verfassung ist. Mr. Fogg wird durch seine Verwandlung in der Nacht zum Freitag wenig zu gebrauchen sein. Wir wissen von Lupin, dass ein Werwolf am Tag nach der Verwandlung zu keiner großen Leistung fähig ist.“
„Und was schlägst du vor?“
Er setzte sich neben sie und hielt den Blickkontakt. „Da wir sie weder anzeigen noch anonym anschwärzen können, bleibt nichts anderes übrig, als deren geplante Tat zu vereiteln.“ Ihre zitternden Hände machten ihm Sorgen. „Hermine, wie ist deine Beurteilung als Heilerin? Das Pulver, dass du Mr. Fogg für dessen Freund mitgegeben hast, wie schnell wird das den Kiefer heilen und wann glaubst du, wäre der Mann wieder auf dem Damm?“

Um eine Diagnose zu stellen, ging sie einen Moment in sich. Sie hatte ihn mit dem Bronzestößel den Kiefer gebrochen, das hatte sie hören können. So eine Verletzung würde mit dem durch Zweihorn-Hornpulver verunreinigten Heilmittel einige Tage benötigen.

„Wenn der Mann hart im Nehmen ist, wird er frühestens Samstag wieder einigermaßen fit sein, wenn auch schwächlich, weil er keine feste Nahrung aufnehmen konnte. Sollte er aber den Vielsafttrank nehmen, würden die Schäden an seinem Kiefer wieder größer. Ich denke, das weiß er auch.“
„Das ist doch schon mal ein guter Anhaltspunkt. Der Vielsafttrank wäre regulär am Freitag fertig. Der Dieb wird ihn vorerst wegen seiner Verletzung nicht einnehmen, bleibt also nur Mr. Fogg. Aber wegen der Tortur, die der Körper des Werwolfs in der Nacht zuvor durchmachen wird, ist er am darauf folgenden Tag wahrscheinlich unfähig, überhaupt das Haus zu verlassen. Der erste Tag, an dem man bei beiden Männern wieder mit Aktivitäten rechnen kann, ist der Samstag. Ich werde mich in der Nacht zum Samstag ins Wirtshaus schleichen, damit ich die ganze Zeit ein Auge auf sie werfen kann.“
„Du könntest auch ein Zimmer nehmen“, schlug sie vor.
„Ich sagte, wir machen es auf meine Weise. Ein neuer Gast in dem Wirtshaus wäre viel zu auffällig. Am besten sehe ich mich mit einem Desillusionierungszauber dort um. Sollte ich den unangerührten Vielsafttrank finden, ist die Sache für uns erledigt. Ist der erst einmal verschwunden, kann uns egal sein, was sie vorhaben. Ohne Vielsafttrank führen keine Anhaltspunkte mehr zur Apotheke.“
„Das hört sich so einfach an, wenn du das sagst.“
„Ist es aber nicht. Ich bitte dich nur, mir nicht in die Quere zu kommen.“
Hermine schüttelte den Kopf. „Ich werde mich hüten.“
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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Rest von Kapitel 199

Der dritte Juni – Vollmond. Fogg wurde vom Wirt in den Keller geführt. Die morschen Holzverschläge gaukelten Sicherheit vor oder aber der rundliche Gastwirt wusste nicht, wie viel Kraft ein Werwolf haben konnte. Fogg sagte nichts. Er hatte nicht vor, für Ärger zu sorgen. Draußen regnete es bereits kräftig. Der Himmel bedeckte sich immer mehr. Schlechtes Wetter war für das gesamte Wochenende angesagt. Er hatte keine Lust, mit durchnässtem Fell im Wald nach einem trockenen Plätzchen zu suchen. Wie der Wirt es versprochen hatte, zauberte er den kleinen Verschlag schalldicht, so dass die Nachbarn nicht durch das Jaulen und Knurren in der Nacht beunruhigt würden.

Die Verwandlung dauerte sehr lange und war schmerzhafter als sonst, was oft der Fall war, wenn der Vollmond erst für den Morgen angekündigt war. Dieses Mal sollte er erst kurz nach sechs Uhr zu sehen sein, aber der Fluch brach schon bei Anbruch der Dunkelheit durch. Gegen zwei Uhr war die Zwangsmetamorphose vollendet. Schlapp kroch der Werwolf zu einem leeren Kartoffelsack hinüber, in dem eine Menge Ungeziefer hauste, und ließ sich darauf nieder.

Einige Zeit später war ein Riegel zu hören. Die Kellertür öffnete sich. Die zahme Bestie spitzte die Ohren, als jemand die Treppe hinunter kam. Das menschliche Bewusstsein in der tierischen Gestalt vermutete, dass es sich um den Wirt handeln könnte, der einen Werwolf mal aus der Nähe sehen wollte, doch es war Stringer. Hinter ihm schwebten zwei Schüsseln.

„Du hast mal gesagt“, Stringer sprach sehr leise, „nach der ersten Verwandlung hast du immer schrecklichen Kohldampf.“

Der Geruch von gekochtem Fleisch stieg dem Wolf in die Nase. Von seinem Hunger getrieben stand er auf und lief zur Tür hinüber, die lediglich aus ein paar zusammengenagelten Brettern bestand. Selbst Stringer könnte den gesamten Verschlag einreißen, würde er sich kräftig dagegenwerfen. Der hilfsbereite Freund fand keine Lücke, durch die er die Schalen schieben konnte, also öffnete er furchtlos die Tür mit einem Zauberspruch. Der Werwolf war nur wenige Zentimeter von ihm entfernt.

„Und wir beide müssen doch auf der Höhe sein, also dachte ich …“

Stringer zeigte auf die beiden Schalen, die er abgestellt hatte. Eine war mit frischem Wasser gefüllt, die andere mit einem grob zerkleinerten Wildschweinbraten, den er aus der Küche gestohlen hatte. Hungrig stürzte sich der Wolf auf die Mahlzeit, wurde dabei von Stringer beobachtet, der ehrfürchtig bemerkte: „Man, bist du riesig.“ Nur selten hatte er seinen Freund nach der Verwandlung zu Gesicht bekommen, weil Fogg sich normalerweise rechtzeitig in die Büsche schlug.

Vor zehn Jahren, nein, elf waren es bereits, hatte sich Stringer nach einem erfolgreichen nächtlichen Raubzug in den Wäldern versteckt. Dort traf er auf Fogg. Am ganzen Körper mit Kratzwunden übersät war die lebensbedrohliche Wunde am Hals die Einzige, die Stringer dazu angehalten hatte, bei dem Mann nach dem Rechten zu sehen. Sollte er sterben, hatte Stringer damals gedacht, könnte er den Toten wenigstens noch nach Wertgegenständen absuchen. Der Verwundete war kaum ansprechbar, warnte den fremden Helfer aber immerzu vor einem Wolf. Mit einem Mal war jedes Geräusch in der Finsternis zu einem schrecklichen Omen geworden. Jeder sich biegende Ast, jedes Rascheln war in der Einbildung plötzlich ein Werwolf. Stringer wusste, dass diese Kreaturen ohne Wolfsbanntrank gefährliche Wesen waren. Warum er Fogg damals mitgenommen hatte, konnte Stringer heute nicht erklären. Entweder war es tatsächlich aus Mitleid gewesen oder die Angst hatte seine Fähigkeit zu denken getrübt. Eine verlassene Holzfällerhütte von Muggeln war damals Stringers Versteck gewesen. Dort hatte er sich um Fogg gekümmert. Die Bücher sagten ihm, dass Foggs mehrtägiges Fieber als ein unumstößlicher Hinweis auf die Infektion durch den Werwolfbiss zu deuten war. Ab dem Tag an, das wusste Stringer, würde Fogg sich monatlich einmal verwandeln.

Heute sah er den Werwolf und verspürte keine Angst, so nahe an einem Wesen zu sein, das ihm mit einem Prankenhieb das Genick brechen könnte.

„Ich gehe wieder, brauche noch ‘ne Mütze voll Schlaf“, sagte er verabschiedend. Der große Werwolf blickte kurz auf. Da waren sie, die menschlichen Augen in der Bestie. Stringer würde diesen Wolf unter hunderten als seinen Kumpel erkennen.

Am nächsten Morgen fühlte sich Fogg wie gerädert. Der Rücken schmerzte, als er seinen Umhang über den nackten verschmutzten Körper überzog. Er konnte jede einzelne Rippe fühlen. Die Wanzen, die ihn als Wolf nicht gestört hatten, erregten nun Ekel. Sie waren auch in die Kleidung gekrochen, die er für die Zeit nach der Rückverwandlung mitgenommen hatte. Mit einem Stein zermalmte er die größte der Kellerasseln. Sich nur vorzustellen, dieses Tier wäre des Nachts über seinen Körper gekrochen, ließ ihn eine Gänsehaut den Rücken hinunterlaufen. Weil noch niemand hier war, der ihn herauslassen würde, wartete er geduldig.

Eine halbe Stunde später rief er zaghaft durch den Verschlag, doch dann erinnerte er sich an den schalldichten Zauberspruch. Man hörte ihn nicht. Überall, ob eingebildet oder in Wirklichkeit, fühlte er die kleinen Beine von unzähligen Krabbeltieren auf seiner Haut. Sehnlichst wünschte er sich ein heißes Bad und einen kräftigen Säuberungszauber für seine Kleidung, doch sein Stab war oben im Zimmer. Der Wald wäre trotz des feuchten Wetters eine angenehme Alternative gewesen. Trockene Zufluchten gab es überall, aber auch genauso viele Kriechtiere. Fogg konnte durch das winzige und völlig verdreckte Kellerfenster den Regen mehr hören als sehen. Es roch sogar feucht. ‘Kein Wunder‘, dachte Fogg, ‘es regnet ja auch durch.‘ Wie oben im gemieteten Zimmer war auch das Kellerfenster alles andere als dicht.

Endlich, gegen neun Uhr morgens, ließ der Wirt ihn hinaus. Die angestrebte Unterhaltung brach Fogg mit der Begründung ab, sich erst einmal gründlich waschen zu wollen, was der Wirt natürlich verstand.

„Stringer?“ Vorsichtig betrat Fogg das Zimmer. Mit jedem Schritt verspürte er einen fast schon lähmenden Muskelkater, der Bewegung jeglicher Art unterbinden wollte. Nochmals sagte er leise den Namen seines Freundes, doch der schien tief und fest zu schlafen. Fogg ließ ihn schlafen, während er in aller Stille ein Bad nahm. Er spielte sogar mit dem Gedanken, die Fenster zu verdunkeln und per Zauber den Lärm von der Straße zu blocken, damit Stringer verschlafen würde, denn heute gegen 16 Uhr erwartete man Harry Potter in die Winkelgasse, der seine Hochzeitsgarderobe anprobieren wollte.

Dieser Termin zur Anprobe war auch in Hogwarts ein Gesprächsthema zwischen Ginny und Harry – und zwar ein ständiges. Nach dem Frühstück erinnerte sie ihn bereits zum vierten Mal daran, dass sie heute zusammen in die Winkelgasse gehen wollten.

„Ginny, ich habe es langsam begriffen“, sagte er ein wenig gereizt.
„Entschuldige, aber ich bin so aufgeregt.“
„Warum? Wir ziehen nur ein paar Sachen an, die von ein paar Leuten begutachtet werden und das war’s.“ Er konnte einfach nicht nachvollziehen, warum sie so hektisch war.
„Du wirst heute das erste Mal mein Hochzeitskleid sehen. Bedeutet dir das gar nichts?“
Die Antwort wollte gut überlegt sein. In solchen Dingen waren Frauen sehr verletzlich. „Du hast es mir schon im Katalog gezeigt“, erinnerte er sie, doch dafür erntete er nur einen Blick von einem böse funkelnden Augenpaar.
„Aber heute trage ich es und …“ Eine wirre Handbewegung später begann sie einen neuen Satz. „Vergiss es, wir gehen einfach hin, aber wir müssen pünktlich sein. Sehr pünktlich sogar, denn Mr. Masamator persönlich will unsere Kleidung begutachten und er mag es nicht, wenn man ihn warten lässt.“

In Gedanken wiederholte er ständig diesen Namen. Harry wurde das Gefühl nicht los, dass Ginny voraussetzte, ihm würde der Name Masamator etwas sagen. Desto unangenehmer war es, als er ein paar Minuten später verlegen fragte: „Ähm, wer ist Mr. Masamator?“ Der Blick seiner Verlobten untermalte nur die Befürchtung, er müsste diese Person kennen und wenn nicht, dann würde er als ungebildeter Mensch dastehen.
„Dem Mann gehören alle Filialen von Besenknechts Sonntagsstaat, selbst die im Ausland. In Paris, Harry.“
„Aha.“ Trotzdem sagte der Mann ihm nichts, so dass Ginny ihm auf die Sprünge helfen wollte.
„Liest du denn nie die Hexenwoche?“
Seinen Ruf verteidigend erwiderte er vorgetäuscht erbost: „Das ist ein Klatschblatt für Weiber! Als ich das letzte Mal nachgeschaut habe, hatte ich noch alle Merkmale eines Mannes an mir. Ich lese sowas nicht.“
Ginny grinste. „Wenn du aber mal einen Blick reinwerfen würdest, wäre dir der Mode-Ratgeber von Mr. Masamator aufgefallen. Kommt immer auf Seite fünf nach dem Hauptartikel.“
„Hat der Typ etwa Lockhart beraten? Denn wenn ja, dann lass ich mir meine Garderobe lieber von Mr. Filch schneidern.“
„Nun sei mal nicht so. Masamator hat sich zwar aus dem Geschäft zurückgezogen und macht nur noch seine Kolumne in der Hexenwoche, aber bei besonderen Anlässen will er mit seinem Können glänzen.“
„Von wegen“, winkte Harry ab. „Glänzt der überhaupt noch allein oder will er sich nur mit mir an seiner Seite ins rechte Licht rücken?“
„Er will, dass die Kleidung aus seinem Geschäft gut an dir aussieht, deswegen will er sich drum kümmern.“
Harry verstand die Welt nicht mehr. „Die Verkäuferinnen waren doch allesamt nett und haben mich gut beraten. Was die mir empfehlen, würde ich jederzeit tragen.“
„Du willst aus diesen Termin heute unbedingt einen Elefanten machen, oder?“
„Dazu braucht’s erst einmal eine Mücke, dann können wir weiterreden“, schäkerte er und gab ihr einen Kuss.

Ginnys Aufregung verging nicht, aber sie war mit diesem Gefühl nicht allein. Ihrer besten Freundin ging er genauso. Hermine machte am Freitag ganz normal ihre Arbeit. Sie bediente Kunden, mischte Pulver zusammen oder händigte Bestellungen aus. Während dieser Zeit war sie ihre Gedanken bei Severus, der für morgen seine Observation plante. Einige Überlegungen war er schon durchgegangen, zum Beispiel den Vielsafttrank mit einem Aufrufezauber zurückzuholen, doch das würde sehr wahrscheinlich misslingen. Es gab einen schwarzmagischen Zauberspruch, der auch aus der Entfernung bestimmte Dinge vernichten konnte, doch Hermine hatte ihm das ausgeredet. Sollte sich jemand in der Nähe des Vielsafttrankes befinden, würde dessen Leben ebenfalls ausgelöscht werden. Die Gefahr war zu groß, unbeteiligte Personen zu verletzen oder zu töten, also blieb es bei dem Plan, bereits heute Nacht das Wirtshaus aufzusuchen, indem Mr. Fogg und Mr. Dieb untergeschlüpft waren.

Diese beiden nahmen gerade ihr Frühstück im Gehängten ein. Stringer versuchte mit viel Mühe, ein Stück Brot zu kauen, wechselte aber schnell zur Suppe über. Sein Magen rumorte. Er hatte großen Hunger, konnte aber nichts Festes zu sich nehmen. Sein Kiefer schmerzte noch immer. Fogg war durch die Verwandlung am Vorabend geschwächt. Alle Sehnen, Muskeln und Gelenke taten ihm weh, aber Hunger hatte er wegen der nächtlichen Zwischenmahlzeit, die sein Freund ihm gebracht hatte, nicht.

„Wir sollten …“ Fogg kam gar nicht dazu, sein Anliegen vorzubringen, denn Stringer wusste nur zu gut, was er sagen wollte.
„Jetzt hört auf damit, wir ziehen das heute durch!“
„Ich fühle mich nicht gut.“
Stringer rollte mit den Augen. „Kommt jetzt die Ausrede mit der Migräne? Ich werde nachher die Lage überprüfen. Wenn Potter da ist, wirst du den Trank nehmen und versucht nicht noch einmal, mir das auszureden.“
„Ich werde nach den Gesetzesänderungen meinen Besitz wiederbekommen.“

Es war endlich raus, dachte Fogg erleichtert. Vielleicht war die Aussicht auf ein Leben in Saus und Braus auch für Stringer Grund genug, schmutzigen Geschäften bis dahin aus dem Weg zu gehen.

„Du verarschst mich“, sagte Stringer monoton. Er glaubte seinem Freund kein Wort.
„Nein, der Antrag ist schon ausgefüllt. Nach den neuen Gesetzen wird bei Einreichung des Antrags das Vermögen vom Ministerium verwaltet, bis der Fall entschieden ist. In meinem Fall wird alles mir zufallen. Meine Frau bekommt nur etwas, wenn ich es möchte, denn es liegt auf der Hand, dass sie nichts getan hat, um ihre Eltern aufzuhalten. Meine Zwangsenteignung ist Grund genug, ihr wegen schwerer Verfehlungen keinen Knut geben zu müssen.“
Wie versteinert starrte Stringer ihn an, bis tief durchatmete und grantig zischte: „Schön für DICH! Herzlichen Glückwunsch.“
„Verstehst du denn nicht? Wir haben dann ein eigenes Haus und genügend Geld, damit wir irgendein Geschäft aufziehen könnten.“
„Ich höre hier immer ‘wir‘.“
Fogg nickte. „Ich stehe in deiner Schuld.“
„Ah“, machte Stringer herablassend, als wäre für ihn nun alles klar. „Dann bekomme ich einen kleinen Obolus und darf danach zusehen, wo ich bleibe?“
„Sag mal, willst du nicht verstehen?“ Verärgert ballte Fogg seine Hände zu Fäusten. „Ich will mit dir teilen, du Idiot!“
„Und wenn das nicht klappt?“, fragte Stringer wütend. „Wenn es Lücken im Gesetz gibt, die deinen Schwiegereltern ermöglichen, alles für sich zu behalten? Oder was ist mit deiner Frau, wenn du zurückkehrst und sie dich mit einem einzigen Wimpernaufschlag verzaubert? Für dich wird dann alles wieder beim Alten sein und in diese Familienidylle passe ich wohl kaum rein.“
„Meine Frau kann mir gestohlen bleiben!“, versicherte Fogg.
„Das sagst du jetzt.“
Wie von der Tarantel gestochen stand Fogg auf. „Und ich meine es so! Sie hat mich fallenlassen, als ich sie am meisten gebraucht habe. Du hast es doch damals mitbekommen. Du bist zu ihr gegangen und hast ihr gesagt, du hättest mich gefunden – gebissen von einem Werwolf. Sie wollte mich ja nicht einmal sehen. Ihre Eltern haben stattdessen mit mir gesprochen und von dem damals ganz neu in Kraft getretenem Anti-Werwolf-Gesetz Gebrauch gemacht. Sie konnten mir alles wegnehmen, mich von allem ausgrenzen und das auch noch mit Absegnung des Ministeriums!“
„Und jetzt erhoffst du dir Hilfe gerade von denen, die damals solche Gesetze geschaffen haben?“
Fogg schüttelte den Kopf. „Der Minister ist neu, völlig anders als die vorigen. Er hat wenigstens noch Ehrgefühl, was man von den anderen nicht sagen konnte.“
„Ich habe keine Lust, mich so kurz vor unserer Aufgabe in ein politisches Gespräch zu vertiefen“, beendete Stringer die Unterhaltung.
„Politisches Gespräch?“ Fogg ergriff seinen Freund an der Schulter. „Es geht darum, ob wir in Askaban enden oder in einem schicken Herrenhaus.“
„Warum forderst du jetzt nicht schon dein Vermögen ein? Wenn du das machst, blasen wir die Sache heute ab!“
„Nein, das ist doch gerade der Grund, warum ich es dir gar nicht sagen wollte. Sollte ich jetzt einen Antrag stellen, werden meine Schwiegereltern die Verliese räumen und alle Gegenstände aus dem Haus schaffen und behaupten, es wäre alles verbraucht.“
Stringer war nicht zu überzeugen. „Ich traue der Sache sowieso nicht. Ich glaube einfach nicht daran, was du erzählst und genau deswegen werden wir heute unseren Job erledigen.“
„Ich will Potter nicht entführen!“
„Du wirst! Oder fällst du mir jetzt in den Rücken? Was, wenn die Initiative dir nur Hoffnung gemacht hat und am Ende nichts für dich herausspringt? Ich werde auf das Geld von Hopkins nicht verzichten. Selbst wenn du mir schwarz auf weiß gibst, dass du in ein paar Monaten einen Haufen Galleonen hast. Warum solltest du die auch mit mir teilen? Etwa wirklich, weil ich dir das Leben gerettet habe?“ Ungläubig schüttelte Stringer den Kopf. „Ich wäre ganz schnell bei dir abgeschrieben. Mit Leuten wie mir gibt man sich nicht ab, mit Dieben und Betrügern. Ich habe auch dich zu einem gemacht, schon vergessen?“
„Und wenn ich den Vielsafttrank nicht nehme?“, provozierte Fogg absichtlich.

Mit einem Male fühlte Fogg die Hände seines Freundes an dem vernarbten Gewebe an seinem Hals.

„Stell dich ja nicht gegen mich, sonst werde ich mal anständig mit dir Schlitten fahren und das wird nicht sehr angenehm werden“, drohte Stringer.
„Du bist viel zu pessimistisch“, scherzte Fogg. „Wir müssen das heute nicht tun, nur weil wir Geld brauchen.“
„Hilfst du mir oder bist du kein Freund, auf den man sich verlassen kann?“
Resignierend schloss Fogg kurz die Augen, bevor er versicherte: „Ein Freund ist auch da, um den anderen vor einer Dummheit zu bewahren.“
Die Hand an seinem Hals drückte zu und Stringer zischte: „Also lässt du mich im Stich? Bist nicht besser als deine Frau.“
„Der Vergleich hinkt und das weißt du.“

Unerwartet klopfte es, so dass Stringer von Fogg abließ.

„Herein“, grunzte Stringer in Richtung Tür.
Der Wirt öffnete. „Guten Tag, Mr. Stringer.“ Fogg hatte er heute Morgen bereits gesehen, weswegen er ihm nur zunickte. „Die beiden Herren von neulich wollen Sie sprechen. Ich habe Sie vorerst auf der Straße warten lassen, ich will keinen Ärger.“

Alex und Arnold, dachte Stringer. Sie wollten sich die Sache aus der Nähe ansehen. Ein Blick zum Fenster zeigte, dass es in Strömen goss.

„Lassen Sie die beiden noch zehn Minuten draußen warten, die haben es nicht anders verdient. Schicken Sie sie danach zu uns rauf.“
Als der Wirt verschwand, wandte sich Fogg ein letztes Mal an seinen Freund: „Wir haben zehn Minuten, um die Sache für uns zu beenden.“
„Nimmst du den Vielsafttrank oder nicht?“, wollte Stringer wissen, der darin eine Art Freundschaftsbeweis zu sehen schien. Schweren Herzens nickte Fogg.

Das Opfer der geplanten Entführung bürstete sich gerade vor dem Spiegel im Badezimmer die Haare, was aber kaum eine sichtbare Veränderung mit sich brachte. Noch immer standen die Strähnen wirr von seinem Kopf ab. Harry betrachtete seinen Schopf, bevor er mit den Schultern zuckte und die Bürste beiseite legte.

Vom Wohnzimmer aus rief Ginny: „Bist du fertig, Harry?“
„Schon seit heute früh, als du gesagt hast, wir dürfen auf keinen Fall zu spät sein.“
„Ziehst du Nicholas noch die Schuhe an?“
„Klar.“ Als er aus dem Badezimmer trat, spielte der Junge schon mit den Schuhen, die er gleich tragen würde. „Komm her, Spatz.“ Schon hatte er Nicholas auf dem Arm, die kleinen Schuhe in der anderen Hand. Zusammen mit dem Kind setzte er sich aufs Bett. „Schau mal“, Harry zeigte auf den Schuh, auf denen eine breit lachende Sonne abgebildet war. „Eine Sonne.“ Als Antwort kam nur ein unverständliches Gebrabbel zurück, aber nichtsdestotrotz zeigte Nicholas mit einem kleinen Finger auf die gelbe Stickerei. „Sonne“, wiederholte Harry, was Ginny hörte, als sie das Schlafzimmer betrat.
„Das ist noch zu früh, Harry. Erst ist knapp ein Jahr alt. Wart noch eines und dann kannst du dich mit ihm unterhalten.“
„Es kann aber nicht schaden, jetzt schon mit ihm zu sprechen. Er hat immerhin ‘Bada‘ gesagt.“
„Und was heißt das?“
Harry zuckte mit den Schultern, während er die Schnürsenkel von dem kleinen Schuh lockerte.
„Heißt wahrscheinlich Sonne.“
Ginny nickte und grinste dabei so breit wie die Sonne auf dem Kinderschuh. „Klingt auch sehr ähnlich.“ Um sich selbst die Schuhe anzuziehen, setzte sie sich neben Harry aufs Bett. „Nehmen wir den Wagen mit oder die Tragetasche?“
„Nichts von beiden. Ich nehme ihn und wenn wir unsere Garderobe anprobieren, dann kann Nicholas auf dem Boden herumkrabbeln.“ Mit verschmitztem Lächeln schaute den Jungen an und sagte nur so leise, dass Ginny es noch verstehen musste: „Und dann darfst du den ganzen hübschen Mädels unter den Rock gucken und alle werden das ganz niedlich finden.“
Mit ihrem Ellenbogen stupste sie Harry an: „Was muss ich denn da hören? Bring ihn bloß nicht auf Ideen.“
„Meine Ideen sind bestimmt nicht schlimmer als die von Onkel Forge und Onkel Gred.“

Der zweite Schuh war endlich angezogen und Harry ließ den Jungen auf den Boden. Mit Schuhen an den Füßen stolperte er viel häufiger als wenn er barfuß war. Er blieb lieber bei Harry und kroch zurück auf Vaters Schoß.

„Weißt du, was Mum mir heute gesagt hat?“ Sie machte ihn extra neugierig, denn selbstverständlich hatte er von ihrem Gespräch über den Kamin nichts mitbekommen.
„Dass sie die böse Hexe ausgeladen hat, weil die Zahl dreizehn eine Unglückszahl ist?“, fragte er bierernst zurück, womit er sie zum Lachen brachte.
„Du bist heute gut drauf, wie es aussieht.“ Mit leicht gespitzten Lippen gab sie Harry einen Kuss auf die Lippen. Nicholas streckte daraufhin seine Arme nach ihr aus und imitierte die Lippenform, so dass Ginny nicht widerstehen konnte. „Ja, du kriegst auch einen.“ Der laute Schmatz gehörte Nicholas ganz allein. „Mum hat mir gesagt, dass Dad den Fuchsbau wieder aufbauen möchte, nur ohne das oberste Stockwerk. Diesmal soll es komplett unter Schutz stehen, damit kein Muggel es mehr ausfindig machen kann.“
„Habt ihr noch Angst wegen …“ Er druckste verlegen herum. „Du weißt schon, wegen deinem Ex-Spanier.“
„Pablo? Nein, von dem haben wir ewig nichts gehört. Die Muggelpolizei wollte sich um ihn kümmern. Ich habe keine Ahnung, wie der Stand der Dinge ist. Um den Fuchsbau kümmert sich Dad, weil er als Minister nicht mehr bei Verwandten wohnen wollte, aber auch keines dieser protzigen Häuser kaufen möchte.“
„Ich fand den Fuchsbau immer sehr gemütlich. Das war mein zweites Zuhause.“
„Ich dachte, Hogwarts war dein zweites Zuhause.“
Harry schüttelte den Kopf. „Nein, das ist mein erstes Zuhause.“
„Das Haus deiner Verwandten bedeutet dir gar nichts, oder?“, fragte Ginny vorsichtig nach.
Seine Antwort war eindeutig. „Weder das Haus noch die Verwandten.“
„Dann sollte ich dich auf jeden Fall darüber informieren“, begann sie zögerlich, „dass meine Mum tatsächlich versucht hat, deine Verwandten zur Hochzeit einzuladen.“
„WAS?“
„Ich habe es auch zu spät erfahren, sonst hätte ich ihr gesagt, dass du das nicht möchtest. Sie war der Meinung, es gehört sich einfach so.“
Es dauerte keine Minute, da hatte Harry die Ruhe wieder inne. Gelassen erklärte er: „Sie werden sowieso nicht kommen, also ist es auch egal, ob sie eine Einladung erhalten haben oder nicht.“
„Ich wollte nur, dass du es weißt und nicht aus allen Wolken fällst, sollten sie …“
„Sie kommen nicht, Ginny. Sie hassen alles, was mit der Magischen Welt zu tun hat – inklusive mir. Haben sie schon immer.“
Bedrückt kniff sie die Lippen zusammen. „Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass jemand ein Kind hassen kann.“ Sie deutete auf Nicholas, dessen Augen wie die von Albus glänzten. „Wie kann man so einen Knirps nicht lieb haben?“
„Gehen wir, Ginny. Ich bin fertig und Nicholas auch.“ Die gute Stimmung wollte er sich mit Erinnerung an seine eigene Kindheit nicht verderben lassen.

In der Winkelgasse, wo man Harry bereits erwartete, machte man sich ebenfalls bereit.

„Bist du fertig?“, fragte Stringer. Fogg verzog das Gesicht, nickte jedoch. Er hoffte so sehr, dass der Plan, Potter zu entführen, durch irgendwelche Gewalten verhindert werden würde, denn ansonsten müsste er sabotieren, was ihn einen langjährigen Freund kosten würde. Stringer mochte verbittert und radikal sein, aber es war die Not, die ihn zu einem rücksichtslosen Menschen gemacht hatte. „Gut“, Stringer ging zur Tür, „ich checke die Lage und wenn Potter aufkreuzt, machen wir schnell den Trank fertig.“
„Wo sind die beiden Squibs?“
Bei der Erwähnung von Alex und Arnold verzog diesmal Stringer das Gesicht. „Ich habe ihnen gesagt, sie sollen einen großen Abstand halten. Nicht dass die mir noch dazwischenfunken.“ Er musterte Fogg. „Änder deine Kleidung. Black hat in den Zeitungen immer einen weißen Kragen.“
„Vielleicht hat er den auch nur, wenn er mit der Presse rechnen muss? Ich glaube nicht, dass Potter so sehr auf Kleidung achten wird.“
„Du machst was ich sage!“
„Ja, Mama“, stichelte Fogg missgelaunt.

Stringer warf einen letzten Blick auf den köchelnden Vielsafttrank. Das Haar von Black hatte er noch immer in seiner Brusttasche und da war es sicher. Seinem Freund würde er mittlerweile zutrauen, das Haar gegen ein anderes auszutauschen, aber bisher war es unangetastet. Mit verschiedenen Schutzzaubern hatte er dafür gesorgt, dass nur er den Umschlag mit dem Haar berühren konnte.

„Ich mach mich auf den Weg.“ Schon hatte Stringer das Zimmer verlassen. Vorbei an dem Geist des Gehängten, der im Schrankraum von seinem Balken baumelte, ging er schnurstracks auf die Straße. Das, was vom Himmel hinunterkam, konnte man nicht mehr nur als Regen bezeichnen. Es waren sintflutartige Niederschläge. Der Himmel war so schwarz, dass man mit dem Weltuntergang rechnen musste. Wenigstens war die Nokturngasse nicht mehr voller zwielichtiger Gestalten. Nur ein paar vermummte Gestalten huschten durch die Gasse und verschwanden in anrüchigen Geschäften. Er sprach einen Impervius, damit er vor dem Regen geschützt war.

Der schmale Weg an Flourish und Blotts vorbei führte zur Winkelgasse. Die Londoner Filiale von Besenknechts Sonntagsstaat war nicht weit. Schräg gegenüber befand sich der Eingang zu einer anderen Gasse, die nicht ganz so düster war wie die Nokturngasse, aber dennoch von aufrichtigen Bürgern gemieden wurde. Dort wollte Stringer sich positionieren, um das Bekleidungsgeschäft zu beobachten. Leider traf er in dieser Gasse auf zwei alte Bekannte.

„Ah, mein Lieblingsarschloch“, grüßte Stringer den einen Squib mit gebleckten Zähnen. Von Arnold war er neulich erst entwaffnet und angefallen worden.
„Da sieht man mal wieder, wie ungehobelt Zauberer sich ausdrücken.“ Arnold wandte sich seinem jüngeren Bruder zu. „Und die sollen uns überlegen sein? In Manieren sicherlich nicht.“
„Verschwindet von hier, alle beide!“
„Wir haben den Auftrag sicherzustellen, dass eurer Plan …“
„Ihr stört meine Pläne, also macht eine Fliege und sucht euch einen anderen Ort!“ Um seine Worte zu unterstreichen, zog Stringer kurzerhand seinen Stab. Mit ihm war er den beiden tatsächlich überlegen und das wussten sie. „Na los, haut ab!“
„Komm Alex, gehen wir. Die Luft hier ist sowieso unerträglich.“ Die Anspielung auf seinen strengen Körpergeruch überhörte Stringer.

In der Nähe schlug eine Uhr halb vier. Fast zeitgleich sah er zwei Gestalten, die aus Richtung des Tropfenden Kessels kamen. Eine Frau und ein Mann, der ein Kind auf dem Arm trug. Potter.

In Windeseile huschte er zurück zum Wirtshaus.

„Fogg, er ist da!“ Mit bebenden Händen zog Stringer den Umschlag aus seiner Innentasche und entnahm das darin enthaltene Haar. Mit seinem Zauberstab schnitt er es klein. Die Haarstücken waren so leicht, dass sie sichtbar auf der schlammigen Oberfläche des Vielsafttrankes liegenblieben. Erst mit einem hölzernen Löffel konnte Stringer sie untermischen. „Komm her“, befahl er seinem Freund.

Fogg näherte sich dem Gebräu. Die Menge würde gerade mal ein kleines Glas füllen. Stringer goss den warmen Trank, der Fogg für eine Stunde in Sirius Black verwandeln sollte, in einen Becher um.

„Schon mal einen genommen?“, wollte Stringer wissen.
„Nein, aber ich befürchte, er schmeckt genauso eklig wie er aussieht.“
„Da hast du leider Recht.“ Mit ausgestrecktem Arm hielt er Fogg den Becher hin, den der zögernd entgegennahm. „Auf unser Wohl, und jetzt runter mit dem Zeug.“

Wie damals, als seine Eltern ihm bei einer Krankheit übel schmeckende Heilmittel verabreicht hatten, hielt Fogg einfach die Nase an und stürzte den Trank hinunter. Sein Hals begann zu brennen. Der Geschmack erinnerte an faule Essensreste. Das Herz in seiner Brust verdoppelte seinen Schlag.

„Mir wird schlecht!“, waren die letzten Worte, bevor Fogg ins Badezimmer stürmte.
„Bring nicht zu viel heraus, sonst war es umsonst“, rief Stringer ihm noch als gut gemeinten Ratschlag hinterher.

Zwar war ihm schlecht, aber er musste sich nicht übergeben. Der Magen schien von innen heraus zu brennen. Dieses Gefühl breitete sich schlagartig auf den gesamten Körper aus. Zuerst schlug die Haut an seinen Händen Blasen, dann die im Gesicht. Bei dem widerlichen Anblick schloss er die Augen. Jetzt musste er durch, denn ein Zurück gab es nicht mehr. Sein Körper streckte sich unmerklich und um die Hüfte wurde er noch schmaler, obwohl er selbst wenig auf die Waage brachte. Noch immer traute sich Fogg nicht, in den Spiegel zu sehen. Erst als die Verwandlung vonstatten gegangen war, blickt er auf. Er war jemand anderes, doch er war nicht Sirius Black.

Mit weit aufgerissenen Augen blickte Fogg in den Spiegel. Keine braunen wie die seinen, auch keine grauen wie Blacks, sondern himmelblaue Augen schauten zurück. Pechschwarze Haare umrandeten ein faltenarmes helles Gesicht mit ausgeprägten Wangenknochen. Fogg streckte den Hals und sah keine Narbe, fühlte auch nicht die Bewegungseinschränkung, mit der er sonst zu kämpfen hatte.

Jemand klopfte an die Badezimmertür, die im gleichen Moment auch geöffnet wurde.

„Alles klar bei …“ Die Worte blieben Stringer ihm im Hals stecken, als er den Fremden das erste Mal zu Gesicht bekam. Er ergriff den Mann, bei dem es sich nur um Fogg handeln konnte, an den Oberarmen und musterte ihn von oben bis unten. „Wer zum Teufel bist du?“
„Ich habe keine Ahnung, aber ich seh‘ gut aus!“
„Was zum Henker …?“ Stringer sah aus, als würde er das Leben an sich vorbeiziehen sehen. „Wie konnte das passieren?“ Völlig aus dem Gleichgewicht geworfen fuhr sich Stringer durchs Haar. „Kennt Potter diesen Mann? Wer ist das?“
„Ich weiß es nicht!“, schnauzte Fogg ihn an, doch dann, als er sich an den Tag bei der Initiative erinnerte, sah er in Gedanken diesen Mann, der erst mit einem Kobold gesprochen hatte. „Warte mal. Das ist ein Bekannter von Black.“ Er musterte sein fremdes Spiegelbild. „Der war an dem Tag auch da. Er hat mir seine Hilfe angeboten, mein Vermögen zurückzubekommen. Der hieß …“ Er schnippte aufgebracht mit den Finger. „Donell? Dewell? Ich weiß nicht mehr, wie der Typ hieß. Vielleicht Deville? Nein nein nein, es war Duvall! Der hieß Duvall, ich bin mir ganz sicher.“
Vor lauter Schreck musste Stringer auf dem Toilettendeckel Platz nehmen. „Verdammt, verdammt, verdammt“, murmelte er ununterbrochen, raufte sich dabei die Haare. „Wie konnte das passieren? Du hast das Haar doch direkt von Black genommen, richtig?“
„Klar!“, log Fogg, denn er hatte es lediglich von der Rückenlehne der Couch stibitzt.
„Wieso hat der eine Kerl die Haare des anderen auf sich, kannst du mir das erklären?“, jammerte Stringer verzweifelt.
„Vielleicht haben die was miteinander?“ In dieser Situation war Fogg zum Scherzen zumute, seinem Freund hingegen überhaupt nicht.
„Kennt Potter diesen Devil?“
„Duvall!“, verbesserte Fogg.
Mit erhobener Stimme keifte Stringer. „Du glaubst gar nicht, wie egal mir der verfluchte Name ist! Ich will wissen, ob Potter ihn kennt, denn wenn ja, ist es noch nicht zu spät.“
„Wieso? Was hast du vor?“
Stringer packte ihn am Oberarm und zerrte ihn aus dem Bad hinaus. „Komm mit! Und zieh deine Kapuze bis übers Gesicht, nur für den Fall, dass wir jemandem begegnen, der dich kennt.“

Der Himmel hatte alle Schleusen bis zum Anschlag geöffnet. Der Regen preschte mit so einer hohen Geschwindigkeit hinunter, dass die Tropfen fast einen Meter wieder nach oben spritzten, wenn sie auf eine der vielen Pfützen in der Winkelgasse trafen. Die Sicht war sehr getrübt.

Ein starker Regenschutzzauber sorgte dafür, dass Ginny, Harry und Nicholas trocken bei Besenknechts Sonntagsstaat ankamen. Sie wurden schon erwartet und das nicht nur von den drei netten Damen, sondern auch von einem älteren Herrn, dessen goldene Haarpracht die von Gilderoy Lockhart wie Schlacke aussehen ließ.

„Miss Weasley, Mr. Potter.“ Der Mann stolzierte hohen Hauptes auf sie zu. Ginny bekam einen galanten Handkuss, Harry hingegen – und darüber war er froh – wurde nur kräftig die Hand geschüttelt. „Masamator ist mein Name, aber ich bin mir sicher, dass Sie mich kennen.“
Harry, der erst heute etwas über diesen Mann erfahren hatte, sagte vorgetäuscht interessiert: „Sie schreiben doch die Mode-Kolumne in der Hexenwoche, richtig?“
„Ja“, Mr. Masamator fühlte sich geschmeichelt, „aber offenbar wird die nicht von jedem gelesen.“ Sein kritischer Blick wanderte an Harry auf und ab. „Aber dafür bin ich ja hier.“ Masamators Blick fiel auf den Jungen in seinem Arm. „Nein, was für ein goldiger Knabe. Es ist doch ein Junge, oder?“
Ginny bestätigte die Vermutung. „Nicholas heißt er.“
„Wie drollig.“ Masamator schnippte mit einem Finger. „April, kümmer dich doch bitte um den süßen Fratz, während wir uns um Mami und Papi kümmern.“

Der erste Eindruck war, wenn man wissenschaftlichen Erkenntnissen Glauben schenken wollte, entscheidend dafür, ob man jemanden mochte oder nicht. Harry war sich in diesem Moment darüber klar geworden, dass er Mr. Masamator nicht besonders leiden konnte, aber er wollte ihm eine weitere Chance geben.

Während sich eine der jungen Verkäuferinnen wirklich rührend um Nicholas kümmerte, wurden Ginny und Harry jeweils in eine Kabine gebeten. Eine der Verkäuferinnen folgte Ginny in die Kabine, um ihr beim Ankleiden behilflich zu sein. Als Mr. Masamator sich Harry anschließen wollte, hielt der den Mann zurück.

„Ich kann mich allein anziehen, Sir. Das habe ich früh genug gelernt.“
„Mr. Potter, ich wollte doch nur …“
„Vielen Dank, Sir.“ Schon schloss Harry die Kabinentür und widmete sich seiner Garderobe.

Bei seinem ersten Besuch mit Ginny hatte sich Harry für einen in der Zaubererwelt traditionellen Gehrock mit passender Weste und schwarzer Hose entschieden. Die Schneiderinnen hatten sofort Maß genommen und sich an die Arbeit gemacht, die er nun, während er sich entkleidete, vor sich an einem Haken hängen sah. Die Garderobe sah so schon perfekt aus und er konnte es kaum erwarten, sie zu tragen.

Harry war der Erste, der die Kabine wieder verließ. Bei Ginny dauerte das Ankleiden wesentlich länger. Es war sein Pech, dass Mr. Masamator sich sofort auf ihn stürzte und ihn auf einen kleinen Podest schob. Vor Harry breitete sich ein riesiger Spiegel aus, so dass er sich vollständig begutachten konnte. Er fand nichts, was man ändern müsste.

„Herrje“, stöhnte Mr. Masamator, „da müssen wir noch einiges machen.“
Verdutzt blickte Harry an sich hinunter, dann nochmal in den Spiegel. „Es sieht doch gut aus, wie es ist.“
„Sie haben auch keinen Blick für die Feinheiten, Mr. Potter.“
„Was habe ich nicht?“
„Einen Blick für die Details.“ Mr. Masamator kam auf ihn zu und zurrte an den Hosenbeinen. „Hier zum Beispiel.“
„Ich sehe überhaupt nichts. Können wir das nicht einfach einpacken? Ich nehm es gleich mit.“
Empört über Harrys Äußerung schnaufte Mr. Masamator. „Lassen Sie mich hier und da etwas ändern, dann sehen wir weiter.“
„Aber …“
„Sie, Mr. Potter, wollen doch einen guten Eindruck machen?“ Unsicher nickte Harry „Dann bitte ich Sie inständig, mich meine Arbeit machen zu lassen.“

Verzweifelt blickte Harry hinüber zur anderen Kabine. Dort sah er ein paar Arme in der Luft, konnte aber nicht genau sagen, ob die zu Ginny oder Verkäuferin gehörten. Er war Mr. Masamator ausgeliefert.

Sich seinem Schicksal ergebend stimmte Harry zu: „Von mir aus, Sir.“
„Wollen Sie denn nicht gut aussehen?“
„Doch“, bestätigte Harry.
„Aber natürlich nicht so gut, dass Sie Ihrer Braut die Show stehlen.“
„Ich würde ihr nicht einmal die Show stehlen, wenn ich mich in Gold tunken würde.“
Mr. Masamator lachte amüsiert. „Eine wahrlich erotische Vorstellung, aber unpassend für eine Hochzeit.“
‘Erotisch?‘, wiederholte Harry in Gedanken. Er wollte so schnell wie möglich den Laden verlassen, aber schon hatte er einen aufdringlichen Modespezialisten am Rockzipfeln hängen, oder besser ausgedrückt an seiner Beinbekleidung. Da wurde gezupft und gezerrt.
„Wir müssen es enger machen. Hier im Schritt.“
Innerlich stöhnte Harry. So etwas hatte ihm schon mal jemand gesagt. „Warum ausgerechnet im Schritt? Ich mag dort etwas Beinfreiheit.“
„Die Hose sitzt sonst schlecht. Sie haben … Wie soll ich mich korrekt ausdrücken?“ Mr. Masamator suchte nach Worten, die niemanden in Verlegenheit bringen würden. „Ihr Gesäß ist wenig ausgeprägt, deswegen sollte die Hose in diesem Bereich auf jeden Fall etwas enger genäht sein.“
„Ach so.“ Wenn es nur das Gesäß gemeint war, dachte Harry, könnte er damit leben.

Während Mr. Masamator seine Arbeit verrichtete, vertiefte sich Harry in seine Gedanken. Ginny hatte nie etwas an ihm auszusetzen, weder an seinem Gesäß noch an seinem …

„Mr. Potter?“
Harry hatte das Gefühl, eine Frage verpasst zu haben. „Ja?“
„Ich bat Sie, einmal so zu machen.“ Mr. Masamator streckte seine Arme weit von sich und Harry ahmte die Bewegung nach. „Zwackt es irgendwo?“
„Nur wenn Sie an mir herumziehen.“
„Ich ziehe nicht“, verbesserte der Schneidermeister, „ich passe die Kleidung an. Wie Sie übrigens bemerkt haben dürften, haben wir bei dem Schnitt des Gehrocks auf die opulenten Manschettenärmel verzichtet. Dafür ist der Kragen großzügiger gestaltet. Die Detailfreudigkeit haben wir allgemein dezent gehalten, obwohl der Gehrock sehr reich mit ornamentalem Muster verziert ist.“

Harry verstand nur die Hälfte, aber das machte nichts. Er musste den Gehrock zum Glück nur tragen und sich nicht mit ihm über Mode unterhalten.

„Ich habe die Mustereinleserin der Seidenmanufaktur mit einer schwierigen Aufgabe bedacht, aber sie hat sie zu meiner vollsten Zufriedenheit gemeistert.“ Mr. Masamator trat zu Harry auf den Podest und strich mit einer Hand über die goldene Stickerei am Kragen. „Sie werden, wenn Sie ganz genau hinsehen, auf beiden Seiten jeweils die Anfangsbuchstaben Ihrer Vornamen finden. Hier“, ein Zeigefinger malte das Muster nach, „der Buchstabe H und hier …“ Mr. Masamator fuhr den anderen Buchstaben nach, den Harry erst jetzt bewusst wahrnehmen konnte.
„Ein G!“ Fasziniert von diesem optischen Versteckspiel berührte Harry ehrfürchtig die seidene Stickerei.
„Ich dachte mir, dass Ihnen das gefallen könnte.“

Mit sich selbst zufrieden fuhr Mr. Masamator mit seiner Arbeit fort, während Harry nach vorn in den Spiegel schaute und breit grinsend das betrachtete, was man nur sehen konnte, wenn man wusste, wo man schauen musste. Für ihn waren die ineinander verschlungenen Buchstaben nun so deutlich zu erkennen wie die Narbe auf seiner Stirn. Harry und Ginny – bereits vereint auf genau dem Kleidungsstück, das er an seinem großen Tag tragen würde. Mr. Masamator war ihm auf einmal sympathisch.

Von der Vorfreude bei Besenknechts Sonntagsstaat war außerhalb des Bekleidungsgeschäfts nichts zu spüren, besonders nicht bei Stringer. Er hatte Fogg in der Gestalt von Duvall hinter sich hergezogen, bis sie in der Gasse zum Halt kamen, von der aus man in das Geschäft hineinsehen konnte. Man hätte an einem strahlenden Sonnentag sogar durch die Schaufenster erkennen können, was sich drinnen abspielte, doch nicht heute. Der Himmel war schwarz. Blitze waren das einzig Helle an diesem späten Nachmittag.

„Mir tut alles weh“, jammerte Fogg, der den kurzen Weg bis hierher in jedem einzelnen Knochen spürte.
„Sind die das?“ Stringer deutete mit einer Handbewegung zum Bekleidungsgeschäft hinüber. „Ist da überhaupt jemand drin? Wir müssen näher ran und durch die Fenster schauen.“
„Bist du wahnsinnig?“ Am Oberarm hielt Fogg seinen Freund fest. „Bei dem Regen dort am Schaufenster zu stehen macht uns doppel und dreifach verdächtig.“
„Hast du eine bessere Idee?“
„Ja“, Fogg nickte heftig, „lass uns abhauen!“
„Ich habe dir gesagt, wir versuchen es wenigstens und jetzt sei still.“

Schräg gegenüber sah man durch die Fenster nur die Silhouetten von zwei Personen. Die eine davon schien erhöht zu stehen.

Mr. Masamator hatte sein ganzes Augenmerk auf Harrys Hose gerichtet.

„Der Gehrock sitzt perfekt, Mr. Potter, den können Sie ausziehen.“ Gesagt, getan. Eine der Verkäuferinnen nahm ihm das edle Stück ab. „So, Mr. Potter“, der Schneidermeister markierte noch eine Stelle am Hosenbund, „das war’s. Nach der Änderung sitzt die Hose wie angegossen.“
Harry blickte zur Kabine von Ginny hinüber, die noch immer nicht herausgekommen war. „Was ist mit meiner Verlobten?“
„Es ist etwas aufwändiger das Kleid anzuziehen. Ihre Verlobte hat auch ein Korsett bestellt. Sie müssen nicht warten, Mr. Potter. Es bringt sowieso Unglück, die Braut vor der Hochzeit in voller Montur zu sehen.“
„Ich bin nicht abergläubig.“
„Aber ich“, beteuerte Mr. Masamator. „Ich möchte keine bösen Geister auf mein Geschäft aufmerksam machen, nur weil Sie Ihnen trotzen.“ Der Schneidermeister meinte es weniger ernst als es klang, was sein sanftes Lächeln untermalte.
Von der Kabine aus rief Ginny: „Harry, du kannst mit Nicholas ruhig schon gehen. Ich glaube, das dauert noch eine Weile. Die vielen Haken und Ösen wollen nicht so wie wir wollen.“
„Wenn es dir nichts ausmacht?“
„Ich würde es sonst nicht vorschlagen. Geh ruhig schon, ich komme alleine nach.“

Draußen war es mittlerweile auch noch stürmisch geworden. Das Unwetter, vor dem in der Muggel- und auch der Zaubererwelt frühzeitig gewarnt worden war, war voll im Gange. Stringer und Fogg warteten ungeduldig in der Gasse und behielten den Eingang von Besenknechts Sonntagsstaat im Auge.

„Und wenn Potter länger braucht als eine Stunde?“ Nur noch dreißig Minuten blieben ihn in Duvalls Erscheinung.
„Da“, aufgeregt zeigte Stringer zum Eingang des Geschäfts, „es kommt jemand raus.“
Fogg kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. „Das ist Potter und er trägt ein Kind auf dem Arm.“ Besorgt wegen der bevorstehenden Auseinandersetzung bat Fogg seinen Freund eindringlich. „Lass es uns abbrechen. Nicht dass dem Kind noch etwas geschieht.“
„Du gehst jetzt sofort dort hinüber und lockst ihn hierher!“

Mit beiden Händen hielt Stringer seinen Freund an den Schultern, weil er ihn auf die Straße schubsen wollte, da hielt er inne, als sich eine andere Person Potter näherte.

„Was soll das? Muss denn wirklich alles schiefgehen?“, schimpfte Stringer. „Wer ist das?“
Eine Hand schützend an die Stirn gehalten, damit er wegen des starken Regens überhaupt noch etwas sehen konnte, vermutete Fogg laut: „Das sieht aus wie Black.“

Per Zauber formte Stringer eine durchsichtige Blase an seine Stabspitze, durch die er die Gegend vergrößert wahrnehmen konnte. Trotzdem war die Sicht schlecht, aber er konnte zumindest den Mann bei Potter erkennen.

„Das darf nicht wahr sein, das ist tatsächlich Black. Verflucht und zugenäht!“ Mit weit aufgerissenen Augen starrte Stringer hinüber. „Ich fasse es nicht! Genau so sollte es ablaufen. Siehst du?“ Stringer rückte Fogg in die richtige Position, damit er die beiden sehen konnte. „Das da drüben solltest eigentlich du sein, verdammt nochmal!“

Unruhig lief Stringer in der Gasse auf und ab, blickte immer wieder zu Potter hinüber. Der stand vor dem Regen geschützt unter einem Dachüberstand von Besenknechts Sonntagsstaat und unterhielt sich prächtig mit seinem Patenonkel, der gerade auf dem Weg zu Duvall war. Stringer verstand die Welt nicht mehr. Voller Wut trat er gegen eine Mülltonne, weshalb sich Fogg erschreckte.

„Lass das, sonst hören die uns noch!“, warnte Fogg.
„Ist doch sowieso alles egal!“ Wieder schaute er zu Potter hinüber, der von Black geführt unter dem Regenschutz entlang eine abgelegene Ecke aufsuchte. „Das ist doch wohl alles nicht wahr“, regte Stringer sich auf, „das ist mein Plan! Irgendeine Übermacht hat mein Drehbuch geklaut und spielt die Szenen mit anderer Rollenbesetzung nach. Bei Merlin …“
„Merlin wird sich an solchen Dingen nicht die Finger schmutzig machen.“
„Hör auf dich über mich lustig zu machen.“ Plötzlich bekam Stringer einen seltsamen Gesichtsausdruck, der dem einen wahnsinnigen glich. „Aber natürlich“, flüsterte er unheilvoll. „Du hast gesagt, Mr. Dewell kennt Black. Geh zu den beiden rüber!“
Fogg wehrte sich, als Stringer ihn packte und zur Straße drängte. „Das werde ich nicht tun!“ Er befreite sich. „Vielleicht ist es Schicksal, dass es nicht klappen will.“

Verzweifelt schlug Stringer mit beiden Fäusten gegen die Backsteinwand. Dabei stolperte er und schlug mit dem Gesicht gegen den Stein. Wenige Sekunden später sackte er resignierend zusammen, hielt sich dabei den schmerzenden Kiefer. Fogg kniete sich neben ihn. Sein Freund war mit den Nerven am Ende. Wie Stringer gerade auf der Erde kauerte, gab er der Redewendung „völlig am Boden zerstört“ eine sehr anschauliche Verbildlichung.

„… zu nichts zu gebrauchen“, murmelte Stringer jeder Hoffnung beraubt.

Fogg blickte zur Potter und Black hinüber und war froh, dass es so gekommen war. Bei welchen Mächten er sich auch für diese Einmischung ins Schicksal auch bedanken müsste, er würde stellvertretend alle in sein Abendgebet einschließen. Stringer war noch nicht dazu zu bewegen, wieder aufzustehen und der Zukunft ins Auge zu blicken. Mit einem Schlag 30.000 Pfund verloren zu haben war für einen armen Mann mit dem Verlust des Lebenswillen gleichzusetzen, war die Einbuße jeglichen Hoffnungsschimmer. Stringer hatte nur das Geld haben wollen, um sich damit von seinem Fluch zu befreien, denn erst dann wäre es ihm möglich, einen Beruf zu ergreifen und ein normales Leben zu führen. Jetzt würde er weiterhin wegen des Gestanks von allen Menschen gemieden werden, dafür hatte die betrogene Ehefrau gesorgt.

Das zweite Mal, als Fogg über die Straße schaute, war niemand mehr zu sehen. Potter und Black waren gegangen. Er wartete noch eine Weile, bis er diese Information an seinen Freund geben würde. Er wollte nicht noch Salz in die Wunde streuen.

Als zwei Gestalten angerannt kamen, stand Fogg auf und zog seinen Stab. Nach wenigen Schritten waren die beiden völlig durchnässten Squibs bei ihm. Beide waren sichtlich irritiert.

„Wer zum Teufel sind Sie?“, fragte Arnold und erst da wurde sich Fogg wieder darüber bewusst, dass er Mr. Duvalls Äußeres zur Schau stellte.
„Ich bin Fogg.“
Arnold schien zwar skeptisch, glaubte der Aussage jedoch. „Was ist mit dem?“ Lax deutete er mit einer Hand auf Stringer. „Da ist wohl einiges bei eurem Plan in die Hose gegangen. Ich wusste es, dass ihr …“
„Halt’s Maul!“ Den Zauberstab richtete Fogg auf den Squib, der furchtlos der Bedrohung ins Auge sah.
Arnold kam der Aufforderung nicht nach. „Wer war der Typ bei Potter?“
„Der echte Sirius Black.“
„Ah“, machte Arnold lang gezogen, womit er seine ganze Verachtung zum Ausdruck bringen wollte. „Der ‘echte‘ Sirius Black. Du bist ja nicht mal der Falsche, also was läuft hier? Habt ihr das mit Absicht gemacht? Habt ihr sabotiert?“ Arnolds Gesicht verfinsterte sich genauso wie der Himmel, als er durch die Zähne zischte: „Denn wenn ja, das schwöre ich, wird Hopkins euch jagen und verbrennen, wie er es mit all den anderen getan hat.“
Fogg traute seinen Ohren kaum. „Was hat er getan?“, flüsterte er schockiert über diese Neuigkeit.
Der andere Squib lenkte seinen Bruder ab. „Arnold, sieh mal.“

Auch Fogg folgte mit seinem Blick dem ausgestreckten Zeigefinger und sah zu Besenknechts Sonntagsstaat hinüber. Die Tür war geöffnet. Jemand verabschiedete eine junge Dame. Ginevra Molly Weasley, die Tochter des Zaubereiministers.

„Was führt ihr im Schilde?“

Kaum hatte Fogg diese Frage gestellt, wurde er von beiden Squibs angegriffen. Den älteren, Arnold, traf er noch mit einem Fluch, der ihm eine klaffende Wunde am Unterschenkel bescherte. Alex hatte zu einem Mülltonnendeckel gegriffen, mit der er Fogg mit aller Wucht gegen den Hinterkopf schlug. Sofort ging der Zauberer zu Boden. Er landete vor Stringers Füßen, der das unwirkliche Szenario wie in einem Traum erlebte. Vor ihm lag bewegungslos sein Freund, links von ihm der Squib, der sich in Schmerzen wandte. Alex verschaffte sich in Windeseile einen Überblick über die Situation und entschloss, dass Stringer keine große Gefahr zu sein schien, so abwesend wie der Zauberer dreinblickte. Trotzdem nahm er ihm vorsichtshalber den Stab ab, wogegen sich der Mann nicht einmal wehrte.

„Arnold?“ Alex kniete sich neben seinen Bruder und betrachtete den Unterschenkel, der stark blutete. „Ich bin gleich wieder da, Arnold!“ Seine Hand tauchte Alex in das viele Blut, um es an seinem hellen Hemd abzuwischen, bevor er aufstand und der jungen Frau nachlief.

Ginny war froh, dass die Änderungen an ihrem Kleid nur geringfügig waren. Das Ankleiden hatte mehr Zeit in Anspruch genommen als die Begutachtung durch Mr. Masamator. Auf ihrem Weg zum Tropfenden Kessel hörte sie plötzlich jemanden hinter sich. Sofort zog sie ihren Stab und drehte sich um. Der Mann, der ihr gefolgt war, blieb abrupt stehen. Das Blut auf seinem Hemd ließ sie erschauern.

„Können Sie uns bitte helfen? Ein schlimmer Unfall ist passiert. Mein Freund liegt mitten auf der Straße und verblutet“, rief ihr der Mann hastig zu, der auch schon wieder davonrannte und heimlich hoffte, sie würde ihm folgen.
„Warten Sie!“

Er hört sie nicht, weshalb sie ihm nachrannte. Der Weg war nicht weit. In der Gasse sah sie drei Männer am Boden liegen. Einer war bewusstlos, einer am Bein verletzt und der dritte schien einen Schock zu haben.

„Um Himmels Willen, was ist nur geschehen?“
„Helfen Sie meinem Bruder, bitte!“ Der junge Mann deutete auf die Person, die eine klaffende Wunde am Bein hatte und mit schmerzverzerrtem Gesicht zur ihr aufblickte. „Die zwei Zauberer haben uns überfallen, weil sie Squibs nicht leiden können.“
„Warten Sie“, Ginny zog ihren Stab, „ich hole Hilfe.“
„Helfen Sie erst meinem Bruder!“, befahl er. Viel sanfter bat er: „Bitte, er hat große Schmerzen.“

Der Verletzte zog sein Hosenbein in die Höhe. Der Schnitt war tief, aber solche Wunden konnte Ginny heilen. Um Verletzungen dieser Art hatte sie sich in Kriegszeiten häufig kümmern müssen. Im Nu kniete sie bei dem Mann und richtete den Stab auf die Wunde, aus der bereits eine Menge Blut geflossen war. Mit einem beigefarbenen Zauberspruch stoppte sie Blutung, bevor sie die Wunde reinigte schloss.

Weil sie mit dem Rücken zu dem anderen Squib gewandt war, bemerkte sie nicht, dass der eine kleine Flasche aus der Hosentasche zog.

„Das sollte erst einmal reichen, bis …“ Ein Röcheln war von dem hübschen Schwarzhaarigen zu hören, der gerade das Bewusstsein wiedererlangte. Sie robbte zu ihm hinüber. „Sir? Hören Sie mich?“

Die Augenlider zuckten, wenn Regentropfen sie berührten. Seine Lippen bewegten sich, aber sie konnte nichts verstehen, so dass sie sich zu ihm beugte. Dann hörte sie die abgehackten Worte.

„Appa-rieren Sie … ver… verschwinden Sie …“ Mehr konnte Fogg nicht sagen, aber er hoffte, sie würde den Ernst der Lage begreifen.

Ihr wurde heiß und kalt. Im Bruchteil einer Sekunde fühlte sie sich wie an einem der Tage, als ihr und ihren Freunden eine drohende Gefahr bewusst wurde. Todesser. Inferi. Voldemort. Das Bauchgefühl befahl ihr, sofort zu verschwinden.

Es ging alles so schnell.

So schnell.

Ginny drehte sich um, wollte den Mann, der sie hergelockt hatte, verhexen. In der drehenden Bewegung entriss ihr der Squib mit der Beinverletzung den Zauberstab. Sie griff nach der einzigen Waffe, mit der sie sich wehren könnte. Plötzlich legte sich etwas Weiches, Feuchtes auf ihr Gesicht. Nase und Mund waren mit einem Tuch bedeckt. Den Stab ließ sie los, krallte stattdessen ihre Fingernägel in die Hand vor ihrem Gesicht. Sie holte Luft, atmete somit das erste Mal Unheil ein.

Panik übermannte sie. Ihre Schreie wurden durch das Tuch und die kräftige Männerhand unterdrückt. Beim nächsten Atemzug tränten die Augen. Ihre Bewegungen wurden schwächer. Sie hielt die Luft an, wandte sich in den Armen des Schurken, trat blindlings drauf los. Jemand hielt ihre Beine fest. Sie spürte die Berührung kaum noch. Ginny musste Luft holen, atmete mehr und mehr von der flüssigen Besinnungslosigkeit. Ihre Glieder wurden müde, die Bewegungen träge. Sie spürte nur ihren eigenen Herzschlag, alles andere war unempfindlich geworden. Die Augenlider flatterten. Die Farben der Welt verschwanden. In ihren getrübten Gedanken erschienen ihr ein letztes Mal Harry und Nicholas.

Einen Flügelschlag später schwanden ihre Sinne.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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Muggelchen
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200 Ohnmacht




In den eigenen vier Wänden angekommen entschloss sich Harry dazu, Nicholas zu baden. Zwar hatte ein Zauber vor Regen geschützt, aber trotzdem konnte man nicht dem klammen Gefühl entkommen, das das Unwetter mit sich brachte.

„Und weißt du, was noch viel schöner ist als baden?“, fragte Harry den fröhlichen Jungen, während er ihm das kleine Unterhemd auszog. „Baden mit Papi!“

Die Wanne füllte Harry mit so viel Wasser, dass der Junge gemütlich darin sitzen konnte. Die hohen Schaumkronen fand Nicholas besonders schön. Sowieso war das Bad für den Jungen mehr ein Spiel als Körperhygiene, was Harry schnell feststellte, als der Junge ihn nassspritzte, aber nicht nur ihn, sondern auch den Boden, die Handtücher und die Toilettenschüssel.

„Ich glaube, jetzt ist mehr Wasser da draußen als hier in der Wanne“, sagte Harry nebenher, als er Nicholas Ohren wusch.
„Sir?“
„AH, Himmelherrgott!“ Harry erschrak so sehr, dass er zusammenzuckte. „Wobbel! Ich sagte doch, du sollst mich nicht mehr so erschrecken.“
„Tut mir leid, Sir. Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass Mrs. Weasley Sie während Ihrer Abwesenheit kontaktieren wollte. Es ging um die Hochzeitsvorbereitungen.“

Es machte Wobbel überhaupt nichts aus, dass Nicholas ihn freudestrahlend und laut quiekend mit einigen Spritzern Wasser bedachte, mit dem Quietscheentchen nach ihm warf und danach mit dem nassen Waschlappen. Momentan war er in die Rolle des dienenden Hauselfen geschlüpft, der stocksteif im Badezimmer die Neuigkeiten des Tages verkündete.

„Hat das nicht bis nachher Zeit, Wobbel?“
„Ich habe längst Feierabend, wie Sie wissen.“ Mit einem unterschwelligen Vorwurf machte Wobbel klar: „Sie haben diese Arbeitszeiten festgelegt.“ Der Hauself verkniff sich nur halbherzig ein Schmunzeln, was seinem Herrn nicht entging.
„Lust mit reinzuhüpfen?“, schlug Harry scherzhaft vor, während er mit einer Handbewegung flüchtig in die Wanne deutete.
„Nein, Sir. Sieht mir ein wenig eng aus, wenn mir die Bemerkung gestattet ist.“
„Bist du dann so nett und reichst mir den Waschlappen und mein Entchen?“
„Ihr Entchen?“, fragte Wobbel mit hochgezogener Augenbraue nach.
Harry zeigte auf den Jungen und verbesserte: „Seines.“ Trotzdem gab Harry das gelbe Entchen nicht an Nicholas weiter, denn der schlug gut gelaunt auf den Schaum ein. „Was wollte Molly?“
„Es ging um die Trauzeugen.“
„Ron ist meiner und Hermine die von Ginny.“
„Dachte ich mir“, bestätigte Wobbel. „Mrs. Weasley wollte sich dessen nochmal vergewissern. Ich war so frei, die Angelegenheit in Ihrem Namen zu klären, Mr. Potter.“
„Gut, danke für die Nachricht, Wobbel. Schönen Feierabend noch.“
„Bis Morgen, Sir.“ Wobbel verbeugte sich und verschwand.

Harry und Nicholas waren längst sauber, aber das Spiel in der Wanne war noch nicht zu Ende. Erst als der letzte Schaum unter Nicholas‘ Händen vergangen war, entschloss sich Harry dazu, das Bad zu beenden. Er stieg als Erster aus und zog sich seinen Bademantel über.

„Ich glaube, ich besorge mir mal ein Schiffchen. Ich hatte nie eines, musst du wissen.“ Vorsichtig hob er Nicholas aus der Wanne und kuschelte ihn in ein großes weiches Handtuch ein. „Dudley hatte eines, hat immer ewig damit gespielt. Das hat Onkel Vernon jedes Mal zur Weißglut gebracht, dass das Bad solange besetzt war.“

Zurück im Schlafzimmer war Nicholas im Nu abgetrocknet und mit einem Schlafanzug bekleidet.

„Jetzt geht’s aber sofort ins Bettchen.“

Dem Jungen wurde noch eine Geschichte vorgelesen, aber nicht der Inhalt von Schneewittchen, sondern der sanfte Klang von Harrys Stimme hatten Nicholas schnurstracks ins Traumland befördert.

Mit den Hausaufgaben seiner Erstklässler beschäftigte sich Harry, bis er sie vollständig korrigiert hatte. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass Besenknechts Sonntagsstaat schon eine halbe Stunde geschlossen haben musste. Wo sie gerade schon in der Winkelgasse war, hatte Ginny sicherlich die Gelegenheit wahrgenommen, bei Hermine oder Fred und George vorbeizuschauen. Das lag nahe, dachte er und doch hatte er ein seltsames Gefühl im Bauch. Er würde sich hüten ihr hinterherzuspionieren. Als Hermine damals nach ihrem Vorstellungsgespräch beim Mungos nicht zurückgekommen war und er vor lauter Sorge sämtliche Bekannte anflohte, hatte Ginny ihm die Meinung dazu gesagt. Er würde völlig überreagieren, warf sie ihm damals vor. War das nicht aber eine der guten Eigenschaften, wenn man der Freund von jemandem war? Sich zu sorgen konnte nichts Schlechtes sein. Trotzdem ließ Harry es sein, sofort zum Kamin zu eilen, um die Zwillinge anzuflohen. Er könnte natürlich so tun, als würde er etwas von ihnen wollen, aber Ginny konnte er nichts vormachen. Also ließ er es sein und blickte stattdessen neben Hedwigs Käfig hinaus aus dem Fenster. Das Unwetter und die vielen Blitze zogen ihn magisch an.

Es blitzte auch in anderen Ecken des Landes. Die Schlechtwetterfront tobte in der Nähe von Clova noch schlimmer als anderswo. Durch die Gänge der uralten Festung pfiff der Wind. Keine Ritze war vor ihm sicher. Die Fenster des Gebäudes waren so marode, dass die Feuchtigkeit sich in allen Räumen ausdehnte, auch in Pablos Zimmer. Er hatte sogar das Feuer im Kamin entzündet, um es gemütlicher zu haben, doch die Wärme von draußen drückte den Rauch, der eigentlich abziehen sollte, zurück ins Zimmer. Pablo war gezwungen, sein Fenster zu öffnen, wenn er sich keine Rauchvergiftung einhandeln wollte. Gerade rechtzeitig sah er, wie vier Gestalten aus dem Nichts im Innenhof erschienen. Eine davon verschwand auf genauso mysteriöse Weise wieder und ließ die beiden Figuren zurück, die eine dritte Person trugen, die augenscheinlich bewusstlos war.

Sofort stürzte Pablo aus seinem Zimmer, um seinen Vater zu warnen, denn er rechnete mit einem Angriff aus der Zaubererwelt. Im Flur traf er auf andere Anhänger von Hopkins, die ebenfalls das Ereignis beobachtet hatten. Einer von ihnen war Mr. Andersen, ein Arzt, der er vor vier Wochen hergekommen war. Eine Gruppe von Zauberern hatte ihn vor ungefähr drei Jahren übel zugesetzt. Die meisten Verletzungen konnte man in einem Krankenhaus beheben, aber eine nicht. Er hatte keine Zehen mehr. Sie waren zwar nicht verschwunden, aber sie waren zusammengewachsen. Seine Füße hatten große Ähnlichkeiten mit denen von Puppen, bei denen die Zehen nur angedeutet waren.

„Greifen sie an?“, hörte man Eleanor, die älteste von allen, mit Furcht in der Stimme fragen.
„Blödsinn! Wie sollen drei Personen gegen uns eine Chance haben?“ Das fragte einer der Männer, der erst ganz neu eingetroffen war. In dem Wirrwarr konnte Pablo seinen alten Herrn ausmachen.
„Vater?“ Pablo winkte ihn zu sich heran. „Hast du es auch gesehen?“
„Nein, aber Eleanor hat mir Bescheid gegeben. Ich werde mit Tyler rausgehen und schauen. Immerhin erwarten wir ja einen bestimmten ‘Gast‘, also erweisen wir Mr. Potter die Ehre.“

In der Halle im Erdgeschoss wartete Tyler bereits. Er war nervös. In seiner Hand spielte er mit einer Handfeuerwaffe.

„Ah, Alejandro“, Tyler nickte ihm zu, „gehen wir und begrüßen Mr. Potter.“
„Wo ist Robert?“ Hopkins hatte sich in den letzten Wochen kaum sehen lassen.
Tyler zuckte mit den Schultern. „Müsstest du doch am besten wissen, kennst ihn am längsten.“
„Gehen wir.“
„Moment!“ Aus dem zweiten Halfter zog Tyler eine 9mm Browning und reichte sie Alejandro. „Nur für den Fall.“
„Ich glaube nicht, dass wir Potter etwas antun sollen. Hopkins will mit ihm die Hexen unter Druck setzen. Die sollen dorthin verschwinden, wo der Pfeffer wächst.“
Tyler grinste breit. „Oder auf dem Scheiterhaufen landen.“
„Bei dem Wetter wird das aber schwierig.“

Zusammen mit Tyler, der sich offenbar eine Auseinandersetzung herbeisehnte, damit er in den Genuss kommen würde, seine Pistole zu benutzen, ging Alejandro nach draußen. Es dauerte keine Minute, da war ihre Kleidung völlig durchnässt.

„Das sind Alex und Arnold“, registrierte Tyler. „Aber der Dritte sieht mir nicht nach Potter aus.“

Ein paar Schritte später waren sie bei den beiden Squibs angekommen. Völlig entgeistert betrachteten sie die junge Frau, die Arnold und Alex in ihre Mitte genommen hatten. Sie war bewusstlos. Ihr Gesicht war durch die langen Haare bedeckt. Durch den lauten Regen hörte man nur gedämpft die Stimme von Hopkins, der in einiger Entfernung den Innenhof betrat. Natürlich wollte er sich nicht entgehen lassen, die Ankunft von Potter live mitzuerleben. Sein Gesicht war fahl und dürr, die Augen und auch die Wangen eingefallen. Er sah aus wie der leibhaftige Tod. Den Regenschirm konnte er kaum halten.

„Wer ist das?“, fragte er launisch, nachdem er bei seinen Männern angekommen war. „Das ist nicht Potter!“ Mit vor Ekel verzogenem Gesicht griff Hopkins in den Haarschopf. „Rot! Hätte ich mir ja denken können“, kommentierte er die Haarfarbe der bewusstlosen Hexe. Unsanft riss er ihren Kopf nach oben und musterte das Antlitz. „Wer ist das?“

Alejandro wusste nur zu gut, wer das war, auch wenn sie etwas älter geworden war und sie längeres Haar hatte. Sie war die Frau, auf die man damals Sohn Pablo angesetzt hatte, um an den Zaubereiminister zu gelangen.

Alex übernahm die Antwort. „Das ist Potters Verlobte.“
„Was? Warum schleppt ihr die hier an? Der Auftrag lautete anders!“
„Sir“, beschwichtigte Arnold, der auf seinem noch immer verletzten Bein kaum stehen konnte, „die angeheuerten Zauberer waren nicht gerade eine große Hilfe. Ich glaube, sie haben absichtlich sabotiert.“
Das Gesicht von Hopkins verfinsterte sich wie der Himmel. „Haben sie das?“, knurrte er missgestimmt. „Dann sollten wir denen auch mal eine Lektion erteilen.“

Noch immer hielt Hopkins den Kopf der jungen Frau an ihren roten Haaren, damit er ihr hübsches Gesicht betrachten konnte. Wo sie war, würde Potter folgen. Vielleicht war es so herum sogar besser, dachte Hopkins. Auf diese Weise hatte er ein Druckmittel gegen Potter und den Minister in der Hand und beide würden aus Angst, die Verlobte und die Tochter zu verlieren, genau das tun, was er wollte. Und wenn er Potter an der kurzen Leine hielt, würde er Macht über die Magische Welt haben.

Unerwartet spuckte Hopkins der bewusstlosen Frau ins Gesicht. „Schafft sie in den Turm. Macht sie fest und sorgt dafür, dass sie schwach bleibt!“ Als die beiden Männer sich abwandten, bemerkte Hopkins, dass Arnold humpelte. „Was ist mit dir, mit deinem Bein?“
„Einer unserer ‘Verbündeten‘ hat mich angegriffen.“
„Lass das von Eleanor verarzten. Glaub mir“, Hopkins fasste sich an den Kopf, „ich weiß, wie du dich fühlst.“ Ihm selbst waren die Kopfschmerzen nun ein täglicher Begleiter, genau wie das Nasenbluten. Für seinen gesundheitlichen Zustand machte er Hexen verantwortlich. Hexen, die sich dafür rächen wollten, was sein Vorfahre Matthew Hopkins ihnen angetan hatte. Von Mr. Andersen, dem Arzt, wollte er sich aus dieser Überzeugung nicht untersuchen lassen.

Alejandro, der sich immer näher an Hopkins herangetreten war, um ebenfalls unter dem Schirm stehen zu können, fragte aufgeregt: „Soll ich allen sagen, dass sie sich bewaffnen sollen? Wenn Potter herausbekommt, dass wir sie haben, wird er herkommen und zwar sehr bald.“
„Das hoffe ich“, bestätigte Hopkins. „Es sollen sich alle bewaffnen. Wir müssen jeden Moment mit einem Angriff rechnen. Ab jetzt will ich rund um die Uhr jemandem am Generator haben, damit wir im entscheidenden Augenblick auf die Scheinwerfer zugreifen können, sollten die uns nachts angreifen.“

Schwächlich stapfte Hopkins durch den Matsch zum Gebäudeeingang hinüber. Alejandro blickte ihm nach. Hopkins mag es geschafft haben, an die 300 Hexengegner aus der ganzen Welt hergelotst zu haben, aber die meisten von denen waren religiöse Fanatiker oder Anhänger des esoterischen Bereichs, die Hexen für sämtliches Unheil auf der Welt verantwortlich machten. Das konnte nicht das sein, was Hopkins erreichen wollte, dachte Alejandro. Kaum einer hatte wie er selbst uns ein Sohn miterleben müssen, wie Zauberer und Hexen für den Tod von Familienangehörigen verantwortlich waren. Nur wenige wussten, dass es wirklich Hexen mit teuflischen Kräften gab, die – ohne ihn auch nur anzurühren – einem Menschen die Kehle zerfetzen konnten. In der Festung hielt sich noch das Ehepaar auf, deren drei Söhne von maskierten Mördern mit grünem Nebel das Leben genommen wurde. Und Eleanor, die von ihrem Mann, einem Zauberer, des gemeinsamen Kindes beraubt wurde, als er sie verließ. Alex und Arnold, die ihren Eltern unangenehm waren, weil sie keine magischen Fähigkeiten besaßen und noch vor ihrer Volljährigkeit aus der Familie verbannt wurden. Es war nur eine Handvoll Leute hier, mit magischen Menschen in Berührung gekommen waren. Gebrochene Menschen, die einen begründeten Zorn auf Hexen und Zauberer hatten, doch der Rest? Alejandro schnaufte. Der Rest bestand aus Spinnern, die mit Wünschelruten durch die Gegend rannten, das Qui-Ja-Brett befragten oder ihr Schicksal auspendelten. Keiner spürte den Schmerz, vom dem Alejandro seit Jahren von innen aufgefressen wurde, wenn er an seine Frau und den Missbrauch durch die in schwarze Umhänge gehüllten Verbrecher dachte, die ihr die Ehre raubten. Nach dem Überfall brannte die Scham so sehr in ihrer Seele, dass sie Erlösung suchte, die sie nach ihrem eigenen Glauben nun nie mehr erfahren würde. Ihr Platz war nicht bei den Engeln. Wegen seiner Taten würde Alejandro eines Tages seine Frau bestimmt wiedersehen können, aber er wollte, wenn seine Zeit gekommen war, so viele Zauberer und Hexen mitnehmen, wie er nur konnte.

„Ach, Alejandro“, Hopkins drehte sich zu ihm um, „dein Sohn soll sich um die Hexe kümmern.“ Ein Widerwort war nicht geduldet. Hopkins wollte seine und die Loyalität seines Sohnes prüfen.
„Ja, Robert.“ Kein Widerwort, das wagte Alejandro auch gar nicht. Hopkins war unberechenbar geworden.

Wie arrhythmische Trommelklänge in unbekannten Gebieten des Kongos klang der Regen, der in sämtlichen Teilen des Landes vom Himmel auf die Dächer prasselte. Durch das Wetter herrschte auch eine trübe Stimmung im Hause Malfoy, woran aber auch der Brief schuld sein könnte, der heute mit einer Eule eingetroffen war. Schwester Marie hatte ihm geschrieben. Voller Freude über die Abwechslung in seinem Alltag, die der Brief versprach, rechnete er mit einem persönlichen Inhalt und war daher schwer enttäuscht, als sie nur das Gleiche schrieb wie schon Professor Puddle.

„Ich frage mich“, begann seine Frau, „warum du dich so sträubst. Hast du Angst, dass man dir in dem Krankenhaus nicht mit Respekt entgegenkommt?“
„Meine liebe Narzissa, das letzte Mal, als ich dort war, war ich als Verbrecher im Sicherheitstrakt des Krankenhauses untergebracht. Deine Vermutung könnte daher durchaus zutreffen.“ Mit gerümpfter Nase legte er den Brief auf dem Kaffeetisch ab und wandte sich seiner Frau zu, die gerade sich bewegende Bilder von Charles in ein Fotoalbum klebte.
„Es ist doch aber nett von der Schwester, dich auf die möglichen Nachteile hinzuweisen. Ich denke nicht, dass es zu ihrer Aufgabe gehört“, sie zeigte Lucius ein ganz besonders niedliches Bild des Enkels und lächelte dabei ganz breit, „den Patienten Briefe zu schreiben.“ Das Foto des Jungen bekam in dem dicken Fotoalbum eine eigene Seite. „Die Schwester sorgt sich, das konnte ich dem Wortlaut des Briefes entnehmen.“
„Ich habe keine Probleme mit den Augen“, versicherte Lucius, der sich auch die anderen Bilder gemeinsam mit seiner Frau anschaute.
„Hast du den Brief überhaupt gelesen?“, stichelte sie. „Es steht deutlich geschrieben, die Untersuchung sei zur Vorbeugung, damit erst gar nichts geschehen kann. Lass dich untersuchen, Lucius, oder möchtest du etwa erneut das Augenlicht verlieren?“

Schon bei Voldemorts letztem Angriff hatte Lucius kaum noch etwas in der Ferne sehen können, außer den unwirklichen Spielen zwischen Licht und Schatten und ein paar grobe Umrisse. Aus der Nähe war er durchaus noch in der Lage gewesen, das Gesicht seines Sohnes auszumachen – und das von Severus. Den Kampf hätte Lucius nicht überlebt, wäre er Voldemorts Befehlen gefolgt und hätte Hogwarts gestürmt. Die Gefahr war groß gewesen, nicht den vermeintlichen Feind, sondern andere Todesser zu treffen. Deren Rache wollte er nicht ausgesetzt sein. Als er seinem Sohn gegenüberstand, war es um ihn geschehen. Die Hoffnung, wenigstens er könnte diesen Krieg überleben, hatte Lucius dazu gebracht, die eigene Freiheit aufzugeben und sich zu ergeben.

Was danach kam, zeigten die Bilder, die nun liebevoll durch die schlanken Hände seiner Frau glitten und sortiert wurden. Ein Enkelkind und eine Halbblüterin als Schwiegertochter.

„Lade sie doch einmal zu uns ein, Lucius.“
„Wen?“
Eine dieser zierlichen Hände legte sich auf seine. „Ich meine die nette Krankenschwester, von der du so oft erzählt hast. Unsere Familie könnte neue Freunde gebrauchen.“
„Ja, das könnte ich tun. Sie würde dir gefallen.“
„Mmmh“, summte sie zustimmend, bevor sie ihm ein Bild unter die Nase hielt, auf dem nicht nur der Enkel zu sehen war, sondern auch er selbst – und zwar schlafend im Bett.
„Wann war denn das?“, fragte er verdutzt, als er ihr das Bild aus der Hand nahm, um es genauer betrachten zu können.
„Vor ungefähr zwei Wochen. Charles wollte unbedingt zu dir ins Bett krabbeln, aber du hast noch geschlafen. Er hat sich einfach neben dich gelegt.“

Ein zufriedenes Lächeln pflastert seine ansonsten so arrogant gekräuselten Lippen. Der Junge war einfach allerliebst. Ihn allein zu sehen, wie er mit zahnlosem Lächeln alle begrüßte, die sich ihm näherten, war schon eine Freude. Es wäre nicht auszudenken, sollte er ihn eines Tages nicht mehr sehen können.

„Das Krankenhaus führt auch samstags die Nachsorgeuntersuchung durch?“, fragte er seine Frau, woraufhin sie nickte.
„Ja, auch Morgen.“
Aufgrund ihres siegessicheren Lächelns seufzte Lucius. „Dann werde ich mich Morgen ins Mungos begeben. Wann machen die auf?“
„Geöffnet haben sie rund um die Uhr, aber um sechs Uhr morgens beginnt die normale Zeit für Patienten. Ich hab es extra nachgeschaut.“
„Gut, dann werde ich pünktlich zu sechs Uhr dort sein.“
Ihre Hand drückte die seine. „Warum so früh?“
„Ich hätte es gern hinter mich gebracht.“
Seiner Aussage traute sie nicht. „Hast du Angst, man behandelt dich dort schlecht.“
„Die Professoren werden sich hüten mich schlecht zu behandeln. Nein, meine Liebe, ich rechne nur damit, dass es um die Uhrzeit noch still ist. Ich möchte nicht von anderen gesehen werden.“
„Aber das ist doch …“
„Ich gehe doch hin, das wolltest du doch! Also lass mir meine frühe Morgenstunde.“
Narzissa blickte auf die Uhr. „Dann solltest du aber langsam ins Bett gehen. Es ist schon spät.“

Lucius folgte ihrem Blick und stimmte ihr innerlich zu. Ein letztes Mal warf er ein Auge auf die Fotos in ihrer Hand. Eines von Charles im Arm seiner Mutter. Der Junge hatte rotblonde Haare, was man immer deutlicher sehen konnte. Rotblond, dachte Lucius, war noch immer blond.

„Gute Nacht, meine Teuerste.“

Mit einem Kuss auf ihre Lippen verabschiedete sich Lucius von seiner Gattin. So ein Gutenachtkuss verschönte einem den Schlaf. Wenn man ihn ersehnte, ihn aber nicht bekam, konnte sich das ins Gegenteil wenden.

Auf der Couch war Harry über ein Buch eingeschlafen, das er nur gelesen hatte, um noch wach zu sein, wenn Ginny kommen würde. Mit steifen Hals wachte er auf und stöhnte, griff sich an den Hals.

„Ah, ich hab mich verlegen“, wimmerte er ins durch den Kamin beleuchtete Wohnzimmer hinein. Hedwig schuhute mitleidig. Als er sich aufrichtete, landete das Buch, das er ganz vergessen hatte, mit einem lauten Rums auf dem Boden. Wichtiger als es aufzuheben waren einigen Dehnübungen mit seinem Hals. Er ließ den Kopf kreisen, streckte sie Arme nach oben und räkelte sich. Nachdem das bisschen Bewegung ihn einigermaßen geweckt hatte, blickte er sich im Wohnzimmer um. Keine Spur von Ginny. Neugierig ging er ins Schlafzimmer hinein. Womöglich hatte sie ihn nicht wecken wollen, doch das Bett war leer und kalt. Dafür war das Kinderbett voller Leben. Mit beiden Händen hielt sich Nicholas am Gitter fest und blickte sehnlichst seinen Vater an. Demonstrativ warf er sein kleines Kopfkissen über die Stäbe.

„Frechdachs“, murmelte Harry, als er das Kissen mit einem Zauber zurück ins Kinderbett schweben ließ. Nicholas fing es giggelnd in der Luft und warf es nochmals hinaus. Ein neues Spiel war geboren. „Ich habe dazu jetzt keine Lust.“ Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es kurz nach zwei Uhr nachts war. „Ob ich bei den Zwillingen nachfragen kann?“ Ginny würde ihm wahrscheinlich die Ohren langziehen, aber lieber machte er mit übergroßen Ohren Wobbel Konkurrenz, als sich weiterhin um sie sorgen zu müssen.

Den Jungen ließ er im Bett, als er sich im Wohnzimmer an den Kamin kniete und die Wohnung über „Weasleys Zauberhafte Zauberscherze“ anflohte. Hätten Fred und George Besuch von ihrer kleinen Schwester, wären sie längst an den Kamin gegangen. Stattdessen kam das Gesicht eines verschlafenen Zwillings ans Tageslicht, der einmal laut gähnte. Wegen der Flammen konnte Harry nie genau sagen, wen er von den beiden dran hatte.

„Fred?“
„Nein, George. Und ich rate dir, dass es etwas Wichtiges ist. Wir können nämlich leider nicht ausschlafen.“
„Tut mir echt leid, George. Ich dachte, Ginny wäre bei euch, aber ich habe mich wohl geirrt.“
Die Sorge in Harrys Stimme machte George mit einem Mal hellwach. „Was ist mit Ginny? Seit wann ist sie weg?“
„Wir waren in der Winkelgasse bei Besenknechts Sonntagsstaat und ich bin schon früher gegangen. Das Geschäft macht um 18 Uhr zu.“
„Alle Läden hier machen um 18 Uhr dicht. Ich habe Ginny heute nicht gesehen. Hast du bei Hermine mal nachgefragt? Könnte mir vorstellen, die beiden machen einen Weiberabend oder sowas.“
„Habe ich noch nicht, aber werde ich machen. Und entschuldige, dass ich dich geweckt habe.“
„Kein Ding, Harry. Komm demnächst mal wieder vorbei. Wir haben ein neues Sortiment, dass du unbedingt ausprobieren musst!“
„Mach ich.“

Hermine war über den Kamin im ersten Stock nicht zu erreichen. Sie stand nämlich unten vor der Tür der Apotheke und diskutierte mit Severus.

„Lass mich wenigstens mitkommen!“, forderte sie. Störrisch hatte sie ihre Arme vor der Brust verschränkt. Durch den vielen Regen war es mittlerweile etwas kühler geworden.
„Ich sage, ich mach das auf meine Weise! In meinem Plan ist nun einmal kein Platz für dich. Geh schlafen, Hermine.“
„Severus“, hielt sie ihn erneut auf, als er gehen wollte. Ohne dass sie es sehen konnte, rollte er mit den Augen.
„Du bleibst hier!“
„Und wenn dir etwas passiert? Ich könnte im Gehängten auf dich warten und aufpassen. Das sind Gauner, Severus!“

Unruhig schob er sie zurück in den Laden und schloss die Tür hinter sich.

„Jetzt hör mir mal zu: Nur ungern zähle ich das zu meinen Referenzen, aber ich war über zwanzig Jahre lang ein Todesser! Ein Spielball der beiden mächtigsten Zauberer der Welt, umgeben von den übelsten Menschen, die das magische Großbritannien hervorbringen konnte. Ich bin, auch wenn du es nicht glauben magst, ohne Zweifel prädestiniert dafür, zwei lumpige Gauner zu observieren. Das ist im Vergleich zu dem, was ich früher tun musste, genauso leicht wie einem Kind die Windeln zu wechseln.“
„Hast du einem Kind schon einmal die Windeln gewechselt?“, fragte sie bierernst.
Im ersten Moment war Severus über ihre Frage erstaunt. „Ich gebe zu, dass dies ein schlechter Vergleich war. Glaube mir einfach, dass nichts geschehen wird.“
„Würde ich ja gern“, jammerte sie und schaute ihn dabei mit ihren großen braunen Rehaugen an. Es fiel ihm schwer, sich einfach umzudrehen und zu gehen.
„Schau nicht so!“, verbat er sich den herzzerreißenden Blick ihrerseits. „Und jetzt geh schlafen!“
„Severus …“
„Und hör auf zu Nörgeln, das ist ja grauenvoll.“

Schweren Herzens ließ sie ihn ohne ein weiteres Widerwort gehen. Noch während er sich entfernte, hörte sie ihn leise fluchen.

Bevor Severus in die Nokturngasse einkehrte, machte er sich mit einem Desillusionierungszauber unsichtbar, was den Regen jedoch nicht davon abhielt, seinen Umriss abzuzeichnen. Zum Glück war weder bei dem schlechten Wetter noch zu dieser Uhrzeit jemand unterwegs. Ungesehen und ungehört verschaffte er sich Zutritt zum Gasthof „Der Gehängte“. Zu seinem Erstaunen brannte hier und da noch Licht in der Schankstube, obwohl seit Stunden geschlossen war. Von oben hörte er Schritte. Jemand lief auf und ab, manchmal quietschte eine Diele.

Vorsichtig schlich Severus nach oben und machte an der einzigen Tür Halt, unter der Licht hervortrat. In diesem Zimmer schien eine Menge los zu sein. Er hörte mindestens drei Männerstimmen. Eine davon war beruhigend, die andere aufgebracht und die dritte neutral. Severus presste sein Ohr an die Tür. Als er so nahe an dem Türspalt war, durch den es wie Hechtsuppe zog, roch er den von Hermine beschriebenen Gestank nach „alten Füßen“, wie sie sich salopp ausgedrückt hatte. Seine Frage, wie „junge Füße“ riechen würden, hatte sie vorhin mit einem leichten Schlag auf seinen Oberarm beantwortet. Der Dieb war also im Raum. Die Stimme von Mr. Fogg, die er bereits kannte, hörte er jedoch nicht. Stattdessen eine säuselnde Stimme, die einen Zauber zu singen schien und die neutrale Stimme des Wirts, der ihm flüchtig bekannt war.

Unmerklich öffnete Severus die Tür. Alle Männer hatten ihm den Rücken zugedreht, so dass er sich hineinschleichen konnte.

„Er soll endlich machen!“, forderte der Mann, von dem der üble Geruch ausging. Der rundliche Gastwirt versuchte ihn mit sanften Worten zu beruhigen, schaffte es jedoch nicht. Auf dem Bett, das konnte Severus gut erkennen, lag Mr. Fogg. Er regte sich kaum, atmete flach. Neben ihm saß ein Mann, der seinen Zauberstab auf Foggs Kehle gerichtet hatte. Ein Tuch lag auf Foggs Hals. Es war mit Blut vollgezogen. Der Mann mit dem Zauberstab sang Worte, die Severus bekannt vorkamen. Sie sollten offene Wunden heilen, aber der Scharlatan traf nicht die richtigen Töne. Die Wunde schloss sich halb und öffnete sich erneut.

„Ich bin mit meinem Latein am Ende“, gab er Kurpfuscher zu. „Ich kann dem Mann nicht helfen.“ Nachdem er sich aufgerichtet hatte, wandte er sich an den anderen Dieb. „Das macht vier Galleonen.“
„Wie bitte? Ich hör wohl nicht recht!“, schrie Stringer den Mann an. „Sie können ihm nicht helfen und wollen Geld dafür?“
„Das ist der Preis für die Anreise“, rechtfertigte sich der Möchtegern-Heiler.
„Anreise?“, spottete Stringer. „Sie wohnen einen Block entfernt.“
„Und habe schon tief und selig geschlafen. Mein Geld, bitte!“

Stringer gab dem Mann kein Geld, sondern ging auf ihn los. Der kräftige Wirt versuchte, die beiden Männer auseinander zu halten, geriet aber mitten ins Gerangel. Genau diesen Zeitpunkt nutzte Severus, um sich dem Mann auf dem Bett zu nähern. Foggs Gesicht war weiß, die Augenlider nur halb geöffnet. Er schien wegen des Blutverlusts nicht ganz bei sich zu sein, weswegen Severus es wagte, das rote Tuch vom Hals zu entfernen, um einen Blick auf die Verletzung zu werfen. Ein Stich. Jemand hatte dem Mann sehr wahrscheinlich mit einem Messer in den Hals gestochen. Für Stichwunden kannte Severus einen hervorragenden Zauberspruch aus der „Hausapotheke“ seiner Mutter, denn Tobias Snape kam nachts nicht selten betrunken aus dem nächst gelegenen Pub, wo er aus lauter Trotteligkeit in eine der recht häufig vorkommenden Messerstechereien geraten war. Da hatte es ihn nie gestört, wenn ein Zauberspruch an ihm angewandt wurde, dachte Severus. Vielleicht war sein Vater in diesem Momenten aber auch nur zu betrunken gewesen, um davon überhaupt Kenntnis zu erlangen.

Eine leichte Bewegung am Hals ließ Fogg zur Besinnung kommen. Als er sah, dass der improvisierte Verband sich anhob, da flüsterte er hoffnungsvoll: „Miss Granger?“
Sofort drehte sich Stringer zu seinem Freund um, kam schnellstens ans Bett. „Was hast du gesagt?“
Nur röchelnd könnte er antworten: „Jemand ist hier im Raum.“

Bevor Stringer Zeit fand, seinen Zauberstab zu ziehen, materialisierte sich der Eindringlich plötzlich. Erst sah Stringer nur die schwarzgekleidete Gestalt, weswegen er seinen Stab zog, doch als er genauer hinsah, lief ihm eine Gänsehaut den Rücken hinunter. Vor ihm stand ein Todesser, den er aus Zeitungen kannte. Vor lauter Schreck ließ er seinen Stab fallen und wagte es nicht, sich nach ihm zu bücken.

„Ich bin kurz davor, mir selbst lobend auf die Schulter zu klopfen“, spottete Severus amüsiert. „Noch niemals zuvor habe ich jemanden mit meiner bloßen Anwesenheit entwaffnet. Es gibt immer ein erstes Mal.“

Stringer war geschockt und konnte sich nicht rühren. Gegen einen Todesser hatte er keine Chance. Dem Quacksalber ging es genauso, doch der Gastwirt bewies Mut und führte seine Hand hinter die dreckige Schürze. Mit seiner Zunge erzeugte Severus ein schnalzendes Geräusch, als wollte er jemanden auf einen Fauxpas hinweisen.

Er blickte den Wirt an und flüsterte angriffslustig: „Nicht doch, Väterchen, sonst werden wir noch zu Frost.“ Bedrohlich winkte er dem Wirt mit seinem Stab zu, so dass der von seinem Vorhaben abließ. Hoch erhobenen Hauptes entfernte sich Severus vom Bett des Verletzten und näherte sich Stringer, den er aus sicherer Entfernung fragte: „Wo ist der Vielsafttrank?“
„Verbraucht“, kam wie aus der Pistole geschossen.
„Tatsächlich? Und wie, wenn ich fragen darf, ist es zu dieser Verletzung gekommen?“ Andeutungsweise zeigte Severus auf Fogg.
„Das waren Squibs“, erwiderte Stringer, doch Severus glaubte ihm nicht.
„Sie wollen mir weismachen, ein paar Squibs hätten Sie und Ihren Bekannten überwältigt?“
„Nun ja …“, druckste Stringer herum. „Sie haben gedroht, ihm die Kehle zu durchtrennen, wenn ich sie nicht an einen bestimmten Ort bringe. Sie haben nicht nur gedroht, wie man sehen kann.“
„Welchen Ort?“
„Clova.“

Bei Severus schrillten die Alarmglocken. Clova. Ganz in der Nähe sollte die Festung von Hopkins liegen, wie er vor Ewigkeiten von Remus erfahren hatte. Vielleicht nur Zufall. Ein Zufall ohne jeglichen Zusammenhang.

„Was spielte der Vielsafttrank für eine Rolle?“
„Es hat sowieso nicht geklappt, was wir vorhatten“, antwortete Stringer, der mehrmals einen sorgenvollen Blick zu Fogg hinüberwarf. „Die wollten ihn abstechen. Ich musste sie dorthin bringen! Wir haben mit denen nichts mehr zu schaffen.“ Stringer ging einen Schritt aufs Bett zu, doch Severus richtete seinen Stab auf ihn. „Ich wollte doch nur …“ Zaghaft nickte er zu seinem Freund. „Man kann ihm nicht helfen.“
„Er“, mit ausgestrecktem Zeigefinger deutete Severus auf den Quacksalber, „kann ihm nicht helfen.“ An entsprechende Person gewandt kritisierte er: „Sie sollten Noten lernen, bevor Sie sich an solchen Sprüchen versuchen. Und jetzt gehen Sie! Ich rate Ihnen, kein Sterbenswörtchen von dem zu verlieren, was hier vorgefallen ist. Haben wir uns verstanden?“
Der Mann, der von dem Wirt geholt worden war, um Fogg zu helfen, nickte eingeschüchtert und verschwand geräuschlos, weil er kein Aufsehen erregen wollte. Der Wirt blickte zur Tür hinüber und fragte dümmlich: „Soll ich auch gehen?“
„Ja bitte, obwohl ich mir über Ihre Rolle noch nicht ganz im Klaren bin. Sind Sie ein Mittäter oder tatsächlich nur der treudoofe Gastwirt, der von nichts eine Ahnung hat.“
„Letzteres, Sir.“
„Verschwinden Sie schon“, zischelte Severus. „Für Sie gilt das Gleiche: Kein Sterbenswörtchen kommt über Ihre Lippen!“ Nachdem auch der Wirt gegangen war, blickte er Stringer an. „Nun zu Ihnen.“ Er näherte sich dem eingeschüchterten Mann. „Wenn Sie vermeiden möchten, dass ich mir einen gemeinen Spitznamen für Sie ausdenke“, Severus rümpfte angeekelt die große Nase, „und glauben Sie mir, es fallen mir viele ein, dann nennen Sie mir Ihren richtigen Namen.“
„Stringer.“
„Mr. Stringer also. Wenn ich Sie nun bitten darf, mir von Ihrem misslungenen Plan zu erzählen. Lassen Sie nichts Wichtiges aus, aber halten Sie sich trotzdem kurz, denn erst danach werde ich entscheiden, ob ich Ihrem Freund helfen werde oder nicht.“

Ein paar Ecken weiter in der Winkelgasse lief Hermine im Wohnzimmer aufgeregt hin und her. Sie malte sich die übelsten Szenarien aus, stellte sich vor, wie Severus in ein Duell geraten war oder wie man ihn überwältigt hatte. Als ihre ausgeprägte Fantasie ihr sogar zeigte, wie jemand seinen Leichnam entsorgte, war sie drauf und dran, zum Gasthaust zu gehen. Es würde ihr reichen, Severus lebendig zu sehen, aber er hatte ihr verboten, ihm zu folgen.

Als der Kamin zischte, fuhr sie vor lauter Schreck zusammen, eilte dennoch hinüber, falls es Severus war.

„Hermine? Offensichtlich habe ich dich nicht geweckt. Ist Ginny bei dir?“
„Nein Harry, ich habe sie heute nicht gesehen.“
Ihm war die Sorge in ihrem Gesicht nicht entgangen. „Was ist mir dir?“
„Ach, es ist nur Severus. Ich hatte Probleme mit einem Kunden und er, ähm, kümmert sich gerade drum.“
„Gut, dann stör ich nicht länger. Wollte nur wissen, wo Ginny ist.“
Erst jetzt wurde Hermine skeptisch. „Wann hast du sie das letzte Mal gesehen?“
„Bei Besenknechts Sonntagsstaat. Ich bin um halb sechs gegangen, sie ist aber noch geblieben.“

Hermine blickte auf die Uhr. Es kurz vor drei Uhr mitten in der Nacht. Sie kannte ihre Freundin und wusste, denn Molly hatte es ihren Kindern eingebläut, sich immer zu melden, falls mal etwas geschehen sollte. Das ungute Gefühl übermannte sie, dass tatsächlich etwas geschehen sein könnte.

„Vielleicht ist sie nur bei Fred und George?“, vermutete Hermine laut, hoffte gleichzeitig, dass es so war.
„Nein, da habe ich schon gefragt.“
Hermine grübelte. „Ihr habt bei Besenknechts Sonntagsstaat die Kleider anprobiert?“ Weil Harry nickte, ahnte Hermine etwas. „Dann ist sie vielleicht von ihren Freundinnen abgefangen worden. Weißt ja, wie die jungen Leute so sind, wenn eine aus ihrem Kreis heiratet. Schau im Gemeinschaftsraum der Gryffindors nach. Ich könnte wetten, die trinken dort heimlich Feuerwhisky.“
„Das ist eine gute Idee! Danke, Hermine.“

Sofort machte sich Harry auf, um seinen alten Gemeinschaftsraum zu besuchen. Als ehemaliger Gryffindor war ihm der Zugang erlaubt. Das Passwort war von Minerva nicht nur an ihn, sondern auch an Remus weitergegeben worden. Für den Notfall war es besser, wenn mehrere Lehrer die Passwörter ihrer Häuser kannten.

Die fette Dame schlief. Harry weckte sie so gefühlvoll wie nur möglich auf, indem er sie leise ansprach und sich mehrmals räusperte. Endlich öffnete sie ihre Augen.

„Professor Potter, meinen Sie nicht, es ist etwas spät für …“
„Herzensdame“, sagte Harry, blickte der fetten Dame dabei in die Augen. Sie fühlte sich offensichtlich geschmeichelt.
„Aber Professor Potter“, schäkerte sie.
„Das ist doch nur das Passwort!“
„Ah natürlich.“

Um einer peinlichen Konversation zu entgehen, öffnete sie in Windeseile den Zugang zum Gemeinschaftsraum – zum leeren Gemeinschaftsraum, wie Harry feststellen musste, als er ihn betrat. Einzig die bewegten Bilder regten sich im Schlaf. Möglicherweise, dachte Harry, saß Ginny mit ihren Freundinnen oben im Schlafraum und schilderte die Anordnung jeden einzelnen Nadelstichs, den man für ihr Brautkleid ausgeführt hatte. Ohne nachzudenken ging er die Stufen nach oben zu den Schlafräumen, öffnete die Tür und löste damit den schrillen Alarm aus, der die Mädchen vor aufdringlichen Mitschülern schützen sollte.

„Verdammt“, murmelte Harry zu sich selbst. Daran hatte er gar nicht mehr gedacht. Das Geräusch war vermutlich meilenweit zu hören und so laut, dass Harry sich die Ohren zuhalten musste.

Es dauerte keine fünf Minuten, da waren sämtliche Schüler im Gemeinschaftsraum versammelt, aber auch eine aufgeweckte Minerva mit strengem Blick, die den Alarm beendete. Neben ihr stand ein sehr verschlafener Remus mit zerzaustem Haar, der das Gähnen unterdrückte.

„Was ist hier los?“ Mit Minervas Blick war klar, dass sie ihre Frage an Harry gerichtet hatte.
„Ich suche Ginny.“
Minerva ließ ihren Blick über die Schüler schweifen. „Nun, wie Sie sehen, ist Miss Weasley nicht hier.“ An die Schüler gerichtet befahl sie: „Ab ins Bett, es handelt sich nur um ein Missverständnis.“

Murmelnd folgten die Schüler der Anweisung ihrer Hauslehrerin und verschwanden wieder in ihren Betten. Als die drei allein waren, blickte Minerva Harry böse an.

„Was haben Sie sich dabei gedacht, Harry?“
„Ich weiß nicht, wo Ginny abgeblieben ist. Wahrscheinlich ist sie nur bei einer Freundin und übernachtet dort, aber ich weiß es nicht und mache mir deswegen große Sorgen.“
Der strenge Blick wich einem mitfühlenden, als Minerva ihm eine Hand auf die Schulter legte. „Gehen Sie schlafen und warten Sie den morgigen Tag ab. Vielleicht hat sie nur einem ihrer Brüder Gesellschaft geleistet?“
Harry schüttelte den Kopf. „Bei den Zwillingen ist sie nicht, Bill weiß auch von nichts. Ron habe ich noch nicht erreichen können und Percy hat sie auch nicht gesehen.“
Remus schmunzelte. „Hast du die alle mitten in der Nacht aus dem Bett geholt?“
„Ja“, erwiderte Harry mit unschuldiger Miene.
„Du kannst von Glück sagen, dass dir niemand den Kopf abgerissen hat.“ Remus drängte sich zwischen Minerva und Harry, um ihm einen Arm um die Schulter zu legen. „Komm mit.“ Minerva bedeutete er mit einem Blick, dass er sich um Harry kümmern würde.

Remus führte Harry nach unten ins Erdgeschoss, wo sich dessen Räume befanden. Er setzte Harry aufs Sofa und bestellte bei einem Hauself, der genauso verschlafen aussah wie er selbst, ein wenig Tee und Gebäck.

„Harry“, begann er ruhig, „ich weiß ganz genau, was in dir vorgeht. Wenn Tonks auf einer ihrer geheimen Missionen war, dann …“
„Nein Remus, das ist was anderes. Da wusstest du, dass sie sich nicht bei dir melden darf. Du wusstest, dass sie einen Auftrag vom Ministerium hatte und außerdem wusstest du, dass Kingsley an ihrer Seite war. Würde ich das wissen, könnte ich mich in Ruhe zurücklehnen.“
Remus äußerte sich nicht sofort, sondern nahm von dem Hauself den Tee entgegen, den er sofort einschenkte. Als er Harry eine Tasse reichte, fragte er: „Seit wann vermisst du sie denn?“
„Seit halb sechs habe ich sie nicht mehr gesehen. Der Laden, indem sie war, macht um sechs zu.“
Auf die Uhr blickend rechnete Remus sich aus, dass es bereits über acht Stunden waren. „Hat sie wirklich gar nichts gesagt? Vielleicht andeutungsweise, dass sie irgendwo hin möchte. Frag doch mal bei Hermine nach.“
„Hab ich auch schon. Ginny ist nicht da und niemand weiß, wo sie sein könnte. Langsam wird mir das unheimlich.“
„Es ist bestimmt nichts Schlimmes passiert“, versuchte Remus ihm weiszumachen, doch Harrys Blick überzeugte ihn vom Gegenteil. „Was willst du denn tun, Harry? Jeden Bekannten anflohen und fragen? Um diese Uhrzeit?“
„Natürlich, sie würde das Gleiche für mich tun!“
Ein Seufzer entwich Remus, bevor er empfahl: „Hast du Molly schon angefloht?“
Harry schüttelte den Kopf. „Nein.“
„Na, dann mal los!“

Es war eine gute Idee, Molly zu kontaktieren und ihr davon zu berichten, dass Ginny nicht auffindbar war. Sie war so außer sich, dass sie sich bereit erklärte, sämtliche Bekannten anzuflohen, denn auch sie fand es genau wie Harry mehr als nur seltsam, dass Ginny sich nicht meldete.

„Harry, nur für den Fall …“ Remus druckste herum. „Ich will ja nicht pessimistisch erscheinen, aber du solltest auch beim Mungos fragen, ob sie dort vielleicht eingeliefert wurde.“
„Ja“, Harrys Magen spielte verrückt bei dem Gedanken, „ja, das werde ich tun.“

Vor dem Kamin kniend warf er das Flohpulver ins Feuer und rief das Mungos. Er wartete auf eine Verbindung. Währenddessen stellte er sich sehr bildhaft alle möglichen Verletzungen vor, die Ginny haben könnte. Einen verstauchten Fuß, ein gebrochenes Bein. Womöglich war sie am ganzen Körper mit blauen Flecken übersät. Was, wenn sie gestürzt war und so böse mit dem Kopf gegen etwas gefallen wäre, dass sie sich nicht mehr an ihn oder Nicholas erinnern könnte?

Genau jene Körperstellen, an die Harry gedacht hatte, begannen in der gleichen Reihenfolge bei Ginny zu kribbeln. Erst zuckten ihre Füße, die Zehen spreizten sich. Gefühl breitete sich im ganzen Körper aus, was sie dösig zur Kenntnis nahm. Die Augen konnte sie noch nicht öffnen, aber endlich war es ihr möglich, die Umgebung ein wenig wahrzunehmen. Ihre Beine waren kalt, fast so, als würde sie keine Hose tragen. Als sie versuchte, sie zu bewegen, spürte sie einen Steinboden und etwas Stroh. In einem Bett war sie also nicht, das konnte sie ausschließen. In ihrem Kopf rauschte und hämmerte es unentwegt. Die Luft war feucht, aber sehr angenehm. Ihre Lungen atmeten einmal tief durch. Vage erinnerte sie sich an den süßlichen Geruch, der ihr die Sinne geraubt hatte. Ihre Gedanken waren wirr, doch dann, als sie sich wieder daran erinnerte, dass sie überfallen worden war, riss sie die Augen auf. Es war Nacht, aber durch den gerade wieder abnehmenden Mond hell genug, um drei schmale Öffnungen an den Wänden zu erkennen, durch die er in den runden Raum hineinschien. Nicht in ihrem Kopf war das trommelnde Geräusch zu vernehmen, sondern von draußen, denn es regnete heftig. Ginny legte den Kopf in den Nacken und blickte nach oben. Der Raum schien kein Dach zu haben. War sie etwa in Hogwarts? Dort waren manche Räume so hoch, dass man die Decke nicht sehen konnte.

Langsam kam sie wieder zu Sinnen. Ihre rechte Hand schmerzte, auch die Schulter, doch als Ginny versuchte, sich ihre Hand zu betrachten, spürte sie ein Ziehen. Sie konnte ihre Hand nicht an den Oberkörper führen, denn irgendetwas hielt sie fest. Erschrocken darüber, vielleicht nicht allein in diesem Raum zu sein, blickte sie an ihrem rechten Arm nach oben. Der Anblick, der sich ihr offenbarte, war noch viel unheilvoller als der Gedanke an einen Fremden. Um ihr zierliches Handgelenk herum befand sich eine breite Schelle aus massivem Eisen. Sie zerrte ein wenig, doch weder gab die eiserne Kette nach, die an der Handschelle und der Wand befestigt war, noch konnte sie ihre Hand aus der engen Öffnung befreien. Da ihr Arm die ganze Zeit über in einer unnatürlichen Stellung verharrte, schmerzte die Schulter am meisten. Sie musste aufstehen, um ihren Arm und das Gelenk zu entlasten, doch das war leichter gesagt als getan. Ihre Beine gehorchten ihr noch nicht.

Tief Luft holend sammelte Ginny Kraft. Ihr fiel auf, dass Nase und Mund trocken waren, die Schleimhäute sogar leicht angeschwollen. Sie führte es auf die süßliche Flüssigkeit zurück, die sie eingeatmet hatte. Mit ihrer linken Hand tastete sie ihre Kleidung ab, aber der Zauberstab war weit und breit nicht zu finden. Sie sammelte sich, um einen wortlosen Aufrufezauber anzuwenden, doch wie sie es befürchtet hatte, war sie geistig nicht dazu in der Lage. Sie konnte sich einfach nicht konzentrieren, war zu schwach. Das spürte sie besonders, als sie versuchte sich aufzurichten. Langsam zog sie sich mit der rechten Hand an der Kette hoch, stieß sich mit der linken von der steinernen Wand ab. Ihre Knie zitterten. Wie ein geplagtes Arbeitspferd begann sie wild zu schnaufen. Das bisschen Bewegung raubte ihre letzte Energie, so dass sie resignierend wieder auf dem Boden Platz nahm. Sie trug tatsächlich keine Hose. Ihr Hemd war feucht, aber das hatte man ihr wenigstens gelassen.

Wenn sie sich auch kaum rühren konnte, dann wollte sie sich zumindest mit dem Ort ihrer Gefangenschaft beschäftigen. Sie konnte einen Tisch ausmachen, auf dem aber nichts bis auf einen weichen Stoffhaufen abgelegt war, den sie als ihre Hose identifizieren wollte. Die Regale an den Wänden waren leer. Zwei kleine Schränke standen links und rechts von einer Tür. Eine Tür – ein Ausweg! Nochmals betrachtete Ginny die drei schmalen Öffnungen. Eine war direkt über der Tür angebracht und unterschied sich in der Größe von den beiden anderen, denn sie waren nicht so hoch angelegt. Draußen konnte sie rein gar nichts erkennen, also blickte sie sich wieder im Raum um. Rechts von ihr lag ein großer Haufen Wäsche. Links führte eine steinerne Wendeltreppe an genau der Wand nach oben, an der sie mit der rechten Hand angekettet war. Gern würde sie sich der Fessel widmen, aber die war zu weit oben und aufstehen konnte sie noch nicht. Mit den Augen der Wendeltreppe folgend sah sie, dass es weiter oben leicht versetzt noch mehr von diesen schmalen Öffnungen gab, die wie Schießscharten aussahen.

Ginny ließ entkräftet den Kopf hängen. Ihr Blick fiel dabei auf die linke Armbeuge, auf der etwas klebte. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie mit Lippen und Zähnen das klebende Etwas entfernt hatte. Darunter, direkt in ihrer Armbeuge, erkannte sie etwas Dunkles. Vorsichtig fuhr sie mit ihrer Zunge drüber. Da war ein bitterer Geschmack auszumachen, aber auch Blut konnte sie deutlich schmecken. Ginny war nicht so dumm nach Hilfe zu rufen. Stattdessen versuche sie erneut sich aufzurichten und diesmal ging es schon leichter. Ihr Kreislauf, das verrieten die hellen Blitze an den Seiten ihres Sichtfelds, war noch nicht sehr stabil, aber je mehr sie sich bewegte, desto besser schneller kam sie auf die Beine.

Neugierig beäugte sie die eiserne Fessel an ihrem rechten Handgelenk. So sehr sie sich auf anstrengte, ihr Daumen vereitelte jeden Versucht, aus der Schelle zu schlüpfen.

Ein Geräusch an der Tür ließ sie hochschrecken. Dreimal drehte sich ein Schlüssel, der den schweren Riegel umschlug. Zittern beobachtete sie, wie die Tür aufgestoßen wurde und zwei Personen hereintraten, von denen sie nur die schwarzen Umrisse sehen konnten, denn sie blendeten sie mit etwas Hellem.

„Ich sagte dir doch, dass die Dosis zu gering war. Sorg dafür, dass sie bis Morgen durchschläft!“, blaffte eine verschlafene Stimme.
Der andere widersprach: „Das geht aufs Herz. Da darf man nicht zu viel nehmen.“
„Ist doch scheißegal. Ich hab keine Lust, dreimal in der Nacht aufzustehen, nur weil unser Prinzesschen wach ist.“

Kein Wort kam über Ginnys Lippen. Sie war starr vor Angst. Diese Männer waren ihr nicht wohlgesinnt, das spürte sie mit jeder Faser ihres Körpers. Sie beobachtete, wie einer aus seiner großen Tasche zwei einzelne Teile herausnahm, deren Schutzhüllen er entfernte, bevor er sie zusammensetzte. Den länglichen Gegenstand hielt er in der rechten Hand, während er mit der linken eine Ampulle aus der Tasche zog. Von dem zuvor zusammengesetzten länglichen Gegenstand entfernte er eine Kappe ab und stach in die Ampulle. Etwas von der Flüssigzeit zog er aus dem kleinen Glasbehälter hinaus. Als sie sich ihr damit näherten, begann Ginny zu wimmern.

„Wer sind Sie?“, fragte sie eingeschüchtert. Sie machte sich nichts vor. Angekettet an der Wand und ohne ihren Zauberstab war sie so gut wie hilflos. „Was wollen Sie?“
„Die Kleine ist mir schon ein wenig zu wach, Kumpel. Gib ihr lieber zwei Dosen.“
„Sei still und halt sie fest“, zischte der Mann mit dem länglichen Gegenstand in der Hand. Der andere hielt die Taschenlampe, griff mit der anderen Hand nach Ginnys linkem Arm. Ein kalter Wattebausch reinigte ihre Armbeuge. Sofort wehrte sie sich, doch beide Männer waren zu stark. Als das zylinderförmige Objekt sich im Schein der Lampe ihrem Arm näherte, bemerkte sie die lange Nadel.
„Nicht! Das können Sie doch nicht machen!“

Sie konnten.

Gegen beide Männer kam sie nicht an, auch nicht dagegen, dass sich die Nadel in ihren Unterarm bohrte. So etwas hatte sie noch nie am eigenen Leib erlebt. Von Klassenkameraden hatte sie einmal gehört, was es mit Impfungen in der Muggelwelt auf sich hatte. Der unangenehme Moment war schnell vorüber. Die Nadel wurde entfernt, aber die Flüssigkeit war in ihr. Es hat nicht wehgetan und gerade das jagte ihr Angst ein. Wieder klebte man ihr etwas auf den Unterarm. Davon bekam sie kaum noch etwas mit, denn ihr Herz pumpte das Beruhigungsmittel durch den ganzen Körper.

Fünf Herzschläge, sechs, sieben.

Langsam sackte sie zusammen und schloss ihre Augen.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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Rest von Kapitel 200

Einige Kilometer von ihr entfernt öffnete Harry gerade die seinen. Im Mungos waren drei Frauen über Nacht eingeliefert worden, aber das waren eine Blonde und eine Brünette. Die einzig Rothaarige war über sechzig Jahre alt.

„Fehlanzeige“, seufzte Harry. Remus klopfte ihm beruhigend auf die Schulter. „Ich hab schon Luna und Neville angefloht, Ron erreiche ich noch immer nicht.“
„Vielleicht ist sie mit ihm unterwegs?“
„Nein Remus, das glaube ich nicht. Ich schicke Ron am besten meinen Patronus.“

Harry benötigte drei Anläufe, um seinen gestaltlichen Patronus zu formen, was Remus wiederum vor Augen hielt, wie angeschlagen Harry war, wie sehr er sich um Ginny sorgte. Der silberfarbene Hirsch rannte davon. Die weiteren Schritte, die er unternehmen könnte, sausten ungeordnet in Harrys Kopf umher.

„Sollte ich die Polizeibrigade verständigen?“
Ein Kopfschütteln war Remus‘ Antwort. „Du hast mit Molly gesprochen und ich bin mir sicher, dass sie Arthur so lange in den Ohren liegt, bis er King oder Tonks rausschickt.“
„Ja, da kannst du Recht haben.“ Harry seufzte. „Ich muss bei Verstand bleiben. Vorhin habe ich nicht einmal mehr an den Alarm gedacht, der auf den Mädchenschlafsälen liegt.“
„Mach dir da mal keine Sorgen, Harry. Minerva hat es auf die leichte Schulter genommen. Und außerdem“, Remus grinste, „hast du damit wieder einmal bewiesen, wie viel von James in dir steckt. Der hat den Alarm damals nämlich auch ausgelöst.“
„Wirklich?“, fragte Harry mit einem Schmunzeln nach. Jede Abwechslung von seiner Sorge war willkommen. „Ich kann mir vorstellen, dass er aber ganz andere Intentionen hatte als ich.“
„Damit könntest du sogar richtig liegen“, bestätigte Remus, der sich erlaubte, für einen Moment in Erinnerungen zu schwelgen. „Das lass dir am besten von Minerva erzählen, wenn sie nach dem heutigen Vorfall nicht selbst das dringende Bedürfnis verspürt, dich über die damaligen Flausen deines Vaters zu unterrichten.“

Der Kamin knisterte und Harry hoffte, dass Ginny sich melden würde. Es war ihm sogar egal, wenn sie sturzbetrunken wäre, nur wünschte er sich, sie würde es sein. Die Stimme hörte sich ähnlich an wie Ginnys, aber nicht mehr so hell. Es war ihre Mutter.

„Harry?“
„Ja Molly, ich bin hier.“
„Gut, mein Junge, gut!“ Molly war völlig aufgekratzt. „Ich bin die gesamte Gästeliste durchgegangen. Niemand, den ich erreicht haben, weiß etwas über ihren Verbleib.“
„Was kann ich denn jetzt tun? Soll ich eine Vermisstenanzeige aufgeben?“
„Mach mal Platz, Arthur und ich kommen rüber.“

Das Flohnetzwerk war eine umwerfende Erfindung. Im Nu stiegen Arthur und Molly aus dem Kamin. Arthur trug noch oder wieder seinen Anzug, Molly hingegen war im Nachthemd gekommen und hatte sich lediglich ein selbstgestricktes Jäckchen übergezogen.

Bevor Harry irgendetwas sagen konnte, fragte Arthur bereits: „Harry, wo und wann hast du Ginny das letzte Mal gesehen.“ Gewissenhaft antwortete Harry seinem Schwiegervater in spe. „Besenknechts Sonntagsstaat.“ Arthur summte nachdenklich. „Ich werde Kingsley hinschicken.“
Remus warf ein: „Und Tonks.“
„Und Tonks“, wiederholte Arthur, als wäre es seine Idee. „Die beiden sollen sich den Laden ansehen und sollen die Verkäuferinnen aufsuchen und befragen.“
„Da war noch ein Mann“, erklärte Harry, „ein Mr. Masamator, der sich persönlich um uns gekümmert hat.“
Hier war es Molly, der der Name nicht fremd war. „Ach tatsächlich? Der war dort?“
Harry nickte lediglich, denn Arthur ließ die anderen an seinen Plänen teilhaben. „Dann werde ich herausfinden, wo der Mann wohnt. Wir machen aber noch keine offizielle Sache draus, Harry! Wenn wir das tun sollten, wird das Morgen in den Zeitungen stehen. Das muss nicht sein.“ Aufgeregt begann Arthur seine Brille zu putzen. „Harry, was ist mit deinem Hauself? Hast du ihn schon gebeten, sich auf die Suche zu machen?“
„Nein, das wollte ich als Nächstes tun, aber da habt ihr mich angefloht. Ich habe vorher mit dem Mungos gesprochen. Dort ist niemand eingeliefert worden, auf den Ginnys Beschreibung passt.“
„Gut, dass du das schon erledigt hast, sonst hätte ich das nämlich in Angriff genommen.“ Noch immer war Arthur nicht damit fertig, seine Brille zu putzen und das tat er immer, wenn ihm etwas unangenehm war. Endlich rückte Arthur mit der Sprache raus. „Sag mal, ihr habt euch nicht gestritten, oder?“
Das war es also, dachte Harry, was ihn so sehr beschäftigt hatte. „Nein, haben wir nicht. Die Anprobe dauerte bei Ginny nur etwas länger, deswegen sagte sie, ich sollte mit Nicholas schon nachhause gehen.“
Mollys Augen begannen zu leuchten. „Wo ist denn der kleine Spatz?“
„Im Schlafzimmer“, war die Antwort und gleichzeitig für Molly die Erlaubnis, nach Nicholas zu sehen.

Arthur blickte seiner Frau hinterher, bis sie im anderen Raum verschwunden war, erst dann, ganz leise, sprach er: „Ich hoffe, es ist nichts Ernstes mit Ginny. Dir brauche ich nicht zu sagen, dass es nicht zu ihrem Charakter passt, einfach unauffindbar zu sein. Seit dem Krieg hat sie, wenn sie ihre Ruhe haben wollte, immer einem ihrer Brüder Bescheid gegeben, wo sie sich aufhält. Wenn ich ehrlich bin, Harry, schätze ich ihr Verschwinden als ernste Angelegenheit ein.“
„Warum?“, fragte Harry nach, aber dann, urplötzlich, fiel ihm die Antwort selbst ein. „Wegen ihrem Ex?“
„Möglich“, murmelte Arthur. „Ich will nicht den Teufel an die Wand malen, aber ich denke auf jeden Fall, dass etwas geschehen ist, was sie handlungsunfähig gemacht hat. Das Mungos ist nicht der einzige Ort, wo Menschen eingeliefert werden. Jemand sollte die anderen Einrichtungen kontaktieren.“
Wie selbstverständlich meldete sich Remus für diese Aufgabe. „Ich mach das! Ich werde mir gleich alles Wichtige raussuchen.“
„Gut, dann sag ich Kingsley Bescheid, dass er mit Tonks …“

Im Hintergrund öffnete sich die Tür. Molly kam mit einem sehr wachen Nicholas im Arm ins Wohnzimmer zurück.

„Hellwach stand er da in seinem Bettchen, der kleine Spatz.“ Sie strahlte genauso breit wie Nicholas, der seine Stoffeule am Flügel hielt, damit sie nicht wegflattern konnte.
„Molly, wir sollten jetzt lieber gehen“, schlug Arthur zaghaft vor, denn er wusste, wie schwer es war, seine Frau von ihrem Enkel zu trennen.
„Ja, na dann“, sie gab den Jungen an Harry ab, „wir sehen uns sicherlich noch vor der Hochzeit.“

Ohne es zu wollen hatte Molly mit dieser Anmerkung einen dunklen Schatten über die Anwesenden geworfen. Besonders Harry fragte sich, ob er jemals dazu kommen würde, Ginny tatsächlich zu heiraten. Was, wenn etwas so Schlimmes geschehen war, dass er …? Er wagte es nicht, diesen Gedanken fortzuführen.

Unerwartet stolperte jemand durch den Kamin und landete auf dem Boden. Es handelte sich um Ron, der ein oder zwei Gläser Alkohol zu viel hatte.

„Harry?“, säuselte er angetrunken. „Wassn los? Hab dein‘ Patronnnuss gesehen.“
„Ronald Weasley!“ Bei der Stimme seiner Mutter verzog er das Gesicht und gab sich alle Mühe, aufrecht zu stehen, was er durchaus zustande brachte, aber er schwankte. „Wie kannst du dich nur in diesem Zustand jedem zeigen?“, schimpfte Molly.
„Wenn Harry ruft, dann komm isch“, nuschelte er.
Weil er ihn Zuhause nicht angetroffen hatte, fragte Harry neugierig: „Wo warst du? Ich habe die ganze Nacht versucht, dich über den Kamin zu erreichen.“
„Ich war …“ Ron überdachte seine Worte und begann von vorn. „Ich habe mich mit der ‘Quidditch-Interessengemeinschaft‘ getroffen.“ Es war ein Wunder, dass Ron dieses Wort ohne zu nuscheln herausgebracht hatte.
Harry schnaufte. Die normale Situation mit seinem Freund ließ ihn glauben, alles wäre in Ordnung. „Ihr habt ein Spiel gewonnen und euch in einem Pub die Kante gegeben“, verbesserte er seinen Ron.
„Um was geht‘ denn?“, wollte der Angetrunkene wissen, womit er gleichzeitig auch von seinem Team-Besäufnis ablenken wollte.
Die Realität war auf einen Schlag wieder da und Harry klärte ihn auf. „Wir vermissen Ginny und niemand weiß, wo sie steckt. Bei dir war sie nicht zufällig?“
Er schüttelte den Kopf. „Seit wann ist sie weg?“

Man erzählte Ron alles, was man wusste. Gleich darauf folgte er seinen Eltern durch den Kamin, damit er von seiner Mutter einen Trank bekommen konnte, der ihn wieder nüchtern machen sollte. Remus machte sich daran, von seinem Kamin aus sämtliche Einrichtungen zu kontaktieren, wo man Ginny hingebracht haben könnte. Harry war wieder allein und rief seinen Hauself.

„Wobbel?“ Geräuschlos erschien der Elf im Wohnzimmer. „Wobbel, ich brauche deine Hilfe. Ich vermisse Ginny und ich möchte …“
„Nein, Sir …“
Harry überhörte die Warnung, weil er so in Gedanken war. „… dass du sie suchst und …“
„Sagen Sie es nicht!“
„… herholst!“ Wobbel seufzte und schloss resignierend die Augen. „Was ist, Wobbel?“
„Sir, sofern sich Miss Weasley in der magischen Welt aufhält, sehe ich kein Problem. Ich darf jedoch laut Gesetz nicht auf Befehl meines Herrn in die Muggelwelt. Schon gar nicht darf ich dort mit meinen magischen Fähigkeiten einwirken. Ich werde Ihnen also keine Hilfe sein, sollte sich Miss Weasley bei den Muggeln aufhalten.“
Seinen Befehl hätte Harry unter Umständen anders ausdrücken können, um seinem Elf mehr Freiheit zu lassen, doch jetzt war es dafür zu spät. „Daran habe ich gar nicht mehr gedacht.“ Ein Seufzer entwich ihm. „Aber du darfst mir doch sicher Bescheid geben, sollte sie in der Muggelwelt sein, oder?“
„Das schon, Sir.“
„Mehr will ich gar nicht. Sofern ich weiß, wo sie ist, werde ich sie holen und zwar persönlich!“

Das Gleiche dachte Hermine, nur dass sie nicht Ginny persönlich holen wollte, sondern Severus. Er war ihrer Meinung nach schon viel zu lange weg. Sie befürchtete, ihm könnte etwas geschehen sein. Unruhig ging sie ihn ihrem Wohnzimmer umher und störte somit den Kniesel bei seinem Schlaf. Dass er wohlauf war, konnte sie nicht wissen.

Severus hatte sich über Fogg gebeugt und die Stichwunde am Hals mit dem richtigen Gesang geheilt.

„Sie benötigen einen Trank, der den Blutverlust ausgleicht.“
„Haben Sie einen dabei?“, fragte Stringer.
„Ich trage nichts bei mir, dass Sie einfach stehlen könnten“, hielt er dem Dieb vor Augen. „Die Geschichte, die Sie mir erzählt haben, macht wenig Sinn. Ich werde das Gefühl nicht los, dass Sie mir wichtige Details vorenthalten haben.“ Stringer hatte die Anmut zu erröten. „Dachte ich’s mir.“ Mit einem Schwung seines Stabes warf Severus einen Zauber auf Stringer und Fogg.
Stringer befürchtete das Schlimmste. „Was war das?“
Gelassen erklärte Severus: „Ein Fahndungszauber. Sollten Sie es wagen zu apparieren, werden Sie meinen Zorn zu spüren bekommen. Jetzt helfen Sie Ihrem Freund auf. Wir gehen ein paar Blocks.“
„Wohin?“
„Zur Apotheke, wo Sie in den Genuss kommen werden, meine Befragungsmethoden kennen zu lernen.“

Laut und deutlich hörte man Stringer schlucken. Es war durch alle Zeitungen gegangen, wem Severus Snape gedient hatte. Selbst wenn er einen Merlin für seine tapferen Taten während des Krieges erhalten hatte, waren ihm die Methoden der Todesser mit Sicherheit nicht fremd, dachte Stringer.

Mit Foggs Arm über seiner Schulter half Stringer seinem Freund den ganzen Weg über, indem er ihn beim Gehen stützte. Nachdem sie die Nokturngasse verlassen hatten, trafen sie in der Winkelgasse auf zwei Gestalten, die an der Tür von Besenknechts Sonntagsstaat standen und hineinlugten. Bei dem verregneten Wetter war das äußerst auffällig. Severus wandte sich den beiden Dieben zu.

„Sie warten hier und denken Sie gar nicht erst daran zu verschwinden!“ Schon war Severus zu den beiden Personen hinübergegangen, die, als sie ihn bemerkten, sich ihm näherten.
„Severus?“, fragte Kingsley erstaunt. „Was machst du denn hier um diese Zeit?“
„Das Gleiche könnte ich fragen. Gibt es Ärger?“
Tonks beäugte die beiden Gestalten, die ein paar Meter abseits standen und fragte: „Wer sind die?“
Ihrem Blick folgend erklärte er: „Zwei Diebe, mit denen Hermine und ich ein Wörtchen zu reden haben.“
„Diebe?“, wiederholte Kingsley erstaunt. „Sollen wir sie festnehmen?“
„Nein, das regeln wir unter uns“, winkte Severus ab. „Also, was ist hier los?“
„Hat Harry nicht Bescheid gegeben?“
„Wenn er mich erreichen wollte, wird er mich nicht angetroffen haben“, stellte Severus klar, der endlich wissen wollte, warum zwei Auroren mitten in der Nacht bei strömendem Regen vor einem Bekleidungsgeschäft standen. Er hatte ein ungutes Gefühl.
Tonks war so gütig, ihn einzuweihen. „Ginny wird vermisst.“

Für einen Moment konnte Severus sich nicht äußern. Zu sehr verschmolz die Erklärung der beiden Diebe mit seiner Vermutung, Harrys Verlobte könnte Teil der unvollständigen Geschichte sein.

„Seit wann wird sie vermisst?“ Severus wollte für später, wenn er die beiden befragen würde, zumindest schon ein paar Anhaltspunkte haben.
„Harry hat sie zuletzt um ungefähr 17:30 Uhr gesehen.“
„Seitdem kein Zeichen von ihr?“ Beide Auroren schüttelten den Kopf. „Dann werde ich mich jetzt auf den Weg zu Hermine machen. Ich bin mir sicher, Harry hat sie bereits über die Situation informiert.“

Höflich verabschiedete sich Severus von den beiden, bevor er zu Stringer und Fogg hinüberging. In dem Augenblick, als er Stringer – im wahrsten Sinne des Wortes – Dunstkreis betrat, verzog Severus angewidert das Gesicht.

„Wer waren die beiden?“
Severus blickte den Mann, der so einen üblen Gestank verbreitete, drohend an. „Gerade Ihnen steht es nicht zu, solche Fragen zu stellen. Aber damit Sie es wissen: Das waren zwei befreundete Auroren.“
„Ach du scheiße“, entwich es Stringer, ohne die Worte aufhalten zu können.
„Folgen Sie mir!“

Severus ließ die beiden vorangehen, damit er sie im Auge behalten konnte. An der Apotheke angekommen überraschte es ihn nicht, dass er Licht sehen konnte. Überrascht war er jedoch, als er nach Betreten des Verkaufsraums nicht nur von Hermine empfangen wurde, sondern auch von Fred und George Weasley. Alle drei blickten die beiden Männer an, die Severus mit seinem Stab bedrohte. Hermine warf ihre bösesten Blicke in Richtung Stringer.

„Sieh an“, Severus nickte den beiden Gästen zu, „Besuch um diese Zeit.“
„Mr. Snape.“ Die Zwillinge nickten ihm grüßend zu. „Wen haben Sie denn da mitge…“ George hielt inne. Seine Augen wurden ganz rund, als er Stringer von oben bis unten betrachtete. „Sie haben uns ein Doppelpack Tagträume geklaut!“
„Oh, Mist“, murmelte der Beschuldigte.
„Severus?“ Hermine winkte ihn zu sich heran. „Wir müssen miteinander reden, allein.“
Er nickte und wandte sich den Zwillingen zu. „Wenn Sie beide so freundlich wären, ein Auge auf meine ‘Gäste‘ zu werfen? Und halten Sie sich nicht zurück, sollten sie fliehen wollen. Sie haben mein Einverständnis, Ihre ungewöhnlichen, aber zugegebenermaßen sehr kreativen Flüche an den beiden ausprobieren zu dürfen.“
Skeptisch kniff Fred die Augen zusammen. „Auf was spielen Sie an, Mr. Snape?“
„Auf einen Fluch, der, wie ich erfahren habe, sehr effektiv auf die männlichen Keimdrüsen einwirken soll.“
„Wie Sie erfahren haben?“, wiederholte George mit hochgezogenen Augenbrauen.
Fred hakte nach. „Doch nicht am eigenen Leib, oder etwa doch?“ Zeitgleich warfen sie Hermine einen Blick zu, die die Situation erklärte.
„Ich habe nicht getroffen.“
„Oh schade“, Fred grinste, als er Severus anblickte, „dabei hätte ich so gern die Meinung eines Fachmannes gehört.“
„Die werden Sie von mir hoffentlich nie erhalten. Wenn Sie uns nun kurz entschuldigen würden? Und achten Sie auf die beiden Herren, die offenbar auch lange Finger in Ihrem Geschäft gemacht haben.“

Auf der Stelle zogen die Zwillinge ihre Stäbe und richteten sie auf Stringer und Fogg, während Severus sich von Hermine ins Labor führen ließ.

„Ginny wird …“
„Vermisst“, vervollständigte Severus. „Ich habe eben Tonks und Kingsley getroffen. Sie haben mich darüber unterrichtet.“
„Harry ist ganz außer sich vor Sorge. Niemand weiß, wo sie abgeblieben ist. Wir müssen zu ihm und ihm helfen!“
„Nein, Hermine. Ich werde zunächst unsere beiden Gäste dazu ermutigen, ein wenig zu singen. Ich habe den Verdacht, dass sie uns in der Angelegenheit vielleicht sogar weiterhelfen könnten.“

Als Hermine seine Worte verdaute, wurde sie ganz bleich um die Nasenspitze.

„Severus?“ Ihre Stimme war zart und zerbrechlich. „Meinst du, die beiden könnten was mit Ginnys Verschwinden zu tun haben?“
„Es wäre möglich.“

Sämtliche Farbe verschwand aus ihrem Gesicht, als sie sich die Situation vor Augen führte.

„Der Vielsafttrank ist schuld“, murmelte sie. „Ich bin schuld!“Die Feststellung ließ ihre Knie zittern.
„Das wissen wir noch nicht. Soweit ich erfahren habe, kam der eigentliche Plan mit dem Vielsafttrank gar nicht zum Tragen. Ich werde die beiden ein wenig durch den Wolf drehen und hoffentlich ohne weitere Hilfsmittel herausbekommen, was genau am Vorabend geschehen ist.“
„Ich könnte es nicht ertragen, wenn Ginny durch meine Schuld …“
„Hermine!“ Er ergriff sie an den Oberarmen, so dass sie zu ihm aufblickte. „Der Vielsafttrank spielte überhaupt keine Rolle! Jetzt reiß dich zusammen. Ich brauche deinen Verstand.“
Sie blinzelte einige Male, bevor sie einmal kräftig schluckte. „Okay.“ Mehr brachte sie nicht heraus.

Zurück im Verkaufsraum, in dem die Zwillinge Fogg und Stringer in Schacht hielten, richtete Severus ohne Umschweife das Wort an die beiden Diebe.

„Sie werden mir jetzt wahrheitsgemäß antworten, ansonsten werde ich Sie zur Wahrheit zwingen!“ Sobald dieser Standpunkt klargemacht war, stellte er die erste Frage: „Hat Ihr Vorhaben direkt oder indirekt mit dem Verschwinden von der Tochter des Zaubereiministers zu tun?“
Stringer hielt den Mund, doch Fogg, trotz seines geschwächten Zustands, nickte. „Nicht wir haben damit zu tun, sondern …“
„Was fällt dir ein?“, rügte Stringer seinen Freund.
Seinen Willen zu reden verteidigte Fogg. „Ich mach mir an so etwas nicht die Finger schmutzig!“
„Meine Herren“, schlichtete Severus den kleinen Streit, „Sie reden mit mir, nicht miteinander, verstanden?“
„Wie ich schon sagte“, fuhr Fogg fort, „es hat nur indirekt mit uns zu tun. Wir hatten etwas ganz anderes vor, was sich zum Glück in Wohlwollen aufgelöst hat. Hätte das Schicksal uns keinen Streich gespielt, hätte ich unser Vorhaben sowieso sabotiert.“
„Du Mistkerl! Ich wusste, ich konnte dir zum Ende hin nicht mehr trauen.“
„Mr. Stringer“, warnte Severus, „Sie sind ruhig!“ Stringer biss sie von innen auf die Unterlippe, so dass er den Mund nicht mehr öffnen würde. „Mr. Fogg, wenn Sie bitte fortfahren würden. Mich interessieren besonders die beiden Squibs und die Drahtzieher, die dahinterstecken.“
„Die Squibs hatten den Auftrag …“
„Hör auf“, warten Stringer, „du reitest und nur noch mehr rein!“
„So, ich habe jetzt genug.“ Severus richtete seinen Stab auf Stringer und knebelte ihn magisch. So sehr er sich auch anstrengte, er konnte kein Geräusch mehr erzeugen. „Mr. Fogg?“
„Ja“, Fogg wandte seinen Blick von Stringer ab. „Ach so, ja.“ Ihm war schwindelig. Er hatte viel zu viel Blut verloren. „Warten Sie, gleich hab ich den Faden wieder.“
„Hermine, reich dem Herrn bitte ein blutbildendes Mittel.“

Nur widerspenstig kam sie der Bitte nach, denn in ihren Augen hatte nicht einmal mehr Fogg ein Stein bei ihr im Brett. Nach dem Trank fühlte er sich schon wieder wesentlich besser.

„Die Squibs hatten den Auftrag, uns zu überwachen“, gab er zu. „Man traute uns offenbar nicht, dass wir unseren Auftrag erledigen.“
„Was war Ihr Auftrag?“, fragte Severus nach.
„Wir sollten Harry Potter entführen.“
Von hinten hörte man Gelächter. Fred und George trauten ihren Ohren kaum. „Harry entführen? Ist die Nummer nicht ein wenig zu groß für euch?“
„Ich wollte ja auch gar nicht mehr!“, versicherte Fogg. „Wir haben einen Vorschuss erhalten und schon mehrmals überlegt, ob wir damit nicht einfach untertauchen, aber dann kamen ständig diese beiden Squibs und machten Druck. Wir hatten nicht mal eine Idee, wie wir diesen Irrsinn durchführen könnten. Stringer schlug den Vielsafttrank vor.“
„Und in welcher Gestalt wollten Sie sich Potter nähern?“
„Sirius Black!“
Von Hermine hörte Severus ein geflüstertes „Oh Gott!“ und als er sich umdrehte, erklärte sie: „Ich habe ihn zur Initiative geschickt, direkt in Sirius‘ Arme.“ Sie knabberte an ihrem Daumennagel, war kreidebleich im Gesicht. Ganz offensichtlich hielt Hermine sich selbst für die Hauptschuldige.
Severus wandte sich wieder Fogg zu. „Dann haben Sie also ein Haar von Mr. Black genommen und …“
„Nein, Sir.“ Ein verstohlenes Grinsen zierte für wenige Sekunden Foggs Gesicht. „Ich habe irgendein Haar genommen, das auf der Rückenlehne der Couch lag. Hätte auch von dem Kobold sein können, der an dem gleichen Tag dort war, aber es war von einem Mr. Duvall gewesen.“

Weil Stringer nicht reden konnte, gab er Fogg für alles, was er gesagt und getan hatte, einen Tritt vors Schienbein. Der schrie auf, hüpfte dabei auf einem Bein, weil er das andere mit den Händen hielt.

„Na, na, na, Mr. Stringer“, mahnte Severus, bevor er abermals seinen Stab auf den Mann richtete und ihn mit einem Incarcerus am gesamten Körper fesselte. Stringer schlenkerte und fiel auf das Gesäß. „Mr. Fogg, Sie dürfen fortfahren.“
Mit mitleidiger Miene blickte Fogg zu seinem Freund hinunter, kam der Aufforderung des ehemaligen Todessers jedoch nach. „Wir wussten nicht, ob Potter diesen Duvall überhaupt kannte, aber Stringer wollte es unbedingt versuchen, also sind wir zu Besenknechts Sonntagsstaat gegangen und haben gewartet.“ Fogg grinste. „Wie der Zufall es wollte, war der echte Sirius Black in der Nähe und fing Potter ab, als der aus dem Geschäft kam. Wir hatten keine Möglichkeit, uns ihm zu nähern, was mir ganz recht war. Potter und Black haben wir aus den Augen verloren. Wir wollten gerade gehen, da kommen die beiden Squibs, die das beobachtet haben. Sie haben uns überwältigt und …“
Hier unterbrach Fred schnippisch: „Überwältigt? Zwei Squibs haben gegen zwei Zauberer gesiegt? Lassen Sie sich etwas Besseres einfallen!“
„Es war so! Glauben Sie mir! Diese beiden sind wirklich hinterlistig. Der eine lenkt einen ab und der andere entwaffnet einen. Mein Freund hier“, er blickte zu Stringer hinunter, „war zu dem Zeitpunkt unfähig zu handeln. Er hatte sich den Kiefer an der Wand gestoßen, der – wie Miss Granger weiß – noch nicht ganz verheilt war. Mich hat man niedergeschlagen. Ich habe nur eine verschwommene Erinnerung an das, was danach geschehen ist. Da war eine junge Frau, die sich über mich gebeugt hat. Ich habe ihr noch gesagt, sie soll fort, aber …“ Fogg schüttelte den Kopf. „Ich bin ohnmächtig geworden. Hab was an den Kopf bekommen.“
„Dann wird an dieser Stelle Mr. Stringer den Tathergang schildern.“
George meldete sich zu Wort. „Ich möchte ja nicht stören, aber könnten wir bitte die Fenster aufmachen?“
„Ja“, bestätigte Fred, „langsam aber sicher stinkt’s mir.“
„Das ist nachvollziehbar.“ Severus schaute Fogg in die Augen. „Ein Fluch?“ Er spielte damit auf den Gestank von Stringer an. Fogg nickte und Severus imitierte diese Bewegung unbewusst. „Sehr wahrscheinlich auch zu Recht.“

Es wurde Frischluft hineingelassen, ganz zu Fred und Georges Erleichterung. Fogg durfte auf einem Stuhl Platz nehmen, während Stringer von Severus entfesselt wurde. Auch der magische Knebel wurde gelöst.

Das Erste, was aus Stringers Mund kam, waren die Worte: „Ich werde gar nichts sagen!“
„Machen Sie bloß keine Versprechungen, die Sie nicht halten können. Sie haben drei Möglichkeiten, Mr. Stringer. Sie können freiwillig auf meine Fragen antworten, was die humanste Lösung wäre. Ansonsten bleibt Ihnen noch die Qual der Wahl zwischen Veritaserum und Legilimentik. Beides ist äußerst unangenehm.“
Stringer schaute nachdenklich drein. „Ich hab gehört, beides wäre gar nicht so schlimm.“
„Mag sein, aber da ich es sein werde, der das bei Ihnen anwenden wird, wird es bestimmt unangenehm. Entscheiden Sie sich, die Uhr läuft.“ Severus verschränkte die Arme vor der Brust und wartete.

Fogg warf seinem Freund nicht nur Blicke zu, sondern nickte heftig – wollte ihn ermutigen, einfach die Wahrheit zu sagen.

„Also gut“, begann Stringer mit gelangweilter Stimme. Die Ereignisse zählte er monoton auf. „Fogg lag am Boden. Einer der Squibs hat eine Frau angeschleppt. Die haben sie betäubt und dann haben sie mich gezwungen, sie nach Clova zu apparieren. Ach ja, sie haben mich unter Druck gesetzt, indem sie meinem Freund die Kehle aufschlitzen wollten, womit sie schon angefangen haben, wie man sehen kann. Ich habe ihm das Leben gerettet.“ Mit zusammengekniffenen Augen starrte er zu Fogg hinüber. „Schon das zweite Mal!“
„Wie ehrenhaft von Ihnen“, warf Severus genauso eintönig gesprochen ein. „Wer war die Frau?“

Stringer schloss den Mund und spitzte die Lippen. Es war klar, dass er nicht reden wollte. Noch zwei Mal stellte Severus die gleiche Frage, bevor er seinen Stab zog. Mit weit aufgerissenen Augen blickte Stringer auf die Stabspitze.

„Wer war die Frau?“, wiederholte Severus. Gleich im Anschluss sprach er leise: „Legilimens.“

Aufgrund seiner Frage befand sich die Antwort gleich an der Oberfläche des Bewusstseins. Die Szene spielte sich aus Stringers Sicht ab. Ginny wurde von hinten festgehalten. Der Mann drückte ihr ein Tuch über Mund und Nase. Als sie sich wehrte, hielt der andere ihre Beine fest. Es war selbst für Severus schockierend mit anzusehen, wie schnell die Bewegungen von Ginny lahmer wurden, bis sie sich nicht mehr rührte. Die Squibs forderten von Stringer, ihn zu Hopkins zu bringen, doch der wollte nicht. Als einer von ihnen Fogg mit einem Messer malträtierte, da stimmte Stringer zu.

Severus beendete die Legilimentik.

„Und?“, wollte Fred wissen.
„Wie es aussieht, Mr. Weasley, befindet sich Ihre Schwester in den Händen von Muggeln in der Nähe des Örtchens Clova.“
Die Zwillinge waren im ersten Moment sprachlos, bis die Wut sie übermannte. „Wir gehen dort hin!“
„Nein, wir werden erst Harry und Ihren Vater unterrichten. Auf eigene Faust unternehmen wir nichts!“, befahl Severus mit seiner von damals so bekannten Lehrerstimme, die keine Widerrede zuließ. Er wandte sich an einen der beiden. „Sehen Sie draußen nach, ob …“

Er wollte einen der Zwillinge bitte, nach Kingsley oder Tonks zu schauen. Plötzlich zog etwas an seinem Umhang. Es war Hermine, die ihn mit treuen Hundeaugen ansah und zu sagen versuchte, was ihr blühen würde, sollte die Sache mit dem Trank offiziell werden.

„Wenn ich’s mir recht überlege, ist unser Keller ganz gemütlich. Dort werden Sie zwei“, er sprach die beiden Gauner an, „bleiben, bis wir die Sache geregelt haben. Ich rate Ihnen, nichts zu berühren. Die meisten Gegenstände sind verflucht.“ Eine Lüge, wie Hermine wusste. „Meine Herren, folgen Sie mir!“

Mittlerweile überbrückte Harry die Zeit mit dem Anflohen von Freunden, die ihm allerdings versicherten, dass Molly sie schon kontaktiert hatte. Weitere Versuche ließ er bleiben. Er fühlte sich so ohnmächtig, so nutzlos. Am liebsten würde er seinen Besen nehmen und die Gegend absuchen oder Mr. Masamator persönlich ausfragen. Er muss der Letzte gewesen sein, der Ginny lebend gesehen hatte. ‘Lebend‘, wiederholte er in Gedanken. Sollte ihr etwas zugestoßen sein, würde er nie wieder glücklich werden. Wäre er nur nicht ohne sie gegangen, schalt er sich selbst.

Als es klopfte, rannte er voller Hoffnung zur Tür, doch nicht Ginny, sondern Remus begehrte Einlass.

„Nichts Neues“, offenbarte sein Freund mit betretener Miene. „Ich habe alle möglichen Krankenhäuser, Heime und Notfallstationen abgeklappert. Es gab kaum Neuzugänge in der Nacht und wenn doch, dann war Ginny definitiv nicht darunter.“
„Was soll ich jetzt nur tun? Wo kann sie sein? Ich weiß nicht mehr weiter“, seufzte Harry.
„Hast du deinen Hauself …?“
Harry unterbrach. „Der ist schon unterwegs und schaut überall nach, aber er hat keine Anhaltspunkte. Seine Suche ist genauso blind wie meine. Remus“, verzweifelt flüsterte er, „was soll ich tun?“

Unerwartet flammte der Kamin in Harrys Wohnzimmer auf. Nacheinander stürmten die Zwillinge, Severus und Hermine den Raum.

„Was ist denn jetzt …?“
Dieses Mal wurde Harry unterbrochen und zwar von Severus, dem es aufgrund seiner eingeschränkten Gefühlswelt nicht schwer fiel, ihm die Fakten nüchtern mitzuteilen: „Miss Weasley wird offenbar in Clova von Muggeln festgehalten.“

Der Name der kleinen Stadt sagte Remus etwas. Er war der Erste, der begriff, wie ernst die Situation war, sollte das zutreffen, was er vermutete. Während der letzten Ordenstreffen hatte man häufig über Hopkins gesprochen, dessen Festung in Clova in der Nähe des Verbotenen Birkenwaldes stand. Dessen Aktivitäten waren in letzter Zeit stark zurückgegangen, nachdem der Muggelminister ihn mit Steuerprüfungen und anderen Unannehmlichkeiten drangsaliert hatte. Hopkins war ruhig geworden. Offenbar war das nur die Ruhe vor dem Sturm gewesen. Ohne von den anderen beachtet zu werden, ging Remus hinüber zum Kamin und flohte Arthur an, damit auch er anwesend sein würde. Der kam auf der Stelle, noch bevor Severus irgendetwas hatte erklären können. Ron – nun nüchtern – und Molly folgten ihm.

„Severus?“ Arthur war völlig außer Atem. „Hast du etwas rausgefunden?“
„Wie ich gerade Harry sagte, ist deine Tochter nach Clova gebracht worden. Ich nehme an, man hält sie dort noch immer fest.“
Auch Arthur reagierte auf den Namen der kleinen Stadt noch stärker als Remus. Seine Sorge zeichnete sich mit so tiefen Falten an der Stirn ab, als wäre sie mit einem Pflug gezogen worden. „Woher weißt du das?“
„Von einem Herrn, der die Entführung beobachtet hat.“

Arthur fasste sich an die Stirn. Der Schmerz, den er empfand, konnte jeder an seinem Gesicht ablesen. Die Angst um die Tochter, um das Nesthäkchen.

„Was ist in Clova?“, fragte Harry aufgebracht.
„Hopkins“, hauchte Arthur.

Nicht sofort sagte ihm der Name was. Harry hatte sich wenig mit diesem Thema beschäftigt, aber als er sich an ein Gespräch mit Hermine erinnerte, war er genauso schockiert wie Arthur.

„Hopkins? Dieser weltfremde Kerl, der uns Zauberer für gefährlich hält?“
„Oh Merlin“, stöhnte Arthur und raufte sich die Haare.
„Was tun wir jetzt?“ Harry blickte jeden einmal an, doch alle hatten ihre Augen auf Arthur gerichtet – auf den Minister. Der dachte nach, auch wenn es ihm in diesem Moment sehr schwerfiel. Immer wieder wurde seine Konzentration durch Sorge um seine Tochter unterbrochen.
„Wir …“ Arthur schüttelte den Kopf. „Ich werde …“ Wieder beendete er den Satz nicht. Seine Verzweiflung raubte selbst Harry die letzte Ruhe. Endlich schien Arthur sich gefunden zu haben. Mit ernster Miene richtete er das Wort an die Anwesenden und verkündete allen Ernstes: „Ich werde als Minister zurücktreten.“
„WAS?“, sagten vier Personen gleichzeitig.
„Warum willst du zurücktreten?“, wollte Harry genauer wissen.
Arthur war im Zwiespalt mit sich selbst. Mit vor Wut erhobener Stimme stellte er klar: „Weil ich es muss! Ich werde sonst nichts ausrichten können, versteht ihr das denn nicht?“
Von seiner Frau erhielt er den ersten Einspruch. „Das kannst du nicht machen!“
„Aber ich muss, Molly. Das sind Muggel, es ist ein Muggelgebiet. In solchen Fällen bin ich verpflichtet, mit dem anderen Minister eine Vorgehensweise auszuarbeiten.“
Wie langsam die Mühlen der Muggel-Bürokratie mahlen konnten, wusste Hermine nur zu gut. „Dann kann es aber längst zu spät sein! Wir müssen sofort etwas unternehmen.“
„Ich kann nicht! Wenn ich gegen diese Gesetze verstoße, werde ich meines Amtes enthoben und alles, für was ich gearbeitet habe, wird nichtig werden.“
„Das wird aber auch passieren“, warf Remus nicht gerade leise ein, „wenn du zurücktrittst, weil kein anderer Minister dort weitermachen würde, wo du aufhörst! Eine dritte Alternative muss her, aber schleunigst!“ Die Gesetzesänderungen standen auf dem Spiel und noch viel mehr.

Eine kurze, aber hitzige Diskussion entfachte, die Harry dafür nutzte, um in sich zu gehen. Während sich die anderen darüber den Kopf zerbrachen, ob man Auroren schicken durfte oder nicht, ob der Muggel-Minister schnell helfen könnte oder nicht, ob, ob, ob …

Es wurde Zeit, dachte Harry, dass jemand diesen Hopkins mal an die Kandare nahm. Dieser jemand wollte er sein. Seine Freunde suchten verzweifelt nach einem Ausweg. Arthur traf es von allen am härtesten. Er war durch die Gesetze zum Schutz der Muggel – Gesetze, die er selbst geschaffen und befürwortet hatte – an Händen und Füßen gefesselt. Harrys Blick fiel auf die Zwillinge, die sich genauso still verhielten wie er selbst, jedoch die Köpfe zusammensteckten und selbst einen Plan zu schmieden schienen, um ihre Schwester, für die sie alles opfern würden, nachhause zu holen. Sein Blick fiel auf Remus, der wegen seiner ausgeprägten Empathie Arthur am besten verstehen konnte, aber innerlich so eigennützig sein wollte, um die Gesetzesänderungen nicht zu gefährden. Er dachte an das Wohl vieler. Harry konnte das nachvollziehen. Er selbst wünschte für Remus und Tonks, dass sie endlich eine Familie gründen dürften. Ron, sein bester Freund, versuchte schlichtend zwischen seinen Eltern einzugreifen. Sein Gesicht war knallrot. So sah er immer aus, wenn der Zorn ihn übermannt hatte. Nicht auf seine Eltern war er wütend, sondern auf die Situation, auf die Muggel, auf Hopkins. Von Ron schaute er hinüber zu Hermine. Sie war so bleich, dass sie jeden Moment umzufallen drohte. In ihrem Gesicht, dessen Feinheiten er in all den Jahren der Freundschaft so genau kennen gelernt hatte und zu deuten wusste, sah er neben der großen Sorge auch Schuld. Gerade sie, die immer so viel gab und wenig nahm, sollte sich nicht schuldig fühlen müssen, nur weil sie genauso wenig unternehmen konnte wie all die anderen.

Direkt hinter ihr stand Severus, doch der schaute nicht Arthur an. Die Blicke von Severus und Harry trafen sich. Die Augen des Tränkemeisters fixierten ihn. Er wartete geduldig, er wollte seine Meinung hören.

‘Was ist deine Entscheidung?‘, fragte Severus‘ eindringlicher Blick.

Einige Male blinzelte Harry. Seine Entscheidung war getroffen. Er wollte niemanden hier im Raum gefährden. Das hier war kein Kampf gegen Inferi oder Todesser, sondern einer, den Harry allein tragen wollte. Es war seine Ginny, Hopkins war sein Gegner. Die anderen sollten ihren Frieden behalten.

„Arthur?“ Auf der Stelle war Ruhe im Zimmer, als Harry das Wort ergriff. Jeder wartete auf das, was er zu sagen hatte. „Arthur“, wiederholte er ruhig, „geh nachhause. Nimm Molly mit.“
„Aber Harry …“
„Geh nachhause, Morgen ist alles wieder gut.“

Die Ohnmacht über die für ihn ausweglose Situation traf Arthur hart, denn er hatte verstanden, dass er gar nichts tun könnte, um seiner Tochter zu helfen. Vertrauen war das Einzige, das er noch hatte und er legte all seine Zuversicht in Harrys Hände, als er nickte und Molly, an deren rosige Wangen die Tränen hinunterrollten, an der Hand hinter sich herzog.

Die grünen Flammen verschluckten den Minister und seine Frau, brachten sie an einen Ort, der sicher war.

„Okay Harry, wir sind ganz Ohr!“, beteuerte Ron, der auf einen Plan wartete. Seine Ohren glühten. Ron war so geladen, dass er den nächsten, der es wagen würde, ein Späßchen über seine Haarfarbe zu machen, in der Luft zerreißen würde. Auch die Zwillinge warteten wie in alten Zeiten geduldig auf Harrys Anweisung, die sie ohne Prostest ausführen würden. Hermine setzte sich auf die Couch. Bei ihr war der Punkt erreicht, an dem sie ihrem Kreislauf nicht mehr traute. Remus und Severus hingegen waren kampfbereit, das zeigten ihre entschlossenen Gesichter, die festen Blicke.
„Harry?“ Einer der Zwillinge riss Harry aus seinen Gedanken. Er sammelte sich einen Augenblick, bevor er sich dazu entschloss, aktiv zu werden.
„Hermine?“ Als sie aufblickte, rief er ihr ins Gedächtnis: „Du bist die Patentante, vergiss das nicht.“

Alle waren über seine Worte so verdutzt, dass niemand ihn aufhielt, als er das Zimmer verließ. Von außen sprach er die kräftigsten Schutzzauber, die sich über das gesamte Zimmer verbreiteten. Niemand würde in der nächsten Stunde hinauskommen, nicht einmal durch die Fenster oder den Kamin.

„Harry!“, hörte er von drinnen die Stimme seines besten Freundes, dann dessen Fäuste, die gegen die Tür trommelten. „Harry, lass uns mitkommen!“

Niemanden von seinen Freunden, von seiner Familie, wollte Harry mehr in Gefahr sehen. Mit ein paar Muggeln würde er selbst zurechtkommen. Keiner müsste sich strafbar machen, keiner sollte sein Leben aufs Spiel setzen. Seine Wut über Hopkins hatte ihm Scheuklappen aufgesetzt, mit denen er blind durch Hogwarts‘ Gänge marschierte. Nichts anderes mehr zählte, als Ginny an seine Seite zu holen und Hopkins das Fell über die Ohren zu ziehen.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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201 Der alte Feind




Nur in Gedanken war Harry längst vor den Toren Hogwarts‘. Von dort aus wollte er nach Clova apparieren. Für ihn war es ein Katzensprung, keine 160 Kilometer. Einen Plan hatte Harry nicht. Wie schon so oft konnte es auch diesmal von Vorteil sein, sich selbst zu überraschen, denn nur so war gewährleistet, auch den Gegner unvorbereitet zu wissen.

Harrys Schritte hallten in dem steinernen überdachten Gang wider. Es blieb wenig Zeit, sich Gedanken über einen Angriff zu machen. Er würde sich hineinstürzen, kämpfen und als Sieger hervorgehen. Längst hatte er sich ausgemalt, mit Ginny bereits nach Hogwarts zurückzukehren, da rammte er etwas. Ein Klirren war zu vernehmen. Harry ließ sich von nichts aufhalten, nahm den Lärm nur am Rande wahr und ging vom Zorn getrieben weiter.

„Harry?“, wurde ihm zaghaft hinterhergerufen.

Neville betrachtete den Blumentopf, den er aus seinem Zimmer geholt hatte, um die Mimbulus Mimbeltonia im Gewächshaus unterzubringen. Er war gern so früh auf den Beinen, wenn die Blüten der vielen Blumen noch geschlossen waren und sich erst öffneten, wenn die ersten Sonnenstrahlen sie trafen. Die seltene Mimbulus Mimbeltonia konnte er nicht aufheben. Durch den Sturz war sie so gereizt, dass sie ihren eklig stinkenden, grünen Schleim aus den vielen Beulen verspritzte. Die Pflanze war Neville im Moment egal. Viel mehr sorgte ihn Harrys Verhalten. So hatte er seinen Freund selten erlebt und wenn, dann nur in Situationen, in denen es um Leben und Tod ging.

Flugs rannte Neville seinem Freund hinterher. Bald hatte er ihn eingeholt, doch Harry reagierte nicht auf seinen Namen. Stattdessen war sein Blick stur nach vorn gerichtet, das Gesicht entschlossen, die Züge hart. Er marschierte unbeirrbar weiter, hielt dabei seinen Zauberstab in der geballten Faust.

„Harry!“, versuchte Neville es noch einmal, wieder ohne Erfolg. Irgendetwas stimmte nicht, das war Neville klar. Er musste nicht lange überlegen und zog seinen Stab. Mit einem kurzen Sprint überholte er Harry und blieb vor ihm stehen, womit er Harry zum Anhalten zwingen wollte. Neville richtete seinen Stab auf ihn und forderte: „Bleib stehen!“
Verdutzt blickte Harry auf den Stab vor sich, schnaufte dann vorgetäuscht amüsiert, obwohl seine gesamte Körperhaltung, seine Mimik verriet, dass er auf eine Auseinandersetzung vorbereitet war. „Was soll das werden?“ Harry schnaufte nochmals, was Neville deutlich machte, wie gereizt er war. Ein Stier in der Arena. „Willst du dich mir etwa in den Weg stellen?“ Eine versteckte Drohung schwang in diesen Worten mit.
„Wäre ja nicht das erste Mal, oder?“, erwiderte Neville tapfer, wenn auch stotternd. Sein eigener Stab zitterte in seiner Hand. Harry war ein Gegner, der ihn in null Komma nichts zu Staub verwandeln könnte, der vom Morgenwind in alle Richtungen verstäubt werden würde. Das wussten beide.

Unverhofft trafen Nevilles Worte eine Stelle tief in Harrys Herzen. Es war eine Stelle, die schöne Erinnerungen an sein erstes Schuljahr barg – an Neville, der sich Hermine, Ron und ihm in den Weg gestellt hatte, um sie davon abzuhalten, irgendwelche Dummheiten anzustellen. Dieser Einsatz war sogar mit Punkten belohnt worden, rief sich Harry ins Gedächtnis. Eine Würdigung seitens Albus für den Mut, sich seinen eigenen Freunden in den Weg gestellt zu haben. Harry blickte Neville in die Augen, die scheu den Blickkontakt aufrecht erhielten, dabei nervös blinzelten, weil er mit dem Schlimmsten zu rechnen schien. Neville war ein Freund. Einer, der sich ihm in den Weg stellte, um ihn – wieder einmal – vor unüberlegten Dummheiten zu bewahren.

Harry schloss die Augen und atmete tief durch. Er hoffte, auf diese Weise seinen Groll verdrängen zu können, der dafür verantwortlich war, nicht mehr klar denken zu können. Der innere Frieden, den er nach Voldemorts Tod verspürt hatte, war das Gefühl, an das er sich jetzt klammerte. Diese Ausgeglichenheit wollte er wieder zurückhaben, doch erst mit Ginny an seiner Seite wäre sein emotionales Gleichgewicht wieder vorhanden. Er musste sich beruhigen, musste einen klaren Gedanken fassen, der nicht seinem jugendlichen Temperament entsprach, sondern dem des abgeklärten erwachsenen Harry. Der Harry, der im Krieg Menschen angeführt hatte, die doppelt und dreifach so alt und erfahren waren wie er. Sie hatten ihm vertraut, weil er sich nur selten aus der Ruhe bringen ließ.

Der Wind streichelte Harrys Wange, spielte mit seinen Haaren. Es roch nach Regen. In der Ferne hörte er das Zwitschern von Vögeln. Da war eine Hand auf seiner Schulter. Harry blickte auf.

Neville war bei ihm und schenkte ihm Kraft. Wortlos ließ Harry sich von ihm zu einem der Gewächshäuser führen. Sein Freund strahlte so eine Ruhe aus, dass Harry sie wie ein Schwamm in sich aufsaugen wollte. Ruhe war der Schlüssel.

Ruhe war der Schlüssel, der für die Eingesperrten weit weggeworfen worden war.

„Wie kann er uns einfach hier zurücklassen?“ Diese Frage stellte Ron mehrmals und offenbar sich selbst, als er mit den Zwillingen den Kamin nach einem Ausweg untersuchte. Harry hatte ganze Arbeit geleistet. Keiner konnte die unsichtbaren Barrieren durchbrechen, die Harry damals ausgetüftelt hatte, um Feinde einzusperren, die er nicht töten wollte, wie beispielsweise Menschen, die unter dem Imperius standen. Neben Hedwigs Käfig stand Hermine, die sich wenig enthusiastisch am Fenster versuchte, denn sie kannte den Zauber. Keiner ihrer Zaubersprüche konnte Harrys Bann durchbrechen. Mit ihren Gedanken war sie bei Ginny.

„Wie lange hält dieser Unfug an?“, hörte man Severus‘ aufgewühlte Stimme fragen.
Einer der Zwillinge antwortete. „Nie länger als eine Stunde.“
„Und Sie als seine Freunde kennen diesen Zauber nicht?“
„Natürlich kennen wir ihn“, fuhr Fred ihn grantig an, „aber das hier ist Harrys Macht. Wir wissen durchaus, wie er funktioniert, aber keiner von uns war bisher stark genug, diesen Zauber zu brechen.“

Hermine drehte sich um und betrachtete die anderen. Die Zwillinge und Ron beschäftigten sich noch immer mit dem Kamin, um wenigstens eine Verbindung zu den Eltern aufzubauen, doch jeder Versuch schlug fehl. Gemeinsam an der Tür verweilten Remus und Severus, die die Türklinke betrachteten, als wäre sie ein atemberaubend schönes und gleichzeitig ein skurril scheußliches Kunstobjekt in einer Ausstellung. Severus hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Mit der rechten hielt er seinen Zauberstab. Remus tippte mit einem Zeigefinger auf seine Lippen, während er nachdachte. Dann richtete er unerwartete den Stab auf die Klinke.

„Aloho …“
Ganz außer sich unterbrach Severus ihn: „‘Alohomora‘? Sind Sie von allen guten Geistern verlassen? Wir haben es hier mit einem ungewöhnlich starken Schutzzauber zu tun und Sie wollen einen Spruch aus der ersten Klasse anwenden? Ich fasse es nicht!“
Es war der abwertende Tonfall, der Remus ebenfalls zur Weißglut brachte. „Es könnte ja sein“, knurrte er den Tränkemeister an, „dass Harry einen Notausgang eingefügt hat, der so plausibel ist, dass wir ihn gar nicht erst in Erwägung ziehen.“
„Ich glaub’s zwar nicht, aber bitte.“

Mit einer präsentierenden Geste seiner Hand deutete Severus auf die Tür und machte dem Kollegen Platz. Remus ahnte, dass ein Misserfolg ihm einen beißenden Spott einbringen würde und wappnete sich innerlich schon dafür. Ein Blick nach links offenbarte ihm, dass selbst die drei Weasleys ihm gespannt zuschauten. Er würde sich bis auf die Knochen blamieren. Er richtete seinen Zauberstab auf das Schloss.

„Alohomora“, sprach er und es passierte nichts.
„Zufrieden?“ Das spottende Funkeln in Severus‘ Augen kündigte noch mehr Boshaftigkeiten an. „Vielleicht sollten Sie jetzt ein paar Sprüche aus der zweiten Klasse probieren?“
„Severus!“, warnte Remus durch zusammengebissene Zähne.
„Oder vielleicht …?“
Ron zeigte Mut und stand für Remus ein. „Lassen Sie ihn in Ruhe, Snape!“
„Sonst was?“, drohte der ehemalige Todesser, der aus einem bisher nicht bekannten Grund gereizter war als alle anderen.
„Sonst …“ So sehr er sich auch anstrengte, es fiel Ron nichts ein, mit dem man Severus drohen könnte. „Lassen Sie ihn einfach in Ruhe.“
„Wie können Sie alle so gelassen hier herumstehen, während Ihr Freund eine Rettungsaktion, die einer genauen Planung bedarf, einfach so übers Knie bricht und genauso leichtfertig mit dem Kopf durch die Wand geht, wie es vor ihm sein dämlicher Vater schon unzählige Male getan hat?“
Die Beleidigung wollte Remus nicht auf James sitzen lassen. „Es reicht, Severus. Wenn du eine Idee hast, wie wir hier herauskommen, dann bitte, aber hör auf …“
Severus deutete auf Remus. „Das ist diese Ruhe, die ich nicht nachvollziehen kann.“ Jeder im Raum hatte seine Augen auf Severus gerichtet. „Sie scheinen allesamt nicht zu verstehen, dass nicht nur Harry und Miss Weasley in Gefahr sind, sondern dass seine unüberlegte Aktion auch einen Krieg auslösen kann!“ Weil Ron die Augen weit aufriss, fügte Severus hinzu: „Einen Krieg, den wir nebenbei erwähnt mit Leichtigkeit gewinnen würden. Es handelt sich bei dem Gegner nur um ein paar von diesen dummen Muggeln.“
„Hey!“, wies Hermine ihn zurecht, doch er ignorierte sie.

Als Severus zu ihr hinüberschaute, hob er seinen Stab und bat sie mit einer Geste, vom Fenster wegzugehen. Vorsichtshalber nahm sie Hedwigs Käfig mit. Unheilvolles Gemurmel ertönte aus Severus‘ Mund. Zwar verstand niemand die Worte, aber Hermine hatte die Befürchtung, er würde dunkle Magie anwenden. Seine Zauberformel war kaum gesprochen, dass schleuderte er den schwarzen Fluch, der sich bereits an der Stabspitze geformt hatte, auf die Fensterscheibe. Wie ein Schneeball zerbröckelte der Fluch auf dem Glas, aber er verschwand nicht sofort. Ein Summen war zu hören, dann ein Dröhnen, als der dunkle Klecks auf der Scheibe seine Macht ausübte, doch er wurde von Harrys Schutzwall zerstört. Mit einem Male flammte der sichtbare Fluch auf. Möbelstücke in der unmittelbaren Umgebung fingen Feuer, das sofort von den Zwillingen und Hermine gelöscht wurde, während Remus und Ron den Verursacher böse anschauten.

„Du wagst es, die schwarzen Künste mitten in Hogwarts anzuwenden?“
Severus blickte Remus durch zusammengekniffene Augen an. „Natürlich! Wenn Albus DAS nicht bemerkt hat, dann muss er wirklich taub sein.“
„Keine schwarze Magie mehr!“, befahl Hermine. „Im Nebenzimmer schläft ein Kind und werde nicht zulassen, dass es in diesem zarten Alter mit so einem Schmutz in Berührung kommt.“

Es gefiel ihm gar nicht, vor allen anderen zurechtgewiesen zu werden. Ohne ihre Warnung zu beherzigen, wandte er sich der Tür zu und schleuderte ihr einen anderen Fluch entgegen, von dem er erhoffte, dass man ihn draußen hören würde. Ein ohrenbetäubendes Knarren und Klopfen hallte durch den Raum. Jeder, selbst Severus, musste sich die Ohren mit den Händen bedecken.

Aus dem Schlafzimmer ertönte herzzerreißendes Kindergeschrei.

„Jetzt reicht es! Genug mit diesen Spielereien!“ Wütend marschierte Hermine ins Schlafzimmer und knallte die Tür hinter sich zu, um sich in Ruhe dem Patenkind zu widmen.
„Hermine hat Recht“, stimmte Remus zu, „keine weiteren Zaubersprüche dieser Art.“
„Sie wollen hier wohl gar nicht raus, wie es aussieht.“
Remus atmete einmal tief durch. „Ich weiß, zu was Harry in der Lage ist und bereite mich darauf vor, den Rest der Stunde einfach zu warten, bis der Zauber vergeht, so schwer es mir auch fällt.“
„Es sieht nicht aus, als würde es Ihnen schwerfallen.“ Ungläubig sah Severus dabei zu, wie die Weasleys und Remus auf den Sitzmöglichkeiten um den Couchtisch herum Platz nahmen. „Bin ich wirklich der Einzige, der hier dieses Zimmer verlassen möchte?“ Man ignorierte ihn. „Oh Merlin“, seufzte Severus theatralisch, „ich bin mit fünf Hohlköpfen aus Gryffindor eingesperrt.“
„Fünf?“, hörte er plötzlich Hermine fragen, die gerade mit einem schluchzenden Nicholas auf dem zurück ins Wohnzimmer kam.
„Vier“, verbesserte er.

Alle Gryffindors hatten sich gesetzt, nur Severus ging im Zimmer auf und ab. Als er die Gesichter der anderen betrachtete, bemerkte er deren gedankenverlorenen Gesichtsausdrücke. Nur nach außen hin hatten sie die Ruhe inne. Mit Zeigefinger und Daumen knetete Remus seine Lippen, als er sich den Kopf über einen Ausweg aus dieser Situation zerbrach. Die Zwillinge hatten wieder die Köpfe zusammengesteckt und flüsterten sich Dinge ins Ohr. Einzig der kleine Junge machte Geräusch, schluchzte manchmal erschöpft oder machte erste Versuche mit seiner Stimme.

„Dadadada“, wiederholte Nicholas, bis er Luft holen musste und von vorn begann. Hermine hielt ihm ihre Finger hin, die er neugierig betastete. Ihr Blick war starr. Sie sah nicht das Kind auf ihrem Schoß, sondern – so vermutete Severus – viel schlimmere Bilder, wie die der geborgenen Leiche ihrer besten Freundin, an deren Tod sie sich jetzt schon die alleinige Schuld gab. So unglücklich, so verschämt. Hermine grämte sich.

„Ich habe einen Vielsafttrank gebraut.“ Die gebrochene Stimme der Freundin ließ alle aufhorchen. „Der Mann, der mich auf der Straße überfallen hat, stand vor mir und ich dachte, ich könnte ihn reinlegen.“ Sie errötete, weil sie wusste, dass alle Augen auf sie gerichtet waren. Severus schritt nicht ein. Wenn sie sich diese Sache von der Seele reden wollte, war es ihr gestattet. Ron schenkte ihr all seine Aufmerksamkeit, wollte den Zusammenhang verstehen, aber er gab sich nicht die Blöße nachzufragen, denn noch konnte er keinen Bezug erkennen.

Hermine seufzte. Die Dummheit mit dem Vielsafttrank war eine ihrer größten gewesen. „Ich habe mich mit dem Brauen strafbar gemacht“, sie zog die Nase hoch, „aber das Schlimmste ist, dass mein Plan nicht mal aufging. Der Typ hat den Trank einfach geklaut.“
„Und was willst du uns damit sagen?“, hakte Ron endlich nach, weil ihm der Geduldsfaden gerissen war.

Sie zögerte und blickte auf ihre Hände. Als sie den Zeigefinger streckte, wurde der sofort von einer kleinen Hand umfasst. Sollte alles schiefgehen, dachte Hermine, dann würde sie ein Kind in ihre Obhut nehmen, dessen Eltern durch ihren Fehler ums Leben kamen. Der Gedanke war so grauenvoll, dass die ersten Tränen über die heißen Wangen liefen.

„Der Mann“, sie musste sich erst räuspern, „wollte den Trank haben, um Harry zu entführen.“
Ron fiel aus allen Wolken. „Wie bitte?“

Einschreitend erklärte Severus die Situation für alle und sprach Hermine mit Inbrunst von jeglicher Schuld frei, was alle nachvollziehen konnte, nur nicht Hermine. Remus hatte einen Arm um sie gelegt, einfach nur um für sie da zu sein.

Wütend stand Ron auf, stolperte dabei über Freds Füße und stieß gegen den Tisch, der mit seinen hölzernen Standbeinen laut über den Boden schabte. Von diesem Missgeschick ließ sich Ron nicht aufhalten. Mit sicherer Hand griff er seinen Stab und gab sich viel Mühe, sich zu konzentrieren.

„Was hast du vor?“, wollte George wissen, während sich der Jack-Russell Terrier bereits aus den silbernen Fäden formte, die Rons Stabspitze verließen.
„Wonach sieht’s denn aus?“, giftete er zurück. „Ich will was probieren!“

Neugierig beobachtete Severus, wie der kleine silberne Hund hasenartige Zickzackmuster sprang, bevor er zum Erstaunen aller durch das Fenster flitzte und in der Dunkelheit verschwand.

„Der Patronus ist durchgegangen!“, stellte Ron überrascht fest, obwohl alle das gesehen haben mussten. „Harry hat also doch eine Hintertür offen gelassen.“
„Und wohin, wenn ich fragen darf, haben Sie ihn geschickt?“ Geduldig wartete Severus auf eine Antwort, die Ron gewissenhaft gab.
„Zu Ginny!“
„Ah“, machte Severus enttäuscht. „Und warum nicht zu Professor Dumbledore? Oder zu Ihren Eltern?“
„Ich …“ Er hatte die ganze Zeit so intensiv an seine kleine Schwester gedacht, dass der Patronus zur ihr eilte, anstatt zu jemandem, der sie aus diesem Zimmer holen könnte.
„Ist ja auch unwichtig“, winkte Severus ab. „Wer von uns benachrichtigt Albus?“

Alle zogen ihren Stab.

Von den Aktionen seiner Freunde bekam Harry nichts mit. Er saß mit Neville im Gewächshaus und sammelte sich, um wenigstens etwas von der Bedächtigkeit zurückzuerlangen, die er schon damals innehatte, als er so viele Menschen ihr Vertrauen in ihn gesetzt hatten. Auch jetzt hatten Arthur und Molly all ihre Hoffnung auf ihn gesetzt. Er wollte niemanden enttäuschen, durfte niemanden enttäuschen.

Erst nach einer kurzen Weile, die sie zwischen den bunten Blumen und den süßen Gerüchen verbrachten, fragte Neville ihn, während er ihm eine Tasse Tee reichte, nach dem Grund für sein ungestümes Verhalten.

„Was ist denn nur los gewesen, Harry? So habe ich dich ewig nicht mehr erlebt.“
Sein ursprünglicher Plan, sofort loszustürmen und Hopkins anzugreifen, war völlig verpufft. „Ginny“, hauchte er. „Man hat sie gestern Abend entführt.“ Laut klirrend landete die Teetasse seines Freundes auf dem Boden. Schockiert riss Neville seine Augen auf, als Harry anfügte: „Sie ist in Clova, dort wollte ich eben hin. Hexenjäger …“ Harry stockte und war froh, dass Neville die Stille überbrückte.
„Hexenjäger?“, fragte sein Freund irritiert nach, als würde er nicht glauben, dass es so etwas geben konnte.
„Ich würde eher sagen, es sind ein paar realitätsferne Muggel, denen ich wohl Manieren beibringen muss.“ Ein gequältes Lächeln huschte über Harrys Gesicht. Auch wenn es Muggel waren, konnten sie Ginny gefährlich werden. „Ich will sie zurückholen.“
„Ich kann es nicht glauben!“, wetterte Neville aufgebracht. „Hexenjäger? Das ist doch Wahnsinn! Weiß Arthur davon?“
„Ja, aber er kann als Minister nichts machen. Er wollte schon sein Amt niederlegen.“

Nervös machte Neville kleine Schritte, die ihn nirgendwo hinführte. Er trat auf der Stelle. Ginny war für ihn eine gute Freundin, auch wenn sie sich selten sahen. Sie waren in den schlimmsten Stunden ihres Lebens zusammen gewesen, hatten Momente miteinander geteilt, die die Freundschaft auf die Probe gestellt und auch gefestigt hatten. Wäre er in Schwierigkeiten, dachte Neville, würde sie nicht zögern, alles stehen und liegen zu lassen, um ihm zu helfen.

„Weiß man, wie es ihr geht?“, fragte er vorsichtig nach.
Harry schüttelte den Kopf. „Ich habe nichts mehr von ihr gehört.“
„Aber“, mit einer Geste seiner Hände untermalte er seine Unverständnis, „wenn man sie entführt hat, dann muss es doch einen Grund geben! Was können die wollen?“
„Vielleicht wollen sie mich“, warf Harry halbherzig in den Raum.
Diese vage Vermutung bestätigte Neville: „Ja, das kann es sein. Dich oder Arthur! Er ist immerhin Minister. Aber was können die gegen Hexen haben? Was für Motive stecken dahinter?“ Neville fasste sich ans Kinn und rieb es nachdenklich. „Sie wollen Macht haben, macht über uns. Wir sind ihnen unheimlich!“ Er zählte diese Punkte auf, als stünden sie auf der To-do-Liste von Hopkins. „Sie haben Angst, wollen uns aber das Gegenteil weismachen.“
„Woher willst du das wissen?“
Neville zuckte mit den Schultern. „Ich stell es mir so vor. Aber viel wichtiger ist jetzt, Ginny da rauszuholen! Ich hoffe, es ist nicht schon zu …“ Er wollte nicht alles schwarz malen, aber es wäre möglich, dass Ginny längst ein Opfer geworden war.
„Es geht ihr gut“, bestätigte Harry sehr überzeugt. Weil Neville fragend dreinschaute, führte Harry eine Hand an seine Brust und erklärte: „Ich spüre das hier. Sie lebt.“
Das milde Lächeln seines Freundes steckte Harry an. Neville nickte verständnisvoll. „Das geht mir mit Luna ganz ähnlich.“ Auch Neville zeigte auf die gleiche Stelle an seinem Körper. „Sie ist hier drin.“ Als würde er sich einen Moment konzentrieren, atmete er tief durch, bevor er Harry verriet: „Sie lacht gerade.“

Die kurze Ruhe, die dieser Moment brachte, war ein wahrer Segen. Zu viel Zeit durfte jedoch nicht verstreichen, darüber war sich auch Neville klar, als er seine Augenbrauen zusammenzog und über eine Lösung nachdachte.

„Arthur muss gar nicht zurücktreten, Harry.“ Die ungewohnte Selbstsicherheit, die Neville plötzlich innehatte, bewunderte Harry, doch er fragte sich, wo sein Freund diese Kraft hernahm. „Es gibt einen anderen Weg.“
Harry war ganz Ohr. „Welchen?“

Mit einer Hand griff sich Neville an die Gesäßtasche, aus der er etwas herausholte. Einen Moment lang blickte er zuversichtlich auf den in seiner Hand verborgenen Gegenstand. Neville strahlte eine Entschlossenheit aus, mit der er Harry ansteckte. Den Gegenstand in offenbarte Neville ihm mit ausgestreckter Hand.

Es war die falsche Galleone mit dem Proteus-Zauber, mit der Harry damals immer die DA zusammengerufen hatte.

Ein Zauber ganz anderer Art huschte in diesem Moment wie eine Gams über Stock und Stein. Der Jack-Russell Terrier wurde einen Moment lang von ein paar Rehen begleitet, die aber nicht lange mit ihm mithalten konnten. Einige Hasen wurden aufgeschreckt, als der silberne Schutzherr über den Boden jagte. Er wurde schneller und schneller, flog in unmessbarer Geschwindigkeit über die Wiesen des schottischen Hochlands. Nach nicht allzu langer Zeit passierte er den Devil’s Elbow mit seinen wahnwitzig steilen Straßen. Noch zwei Hügel überquerte er, bevor er wieder langsamer wurde. Hüpfend durchquerte er den Verbotenen Birkenwald und schreckte dabei Zentauren auf, die friedlich hier lebten.

An einem kleinen See, der tief im Wald lag, beobachtete ein Mensch, der selbst mehr Ähnlichkeit mit einem Tier hatte, den silberfarbenen Hund. Erschrocken über das erscheinen dieser magischen Gestalt ganz in seiner Nähe seiner Fluchtstätte suchte er Schutz hinter einem Baum. Neugierig und gleichzeitig vorsichtig blickte er dem Hund hinterher, der seinen Weg unbeirrt fortsetzte. Man suchte also nicht ihn, dachte der Mann, der wieder langsam hinter dem Baum hervorkroch, um seinen Durst zu stillen. Er schöpfte das Wasser nicht mit seinen Händen, an deren Fingerspitzen dicke gelbe Fingernägel wie Krallen herausbrachen, sondern soff es wie ein Tier. Nachdem er getrunken hatte, tauchte er den Kopf mit den grauen verfilzten Haaren einmal komplett unter Wasser, bevor er sich mit seinem massigen Körper erhob und nochmals in die Richtung blickte, in die der Patronus gehuscht war. Neugierig schlug er den gleichen Weg ein.

Rons Patronus näherte sich der Wand eines stabilen Gebäudes, die er mit Leichtigkeit überwinden konnte. Mit seinem silbernen Schein erhellte er den gesamten Innenhof, womit er einige Menschen auf sich aufmerksam machte.

„Da! Was ist das?“, rief irgendjemand aus einem der vielen Fenster hinunter.
Tyler stürzte aus der Eingangshalle nach draußen und sah den hellen Schein noch durch die Tür des Turmes flitzen, hinter der man die Hexe gefangen hielt. „Sag Hopkins Bescheid!“ Er wandte sich Alejandro zu, der bereits die Waffe gezückt hatte. „Komm mit!“

Nicht nur die beiden näherten sich dem Turm, sondern auch einige Schaulustige und auch Hopkins selbst. Alejandro schloss die Tür auf, die Tyler öffnete. Sofort zielte er mit seiner Waffe auf den silbernen Hund und schoss, doch er traf nur die steinerne Wand dahinter.

„Die Kugel ist durchgegangen!“
„Was ist das?“, brüllte Hopkins. „Was will das hier?“
Der Jack-Russell Terrier sprang munter um Ginny herum, die jedoch von alledem nichts mitbekam, da man sie ruhiggestellt hatte. Plötzlich hörte man die Stimme eines jungen Mannes, die offenbar der geisterhafte Hund von sich gab. „Ginny, geht es dir gut? Gib mir eine Nachricht!“

Hopkins schwankte. Gerade wollte er hinausstürmen, weil die Angst ihn übermannte, man könnte ihn von allen Seiten angreifen, da kam Alex herein. Er sah den Hund und schaute verdutzt drein, als der die Worte wiederholte.

„Ein Patronus! Ich wusste gar nicht, dass die reden können“, murmelte er fasziniert.
„Was ist das?“ Hopkins forderte eine Antwort und bestärkte das, indem er Alex ans Schlafittchen nahm.
Erschrocken nahm Alex einen Atemzug. „Das ist ein Zauber, der Böses abwehren kann.“
„Warum spricht er? Ist das ein Späher?“
„Ich weiß nicht. Ich …“
Mit Wucht drückte er Alex von sich weg und starrte mit Verachtung für alles Magische den Hund an. Zu Tyler sagte er: „Sorg dafür, dass die Hexe nicht so schnell zu Bewusstsein kommt. Der Doktor soll sich drum kümmern! Alle anderen sollen auf ihre Posten. Ich möchte Potter herzlich willkommen heißen, wenn er hier auftaucht!“

Tyler nickte. Kaum war er aufgestanden, huschte der Hund zurück in den Innenhof. Einige der Frauen schrien bei dem ungewöhnlichen Anblick.

„Ja!“, brüllte Hopkins und trat aus dem Turm heraus ins Freie. „DAS ist die Magie, von der ich euch erzählt habe. Der Beweis für die Hexen, die so viele von uns gequält haben und es noch immer tun! Macht euch darauf gefasst, dem Feind bald ins Auge zu blicken!“

Jetzt, als jeder dem silberfarbenen Geistwesen in Form eines Hunden nachschaute, wie er über die Mauer flog, waren alle Anhänger davon überzeugt, dass es tatsächlich all die Dinge gab, von denen Hopkins immer gesprochen hatte. Und diejenigen, die Zweifel hatten, waren mit einem Male wieder umgestimmt.

„Okkulter Abschaum!“, schimpfte Hopkins laut und aufgebracht in dem Wissen, die Menschen um ihn herum damit aufzustacheln. „Teuflische Kreaturen sind das, die unsere Kinder mit ihren hübschen Zaubertricks zu sich locken wollen.“

Er sah Claudine in der Menge, die von ihrem Mann Jacob im Arm gehalten wurde. Die beiden nannten damals einen landwirtschaftlichen Betrieb ihr Eigen, den die drei Söhne eines Tages übernehmen sollten. Stattdessen tauchten Todesser auf, quälten die Jungen und warfen ihre geschundenen Körper in das Schweinegehege.

Als Hopkins die beiden eindringlich anblickte, sagte er: „Und wenn sie genug von ihnen haben, dann bringen sie sie einfach um!“ Claudine begann zu schluchzen. „Ihr habt es gesehen, wie sie mit einem glitzernden Hündchen vorgaukeln, wie harmlos sie seien, aber einige von euch wissen“, wieder schaute er zu Claudine, die ihr Gesicht in der Halsbeuge ihren Mannes vergraben hatte, „wie sie wirklich sind! Sie zerstören und morden! Es sind Dämonen in Menschengestalt, die erst unsere Werte mit Füßen treten, bevor sie nach unserem Leben trachten!“

Hopkins wollte einen Schritt machen, begann aber zu wanken, fasste sich an die Stirn. Schmerzen. Stechende Schmerzen, als würde man ihm heiße Stricknadeln durch Kopf bohren. Für einen Augenblick wurde ihm schwarz vor Augen. Dann fühlte er eine Hand an seiner Schulter. Alejandro.

„Komm rein. Leg dich hin“, sagte der Mann, der einer der Ersten gewesen war, die sich ihm angeschlossen hatten. Alejandro hatte ihm nun beide Hände auf die Schultern gelegt.
„Nein!“ Hopkins hob nahm die Hand von der Stirn. Ein Raunen ging durch die Menge, als man das viele Blut aus dessen Nase laufen sah. „Es darf ruhig jeder sehen, was sie mit mir anstellen, denn mich fürchten diese schwarzen Kreaturen, weil ich sie durchschaut habe!“

Von Alejandro stemmte er sich weg. Mit einer Hand wischte Hopkins das Blut von Mund und Nase, bevor er sie hochhielt, damit es jeder sehen konnte. Die Nase lief weiter und beschmutzte sein Hemd.

„Diese Hexen sind nur die Vorboten – die Türsteher zum Reich der Finsternis, wo noch ganz andere Monster lauern. Riesen, Kobolde und Werwölfe!“ Er drehte sich, um zu den Menschen auf der anderen Seite zu sprechen. „Geister, Monsterspinnen und Vampire, aber das sind längst nicht alle!“ Nach einem falschen Tritt knickte Hopkins um und ging zu Boden, doch weder Alejandros helfenden Hände, noch die Tatsache, dass er saß, hielten ihn davon ab, weiter auf die ihm so verhassten Welt zu schimpfen. „Übernatürliche Phänomene sind unnatürlich, aber in deren Welt ‘normal‘. Sie verwandeln ihren Körper in Tiere, sie stehlen Erinnerungen und sie trinken Plörre mit Dingen, die wir normalerweise mit dem Schuh zertreten! Welcher normale Mensch nimmt etwas zu sich, das aus Maden und Kakerlaken besteht? Das ist ekelhaft! Deren ganze Welt ist ekelhaft und spiegelt ihre eigene Abnormität wider!“
„Komm, steh auf.“ Alejandro packte ihn von hinten unter den Oberarmen und hievte ihn hoch. Sein Freund war schwach. Das Blut floss unaufhörlich.
„Sie reiten auf Besen“, zeterte Hopkins unbeirrt, dem es sichtlich schlechter ging, denn er konnte kaum noch allein stehen. „Wir müssen diese verwerfliche Welt entschieden ablehnen, aber selbst unser Herr Minister operiert und kooperiert mit denen. Das dämonische System ist ihm nicht fremd, es unterwandert unsere Regierung, unser Land, unsere Familien!“ Mit aller Kraft hielt Alejandro seinen Freund auf den Beinen, machte erste Schritte mit ihm. „Das okkulte Denken verdirbt uns alle, wenn wir uns nicht wehren!“ Nochmals wischte er das frische Blut von seinem Mund und hielt die Hand wie ein Märtyrer in die Höhe. „Die Hexen wollen mir den Mund verbieten, weil ich die Wahrheit spreche. Seht, was sie mit mir tun!“

Durchweg alle blickten mitleidig zu dem Mann hinüber, der ihnen seit langer Zeit die Augen öffnen wollte. Viele hatten sich abgewandt und waren seiner Einladung nur gefolgt, weil er versprach, Beweise für die Existenz der Hexen zu liefern. Der Geisterhund war Beweis genug.

Schwer atmend wandte sich Hopkins an seinen Helfer und flüsterte: „Bring mich rein, hier bin ich ein zu großes Ziel.“

An den Menschen vorbei, die ihm mitfühlend hinterherschauten, ließ sich Hopkins nach drinnen begleiten. Er kam an dem Arzt Mr. Andersen vorbei, der seine Hilfe anbot und ihn untersuchen wollte.

„Nein, Mr. Andersen. Keine Medizin wird gegen Hexerei helfen können. Sie müssten das doch am besten wissen! Kümmern Sie sich bitte um unseren ‘Gast‘. Sie darf nicht aufwachen, sonst könnte sie gefährlich werden.“
„Mr. Hopkins, was haben Sie mit der jungen Frau vor?“
Hopkins zog eine Augenbraue in die Höhe, was sein blutverschmiertes Gesicht wie eine dämonische Fratze aussehen ließ. „Die Hexe wird brennen, wenn Mr. Potter hier nicht bald auftaucht. Vielleicht lockt ihn ja der viele Rauch hierher.“

Von dieser Information war der Arzt schockiert. Er konnte nur noch nicken, bevor er mit seinem Arztkoffer zum Turm watschelte. Schnell konnte er wegen der Zehen, die ihm vor wenigen Jahren von einem Zauberer zusammengehext worden waren, nicht laufen.

„Wohin soll’s denn gehen, Mr. Andersen?“
Tyler hatte sich dem Arzt angeschlossen und begleitete ihn. „Mr. Hopkins möchte, dass die Dame noch eine Dosis bekommt.“
„Dame? Wir sprechen von der Hexe, oder?“, fragte Tyler skeptisch.
„Natürlich, von wem denn sonst?“
Von drinnen rief Hopkins ihm nach. „Tyler, ich brauch dich. Und Sie, Mr. Andersen, nehmen sich jemand anderen mit, der Ihnen hilft.“

Tyler überreichte dem Arzt den Schlüssel zum Turm, in welchem die Hexe gefangengehalten wurde. Mr. Andersen war nicht wohl bei dem Gedanken, Mitschuld am Mord einer jungen Frau zu haben. Es ging gegen all seine Prinzipien. Er war Arzt. Bei Auseinandersetzungen dieser Art würde er normalerweise den Gegner vor den Kadi ziehen und auf sein Recht pochen, nicht aber auf einen Scheiterhaufen binden. Andersen blickte sich um. Die meisten gingen wieder ins Schloss hinein, weil es wie angekündigt wieder zu regnen begann. Sein Blick traf den von einem Mann, der seine Frau im Arm hielt. Claudine und Jakob. Das Schicksal der beiden wurde jedem Neuankömmling brühwarm erzählt, um zu unterstreichen, wie brutal die Hexen und Zauberer vorgingen. Das Ehepaar war für Hopkins eine Art Mahnmal für alle anderen. Als Eleanor an dem Paar vorbeiging, ließ Jakob seine Frau plötzlich los, damit er sie in die Hände der älteren Dame geben konnte. Die beiden Frauen gingen hinein, doch Jakob kam auf Mr. Andersen zu.

„Hallo, Mr. …“
„Andersen“, stellte sich der Arzt vor.
„Mr. Andersen. Tut mir leid. Ich kann mir nicht alle Namen beim ersten Mal merken. Sie sind der Arzt, richtig?“ Andersen nickte. „Ich habe eben mitgehört, dass Sie sich Hilfe suchen sollen. Nun, ich hab gerade nichts anderes vor.“
„Sie wollen mit zum Turm?“ Jakob bestätigte wortlos. „Dann sollten wir rennen, sonst werden wir pitschnass.“

Gesagt, getan. Beide Männer rannten über den weiten Innenhof, bis sie ganz hinten an der Tür angelangt waren. Mr. Andersen drehte den Schlüssel, was ein wenig dauerte, denn das rostige Schloss hakte. Endlich drinnen angekommen blickten beide auf die junge Frau, deren rechter Arm durch die Handfessel nach oben gehalten wurde. Es sah sehr ungemütlich aus, dachten beide unabhängig voneinander.

„Vielleicht sollten wir ihr wieder die Hose anziehen? Die ist ja jetzt trocken.“ Jakob befühlte das Stück Stoff auf dem Tisch.
„Es wundert mich ehrlich gesagt, dass man so freundlich war, sie ihr überhaupt auszuziehen. Wie ich eben von Mr. Hopkins erfahren habe, liegt ihm nicht viel an ihrem Leben.“
„Und wie sehen Sie das?“, fragte Jakob ein wenig zu schnell.
Der Arzt stellte seine Tasche auf dem Tisch ab und öffnete sie, während er seelenruhig fragte: „Wie hoffen Sie, wird meine Antwort ausfallen?“
„Weiß nicht“, erwiderte Jakob vorsichtig. „Sie sind Arzt. Sie haben den Hippokratischen Eid geschworen.“
„Dann wissen Sie, wie meine Meinung ist.“
„Dann wollen Sie nicht, dass ihr etwas geschieht?“, wollte Jakob nochmal bestätigt haben.
„Mir gefällt es nicht einmal, dass ich sie ruhighalten soll, aber ich tu es, weil dieser Tyler gedroht hat, ihr selbst etwas aus meiner Tasche zu spritzen und das lasse ich nicht zu!“

Vom Boden hörte man ein leises Stöhnen. Die Wirkung ließ nach. Die Gefangene wurde langsam wach.

„Meine Frau und ich sind der Meinung, dass nur diejenigen büßen sollten, die unsere Söhne auf dem Gewissen haben. Diese Frau dort“, er deutete auf Ginny, „ist viel zu jung. Sie war damals bestimmt nicht dabei.“
„Und sie war es auch nicht, die mich angefallen hat“, bestätigte der Arzt. „Das war ein Mann gewesen.“

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Tylers nasser Kopf lugte herein.

„Was dauert hier so lange?“, wollte Hopkins‘ Wachhund wissen.
„Sie ist noch nicht wach. Ich warte, bis sie ansprechbar ist, bevor sie die neue Dosis bekommt. Außerdem werden wir ihr noch die Hose anziehen.“
„Was soll der Blödsinn?“
„Wenn Sie nicht möchten, dass die“, er überwand sind, sie so zu bezeichnen, „Hexe an einer Unterkühlung stirbt, bevor sie irgendjemandem von Nutzen sein kann, dann lassen Sie nur uns machen.“ Tyler verzog das Gesicht, weswegen Mr. Andersen noch eine Zugabe gab: „Und außerdem müssen wir den Arm wechseln. Dafür brauchen wir den Schlüssel für die Fessel.“
„Kommt gar nicht in Frage!“
„Die Vene ist schon völlig zerstochen. Ich kann sie nicht noch mehr malträtieren. Ich brauche die andere Armbeuge, Mr. Tyler.“
„Verdammter Arzt“, murmelte Tyler, bevor er in den Turm kam.

Den Schlüssel für die Fessel zog er aus seiner Innentasche. Als er bei der jungen Frau stand, trat er sie nach Gutdünken, nur aus Spaß. Jakob und Mr. Andersen tauschten Blicke aus. Beide waren mit dieser Behandlung nicht einverstanden. Die Handfessel war genauso alt wie das Schloss zur Tür. Es dauerte, bis der Schlüssel sich drehte, aber am Ende war das Handgelenkt befreit. Als er den Arm einfach nach unten fallen ließ, wimmerte die noch nicht vollständig erwachte Patientin. Es musste wehtun, wusste der Arzt, das rechte Schultergelenk mit einem Male entlastet zu haben. Tyler griff den anderen Arm, legte die Schelle ums Handgelenk und schloss zu.

„So, zufrieden?“, meckerte er. „Ich muss langsam zurück. Geben Sie ihr schon die Spritze!“ Tyler wollte es sehen, denn er schien niemandem zu trauen.

Mr. Andersen packte eine der Einwegspritzen aus. Die Kanüle mit der Schutzhülle ließ er an der Spritze einrasten. Nur Jakob bemerkte, dass der Arzt erst eine Flasche mit durchsichtiger Flüssigkeit in die Hand nehmen wollte, sich aber für eine andere entschied. Auf der Flasche stand „NaCl – 0,9%“. Tyler stand an der Tür und beobachtete das schlechte Wetter draußen. Diesen Moment nutzte Mr. Andersen, um Jakob zu bitten: „Lenken Sie ihn ab, während ich ihr die Spritze gebe.“

Von dem Schmerz an ihrer rechten Schulter wurde Ginny wach. Sie hörte Leute flüstern und traute sich nicht, ihre Augen zu öffnen.

„Hören Sie mich?“, fragte plötzlich eine männliche Stimme ganz nahe bei ihr. „Sie hören mich!“, stellte der Mann klar, der offenbar genau wusste, wie lange das Zeug, das man ihr einflößte, sie außer Gefecht setzte. Erst als sie eine Hand an ihrem rechten Handgelenk spürte, dann wieder den kalten Wattebausch an ihrer Armbeuge, da regte sie sich, doch die Augenlider wollten noch nicht gehorchen.
„Bitte nicht!“ Ihre Stimme war ein Wispern. „Ich hab einen kleinen Sohn. Werde bald heiraten.“
„Wissen Sie, was eine Kochsalzlösung ist?“ Weil sie den Kopf schüttelte – zumindest hoffte sie, dass sie das tat, denn so richtig fühlte sie noch nichts – erklärte der Mann ihr: „Das ist nichts Schlimmes, aber Sie müssen so tun, als würden Sie wieder einschlafen.“

Im Hintergrund hörte sie zwei Männer miteinander reden. Ihre Lider flatterten, als sie versuchte, die Augen zu öffnen. An der nun offenen Tür erblickte sie zwei Fremde. Der eine schien den anderen absichtlich mit Fragen zu löchern. Ihre Augen konnten sich noch nicht scharfstellen. Es dauerte einen Augenblick, um den Mann erkennen zu können, der bei ihr kniete. Seine Schläfen waren graumeliert. Er wirkte konzentriert, sein Blick war starr auf eine Stelle gerichtet. Als sie seinem Blick folgte, sah sie die lange Nadel in ihrem Arm verschwinden. Panik übermannte sie. Sie kannte das nicht.

„Bleiben Sie still!“, warnte der Mann, der nun die Nadel wieder herauszog und ihr ein Pflaster auf die kleine blutende Stelle klebte.
„Probleme?“, fragte der Mann an der Tür, der von dem anderen abgelenkt worden war.
„Nein, sie war nur kurz erschrocken, wird aber gleich wieder einschlafen.“ Es klang wie eine Empfehlung an sie.

Weil der Mann an der Tür darauf zu warten schien, tat Ginny ihm den Gefallen und ließ das Kinn zur Brust sinken. Sie hörte, wie der mit der aggressiven Stimme ein paar Anweisungen gab, bevor er das Zimmer verließ. Die Tür wurde geschlossen, aber es war noch jemand im Raum. In diesem Moment öffnete Ginny wieder ihre Augen.

Jakob bemerkte, dass sie wach war, obwohl sie etwas gespritzt bekomme hatte. „Was haben Sie ihr gegeben?“
„Infusionslösung“, war die knappe Antwort.
Ginny verstand nicht, was das zu bedeuten hatte und fragte schwächlich: „Was ist das?“
„Das nimmt man in der Medizin, um Flüssigkeitsverluste des Körpers auszugleichen.“
„Medizin?“, wiederholte sie benommen. „Sind Sie Arzt?“
„Ja.“
„Die Eltern“, sie schluckte kräftig, ihr Mund war trocken, „meiner besten Freundin sind Ärzte. Zahnärzte.“ Sie hoffte, Vertrauen zu den beiden aufbauen zu können. Vielleicht konnten sie ihr noch von Nutzen sein.
Ihre Aussage schien den Mann zu verwundern. „Zahnärzte? Kennen Sie viele von uns?“
„Von wem?“ Für längere Gespräche war sie noch nicht zu gebrauchen. Sie konnte Gesprächsinhalten schlecht folgen, war zu unkonzentriert.
„Menschen, die nicht zaubern können“, verdeutlichte der Arzt.
Ginny nickte. „Ich kenne ein paar.“ Ihr Geist wurde nur langsam klarer. Ihr Körper blieb schlapp. „Wo bin ich? Warum halten Sie mich gefangen.“
„Oh, das sind nicht wir. Das ist jemand, der einen sehr ausgeprägten Hass auf ihresgleichen hat.“
„Und Sie? Sie helfen ihm doch!“, warf sie dem Arzt vor.
„Ich bin hier, weil das, was man mir angetan hat, bestimmt von jemandem wie Ihnen auch wieder rückgängig gemacht werden kann.“
Ginny runzelte die Stirn. „Was meinen Sie?“

Ohne Worte zu verlieren bückte sich der Arzt und löste die Schnürsenkel an seinem eleganten Herrenschuh. Er streifte Schuh und Socke ab, so dass sie seinen Fuß sehen konnte. Die Zehen waren eine Masse, auf der vereinzelt die Zehennägel zu sehen waren.

„Das ist ein Scherzzauber“, flüsterte sie peinlich berührt.
„Ein Scherz? Wie lustig würden Sie es finden, drei Jahre damit herumlaufen zu müssen? Der Mann, der das getan hat, hat mir noch ganz andere Dinge angehext. Die meisten konnte ich mit Hilfe von plastischer Chirurgie entfernen lassen, aber hier“, er trat zweimal mit dem Fuß auf, „hat sich kein Mediziner rangetraut.“
Ginny seufzte. „Es ist verboten.“
„Was ist verboten?“
„Auch nur in der Nähe von Muggeln zu zaubern und schon gar nicht sowas …“ Sie blickte auf seinen Fuß und atmete tief durch. „Ich könnt es wegmachen. Brauche dafür nur meinen Zauberstab.“ Sie wagte es, eine Forderung zu stellen: „Und ich möchte danach freigelassen werden!“
„Tut mir leid, junge Dame. Wir haben weder den Schlüssel zu Ihren Fesseln noch wissen wir, wo Hopkins all die Stäbe aufbewahrt.“
Bei dem erwähnten Namen lief es Ginny eiskalt den Rücken hinunter. „Hopkins? Der Hopkins, der so viele von uns …?“ Sie schluckte kräftig. „Aber warum hasst er uns so?“ Sie blickte nochmals auf seinen Fuß, der ihre Frage beantwortete.
„Andere hat es noch viel schlimmer erwischt“, sagte er Arzt, der gleich darauf zu Jakob hinüberblickte.
Ginny folgte seinem Blick. „Was hat man Ihnen angetan?“
„Mir und meiner Frau hat man die Söhne genommen. Maskierte Männer in schwarzen Roben haben sie gequält und getötet“, erklärte Jakob so gelassen wir nur möglich, was ihm schwerfiel, denn die Erinnerung daran war immer schmerzhaft.
„Todesser“, hauchte Ginny.
„Von denen haben wir gelesen“, bestätigte Jakob. „Es ist für mich schwer zu glauben, dass alle von euch solche Schweine sein sollen.“
Ginny schüttelte den Kopf. „Sind wir nicht. Genauso wenig wie alle Muggel schlecht sind, nur weil einer einen Feldzug startet.“
„Hoffen wir nur“, begann der Arzt, „dass Mr. Potter diesen Unterschied auch kennt.“
„Er ist hier?“ Hoffnung flammte auf, die sie gleich mit einem heftigen Schwindelgefühl bezahlte.
„Nein, aber Hopkins will, dass er hier auftaucht, um Sie zu retten.“
„Er sollte das zu seinem eigenen Wohl lieber nicht wollen.“

Von den beiden Männern fühlte sich Ginny nicht bedroht, aber womöglich hatten sie die Mittel nur gleichgültig gemacht. Beide schienen sehr umgänglich und vor allem vernünftig zu sein, doch die Situation selbst fand sie mehr als beklemmend.

„Ich möchte hier weg“, wimmerte sie. „Können Sie mir nicht helfen? Ich schwöre, dass man sich um diesen schrecklichen Zauber kümmern wird.“
Den Fuß mochte man heilen können, aber andere Wunden würden bleiben, woran Jakob sie erinnerte. „Und was ist mit meinen Kindern? Das wird man nicht rückgängig machen können.“
„Nein“, gab sie betrübt zu, „aber man kann diejenigen finden, die das getan haben und sie dafür ins Gefängnis bringen!“

Jakob seufzte. Genau deswegen hatte er sich ursprünglich Hopkins angeschlossen. Er wollte die Mörder finden, damit sie ihre gerechte Strafe erhalten würden.

„Ich weiß nicht, was es zu bedeuten hatte“, begann der Arzt, „aber vorhin war ein Hund hier, ein durchsichtiger, silberfarbener Hund.“
Ginny blickte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. „Ein Hund? Mein Bruder! Das war sein Patronus! Hat er was gesagt?“
„Er fragte, ob es Ihnen gut geht und dass Sie eine Nachricht hinterlassen sollen.“

Besagter Patronus war längst wieder durch den Verbotenen Birkenwald, vorbei an dem Mann mit den langen Fingernägeln, zurück nach Hogwarts gejagt. Dort traf er auf eine aufgebrachte Truppe, die sich in ihrer Verzweiflung gegenseitig anbrüllte, wovon Hermine und Nicholas nichts mitbekamen, denn sie hatte eine magische Blase um sich herumgezaubert, um dem Jungen das Geschrei zu ersparen. Erst der Anblick des zu Ron zurückgekehrten Patronus ließ sie den Zauber aufheben.

„Da ist dein Patronus!“, sie deutete mit dem Zeigefinger drauf.

Jeder hatte ihn gesehen und war auf der Stelle still geworden. Ron richtete seinen Stab auf ihn, um eine mögliche Nachricht anzuspielen. Man hörte Stimmen, die sein Patronus aufgefangen hatte, aber Ginnys war nicht mit dabei.

Eine junge Stimme hörte man murmeln: „Ein Patronus! Ich wusste gar nicht, dass die reden können.“
Jemand anderes war nicht ganz so ruhig, als er wissen wollte: „Was ist das?“
Die gleiche junge Stimme wie zuvor antwortete: „Das ist ein Zauber, der Böses abwehren kann.“
„Warum spricht er? Ist das ein Späher?“
„Ich weiß nicht. Ich …“
„Sorg dafür, dass die Hexe nicht so schnell zu Bewusstsein kommt. Der Doktor soll sich drum kümmern! Alle anderen sollen auf ihre Posten. Ich möchte Potter herzlich willkommen heißen, wenn er hier auftaucht!“

Hier endete die Unterhaltung, die zwar keine Nachricht von Ginny gewesen war, aber in ihrer Nähe stattgefunden haben musste. Ron begann zu zittern und wurde ganz blass. Niemand konnte etwas sagen, bis auf Severus, der seinen klaren Verstand nicht durch Sorgen unterhöhlen ließ.

„Zumindest wissen wir jetzt, dass Miss Weasley lebt, leider auch, dass Harry diesem Mann in die Falle tappen wird, weil man ihn bereits erwartet.“
„Merlin, wir müssen hier raus!“ Ron stürmte zum Kamin und benutzte aus lauter Verzweiflung Zaubersprüche, die er vorhin schon mit seinen Brüdern ausprobiert hatte.
Hermine kam eine Idee und sie sagte laut und deutlich: „Wobbel?“ Harrys Elf erschien nicht.
„Es ist sein Elf, Hermine“, meckerte Ron. „Der wird uns bestimmt nicht gegen den Willen seines Meisters hier rauslassen.“
Sie versuchte es anders. „Dobby?“ Ein Krachen war zu hören, als der Elf aus der Küche offenbar versuchte, Harrys Schutzzauber zu durchbrechen. Er kam nicht durch.
Fred richtete das Wort an George und Ron: „Sobald wir hier raus sind, werden wir losmarschieren!“
Arrogant zog Severus eine Augenbraue hoch. „Und dann, wenn ich fragen darf?“
„Dann befreien wir Ginny!“, untermauerte George.
„Das ist mehr als nur dämlich!“
„Aber …“
Severus fuhr allen über den Mund. „Wollen Sie einfach aufs Geratewohl losstürzen? Das wäre wieder einmal typisch Gryffindor! Ohne Sinn und Verstand einfach mit dem Kopf durch die …“
„Haben Sie eine bessere Idee?“ Mit hochrotem Gesicht stellte sich Ron direkt vor seinen ehemaligen Tränkelehrer und plusterte sich auf – versuchte es zumindest, denn Severus war noch immer einen Kopf größer als er.
„Man sollte, weil die Zeit leider keine Gründlichkeit zulässt, zumindest grob planen, wer mitgeht und wie man vorgehen will. Jedes ungestüme Verhalten bringt Ihre Schwester nur unnötig in Gefahr. Sie wissen von den Vorfällen in Hogsmeade und dass diese Muggel Waffen haben, die Zauberer töten können, wenn man nicht auf der Hut ist.“ Von oben bis unten musterte er Ron. „Sie wären in ihrem aufgebrachten Zustand ein wunderbares Ziel.“

Es waren zwei Dinge, die Ron an Severus zur Weißglut brachten. Zum Ersten die ruhige Fistelstimme, die er schon seit seiner Schulzeit hasste und zum Zweiten der bedachte, fast sogar schon gleichgültige Gesichtsausdruck, als wäre ihm völlig egal, was mit Ginny geschehen würde. Ron war so aufgebracht wegen der Ruhe, die Severus im Moment ausstrahlte, dass er ihm am liebsten eine runterhauen würde. Seine Fäuste ballten sich bereits, doch die zurückkehrenden Patronusgestalten, die sie an Albus gesandt hatten, ließen ihn sein Vorhaben vergessen. Severus hatte seinen nicht geschickt, konnte aber die anderen auch nicht davon abhalten, jeweils ihren Patronus an Albus zu senden. Es musste ein wahres Tohuwabohu im Direktorenbüro geherrscht haben, als die ganzen Tiergestalten zur gleichen Zeit ihre Hilfegesuche mitteilten.

Severus hörte von Remus‘ Patronus die vertraute Stimme von Albus sagen: „Ich bin auf dem Weg.“
Die beiden flauschigen Tiere der Zwillinge sagten mit der Tonlage des Direktors einmal „Schon gut, schon gut.“ und „Keine Sorge!“.
Der Otter von Hermine gab mit warmherziger Stimme, ganz so als wäre Albus von der Gestalt sehr angetan, die Nachricht wieder: „Nein, was bist du nur für ein drolliges Tierchen!“

Für Nicholas, der noch immer auf Hermines Schoß saß, waren die vielen aufgeweckten, silbernen Geschöpfe eine wahre Augenweide. Weil er Tiere mochte, versuchte er immer wieder, den quirligen Otter zu fassen zu kriegen, doch seine Hände gingen durch die Erscheinung hindurch. Nachdem die Nachrichten übermittelt waren, lösten sich die Schutzherren auf. Nicholas war den Tränen nahe.

„Ich sagte doch“, zürnte Severus, „dass EIN Patronus genügen würde.“
„Doppelt hält besser!“, hielten die Zwillinge dreist dagegen.

Severus biss sich auf die Zunge, um keine Bösartigkeiten zu verlieren. Jetzt hieß es: warten. Und zwar so lange, bis der Direktor von einem der höchsten Türme Hogwarts‘ hinabgestiegen war bis zum Erdgeschoss. Es war kurz vor sechs Uhr in der Früh, las Severus an der Wanduhr ab.

Die gleiche Zeit konnte man an der übergroßen Uhr ablesen, die im Eingangsbereich des Mungos angebracht war. Lucius war pünktlich gewesen, wie er es am Vorabend geplant hatte. Ab sechs Uhr würde der normale Betrieb im Krankenhaus beginnen. Nur wenige Zauberer und Hexen saßen im Wartebereich. Es waren Notfälle. Einzig seine Schuhe und das Klacken seines Gehstocks hallten im Eingangsbereich wider, als er sich der Anmeldung näherte. Die Dame hatte bereits den Blickkontakt hergestellt.

„Sir, wie darf ich Ihnen behilflich sein?“, fragte die junge Frau höflich. Auf ihrem Namensschild stand „Gwen“, was Lucius natürlich registrierte. Seit seinem Krankenhausaufenthalt hatte er ein Auge dafür, die Schilder seiner Krankenschwestern und Pfleger zu lesen, was vielen Patienten oftmals entging. Er wusste immer gern, mit wem er es zu tun hatte.
„Guten Morgen, Gwen.“ Er zog einen Brief aus seinem Umhang und entfaltete ihn. „Ich bin zu einer Untersuchung gebeten worden.“ Die offizielle Einladung von Professor Puddle hielt er ihr unter die Nase. Sie überflog den Text.
„Sie wissen noch, wo damals die Behandlung der Augen stattgefunden hat?“, wollte sie wissen, war aber sichtlich bereit, ihm den Weg zu schildern, sollte er verneinen.
„Das weiß ich noch.“
„Gut, dann finden Sie sich bitte dort ein, Mr. Malfoy. Melden Sie sich im Schwesternzimmer. Die helfen Ihnen dann weiter.“
Lucius nickte. „Danke, dann wünsche ich noch einen angenehmen Arbeitstag.“

Der erste Kontakt mit anderen Menschen war nicht so schlimm verlaufen, wie Lucius es befürchtet hatte. Die paar Notfälle im Wartebereich hatten andere Sorgen und waren weder gewillt gewesen ihn anzusehen noch ihn zu beschimpfen. Gwen war entweder zu jung, um zu wissen, wer er war oder sie hatte die gleiche gütige Einstellung wie Schwester Marie. Als er an sie dachte, freute er sich sogar auf die Nachuntersuchung. Er hoffte, ihr über den Weg zu laufen.

Die sterilen Gänge rochen nach frischem Putzmittel. Mit Zauberei war vieles zu bewältigen, aber manches nicht zur vollsten Zufriedenheit. Gerade in einem Krankenhaus wurden die Böden lieber mit selbstgebrauten Laugen gereinigt, die den höchst infektiösen Eiter von aufgeplatzten Furunkeln und andere eklige Substanzen rückstandslos entfernten und dabei wesentlich effektiver waren als ein schlichter Reinigungszauber. Ein paar Schritte weiter wurde der Boden feucht. Nachdem Lucius um eine Ecke bog, ging er an dem Wischmob vorbei, der durch Zauberei seine Arbeit ganz allein verrichtete.

Mit dem Fahrstuhl fuhr er in die entsprechende Etage, wo er damals die Augenbehandlung über sich ergehen lassen musste. Innig hoffte er, dass diese Untersuchung nicht schmerzhaft werden würde. Von Schmerzen hatte er wahrlich genug. Er wollte nicht mehr leiden müssen.

Kaum hatte er die Station betreten, tauchte vor ihm in einigem Abstand ein Pfleger auf, dessen Namen Lucius noch bekannt war. Mike. Ihm hatte er damals die Schalen mit dem Essen nachgeworfen, weil er der Meinung gewesen war, der Mann hätte ihm ins Essen gespuckt. In diesem Moment schien sich auch der Pfleger an genau dieses Ereignis zu erinnern, denn anstatt sich dem Patienten zu nähern und nach dem Begehr zu fragen, ging Mike ein paar Schritte zurück ins Schwesternzimmer und richtete das Wort an jemanden, den Lucius durch die milchige Scheibe an dieser Seite nur schemenhaft erkennen konnte. Die Gestalt – eine Frau, denn man konnte das Häubchen sehen – erhob sich und folgte dem Pfleger auf den Flur.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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Rest von Kapitel 201

„Mr. Malfoy!“, hörte er Schwester Marie erfreut sagen. Ihre Stimme klang wie ein frischer Frühlingsmorgen, zumindest verströmte sie das gleiche angenehme Gefühl. Mit einem breiten Lächeln kam sie auf ihn zu. „Mr. Malfoy, schön Sie wiederzusehen.“ Lucius ergriff die ausgestreckte Hand, aber er schüttelte sie nicht, sondern gab ihr andeutungsweise einen Handkuss, wie es sich für ihn gehörte. Er war kein Häftling mehr, sondern jemand mit einem großen Namen, von dem man die Einhaltung der Etikette erwartete.
„Miss Amabilis“, hauchte er mit zufriedenem Gesichtsausdruck. Er freute sich, Sie zu sehen. „Sie haben sich nicht verändert.“ Schmeicheln war ein Teil der höflichen Umgangsformen, aber bei ihr kamen diese Worte wie selbstverständlich über seine Lippen.
„Ich war schon besorgt, dass mein Brief Sie verärgert haben könnte.“
„Nicht doch, Miss Amabilis. Ich habe mich sehr gefreut. Es war Ihr Brief, weswegen ich heute hier bin, nicht der von Professor Puddle mit seiner doch recht hölzernen Ausdrucksweise.“
Sie grinste verschlagen. „Jener Professor ist heute leider noch nicht da. Sie müssten einen Moment warten, Mr. Malfoy.“ Mit ausgestrecktem Arm deutete sie auf den Besucherbereich im Gang. Er folgte ihr, während sie fragte: „Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?“
„Ja, gern.“

Es war ein seltsames Gefühl hier zu sitzen, an einem Ort, den er damals als Gefangener betreten und als freier Mann verlassen hatte. Jetzt, wo er von jeglicher Schuld freigesprochen war, schien auch der Ort ein anderer zu sein, obwohl sich die Gänge und Türen, selbst die Schwestern und Pfleger nicht verändert hatten. Das war es, was Freiheit ausmachte, dachte er erleichtert. Das Lebensgefühl war ein anderes. Es veränderte die Betrachtungsweise.

An ihre Freiheit dachten auch die in Harrys Räumen eingesperrten Personen. Das Zimmer, indem man früher schon gefeiert, lange gefrühstückt oder gar Karten gespielt hatte, war zu einem völlig anderen Ort geworden – zu einem Gefängnis, das man nicht verlassen konnte. Jede Annehmlichkeit wie der gut gefüllte Schrank mit alkoholischen Getränken, die Zeitschriften oder die Schale mit Süßigkeiten auf dem Tisch war eine bittere Beigabe zum Gewahrsam.

„Wann kommt Albus endlich?“, zeterte diesmal Remus ungeduldig. Dabei ging er auf und ab, was Severus gar nicht guthieß, denn das zerrte an seinen Nerven.
„Können Sie sich nicht wieder hinsetzen? Ich bin sicher, dass Harry nicht sehr begeistert von den Abnutzungserscheinungen auf dem Teppich sein wird, wenn er zurückkommt.“
„WENN er zurückkommt!“ Selten wurde Remus so laut wie dieses Mal.
„Halte deine Lautstärke im Zaum!“, blaffte Severus ihn an. „In diesem Raum befindet sich ein empfindsames Gehör.“

Demonstrativ blickte Severus zu Nicholas hinüber, der neben Hermine halb auf der Couch lag, halb saß und die Milch aus seiner Flasche nuckelte, die sie ihm warmgemacht hatte. Er war der Ruhigste von allen, aber nur weil er nicht wusste, wie es um seine Eltern stand.

Als Remus zurück zu Severus blickte, musste er lächeln, was sein mürrischer Kollege mit einem skeptischen Blick kommentierte, bevor er sich von ihm entfernte. In der Aufregung hatte Severus nicht einmal bemerkt, dass er die höfliche Anrede vergessen hatte und gerade das für Remus‘ Ausdruck des Wohlwollens verantwortlich war.

Völlig unerwartet sprangen die Weasleys und Hermine von ihrem Sitzplatz auf und fassten sich gleichzeitig an eine Stelle ihres Körpers, was Severus verwundert beobachtete. Fred und George griffen sich in die Gesäßtasche, Ron in die vordere Hosentasche und Hermine in die Brusttasche ihrer Bluse.

Severus‘ Stirn legte sich in Falten. „Was ist denn jetzt los?“
Der Erste war Ron, der aus seiner Tasche eine Münze gezogen hatte, die er sich dicht vor Augen hielt, um sie genau zu betrachten. „Harry, du Scherzkeks“, meckerte er. „Wie sollen wir hier rauskommen, wenn du uns eingesperrt hast?“
Auch Hermine betrachtete ihre Münze, so dass Severus sich ihr näherte und wissen wollte: „Was ist das?“
„Harry ruft uns.“ Ihre Hände zitterten. „Der Treffpunkt ist …“, Hermine blickte nochmals auf die Münze. Nach Albus‘ vermeintlichen Tod gab es für die DA drei verschiedene Treffpunkte, die jeweils mit einer Zahl am Anfang dargestellt wurden. Die Zahl Drei wären die Drei Besen gewesen, die Zwei der Grimmauldplatz Nr. 12. „Der Treffpunkt ist der Raum der Wünsche.“ Der Code, den Harry geschickt hatte, begann mit der Eins und diese Zahl stand für den ersten Treffpunkt, den die DA jemals gehabt hatte.
„Dann heißt das, er ist noch in Hogwarts!“ Die Erleichterung stand Remus ins Gesicht geschrieben, als er diesen Fakt erkannt hatte. „Bin ich froh!“
Hermine nickte. „Ich frage mich nur, wer ihn aufgehalten hat.“
Seine Vermutung gab Ron preis. „Das kann nur Albus gewesen sein. Bei Harrys Temperament würde sich sonst keiner trauen.“
„In einer halben Stunde“, murmelte George, bevor er nochmals für alle verständlich erklärte, „Er will uns in einer halben Stunde im Raum der Wünsche sehen.“
Fred nickte. „Bin gespannt, wer alles kommen wird.“
Neugierig betrachtete Severus die Münze in ihrer Hand. „Darf ich mal?“
„Sicher.“

Sie überreichte ihm die Galleone, die er neugierig inspizierte.

„Sie ist nicht echt“, bemerkte er ganz richtig.
„Stimmt, sie ist nachgemacht.“
„Wie funktioniert das? Proteus-Zauber?“
Hermine nickte und führte eine Hand an die, mit der er die Galleone hielt. Dabei strich sie über seine Finger. „Die erste Zahl in der ‘Seriennummer‘ steht für den Ort. Wir hatten am Ende drei Treffpunkte. Die Nummer dahinter sind der Monat und der Tag, gefolgt von der Uhrzeit.“
„Faszinierend! Seit wann habt ihr diese Münzen?“
„Schon seit dem fünften Schuljahr. Umbridge hat und ja geradezu gezwungen, selbstständig zu werden.“
„Ah!“ Er erinnerte sich. „Die Treffen sind alle mit diesen Münzen herbeigerufen worden? Umbridge hat sich schon gewundert, ob während der Klassen vielleicht Zettelchen umhergehen. Sie hat jeden Lehrer angewiesen, ein Auge auf die Schüler zu haben. Ich habe durchaus bemerkt, wie heimlich Pergamente ausgetauscht wurden. Offenbar war es ja nicht der Fall, dass die Informationen schriftlich verteilt wurden.“ Er grinste schief. „Dann hätte ich doch das ein oder andere Pergament konfiszieren und laut vor der Klasse vorlesen lassen können.“
„Das wäre gemein gewesen“, schimpfte Hermine. „Ich fand es auch gemein, als du den Artikel über Harry vorgelesen hast. Er konnte doch gar nichts dafür, was der Tagesprophet über ihn schreibt.“
„Was mir egal war“, gab er offen zu. „Ich bin erstaunt, dass ihr in so jungen Jahren auf einen so schwierigen Proteus-Zauber aufmerksam geworden seid.“
„Das war meine Idee. Voldemort war nicht der Einzige, der eine Möglichkeit hatte, seine Anhänger zu rufen. Ich hab’s mir von ihm abgeschaut.“
„Hat jeder so eine?“
Hermine schüttelte den Kopf. „Nur diejenigen, die damals für die DA unterschrieben haben. Für die Mitglieder des Phönixordens haben wir uns etwas anderes ausgedacht. So konnte Harry die Gruppen auch getrennt voneinander rufen, wenn es notwendig war.“
„Sie ist heiß“, stellte er fest, als er die Münze mit den Fingern drehte. „Man kann die Galleone gerade noch berühren.“
„Es musste durch Kleidung zu spüren sein. Viele haben sich nach dem Krieg aus dieser Galleone etwas Besonderes gemacht, sozusagen als Andenken. Luna trägt sie als Kette, Ginny als Unterseite ihrer Armbanduhr, die ich ihr mal geschenkt habe.“

Genau diese Armbanduhr war es, wegen der Ginny Luft durch die Zähne einsog. Die Idee war perfekt, auf diese Weise die Galleone immer bei sich zu tragen, aber an der empfindlichen Haut des Handgelenks brannte sie heißer als an anderen Stellen. Dieses Brennen bedeutete für sie jedoch Rettung, deswegen ertrug sie die Hitze gern. Da man ihr die Fessel von der rechten zur linken Hand getauscht hatte, fummelte sie die Uhr erst unter der Schelle hervor. Sie hatte arge Schwierigkeiten, die ganze Zeit über auf den Beinen zu bleiben. Obwohl der Arzt ihr kein Sedativ gegeben hatte, sondern nur eine Kochsalzlösung, kämpfte ihr Körper noch mit den Resten der vorherigen Betäubung. Wäre die längst vergangen, könnte niemand sie daran hindern, einfach aus diesem Gefängnis herauszuapparieren, aber so leicht war das nicht. Die Mittel der Muggel machten einen träge, selbst wenn man wieder bei Verstand war. Eine Apparation in diesem Zustand würde sie zerfetzen. Zudem hatte man ihr bisher weder etwas zu essen noch zu trinken gegeben. Es könnte zu Hopkins‘ Taktik gehören, sie auf diese Weise noch mehr zu schwächen.

Niemand hatte darauf geachtet, dass sie durch die Uhr nun mehr Platz zwischen eiserner Fessel und Handgelenk hatte, doch noch immer konnte sie wegen des Daumens nicht herausschlüpfen. Das Brennen wurde immer unerträglicher. Endlich hatte sie den Verschluss der Armbanduhr geöffnet. Erleichtert atmete sie aus, strich sich mit einem Finger über die leicht gerötete Stelle an ihrem Puls. Dann blickte sie auf die Uhr. Ein Riss war im Glas. Die Zeit war zu dem Augenblick stehengeblieben, zu der man sie entführt hatte. Neugierig drehte Ginny die Uhr um. Die Galleone zeigte ihr, dass Harry die Mitglieder der DA herbeirief. Wahrscheinlich würden sich alle, die das Brennen der Galleone gefühlt hatten, in der nächsten halben Stunde in Hogwarts am Eingang vom Raum der Wünsche treffen. Ginny fühlte sich auf unerklärliche Weise sicher.

Plötzlich wurde die Tür aufgeschlossen. Ginny schaffte es gerade noch rechtzeitig, sich wieder auf den Boden zu setzen und vorzutäuschen, dass sie bewusstlos war. Sie hörte keine Stimme, also war es keiner von den beiden, die ihr nichts Böses wollten, denn die wussten, dass sie nicht schlief. Als offenbar eine der Schranktüren geöffnet wurde und jemand darin herumwühlte, riskierte sie einen Blick. Was sie sah, ließ ihr Herz höher schlagen. Leise, aber dennoch enthusiastisch, nannte sie die Person mit den schwarzen wirren Haaren beim Namen.

„Harry?“ Die Person hielt mit ihren Bewegungen inne. „Harry! Ich bin so froh …“ Der Mann drehte sich um. Ihr gefror das Blut in den Adern, als sie ihn erkannte.
„Hallo Ginny“, grüßte Pablo mit kalter Stimme.

Ihre Gefühle schüttelten sie. Jetzt, wo er wusste, dass sie nicht mehr unter dem Einfluss von lähmenden Drogen stand, würde er das wieder ändern. Tränen liefen an ihren Wangen hinunter, als sie sich vor Augen hielt, dass sie diese Situation auch mit ihrem Leben bezahlen könnte.

Ganz in der Nähe der Festung hockte der Mann mit den gelben langen Fingernägeln am Rande des Verbotenen Birkenwaldes, von dem aus er trotz des Regens eine klare Sicht auf das Gebäude hatte. Er stellte sich die Frage, wer dort leben könnte. Ein Zauberer müsste es sein, wenn schon ein Patronus dorthin geschickt worden war. Vielleicht ein ehemaliger Verbündeter? Ein Todesser, der dort Unterschlupf gefunden hatte, hoffte der Mann und fragte sich, ob er es wagen sollte, die Lage zu überprüfen.

Die Lage überprüfen.

Ein Gedanke, der auch Arthur gekommen war. Auch wenn er keine Auroren zu Hopkins schicken konnte, ohne dafür sein Amt in Gefahr zu bringen, wollte er die Situation wenigstens mit Kingsley und Tonks besprochen haben. Früh am Morgen, auch noch auf einem Samstag, betraten die beiden Auroren das Büro des Ministers. Sofort fiel den beiden auf, dass mit Arthur etwas nicht stimmte. Er schien über Nacht um zehn Jahre gealtert zu sein. Sein Gesicht war mit Falten übersät, die Augen waren leblos.

„Meine Güte, Arthur …“
„King, setz dich! Du auch, Tonks.“ Er musste geweint haben, das verrieten die kleinen roten Äderchen in dem Weiß seiner Augen. „Ginny ist …“ Ein Schluchzer, den er nicht zurückhalten konnte, unterbrach den aufgeregten Mann, der einmal tief Luft holte. „Hopkins hat sie entführen lassen.“
„Arthur …“ Ein Flehen von Tonks, diese Information als dummen Scherz zu enttarnen, doch den Gefallen tat er ihr nicht.
„Und ich kann nicht einmal was tun!“ Wütend trat er gegen seinen eigenen Schreibtisch. „Ich kann euch nicht rausschicken, ich kann nicht …“

Arthur zitterte am ganzen Leib, weshalb Kingsley zu ihm hinüberging. Stärkend legte er beide Hände auf die Schultern des Ministers – des Mannes, der in der Magischen Welt den höchsten Rang innehatte und nun am Boden zerstört war.

„Du könntest mich feuern, Arthur. Kündige mir und ich gehe nach Clova!“
„Das …“ Im ersten Moment war es eine brillante Idee, die jedoch einige Nachteile mit sich brachte. Arthur schüttelte den Kopf. „Nein, mir ist was anderes eingefallen.“ Er ging zu seinem Schreibtisch hinüber, auf denen ein paar Akten lagen. Mit einigen von ihnen war Kingsley bestens vertraut. Es waren die Aussagen der Todesser. Nach und nach schlug Arthur mit Hilfe seines Zauberstabes bestimmte Seiten auf und forderte: „Lies!“

Der Aufforderung kam Kingsley nach. Tonks hatte sich neben ihn gestellt und las zusammen mit ihrem Kollegen die Auszüge aus den Aussagen, die alle einen gemeinsamen Inhalt hatten.

„Ich verstehe, was du vorhast. Sollen nur Tonks und ich gehen oder soll ich einen Trupp zusammenstellen?“, wollte der dunkelhäutige Auror wissen.
„Am besten …“ Arthur fuhr sich nervös durch die Haare. „Ich denke …“ Einen klaren Gedanken konnte er nicht fassen.
„Schon gut, Arthur. Ich werde mich mit Tonks kurz zusammensetzen und was ausarbeiten. Zumindest sind wir so“, er zeigte auf die Akten, „auf der sicheren Seite. Man wird dir nichts anhaben können.“
„Gut!“ Mit zitternden Händen nahm Arthur die Brille von der Nase und begann sie putzen. „Gut“, wiederholte er angespannt.
„Was sagt Harry?“ Tonks wartete geduldig auf eine Antwort.
„Er meinte gestern Abend, heute wäre alles wieder gut. Ich will ihm ja glauben, aber …“ Sein Gesicht verzog sich vor Qual. Die Lippen bebten und die Augen glänzten mehr und mehr, weil Tränen aufkamen. „Sie ist doch mein Baby“, wimmerte er.

Die Qual verformte sein Gesicht. Eine Träne huschte in Windeseile über seine erröteten Wangen und fiel zu Boden. Es war doch erst gestern gewesen, als er seine gerade auf die Welt gekommene Tochter in den Armen gehalten hatte. Seine einzige Tochter. Sein Nesthäkchen.

„Irgendwas muss ich doch tun können!“ Verzweiflung war ein Gefühl, das einen von innen heraus zerstören konnte, wenn niemand da war, der diesen Druck von außen ausgleichen konnte.
„Ach Arthur.“ Tonks‘ Umarmung war ihm willkommen. Er ließ sich von der jungen Frau drücken und sammelte Kraft aus dem Trost, den sie ihm wie selbstverständlich spendete.
„Ich möchte nur ungern drängen, aber wir sollten gehen“, unterbrach Kingsley, obwohl er seinen Freund in diesem Moment nicht allein sehen wollte. „Ich will nicht mehr als fünfzehn Minuten mit der Planung verbringen, bevor wir uns nach Clova aufmachen.“
„Ja“, Arthur drückte Tonks zaghaft von sich weg. Sie selbst war sichtlich berührt. „Ihr macht das schon.“ Ein Lächeln auf Arthurs Gesicht gaukelte Zuversicht vor.
„Darf ich die mitnehmen?“ Kingsley deutete auf die Akten.
„Natürlich, die Akten sind der einzige Grund, weshalb ich euch überhaupt dort hinschicken darf. Jeder der Todesser hat ausgesagt, dass sich Greyback vermutlich im Verbotenen Birkenwald aufhält. Das ist wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Hab’s deswegen nie in Angriff genommen.“
„Somit haben wir wenigstens einen offiziellen und nicht anfechtbaren Grund, uns in Hopkins‘ Gegend mal umzusehen“, bestätigte Kingsley. An Arthur gewandt empfahl er: „Geh am besten mit Molly zu Albus und bleibt dort. Dann weiß ich, wo ich mich melden kann.“
„Ja“, Arthur nickte heftig. Im Moment war er froh darüber, dass es jemanden gab, der ihm sagte, was er tun sollte. Er selbst konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. „Ja, das werde ich.“

Bei Albus würde er Trost erfahren, würde die Zeit abwarten können, in der alle anderen nach seiner Tochter suchten, nur er nicht. Wie nutzlos konnte man doch als Minister sein. Vielleicht – und das hoffte Arthur – würde sich Albus zusammen mit Harry sogar selbst auf den Weg machen. Dann wäre er zumindest sicher, seine Ginny wiederzubekommen. Er flohte erst noch Susan Bones an und gab ihr einen gut gemeinten Ratschlag, bevor er Molly kontaktierte und sich auf den Weg nach Hogwarts machte.

Von dem kurzen Gespräch mit Arthur war Susan noch ganz verstört. Sie war, auch wenn sie hätte ausschlafen können, längst hellwach, weil ihre Galleone im Nachttischchen angefangen hatte zu vibrieren. Sie trug sie beim Schlafengehen nicht als Schmuckstück am Körper, hatte sie auch nicht ständig in der Hosentasche, aber trotzdem immer in ihrer Nähe. Die Vibration, das hatte sie damals getestet, fühlte man einige Meter weit und so würde sie es immer merken, wenn sie in ihrer Handtasche zu surren beginnen würde. Diesmal surrte sie in ihrem Nachttisch. In Windeseile hatte sie die codierte Nachricht gelesen und sich angezogen, aber gerade, als sie nach Hogwarts gehen wollte, rief Arthur sie an. Seine entkräftete Erscheinung und seine näselnde Stimme waren ein Zeichen dafür, dass er sehr mitgenommen war. Dennoch hatte er ihr nichts weiter verraten, sondern nur gesagt: „Als Angestellte des Ministeriums sollten Sie bedenken, dass Sie Schwierigkeiten bekommen könnten, sollten Sie einem Ruf folgen.“

„Scheiße!“, fluchte sie leise. Draco war seit der spürbaren Vibration wach und hatte mit angesehen, wie sie sich in einem Affentempo angekleidet hatte. Der Ruf übers Flohnetzwerk war ihm ebenfalls nicht entgangen.
„Dann kannst du ja wieder ins Bett kommen“, murmelte er. Endlich war wieder unterrichtsfreies Wochenende. Er hatte sich so drauf gefreut, mit seiner kleinen Familie ein wenig Ruhe vor dem ganzen Prüfungsstress zu finden, allerdings nicht um 6:15 Uhr in der Früh. Susan stand völlig neben sich, schien hin- und hergerissen. „Was ist denn nur los?“
„Zieh dich an, Draco“, befahl sie, so dass er sie erstaunt anblickte.
„Warum sollte ich …?“
„Bitte, Draco! Tu mir den Gefallen. Ich habe eine Aufgabe für dich.“

Draco zeigte Vertrauen und pellte sich widerwillig aus den warmen Bettdecken. Er räkelte sich gemächlich und gähnte.

„Ein bisschen dalli!“
„Bei Merlin“, blaffte er sie an. Mit dem falschen Fuß aufzustehen war schon unangenehm genug. „Erzählst du mir auch, was los ist?“
„Harry braucht mich, aber ich darf nicht hingehen.“
Draco hatte sich gerade seine Hose übergezogen, da fragte er: „Harry? Wie hat er dich gerufen?“
Sie hielt ihm eine Münze entgegen. „Bevor ich’s dir erkläre, zieh dich erst einmal an!“
„Zu Befehl, Madame.“

Hemd, Socken, Schuhe. Er war fertig angezogen, musste aber dringend auf die Toilette.

„Das hier“, sieh drückte ihm die heiße Galleone in die Hand, woraufhin er erschrak, „ist dein Ausweis für die DA. Geh sofort nach Hogwarts in den siebten Stock, denk an Harry und geh dabei dreimal an dem Raum der Wünsche vorbei.“ Sie hielt kurz inne, weil sie sich an vergangene Ereignisse erinnerte. „Wo der sich befindet, das muss ich dir ja nicht erklären.“ Beschämt schüttelte er den Kopf. „Wenn du drin bist, zeig Harry die Münze. Er wird wissen, dass du an meiner Stelle mitgehst.“
„Wohin ‘mitgehen‘?“
„Das weiß ich nicht“, gab sie zu, wirkte dabei trotzdem sehr verzweifelt.
„Was ist denn nur passiert?“
„Das weiß ich auch nicht.“
„Aber …“
„Draco“, unterbrach sie, „wenn Harry ruft, dann muss es was Dringendes sein, denn er hat mir vor ungefähr einem Jahr gesagt, dass er die DA bestimmt nicht noch einmal benötigen wird. Es ist irgendetwas Schlimmes geschehen und er braucht uns!“
„Okay!“ Er nickte eingeschüchtert, bevor er sich traute zu fragen: „Darf ich trotzdem noch kurz auf die Toilette?“

Wie sein Sohn verspürte auch Lucius den Drang, seiner Blase Erleichterung zu verschaffen. Der Kaffee war gut, aber harntreibend. Damals hatte jedes Zimmer ein eigenes Badezimmer. Wo sich die öffentlichen Toiletten befanden, wusste er nicht.

„Miss Amabilis?“, er lugte vorsichtig ins Schwesternzimmer hinein.
„Oh, Mr. Malfoy. Es tut mir wirklich leid, dass Sie so lange warten müssen. Professor Puddle ist schon im Haus, aber er möchte unbedingt noch frühstücken.“
„Dann wird es hoffentlich nicht mehr allzu lange dauern. Ich wollte nur fragen, ob Sie wohl so gütig wären, mir den Weg zu den Waschräumen zu zeigen.“
„Aber sicher.“ Mit einer Hand auf ihrem Arm führte sie ihn in den Gang und drehte ihn in eine bestimmte Richtung, bevor sie geradeaus zeigte. „Gleich nach der Glastür links.“
„Vielen Dank, Marie.“ Der kleine Fauxpas fiel ihm erst auf, als er ihm herausgerutscht war. „Entschuldigen Sie bitte, ich meine Miss Amabilis.“
Sie schenkte ihm ihr breitestes Lächeln. „Ach, Sie haben mich früher auch beim Vornamen genannt. Das macht mir überhaupt nichts aus, Mr. Malfoy.“
„Aber ich sehe eine gewisse Ungerechtigkeit darin, Sie beim Vornamen zu nennen, während Sie mich weiterhin mit Mister ansprechen.“
„Sie brauchen es nur anzubieten, ich habe keine Scheu“, schlug sie keck vor, so dass er nicht anders konnte, als ihrem Vorschlag nachzukommen. Es war immerhin seine Frau gewesen, die beteuerte, die Familie Malfoy benötigte neue Freunde.
„Dann bin ich für Sie künftig nur noch Lucius.“
Vor Freude sprudelte sie beinahe über. „Danke, Lucius.“

Der Name rollte das erste Mal mit einer Eleganz von ihrer Zunge, die Lucius genauso weich im Ohr klang wie eine vollendete Symphonie, die das Ideal des Klangs in sich barg. Er nickte ihr dankend zu und ging den Gang hinunter, um die Waschräume aufzusuchen.

„Sir?“ Lucius drehte sich um, als er bereits an der Tür zur Toilette stand. Ein Hausmeister hatte es gewagt ihn aufzuhalten. „Sir, das ist die falsche Tür.“ Davon erstaunt blickte Lucius zurück zu dem Schild neben der Tür. Es war die Damentoilette.
„Vielen Dank, Sir.“

Peinlich berührt nahm er die andere Tür und verschwand. Vielleicht sollte er sich doch mal jemandem anvertrauen und gestehen, dass er manche Dinge nur verschwommen sehen konnte.

Der Regen prasselte an die Oberlichter des Waschraumes. Heute früh erst sagte man, bis Montag sollte das Wetter so bleiben.

Wie das St.-Mungo-Hospital für Magische Krankheiten und Verletzungen lag auch die Redaktion der Muggelpost im Zentrum Londons und auch dort peitschte der Regen gegen die Scheibe.

Luna saß an ihrem Arbeitsplatz und las ihren Artikel korrektur, den sie heute früh fertigstellen wollte. Unruhig rutschte sie auf ihrem Stuhl hin und her. Im unregelmäßigen Takt des Regens tippelten ihre Fußspitzen begleitend auf dem Boden herum, womit sie den Kollegen, der links von ihr saß, beinahe wahnsinnig machte. Aber nicht nur ihre tänzelnden Bewegungen hinderten ihn daran, seine eigene Arbeit zu erledigen, sondern auch ihr hohes Summen. Zudem hielt sie seit ein paar Minuten einen Gegenstand in der Hand, mit dem sie zu reden schien. Manchmal murmelte sie nur, aber einiges konnte er verstehen.

„Gleich, gleich“, sagte sie mit verträumter Stimme, während sie die letzte Seite ihres langen Artikels las. Sie hielt die heiße Münze fest mit der linken Hand umschlossen. Die Uhrzeit darauf hatte sie abgelesen. Weil sie direkt zu Neville flohen konnte, würde sie nicht zu spät zum Treffen kommen. Die meisten DA-Mitglieder würden vor die Tore Hogwarts‘ apparieren und erst den langen Weg zum Schloss zurücklegen müssen. Diese Zeit nutzte sie noch für ihren Artikel. Ihr fiel weder auf, dass ihre Füße sich selbstständig gemacht hatten noch dass sie eine unbekannte Melodie aus wirklichkeitsfremden Sphären summte.

Unerwartet legte sie ihre Feder in die Halterung, nahm ihre Tasche und ging in Richtung Ausgang, wo ihr Chef an seinem Arbeitsplatz saß.

„Wo soll’s denn hingehen, Miss Lovegood?“, fragte er neugierig.
Sie streckte die Arme von sich, ohne dabei anzuhalten und erklärte: „Ich muss fliegen!“

Er schnaufte und blickte ihr solange hinterher, bis sie nicht mehr zu sehen war. Erst jetzt erhob er sich und ging zu ihrem Arbeitsplatz hinüber, auf der sie ihren Artikel einfach hatte liegenlassen. Die Pergamente sammelte er auf, bevor er die erste und letzte Seite las. Den Mittelteil überflog er. Als er fertig war, warf er dem anderen Mitarbeiter den Artikel auf den Tisch.

„Hier, nochmal korrekturlesen und dann ab zur Vervielfältigung.“
„Ich hab selbst zu tun!“
„Sie haben ja nicht einmal fünf Seiten geschafft“, bemängelte der Chefredakteur. „Und was soll das für ein Thema sein?“ Er beugte sich vor und las die Überschrift. „‘Gendefekte durch Reinblüterwahn‘? Was soll das? Das Thema interessiert doch kein Schwein mehr!“
„Was hat denn Miss Lovegood geschrieben?“ Der Angestellte nahm die Pergamente und las laut den Titel vor: „‘Der Unterschied zwischen Zauberer, Squib und Muggel‘ – das ist aktueller?“
„Das ist ein gesellschaftskritischer Artikel mit einem Hauch Satire“, stellte der Chefredakteur klar. „Solange Miss Lovegood ihre Arbeit schafft und auch noch so etwas Geniales zustande bringt, kann sie von mir aus fliegen, wohin sie will.“
Betreten blätterte der Mitarbeiter bis zum Ende von Lunas Artikel und wiederholte die Worte, die ganz am Ende standen: „‘Es gibt keinen!‘. Meint sie damit, es gibt keinen Unterschied? Das wollen Sie wirklich drucken?“
„Das ist Satire, Bernie. Vergessen Sie nicht, dass eine Menge Muggel unsere Zeitschrift abonniert haben. Denen wird das ganz sicher gefallen.“

Luna wusste, dass jemand über sie redete, dann zuckte nämlich immer ihr linkes Augenlid. Wenn jemand schlecht über sie sprach, zuckte das rechte – jedenfalls glaubte sie, dass das so war. Vom Eingangsbereich der Redaktion flohte sie zu Nevilles Räumen. Es erstaunte sie nicht, dass er nicht da war. Sicherlich war er schon im siebten Stock. Beschwingt schlug sie den Weg zu den Treppen ein und während sie an den vielen Bildern vorbeiging, die sie seit ihrer Kindheit kannte, grüßte sie höflich die Personen in ihnen.

Auf ihrem Weg nach oben traf sie den Direktor, der über ihre Anwesenheit nicht verwundert schien. Seit Neville die Stelle bei Pomona angenommen hatte, traf man auch Luna häufig in der Schule an.

„Miss Lovegood, einen schönen guten Morgen.“
„Ihnen auch einen wunderschönen guten Morgen, Professor Dumbledore.“
„Wohin um diese Zeit?“, wollte er wissen.
„Zu den Wünschen“, war die knappe Antwort, die ihn nicht im Geringsten irritierte, denn offenbar lagen sie beide auf gleicher Wellenlänge.

Im Erdgeschoss angekommen steuerte Albus so schnell er konnte Harrys Räume an, die er im Nu erreicht hatte. Er legte die Hand auf die Türklinke, drückte sie und … Sie ließ sich mit Leichtigkeit öffnen.

Als er in den Raum hineinschaute, lagen sich die Weasleys mit Severus in den Haaren, Remus versuchte zu schlichten und Hermine wiegte den Jungen, der in ihrem Arm döste. Albus räusperte sich, dann ein zweites Mal, aber er beim dritten Mal hörte man ihn endlich.

Seine Erleichterung brachte als Erstes Remus zum Ausdruck. „Die Tür ist auf! Na endlich, danke Albus.“
Mehr an der Vorgehensweise interessiert fragte Severus: „Wie lange hast du gebraucht, um den Zauber zu brechen?“
„Was für einen Zauber?“, fragte Albus verdutzt nach. „Die Tür war auf.“
Severus blickte auf die Uhr. „Natürlich, die Stunde ist ja auch vorbei.“
„Entschuldigung!“ Mit diesen Worten schlüpften nacheinander die Zwillinge an Albus vorbei.
„Darf ich mal bitte?“ Ron folgte.
„Mr. Weasley!“, hielt Severus ihn auf. Als der sich umdrehte, verlangte er: „Wenn Sie Harry sehen, dann richten Sie ihm bitte aus, wenn er es noch einmal wagen sollte, mich auf diese Weise meiner Freiheit zu berauben, werde ich ihm eigenhändig den Hintern versohlen!“ Ron nickte nur und verschwand.
Hermine musste erst an etwas anderes denken. „Wobbel?“ Der Elf erschien und sie reichte ihm den Jungen. „Pass gut auf ihn auf, ja?“

Wobbel nickte, schaute sie dabei mit großen Kulleraugen an, weil er ahnte, dass die Situation sehr gefährlich war. Genauso hilflos wie der Minister musste sich auch der Elf an gewisse Gesetze halten. Nachdem sie ihm den Jungen übergeben hatte, eilte sie auf den Flur hinaus, wo Severus, Remus und Albus sich in ein Gespräch vertieft hatten. An dem fehlenden Zwinkern in seinen Augen konnte man erkennen, dass Albus schockiert war.

„Und Harry?“, fragte Albus.
„Startet einen Gegenangriff und wie es aussieht, plant er den. Außerdem ist er nicht allein“, erwiderte Severus.

Mehr hörte Hermine nicht, denn sie hatte die drei zu weit hinter sich gelassen.

„Albus?“ Noch einmal drehte sich Hermine um, weil sie Minerva laut rufen hörte. Bevor Hermine die sich bewegenden Treppen betrat, sah sie noch, wie die Lehrerin für Verwandlung, gefolgt von Arthur und Molly, sich den dreien näherte.

„Albus, gut das ich dich gefunden habe!“ Minerva war völlig außer Atem. Ihre Augen waren aufgeweckt und man konnte die Erschütterung aus ihnen lesen. Sie deutete auf Arthur und Molly, bevor sie Albus fragte: „Hast du es schon gehört?“
„Gerade eben“, bestätigte er mit harter Miene. „Molly.“ Seine väterliche Stimme brachte sie erneut zum Schluchzen. Die ganze Zeit über hatte Molly schon um ihre Tochter geweint. „Molly, nicht doch. Es wird sicher alles gut werden.“ Er blickte zu Arthur. „Wir gehen besser in mein Büro.“
Minerva war sichtlich aufgebracht. „Aber sollen wir denn nicht etwas unternehmen?“
„Ich denke, wir sollten das Harry und seinen Freunden überlassen. Sie haben eine Menge Erfahrung, aber darüber hinaus auch die jüngeren Knochen.“ Irgendetwas, das er durch das Fenster sehen konnte, erregte Albus‘ Aufmerksamkeit. Er ging hinüber und schaute einen Augenblick hinaus, bevor er sich wieder Molly und Arthur zuwandte: „Ich habe vollstes Vertrauen in Harry.“

Die beiden ließen sich von Arthur den Weg weisen. Nervös knetete Minerva ihre Hände vor der Brust, blickte derweil Severus und Remus einmal in die Augen.

„Und wir sollen untätig hier herumstehen und Däumchen drehen?“
„Ich nicht“, war Severus knappe Antwort, er auf sich auf den Hacken drehte und den Weg in die Kerker einschlug.
„Severus, warte!“ Remus eilte ihm nach und ließ Minerva allein am Fenster zurück.

Mit sich uneins, ob sie Albus oder Severus folgen sollte, schaute sie aus dem Fenster hinaus auf die verregnete Landschaft. Die Finger, mit denen sie sich über den Mund strich, bebten genauso wie ihre Lippen. Plötzlich sah sie draußen etwas, das sich bewegte. Sie kniff die Augen zusammen, um durch die Scheibe mit den vielen Regentropfen besser sehen zu können. Ganz hinten, aus der Richtung der Tore, bemerkte sie ein paar sich bewegende Punkte, die immer näher kamen. Auf einem Besen, der dicht am Fenster vorbeiflog, erkannte sie die ehemalige Schülerin Alicia Spinnet. Es waren die Menschen, die Harry um Hilfe gebeten hatte. Nicht gerade wenige waren seinem Ruf gefolgt. Ihre Hand fand einen Weg zu ihrer Brust, wo sich das aufgeregte Herz wieder beruhigte. Sie wagte zu lächeln, bevor sie Albus folgte.

„Severus!“, hallte es aus dem Zugang zu den Kerkern. Remus hatte arge Mühe, dem schnellen Schritt des Tränkemeisters zu folgen.
„Ich kenne meinen Namen! Bitte nutzen Sie ihn nicht ab.“
„Sever...“ Remus hielt inne, weil ein junger Slytherin sich ihnen näherte und ganz verschreckt dreinblickte. Er hielt einen Brief in den Händen. Sofort nahm Severus den Jungen unter Beschuss.
„Wo wollen Sie denn hin?“
„Zur Eulerei, Sir. Ich wollte etwas abschicken.“
Severus verzog das Gesicht und belferte: „Dann stehen Sie da nicht so belämmert herum und gehen Sie endlich!“

Nach einer Schocksekunde rannte der Junge los, um schnellstmöglich viel Abstand zwischen sich und seinem gereizten Hauslehrer zu bringen.

„Severus, wirklich … Du solltest deine Wut nicht an den Schülern auslassen“, mahnte Remus.
„An wem denn sonst?“

An der Tür zu seinem Labor angelangt öffnete er sie und stürzte hinein. Remus folgte ihm unaufgefordert.

An einer Stelle der Wand war Severus zum Halt gekommen, bevor er forderte: „Drehen Sie sich um.“
„Wie bitte?“
„Sie sollen sich umdrehen!“

Remus zuckte mit den Schultern und drehte sich um, so dass Severus eines seiner Geheimverstecke öffnen konnte. Er entnahm etwas, das ein metallisches Geräusch machte. Es war in ein Tuch aus Jute eingewickelt. Nachdem er das Geheimfach wieder verschlossen hatte, legte er den verhüllten Gegenstand auf den Tisch. Remus drehte sich um.

„Wir nehmen ein paar Tränke mit, nur zur Sicherheit, falls die Sache außer Kontrolle gerät.“
Remus zog die Augenbrauen zusammen. „Was denn für Tränke?“
„Heiltränke, Wundtränke, was glauben Sie denn?“ Severus nahm eine schwarze Schachtel aus einer Schublade und öffnete sie. Sie war leer, wurde aber gleich von Severus mit kleinen Ampullen gefüllt, die er in die entsprechend vorgeformten Ausbuchtungen legte.
Auf das Jutetuch deutend fragte Remus: „Was ist das?“
„Sehen Sie doch nach.“
Vorsichtig wickelte er das Tuch auseinander. Zum Vorschein kamen viele kleine Dolche, gerade mal so lang wie eine Hand. „Was ist das?“
„Dolche“, war die unbefriedigende Antwort.
„Ich bin nicht auf den Kopf gefallen, das sehe ich selbst. Aber wenn du Dolche auf den Tisch legst, beschleicht mich das Gefühl, dass es sich dabei um viel mehr handelt.“
Ein schalkhaftes Lächeln zierte Severus‘ Lippen. „Man scheint mich zu kennen. Diese Dolche verfehlen ihr Ziel nie. Sie sind nicht tödlich, aber wirksam, denn sie haben es auf die Kniekehlen abgesehen. Einmal davon getroffen kann das Opfer nicht mehr fliehen.“
„Brauchen wir sowas wirklich?“
„Ich hatte nie die Gelegenheit, sie einmal auszuprobieren.“
„Ich finde, die sollten wir hierlassen.“ Lustlos warf er das Tuch wieder über die Dolche. „Darf ich mal deinen Kamin benutzen?“
„Sicher.“

Severus war so mit seinen Tränken beschäftigt, dass er nicht mithörte, wen Remus anflohte. Er sah erst das Endergebnis und das gefiel ihm ganz und gar nicht, denn Sirius stand plötzlich direkt vor ihm.

Severus rollte mit den Augen. „Musste das denn unbedingt sein?“ Er zeigte flüchtig auf Sirius, der die Frage stellte, was überhaupt los sei.

Einige Stockwerke über den Kerkern – im siebten, um genau zu sein – fuhr sich Harry nervös durch die wirren Haare. Neben ihm stand Neville, der einigermaßen ruhig war.

„Meinst du, es kommt jemand?“
„Warum bist du da so unsicher, Harry? Natürlich kommen sie, wirst schon sehen!“
„Ich mach dann schon mal die Tür auf.“

Kaum hatte Harry sich zur Wand begeben, hinter der sich die Tür zum Raum der Wünsche befand, hörte man schon Luna, die Neville und Harry mit verträumtem Lächeln grüßte. Ihrer sanften Stimme folgte das Getrampel von Füßen. Harry blickte über seine Schulter. Es waren die Zwillinge, die durch den Gang rannten, gefolgt von Ron, der dank seines Quidditchtrainings nicht so aus der Puste war wie seine Brüder. Dass Ginnys Brüder kommen würden, war ihm klar. Außerdem waren sie längst in Hogwarts. Obwohl er nicht vorgehabt hatte, jemals wieder die Mitglieder von Dumbledores Armee zusammenzurufen, war er doch gespannt, wer alles auf der Bildfläche erscheinen würde.

Ron richtete das Wort an ihn. „Harry, ich soll dir von Snape sagen, wenn du ihn nochmal einsperrst, dann gibt’s Dresche.“
„Hat er das so gesagt?“
„Sinngemäß.“

Hinter Ron sah er Hermine, die all ihre Kraft zusammennahm, um nicht auf den Weg schlapp zu machen. Ihr Gesicht war noch immer fahl, wie er es von vorhin in Erinnerung hatte, bevor er seine Freunde zurückgelassen hatte.

„Harry.“ Sie näherte sich ihm mit schlackernden Knien.
„Setzt dich lieber auf eine der Steinbänke, Hermine. Du siehst nicht gut aus.“
„Harry.“ Es klang wie ein Flehen, wie die bitte um Vergebung.

Als Hermine bei ihm stand, brachte sie kein Wort heraus, aber dafür sprachen ihre Augen. Am liebsten hätte er gefragt, warum sie sich so schuldig fühlte, aber um solche Dinge zu klären war keine Zeit. Statt miteinander zu reden, folgte sie ihm still, als er das erste Mal am Raum der Wünsche vorbeiging. Auch als er Kehrt machte, ging sie neben ihm her, als wollte sie aus seiner Kraft eigene schöpfen. Beim dritten Mal hielt sie seine Hand und blickte beschämt zu Boden.

Der Eingang zum Raum der Wünsche erschien. Noch immer an den Händen haltend sahen beide zu, wie sich die Tür aus dem Stein meißelte.

„Ich bin nicht zu spät, wie es aussieht“, hörte man Seamus mit vollem Mund rufen. Er hatte zuvor von einem Sandwich abgebissen.
Als wäre es Blasphemie, blaffte Ron ihn unwirsch an: „Wie kannst du jetzt nur essen?“
„Hey, ihr habt mich von meinem Frühstück weggerissen! Ich bin doch hier, oder? Also lass mir mein …“
Fred unterbrach ihn mit einem freundschaftlichen Schlag auf die Schulter. „Warst noch nie ein Morgenmensch.“ Er drückte einmal zu und flüsterte dankbar: „Schön, dass du gekommen bist.“

Seamus nickte, setzte sich dann zu George auf die kühle Steinbank und aß sein Sandwich, damit er, was auch immer Harry heute von ihm verlangen würde, etwas im Magen hatte.

„Was ist denn überhaupt los?“ Obwohl er weiter an seinem Essen kaute, wartete Seamus geduldig auf eine Antwort.
„Das erklärt Harry drinnen“, erwiderte Fred mit trüber Miene.
„Wollen wir nicht drinnen warten?“
Nickend schlug Harry vor: „Von mir aus können wir auch schon reingehen.“

Dean und Angelina waren gerade um die Ecke gebogen, als die anderen den Raum schon betraten. Sie folgten ihnen.

Der Raum der Wünsche hatte etwas geschaffen, was Harry an seinem Verstand zweifeln ließ. Die Frage war nur, ob er sich das gewünscht oder ob es Hermine gewesen war? Verwirrt schaute er zu ihr hinüber, doch auch sie war offensichtlich von dem Anblick völlig irritiert, sogar erschrocken.

Diejenigen, die noch nicht wussten, warum sie gerufen wurden, waren gut gelaunt. Von hinten hörte man Dean mit einem Schmunzeln fragen: „Hey Harry, meinst du nicht, du trägst ein bisschen dick auf?“ Auch Luna, Neville, Fred, George, Angelina und Seamus blieben in der Mitte des karg gefüllten Raumes stehen und betrachteten ihn sich. Ein Merkmal stach besonders ins Auge.

Sie hatten einen weißen Raum betreten, indem sich einzig ein bunt schimmernder Thron aus Perlmutt befand. Wie abgesprochen, weil mit diesem Anblick eine bestimmte Erinnerung präsent geworden war, blickten Harry und Hermine gleichzeitig nach oben. Der Raum besaß keine Decke. Eine goldene Sonne schien mit ihrem gleißend hellen Licht auf sie herab. Genau so, wie sie es in Erinnerung hatten.

Auch Ron blickte nach oben und runzelte die Stirn. „Ich kenn das irgendwo her!“, behauptete er. Natürlich kannte er es, dachte Harry. Es waren Ron und Hermine gewesen, denen er davon erzählt hatte. Alle drei sahen zum ersten Mal mit eigenen Augen, was sie sich bisher nur vorstellen konnten, denn Harry und Hermine hatten davon gelesen und Ron hatten sie darüber unterrichtet.

„Harry“, flüsterte sie angsterfüllt. Sie nahm ihn an die Hand, so dass er sie anblickte. „Harry?“ Sie flehte, sie bat. ‘Was soll ich nur tun?‘, schien ihr Blick zu fragen.
„Geh“, riet er ihr. Dieses Omen war selbst ihm nicht geheuer.

Er fühlte noch, wie Hermines Hand die seine losließ und er hörte ihre Schritte, wie sie schnell davon lief. Sie hatte Angst um Severus und er konnte das sehr gut verstehen.

Das vertraute Gefühl der Angst übermannte auch Lucius, als Professor Puddle seine Augen mit einem Zauber malträtierte, doch entgegengesetzt seiner Befürchtung, er müsste Schmerzen leiden, fühlte er nichts außer einem Windhauch.

„Ihre Augen sind nicht die besten, Mr. Malfoy“, warf ihm der Heiler unversehens entgegen, untersuchte ihn jedoch noch weiter. Lucius war sich nicht sicher, ob Professor Puddle eine Äußerung seinerseits erwartete. Da dieser Punkt nicht klar war und er Puddle sowieso nicht ausstehen konnte, blieb er still. Nun war das andere Auge an der Reihe. Die grauen Augen wurden sorgfältig mit verschiedenen Zaubersprüchen getestet auf … Lucius wusste nicht einmal, auf was. Die Sprüche waren ihm vollkommen fremd. Deren Bedeutung konnte er nicht einmal erahnen und zu fragen traute er sich nicht. Vielleicht wurde die Netzhaut untersucht oder die Sehstärke?

„Ich werde Ihnen gleich einen Tropfen in die Augen tun, damit ich sie besser untersuchen kann.“

Mit einer kleinen Pipette zog Professor Puddle etwas Flüssigkeit aus einer brauen Flasche. Mit Zeigefinger und Daumen hielt er Lucius‘ Auge offen. Die Spitze der Pipette schwebte wie das Schwert des Damokles direkt über ihm. Den gut dosierten Tropfen sah er fallen und aus reinem Reflex wollte er das Auge schließen, doch Puddle hielt es offen. Als das Tröpfchen auf sein Auge traf, zuckte einmal sein ganzer Körper. Einerseits schämte er sich ein wenig, so zusammengefahren zu sein, doch andererseits schien es für Professor Puddle eine ganz normale Reaktion.

„Ja, das dachte ich mir“, murmelte Puddle.
„Was dachten Sie sich?“
„Sie benötigen eine Brille!“
Lucius hätte die Augen noch weiter aufgerissen, was aber nicht möglich war, weil der Heiler sämtliche Bewegungen seines oberes Lides vereitelte. „Ich will keine Brille!“
„Mr. Malfoy“, die Stimme war monoton. Der Heiler konzentrierte sich mehr auf die Untersuchung als auf das Gespräch. „Ich suggerierte Ihnen nicht, dass Sie eine Brille wollen. Ich sagte, Sie benötigen eine.“

Eine Brille.

Gern würde Lucius die Augen schließen und seufzen, doch auch das war momentan nicht möglich. Die Prozedur mit dem Tropfen wiederholte sich bei dem anderen Auge. Er verfluchte seine Reflexe, denn erneut war er zusammengezuckt.

„Ja, eine Brille“, sprach der Heiler zu sich selbst, bevor er sich aufrichtete und Lucius ein Taschentuch für die tränenden Augen reichte.
„Und?“
„Was ‘und‘?“, blaffte der Arzt zurück, der Lucius‘ Meinung nach eine Unterrichtsstunde in Sachen „Umgang mit Patienten“ nötig hatte.
„Werde ich in Zukunft befürchten müssen, wieder zu erblinden?“
„Nein“, Puddle schüttelte den Kopf, „das Spendermaterial ist gut angenommen worden. Auch der Zeitumkehr-Zauber hält perfekt. Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Da wäre noch die Sache mit der Brille …“

Wieder dieses Wort. „Brillenschlange Potter“ hatte sein Sohn damals häufig gesagt, wenn er von seinem verhassten Mitschüler sprach. Sein ehemaliger Kollege und jetziger Minister Arthur Weasley war bebrillt wie auch die Jahrmarktsseherin Trelawney. Selbst der törichte Dumbledore trug eine und auch McGonagall. Er wollte nicht so sein wie die.

„Ist eine Brille tatsächlich von Nöten?“
Endlich blickte Puddle mal von seinen Unterlagen auf. „Wenn Sie weiterhin Ihre Morgenzeitung allein lesen möchten, dann ja.“
„Aber …“
„Das kann mit dem Alter kommen, Mr. Malfoy. Eine Menge Prominente tragen Brillen. Albus Dumbledore, Harry Potter …“
Lucius stöhnte innerlich. Musste Professor Puddle gerade diese Leute aufzählen? „Ich bin nicht alt! Ich werde in wenigen Wochen erst 50!“
„Na, dann können Sie sich doch gleich eine Brille schenken lassen!“ Der Heiler grunzte wie ein Schwein, was er wahrscheinlich selbst für ein amüsiertes Lachen hielt. „Wir haben hier einige Brillen zur Auswahl.“ Ein ausgefülltes Pergament reichte er an Lucius weiter. „Geben Sie das bei der Schwester ab und Sie wird Ihnen welche zeigen. Versuchen Sie es wenigstens, Mr. Malfoy. Nicht dass Sie eines Tages noch in die Verlegenheit geraten, versehentlich die Damentoilette zu betreten, weil sie das Schild nicht erkannt haben.“

Der folgende Moment war so still, dass man draußen – etliche Gänge entfernt – jemanden niesen hören konnte. Der Hausmeister musste sich über ihn lustig gemacht haben, denn Lucius glaubte nicht an solche Zufälle wie diesen.

„Einen schönen Tag noch, Mr. Malfoy.“

Draußen auf dem Flur marschierte Lucius sofort zum Schwesternzimmer. Seine Laune war auf dem Nullpunkt. Eine Brille! Er? Niemals!

„Lucius.“ Wieder ertönte dieser melodische Klang ihrer Stimme.
„Marie“, erleichtert atmete er aus, „hat Ihnen schon einmal jemand gesagt, dass Sie der Sonnenschein des gesamten Krankenhauses sind?“
„Ja!“
„Tatsächlich?“, fragte er verwundert nach. „Wer?“
„Sie waren das. Ist schon eine Weile her.“ Das Pergament in seiner Hand war ihr nicht entgangen. „Darf ich?“ Ohne zu zögern reichte er ihr das Schreiben des Heilers. „Eine Brille!“ Fröhlich strahlte sie ihn an. „Dann kommen Sie mal mit, wir suchen Ihnen gemeinsam eine schicke aus.“

Nicht weit weg vom Mungos fanden sich zwei junge Leute im Zaubereiministerium ein. Sie trafen sich im Eingangsbereich. Tracey blickte Kevin irritiert an.

„Seit wann trägst du denn eine Brille?“, wollte sie wissen.
„Schon immer, aber ich brauche sie nicht oft.“ Schon nahm er sie ab, faltete die Bügel und ließ sie in seinem Etui verschwinden. „Warum hat Kingsley uns gerufen?“
Tracey zuckte mit den Schultern. „Ich habe keinen Schimmer. Lass uns nach oben gehen. Wir werden es sicher gleich erfahren.“

In der Aurorenzentrale im zweiten Stock klopften sie an die Tür ihres Vorgesetzten, der beide sofort hereinließ und sie mit seinem Auftrag überfiel. Es würde um Fenrir Greyback gehen. Die inhaftierten Todesser hätten alle ausgesagt, der Werwolf würde sich im Verbotenen Birkenwald versteckt halten.

„Aber Sir, der Wald ist groß und voller Zentauren und“, Tracey schluckte, „bösartiger Kreaturen.“
Kevin stimmte seiner Kameradin zu. „Die Wahrscheinlichkeit, Greyback zu finden, liegt bei …“
Mit erhobener Hand unterbrach ihn Kingsley. „Das ist unser Auftrag, Mr. Entwhistle. Wir werden uns den Wald ansehen.“
„Ich verstehe nicht, Sir.“ Kevin verstand nicht nur, er fühlte sich zudem völlig unverstanden. „Vier Auroren sollen den Wald durchkämmen? Der Wald ist riesig!“
„Ich weiß sehr gut, wie viele Hektar der Birkenwald umfasst“, bestätigte Kingsley. „Nichtsdestotrotz werden wir wenigstens versuchen, diesen Mann zu finden.“

Tracey Davis war nicht umsonst in Slytherin gewesen. Schnell hatte sie die Spannung erfasst, die im Raum lag. Tonks machte sich nicht einmal die Mühe, ihre Sorge zu verstecken, denn sie ging entweder auf und ab oder berührte sich immer wieder an der Wange. Ein Zeichen dafür, dass sie aufbrechen wollte, um etwas Schlimmes zu verhindern. Auch Kingsley verhielt sich anders als sonst, obwohl er viel mehr Erfahrung darin hatte, seine Gefühle zu verbergen. Es war die Tonlage, in der er sprach. Ein vibrierendes Brummen war auszumachen, was Tracey vor Augen hielt, dass er viel lieber schnell sprechen wollte.

„Die Aussage von Peter Pettigrew ist die aktuellste. Er hat Greyback dort selbst gesehen, wurde von ihm angeblich aus dem Wald gejagt“, erklärte Kingsley vorgetäuscht ruhig.
Tracey blinzelte einmal, dann noch einmal. „Sir, wenn mir die Frage erlaubt ist: Was ist der eigentliche Auftrag hinter dem offiziellen?“
Mit großen Augen blickte Kevin seine Freundin an. Kingsley hingegen schien nicht überrascht zu sein, dass sie diese Frage stellte und er erwiderte so ruhig wie nur möglich: „Der offizielle Auftrag ist der, von dem sie sprechen werden, wenn man sie fragt; von dem ihr Bericht handeln wird, haben wir uns verstanden?“ Tracey nickte, so dass er beide Jungauroren aufklärte: „In der Nähe des Birkenwaldes befindet sich ein altes Muggelgebäude, in dem wir eine entführte Hexe vermuten. Wir werden die Lage überprüfen und erst eingreifen, wenn wir diese Vermutung bestätigt wissen. Unter keinen Umständen darf vorher etwas in Bezug auf die Muggel passieren, haben Sie beide das verstanden?“
„Natürlich, Sir“, erwiderte Kevin und Tracey wie aus der Pistole geschossen.
„Gut, dann wird Tonks mit Ihnen kurz die Lagepläne durchgehen und die Pflichtzauber, damit wir apparieren können.“ Einer der Pflichtzauber war in diesem Fall, wie so oft, ein Desillusionierungszauber.

Mit Wehmut musste Tonks an das Denken, was Greyback Bill angetan hatte. Die Möglichkeit war gering, dem gesuchten Mann tatsächlich über den Weg zu laufen. Der Werwolf trug nicht einmal das dunkle Mal, was ihn aber nicht minder gefährlich machte. Wahrscheinlich, dachte Tonks, lebte Greyback im Herzen des Waldes, wo sich die dunkelsten Kreaturen die Hand reichten – wenn er überhaupt noch lebte. Es gab eine winzige Chance, am heutigen Tage auf ihn zu treffen. Eine so winzige Chance, dass niemand sich auf diese Möglichkeit vorbereitete.

„Weiß man, wer die vermisste Person sein soll?“ Von seinem Vorgesetzten erwartete Kevin eine klare Antwort, die er sogar bekam.
Kingsley blickte die beiden an. Es war ihm geläufig, dass diese beiden Ginny kannten, mit ihr zusammen in Hogwarts waren, auch wenn sie keine enge Freundschaft mit ihr gepflegt hatten. „Es handelt sich um Miss Weasley.“

Eine ihrer Hände wanderte ganz allein zu Traceys Mund, um ihr Erschrockenheit zu verbergen. Beiden war nun klar, warum geheim operiert werden musste. Kevin war dazu bereit und nachdem Tracey sich gefangen hatte, zeigte auch sie ihre Einsatzbereitschaft. Trotzdem musste sie an Harry denken und an all die Menschen, die sich gerade in diesem Moment um Ginny sorgten.

Hermine traf es noch härter, denn sie sorgte sich nicht mehr nur um Ginny, als sie die Treppen hinunterrannte, um so schnell wie möglich Severus aufzusuchen. Sie traf auf ihrem Weg auf Mitglieder der DA, die gerade nach oben gingen. Einige Gesichter registrierte sie sofort. Justin Finch-Fletchley und Hannah Abbott hielten sich an der Hand. Sie waren schon auf der Ordensverleihung ein Paar gewesen. Im zweiten Stock traf sie auf Ernie Macmillan, Michael Corner und Alicia Spinnet, die einen Besen in der Hand hielt, mit dem sie offenbar hergekommen war. Im ersten Stock rannte sie an Colin und Dennis Creevey vorbei, die ihr noch etwas hinterherriefen, was sie aber nicht verstehen konnte.

In der Eingangshalle traf sie auf viele bekannte Gesichter, deren Namen ihr nicht alle einfallen wollten, aber das war im Moment auch nicht wichtig. Viel wichtiger war es, sich davon zu überzeugen, dass es Severus gut ging.

Die Kerker. Endlich! Die kühle Luft tat ihrem erhitzten Körper gut. Ihr war schwindelig von all den Ereignissen, die so sehr an ihrer Kraft zehrten, wie die Schuld, die sie erdrückte und der Schlaf, der ihr fehlte. Hermine zwang ihren Körper, mit den Belastungen zurechtzukommen. Sie hatte schon ganz andere Situationen überstanden, also würde sie auch mit dem Schuldgefühl fertigwerden, dass ihr das Herz zerreißen wollte. Ginny. Severus. Zwei liebe Menschen, an die sie gleichzeitig denken musste, denn das Schicksal beider war ungewiss.

Mit einem lauten Krach öffnete sie die Tür zu Severus‘ Labor, wurde daraufhin gleich von Sirius, Remus und Severus erstaunt angesehen. Schnaufend beugte sie sich nach vorn, stützte sich auf ihren Oberschenkeln ab. Sie war völlig aus der Puste. Erst sieben Stockwerke hoch, dann wieder den Weg zurück. Ihre Kondition ließ zu wünschen übrig.

„Hermine?“ Sirius stürzte auf sie zu, doch ihr Blick haftete auf Severus. „Hermine, ist das wahr?“ Er nahm sie an der Schulter und richtete sie auf, suchte ihren Blick mit seinem und fand ihn. „Ginny …?“ Mit einem Nicken musste er sich zufriedengeben, denn noch war sie damit beschäftigt, Luft zu holen.

In seinen grauen Augen sah sie das feste Gerüst der Ordnung zusammenstürzen. Ein Trümmerhaufen blieb zurück. Ein rauchiger Haufen Schutt, den er schon einmal hatte wegräumen müssen, als er den Tod seiner besten Freunde verarbeiten musste. Nicht noch einmal wollte Sirius so eine Tragödie ertragen. Sein Patensohn durfte nicht leiden, durfte nicht sterben wie James. Und Ginny. Mit ihrem roten Haar und ihrer munteren Art war sie wie Lily.

In seinen Gedanken und seiner Verzweiflung gefangen war er für jedermann ein offenes Buch. Ein Buch, das Remus zu schließen wagte, als er sich seinem Freund näherte und ihn zaghaft von Hermine wegzog.

Ihre Atmung hatte sich wieder normalisiert. „Ist hier alles in Ordnung?“
Murrend fragte Severus zurück: „Nach was sieht es denn aus?“

Er war emsig dabei, Vorkehrungen für seinen Sturmangriff auf die Muggel zu treffen. Erleichtert atmete sie aus. Mit Severus war alles in Ordnung, mit ihr aber nicht. In ihrem Kopf drehte sich alles.

„Setz dich, Hermine!“, befahl Severus.
Sirius war von dem Tonfall gereizt und wies ihn zurecht: „Red‘ nicht so herrisch mit ihr!“
„Von mir aus“, Severus zuckte mit den Schultern. „Dann soll sie eben umfallen.“

Gleichzeitig blickten Remus und Sirius zu Hermine hinüber. Ein blasses Gesicht, Schweißperlen auf der Stirn, der unstete Blick. Sie wankte.

„Herrje“, Remus eilte zu ihr, „setzt dich bitte, sonst kippst du wirklich noch um.“

Genau einen Stock über den vieren, im Erdgeschoss, spielte Wobbel mit Nicholas. Die Bauklötze fand der Kleine besonders faszinierend. Sie fielen einfach nie um, egal wie schief der Turm wurde. Als Nicholas keinen Klotz mehr auf den Turm aufsetzen konnte, weil der nun größer war als er, stieß er ihn um. Mit seinen großen Augen blickte er Wobbel an und lachte. Wobbel lachte zurück und klatschte dann in die Hände.

„Komm mal her“, forderte Wobbel und hielt dabei seine Arme auf. Nicholas war schon recht gut zu Fuß, fiel auch nicht mehr sofort um, wenn er mal auf einen der Bauklötze trat. „Komm her.“ Wobbel klatschte nochmals, um den Jungen zum Gehen zu animieren und der tat genau das, was der Elf wollte. Nicholas fand sich in Wobbels Armen wieder. „Das hast du ganz toll gemacht!“, lobte der Hauself.
„Oll“, kam es von Nicholas zurück, woraufhin Wobbel die Ohren spitzte und sich umsah, um sich zu vergewissern, dass auch niemand heimlich zusah. Nur Hedwig beobachtete dösig das Spiel der beiden. Der Phönix hingegen atmete schwer. Man konnte hören, wie jeder Luftzug eine Menge Kraft kostete. Er lag in seiner Feuerschale. Schon einige Tage war es ihm nicht mehr gelungen, auf die Stange zu fliegen. Sonst war niemand hier und nur deswegen richtete der Elf das Wort an Nicholas. „Sag mal: ‘Wobbel‘!“
„Oll!“
„Na ja, fast“, scherzte der Elf und wiederholte, zog dabei die Buchstaben und Silben ganz lang. „Wooo - bbelll.“
„Ooobl“, quickte der Kleine fröhlich nach.

Wobbel klatschte in seine Hände. Er fragte sich ernsthaft, ob sein Meister ihm die Ohren so lang ziehen würde, bis sie auf dem Boden schleiften, sollte Nicholas‘ erstes Wort tatsächlich einmal der Name des Hauselfen werden.

Im siebten Stock hatten sich eine Menge Menschen eingefunden, die wie üblich sofort ihren Stab in die Hand nahmen, nachdem sie den Raum betreten hatten. Es war ein Zeichen der Bereitschaft. Mit so vielen hatte Harry nicht gerechnet. Selbst Ron staunte, all die alten Freunde wiederzusehen. Wer nicht durch die Münze auf Harrys Ruf aufmerksam geworden war, der hatte es von einem anderen DA-Mitglied erfahren.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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Rest von Kapitel 201

Katie Bell, die Patil-Zwillinge, Anthony Goldstein, Ernie Macmillan, Terry Boot. Selbst Cho war gekommen. Seit der Schule war sie mit Michael Corner liiert, der immer an ihrer Seite war, so auch heute. Es fehlte Zacharias Smith, aber mit dem rechnete niemand. Schon damals konnte ihn keiner wegen seiner überheblichen Art und seiner ständigen Kritik an Harrys Unterricht ausstehen. Nachdem er von seinem Vater von der Schule genommen worden war, hatte man nie wieder etwas von ihm gehört.

„Wo ist Ginny?“, hörte Harry eine weibliche Stimme fragen. Er blickte sich in dem gut gefüllten Raum um und bemerkte Parvatis Augen auf sich. Sie spielte verlegen mit ihrem Stab. Der ehemaligen Gryffindor-Schülerin war nicht entgangen, dass gerade seine Verlobte auf sich warten ließ. Auch den anderen fiel es jetzt auf.
„Das ist der Grund, warum ich euch …“

Die Tür zum Raum der Wünsche öffnete sich ein weiteres Mal und es trat jemand ein, mit dem keiner gerechnet hatte. Der erste Schock war überwunden und schon begannen die DA-Mitglieder zu tuscheln, als Draco zögerlich ein paar Schritte machte. Er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Als er hinter Harry den Thron aus Perlmutt bemerkte, wanderten seine Augenbrauen hinauf bis zum Haaransatz, dennoch stellte er keine dummen Fragen, machte auch keine Anmerkungen, sondern nahm das Szenario einfach als selbstverständlich hin. Was er nicht hinnehmen konnte waren die Blicke einiger ehemaliger Mitschüler.

„Draco!“ Staunen schwang in Harrys verbalem Gruß mit.

Mit der Andeutung einer höflichen Verbeugung grüßte der Blonde zurück, bevor er etwas aus seinem Umhang nahm und damit auf Harry zukam. Er zeigte ihm die Galleone. Harry verstand die Botschaft und nickte, wies ihn mit einer Geste seiner Hand an, sich zu den anderen zu stellen. Draco wählte die Nähe von Neville und Luna. Die beiden, das wusste er, würden nicht über ihn reden, ihn auch nicht scheel ansehen. Luna grüßte ihn sogar, ihr Freund ebenfalls.

Die meisten Augen waren auf Draco gerichtet. Peinlich berührt blickte er starr zu Harry hinüber. Weil sich die Tür zum Raum der Wünsche nicht mehr öffnete, hielt Harry die Gruppe für komplett.

„Ich denke“, begann Harry, womit er – zu Dracos Erleichterung – auf einen Schlag die gesamte Aufmerksamkeit der Anwesenden auf sich zog. Er räusperte sich und fing erneut an. „Ich denke, wenn es Nachzügler gibt, können wir sie später noch einweihen. Wir sollten beginnen, denn die Zeit wird knapp.“

Als er damals bei der Verleihung des Phönixordens seine Rede gehalten hatte, kamen ihm die Worte nach anfänglichen Schwierigkeiten viel leichter über die Lippen. Diesmal hing jedoch viel mehr von dieser Rede ab, als den Leuten zu sagen, wie sehr er Severus Snape und all das, was der für die Zaubererwelt getan hatte, schätzte. Heute ging es darum, seine Ginny unverletzt aus den Fängen von verblendeten Muggeln zu befreien.

„Wie ihr bemerkt habt, ist Ginny nicht hier und das ist der Grund, warum ich euch gerufen habe.“
„Todesser?“, fragte Dean unverhofft. Alle Augen richteten sich auf Draco, was dem diesmal nicht entging. Von Ron bekam Dean einen Schlag auf den Oberarm, damit er ruhig bleiben würde.
„Keine Todesser sind mit im Spiel.“ Die Menge atmete erleichtert aus. Viele von ihnen hatten bereits eine eigene Familie, wie auch Cho und Michael. Keiner wollte sich nochmals Todessern stellen. „Es geht um Muggel.“

Absichtlich ließ Harry eine Pause, damit seine Freunde begreifen würde, was er eben gesagt hatte.

„Äh, Harry“, jemand meldete sich genauso zögerlich, als müsste er eine Frage von Professor Snape beantworten, deren Antwort er nicht kannte. Es war Seamus, dessen Vater ein Muggel war. „Haben wir dich eben richtig verstanden? Muggel? Was können die uns schon antun?“
„Eine ganze Menge.“ Harry holte tief Luft. „Sie haben Ginny in ihrer Gewalt.“

Es war damit zu rechnen, dass es Geflüster und Gerede geben würde, weshalb Harry seinen Freunden einen kurzen Augenblick schenkte, bevor er sich wieder Gehör verschaffte.

„Diese Muggel haben sich zu einer Art Sekte zusammengeschlossen“, erklärte Harry. Einige nickten, weil sie das Wort kannten. „Das sind Leute, die ein bestimmtes Ziel verfolgen. In diesem Fall ist mir ihr Ziel nicht ganz klar, aber sie hassen Hexen und alles, was mit unserer Welt zusammenhängt.“
„Wie kommt es“, warf Dean ein, „dass man von denen noch nie gehört hat?“
„Ja“, stimmte Parvati zu, „wie können die überhaupt jemanden von uns entführen? Wir sind denen doch haushoch überlegen.“
„Das ist nicht ganz richtig.“ Ron hatte das Wort ergriffen und jeder hörte auf ihn, weil er der Sohn des Ministers war. „Immer wieder hat man vor und auch noch nach dem Krieg lesen können, dass es Vermisste gab. Im Krieg fiel das nicht auf, aber danach. Es wurden manchmal Tote gefunden. Man hat sie zusammengeschlagen, gefoltert. Es waren Zauberer und Hexen, die keinen Stab mehr bei sich hatten und genau da liegt die Stärke der Muggel. Haben sie uns entwaffnet, sind sie uns mit ihren Waffen überlegen.“
Eine gesichtslose Stimme fragte laut: „Warum hat dein Vater nichts dagegen unternommen?“
„Hat er doch! Er hat sich mit dem Muggelminister kurzgeschlossen und der wollte sich drum kümmern. Wie es aussieht, hat das nicht gefruchtet“, verteidigte Ron seinen alten Herrn.
„Das ist doch Irrsinn!“ Katie Bell war außer sich. „Warum haben die was gegen uns? Wir tun denen doch gar nichts. Warum kann Ginny nicht einfach apparieren.“

Harry fehlten die Worte, nicht aber Ron, der ihn anblickte und still um Erlaubnis bat, diesen Punkt erläutern zu dürfen. Er nickte Ron zu, der sich diesmal aber zu Harry nach vorn begab, damit man ihn besser hören könnte.

„Ich habe etwas erfahren“, er blickte direkt zu Harry, „das weißt du auch noch nicht.“ Wieder zur Menge sagte Ron: „Ich habe Ginny meinen Patronus geschickt.“ Harry musste lächeln. Es hatte gewusst, dass einer von ihnen einen Weg aus dem verzauberten Zimmer finden würde. Den Raum konnte man durch den Zauberspruch zwar nicht verlassen, aber durchaus von außen öffnen. „Der Patronus kam zurück, aber es war nicht Ginny, die eine Nachricht hinterlassen hat.“
„Was?“ Für einen kurzen Moment hatte Harry die Kontrolle über seine Beherrschung verloren.
„Es ist besser, wenn ich es euch vorspiele, denn eines ist klar: Man erwartet Harry bereits!“

Wie man auch bei Zauberstäben die ausgeführten Flüche und Sprüche, die damit angewandt worden waren, in Erfahrung bringen konnte, war es auch möglich, die Nachrichten eines Patronus mehrmals anzuhören. Ron gab sich alle Mühe, an einen glücklichen Moment in seinem Leben zu denken. Schon formte sich sein Jack-Russell Terrier aus der Stabspitze und rannte durch die Menge. Als der Hund aufgeregt von einer Person zur anderen sprang, hörte man die Worte, die er aufgezeichnet hatte. Man konnte zwei verschiedene Stimmen erkennen; die erste war sehr jung.

„Ein Patronus! Ich wusste gar nicht, dass die reden können.“
„Was ist das?“
„Das ist ein Zauber, der Böses abwehren kann.“
„Warum spricht er? Ist das ein Späher?“
„Ich weiß nicht. Ich …“
„Sorg dafür, dass die Hexe nicht so schnell zu Bewusstsein kommt. Der Doktor soll sich drum kümmern! Alle anderen sollen auf ihre Posten. Ich möchte Potter herzlich willkommen heißen, wenn er hier auftaucht!“

Nachdem der Hund verblasste, nahm besonders Harry die eben gehörte Nachricht Wort für Wort auseinander. Es fiel ihm schwer, dabei nicht den Faden zu verlieren, denn jetzt, wo er wusste, dass man Ginny offenbar ruhigstellte, wurde ihm ganz übel.

„Die betäuben Ginny!“, rief Alicia.
Dean als jemand, der bis zu seinem elften Lebensjahr vollständig in der Muggelwelt gelebt hatte, stimmte ihr zu: „Dann ist es auch kein Wunder, dass sie nicht apparieren kann, wenn ein ‘Arzt‘ sie mit Drogen vollpumpt.“
„Aber ist euch was aufgefallen?“ Alle starrten Anthony Goldstein an, der schon damals immer so ruhig gewesen war, dass sich einige nicht mal mehr an seinen Namen erinnern konnten. Als niemand antwortete, erklärte er: „Da ist jemand dabei, der genau gewusst hat, was ein Patronus ist!“

Sofort entflammte eine hitzige Diskussion, ob man es nicht doch mit Todessern zu tun haben könnte. Zumindest, das meinte Ron, wäre es nicht auszuschließen, dass sich ein paar Zauberer unter den Muggeln aufhalten könnten.

Parvati war mit den Informationen völlig überfordert. „Aber was für Zauberer würden zulassen, dass die Tochter des Ministers entführt wird? Die wissen doch, dass sie für sowas nach Askaban kommen!“
„Vielleicht sind es Muggel, die von uns wissen? Muggel, deren Kinder magisch sind“, spekulierte Seamus laut. Seine eigene Vermutung erschien für ihn jedoch keinen Sinn zu ergeben. „Das erklärt aber nicht, warum sie uns hassen.“

Sich still verhaltend beobachtete Draco den Verlauf des Treffens. Die Nachricht von Ginnys Entführung war beunruhigend. Es war ihm ein Rätsel, wie Harry in dieser Situation einen klaren Kopf behalten konnte. Würde es sich um Susan drehen, wäre Draco im Alleingang zu den Muggeln marschiert. Während er den anderen zuhörte, ließ er seinen Blick schweifen. Es war wundervoll mit anzusehen, wie so viele Menschen von dem Band der Freundschaft zusammengehalten wurden. Selbst nach so vielen Jahren gab es keinen Riss in dieser Eintracht. Er selbst fühlte sich jedoch außen vorgelassen. Niemand sprach ihn an. Er wollte auch nicht die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, indem er die Vermutung äußerte, es könnte sich womöglich um Squibs handeln, die den Muggeln bei ihrer Planung halfen. Diese Äußerung könnte man ihm als rassistisch ankreiden, denn man wusste, wie er in der Vergangenheit über Squibs gedacht hatte. Zum Glück war jemand anderem die gleiche Idee gekommen.

„Squibs?“ Jeder blickte Fred fragend an. „Warum denn nicht? Wenn ich sehe, wie die teilweise bei uns behandelt werden … Das Motiv wäre dann auch klar: Rache.“
„Auf jeden Fall wollen sie Harry haben“, stellte Ron klar, der noch immer vorn bei seinem Freund stand. „Und Ginny ist ihr Köder!“
Vorsichtig fragte Cho nach: „Mit was für Waffen müssen wir rechnen?“
„Knarren“, erwiderte Dean salopp. „Pistolen, Gewehre …“
Mit einem Male fiel es Harry wie Schuppen von den Augen. „Natürlich! Die waren schon einmal hier, ganz in der Nähe.“ Die Menge trat näher an ihn heran und hing ihm an den Lippen. „Hogsmeade!“
Luna nickte. „Das Dorf wurde im Winter evakuiert. Davon konnte man in jeder Zeitung lesen.“
„Richtig! Und man hat Waffen gefunden“, fiel ihm wieder ein, „eine Menge gefährlicher Waffen, die ganze Häuser wegsprengen können. Handgranaten und so ein Zeug.“
„Echt?“, entwich es Dean, dem die Anspannung ins Gesicht geschrieben stand.
Harry nickte und erzählte weiter: „Sie haben ihre Waffen in einer Höhle nahe bei Hogsmeade versteckt. Man hat eine Zeit lang geglaubt, sie wollten die Schule angreifen.“
„Harry?“ Langsam trat Ernie Macmillan nach vorn. Als Reinblüter wusste er wenig von Muggeln. „Aus welchem Material bestehen diese Waffen?“
„Ich habe keine Ahnung“, sagte er, obwohl er gleich darauf mit der Antwort herausrückte, „Metall, überwiegend Metall.“
Seamus, der genügend Kriminalfilme gesehen hatte, vervollständigte: „Und in den Kugeln ist meist eine Schießpulvermischung.“
„Ja“, pflichtete Harry bei. „Das sind die beiden wichtigsten Materialien, würde ich meinen. Oder hat sonst noch einer eine Idee.“ Alle schüttelten den Kopf.
Cho empfahl den Anwesenden: „Dann ist wohl ein Verwandlungszauber angemessen, um die Muggel zu entwaffnen.“
„Wir müssen aber aufpassen, wirklich aufpassen.“ Dean schob sich ein wenig nach vorn, damit alle ihn hören konnten. „Die Waffen sind schnell. Wenn die Kugel bereits fliegt, kann man sie nicht einmal sehen, so schnell ist die.“ Flüche konnte man sehen, wenn sie auf einen zugerast kamen.
„Ich will mich nicht weiter in Diskussionen verlieren“, gab Harry seinen Freunden zu verstehen. „Ich will auch keine Spekulationen anstellen, warum sie uns hassen oder was sie bereits alles auf dem Kerbholz haben könnten. Im Moment liegt mir nur daran, Ginny dort rauszuholen und dafür brauche ich eure Hilfe.“ Mit zittriger Stimme fügte er hinzu: „Ich hoffe, es ist noch nicht zu spät.“
„Kein Problem, Harry!“
„Die Muggel werden wir schon kleinkriegen!“, rief jemand aus der Menge.
Ein anderer stimmte ein: „Die werden keine Sonne mehr sehen, wenn wir mit ihnen fertig sind!“
Nur aus Spaß, das wusste Harry, rief Jordan: „Denen blasen wir das Licht aus!“

Die meisten Mitglieder der DA feuerten sich gegenseitig an, so dass die Luft brannte. Der Feind war bestimmt, jetzt wollten sie ihn niedermachen.

„Darf ich dazu mal was sagen?“ Niemand hörte Draco. Er seufzte, während die anderen schon die Hände in der Luft zusammenschlugen, weil sie sich auf den Kampf zu freuen schienen. Es war ein Enthusiasmus, der mutwillig herbeigeführt wurde, um die Angst zu verdrängen. Zwischen all den aufgebrachten Menschen ging Draco langsam nach vorn zu Harry, der nicht so recht zu wissen schien, was er von dem kleinen Aufruhr halten sollte.

„Harry?“ Als der ihn anblickte, sagte Draco, was er auf dem Herzen hatte. „Man sollte bedenken, dass es vielleicht auch welche unter den Muggeln gibt, die“, er legte kurz den Kopf schräg und zuckte dabei mit den Schultern, „die vielleicht unschuldig sind.“
Colin Creevey hatte das gehört und schüttelte den Kopf: „Was erzählst du da nur für einen Unsinn? Unschuldig? Wenn man Leute entführt ist man nicht unschuldig!“
„Ich meinte auch nur …“, er stockte, weil immer mehr DA-Mitglieder still wurden und ihm zuhörten, dabei wollte er nur Harry seine Meinung sagen. „Vielleicht sind einige von ihnen …“ Wo waren die Worte hin, denen er sich sonst so sicher war, fragte er sich? „Vielleicht sind einige von ihnen fehlgeleitet oder ... Ich weiß nicht.“ Draco wirkte verzweifelt. Er konnte sich nicht so ausdrücken, dass die anderen es verstehen würden. „Es könnte doch sein, dass manche von den Muggeln gar nicht wissen, was deren Anführer vor hat. Dass sie ihm nur aus falschen Versprechungen folgen.“
„Ah, du sprichst aus Erfahrung.“
Wütend drehte sich Draco um. „Wer hat das gesagt?“

Niemand meldete sich, schon gar nicht Dennis, dem das nur aus Versehen rausgerutscht war. Der Kommentar machte Draco so wütend, dass sein Puls rapide stieg. Der jemand, der das gesagt hatte, behielt sogar Recht, aber das wollte er nicht vor all diesen Leuten zugeben.

„Warum ist er überhaupt hier?“, wollte Cho wissen. „Ich meine, er steht nicht auf der Liste, oder?“ Er hatte nicht unterschrieben; ihm war nicht zu trauen. Jeder hörte diese versteckte Andeutung heraus, selbst Harry, der das klären wollte.
„Er hat mir die Münze gezeigt. Ich traue Susan. Sie hat ihn hergeschickt.“
„Wir trauen Susan auch“, bejahte Terry, „aber es geht nicht darum, wer wem traut.“
„Nicht?“, fauchte Draco ihn an.
Angewidert verzog Terry das Gesicht. „Nein, es geht darum, dass wir dich nicht kennen. Wir wissen nicht, wie du kämpfst, was deine Stärken oder Schwächen sind.“
Chos Hand ergreifend meldete sich Michael zu Wort. „Terry hat Recht, Harry. Es wäre ein Risiko. Wir kennen uns alle bestens, aber er kennt uns nicht und wir ihn nicht. Das kann ins Auge gehen.“
„Wir sind ein aufeinander abgestimmtes Team“, hörte man Alicia sagen.

Den meisten schien es wirklich nur darum zu gehen, dass sie mit Draco in ihrer Mitte einen Alleinkämpfer haben würden, der nicht auf Augenzeichen und auch nicht auf Handbewegungen der anderen reagieren würde, weil er diese geheimen Anweisungen einfach nicht kannte. Trotzdem, und das spürte Harry, benutzten einige von der DA dieses Manko ganz offensichtlich als Argument dafür, nicht mit Draco an ihrer Seite losziehen zu müssen.

„Draco hat Flüche drauf, die jeden von uns in den Schatten stellen würden“, argumentierte Harry, doch was er als positive Seite hervorheben wollte, wurde als negativ abqualifiziert.
„Genau da liegt doch der Hase im Pfeffer!“ Terry zeigte mit seinem Stab auf Draco, was der gar nicht leiden konnte. „Er mag eine Menge toller Flüche draufhaben, aber die wir kennen nicht! Was wenn er jemanden von uns ‘versehentlich‘ trifft.“
„Versehentlich?“, blaffte Draco ihn an. „Warum hast du das Wort so seltsam betont?“
„Hab ich gar nicht!“, widersprach Terry.
„Hey Leute.“ Mit einer beruhigenden Handbewegung wollte Jordan die aufkeimende Rivalität schlichten und meinte eher als Scherz: „Wenn wir uns hier schon fast an die Gurgel gehen, wie soll das dann da draußen aussehen?“

Ohne es zu wollen hatte er damit Öl ins Feuer gegossen. Man nutzte es als weiteres Argument, um Draco aus ihrer Mitte zu verbannen. Von Hanna wusste man, dass sie nach dem gewaltsamen Tod ihrer Mutter selbst die rehabilitierten Todesser noch Mörder schimpfte. Jordans Anmerkung nahm sie sofort als Anlass, um ihre Meinung kundzutun.

„Eben das meine ich auch! Wenn Draco uns gegenüber jetzt schon so aggressiv ist …“, zeterte sie, doch wurde harsch unterbrochen.
„ICH bin aggressiv? Wenn ich mir diese unverschämten Zweideutigkeiten anhören muss, ist das doch kein Wunder, dass ich mich wehren möchte!“
„Hey, nun beruhigt euch mal wie…“ Ron kam gar nicht zu Wort.
„Was denn für Zweideutigkeiten?“, wetterte Hannah zurück. „Es ist nun mal eine Tatsache, dass wir von deinen kämpferischen Fähigkeiten gar nichts wissen. Ergo gehörst du nicht in unser Team!“
„Ihr habt Angst vor mir, das ist es!“
Hannah schnaufte provozierend. „Angst vor dir? Ich bitte dich! Du hast doch keine Ahnung …“
„Oh, ich weiß ganz genau, was hier los ist!“, unterbrach er sie harsch. „Als die Frage aufkam, ob es Todesser wären, die Ginny entführt hätten“, seine Unterlippe bebte, „da habt ihr alle zu mir geschaut!“ Vor lauter Zorn war er ganz rot im Gesicht. „Alle!“

Einige schämten sich, darunter auch Neville, der auch zu Draco geschaut hatte, aber nur um zu sehen, wie der reagieren würde und nicht, weil er ihn für einen Todesser hielt. Hannah war kurz davor, Draco eine Bösartigkeit an den Kopf zu werfen, da schritt der diplomatische Ernie ein, der vermitteln wollte. Schon früher hatte er diese schlichtende Eigenart an sich.

„Ich denke, es geht hier nicht ‘darum‘“, das Wort betonte er, um nicht Voldemorts Zeichen zu nennen, „sondern einfach …“
„Ach sei still, Ernie!“, wetterte Hannah, die bereits heftig atmete. „Natürlich geht es darum! Ich will ihn nicht dabei haben und wenn er mitkommt, dann bleibe ich hier.“

Die Zwillinge steckten die Köpfe zusammen und besprachen, wie sie Hannah und Draco ohne Komplikationen hinauswerfen könnte. Harry hingegen blickte hinauf zur goldenen Sonne. Er gab den beiden noch zwei Minuten. Wenn sie dann ihre Differenzen nicht beiseitegelegt hätten, würde er sich herzlich für ihr Erscheinen bedanken und sie beide zurücklassen.

„Ich wusste es“, murmelte Draco durch zusammengebissene Zähne. „Es wird mir ewig anhaften, nicht wahr? Egal, ob Harry mich um Hilfe bittet oder nicht. Für euch“, er blickte Hannah in die Augen, „oder eher nur für dich bin ich weiterhin nur Abschaum!“
„Harry hat dich aber nicht gerufen“, hielt sie zornig dagegen. Sie ballte ihre Fäuste. Mittlerweile bebte ihr gesamter Oberkörper vor Spannung. „Er kann dich gar nicht rufen. Du hast ja nicht mal eine Münze!“
„Stimmt, habe ich nicht.“ Mit glasigem Blick machte er ihr klar: „Mich ruft man auf ganz andere Weise!“

Von der goldenen Sonne über ihm war Harry nicht geblendet. Ihr Anblick beruhigte ihn. Stimmen waren nicht mehr zu hören. Der Streit hatte ein Ende. Im gleichen Moment, als er seine Augen von der surrealen Decke abwendete, spürte er, wie jemand mit festem Griff seine rechte Hand packte. Draco.

Zu spät.

Es war zu spät, um einzugreifen.

Das Holz der Stechpalme berührte das dunkle Mal auf Dracos linkem Unterarm. Wie in Zeitlupe öffneten sich Dracos Augen ganz weit. Seine Wut erstarb im Entsetzen. Auf der bleichen Stirn zeichneten sich die blauen Adern ab. Der Mund war weit geöffnet im stillen Aufschrei. Dem nächsten Atemzug folgte ein Geräusch gleich dem eines Bären, der in eine Falle getreten war – brummend, aus voller Kehle und doch vom Schmerz erstickt, als die Phönixfeder ihn verbrannte.

Schreie.

In einem anderen Teil des Schlosses bot sich das gleiche Bild. Von der Qual in die Knie gezwungen stieß Severus einen Schrei aus, der durch Mark und Bein ging. Er hielt sich den linken Arm, riss den Ärmel hinunter. Fassungslos blickte er auf das geschmolzene Fleisch, in dem eine unheilvoll schwarze Brühe schwamm. Der Anblick der verdorbenen Masse entlockte ihm einen weiteren Schrei. Drei paar Hände hielten ihn davon ab, sich die schmerzende Gliedmaße vom Leib zu reißen.

St.-Mungo-Hospital für Magische Krankheiten und Verletzungen.

„LUCIUS!“ Marie hielt ihn an den Schultern, als er von einem plötzlichen Leid geplagt vornüber kippte. Der ekelerregende Geruch der Fäulnis lag in der Luft. Der mit Silber durchstickte hellblaue Brokatstoff seines Gehrocks wurde von einer unbekannten Substanz getränkt. Lucius schrie sich die Seele aus dem Leib. Marie reagierte sofort, zauberte seinen Oberkörper frei. Auf der makellos hellen Haut stach der Schandfleck ins Auge. In dem ausgeschabten Unterarm hatte sich ein Schmutzpfuhl aus faulem Fleisch gebildet, den Marie in eine Schale zauberte. Man konnte Elle und Speiche sehen. Sie musste schnell handeln.

Schreie hallten ebenfalls durch die kalten Gänge von Askaban. Viele waren schwach geworden, manche bereits verstummt.

Am Boden seiner Zelle liegend wartete Peter Pettigrew auf Erlösung. Der Schmerz fuhr ihm durch beide Arme. Zur Qual war die frische Seeluft geworden, denn jeder einzelne Atemzug verlängerte sein Leben, ließ ihn seine Wunden spüren und seine Fehler sehen. Wovor er sein Leben lang Angst gehabt hatte, empfing er nun mit offenen Armen – den Tod.

Da war plötzlich ein Licht. ‘Die Sonne‘, dachte er und drehte mit schmerzverzerrtem Gesicht den Kopf, um noch ein letztes Mal aus dem vergitterten Zellenfenster hindurch dieses Naturschauspiel zu erleben, doch es war nicht die Sonne. Eine durchsichtige Gestalt, ganz und gar in goldene Farben gehüllt, näherte sich und kniete sich neben ihn. Peter blinzelte einige Male, um die Tränen zu verdrängen, um besser sehen zu können. Wirres Haar. Eine Brille. „James?“ Die Gestalt lächelte.

Vielleicht war es ein Bildnis, das sein schwindender Geist für ihn projizierte, um das Sterben erträglich zu machen. „James.“ Erleichterung. Ein Wiedersehen. Die Möglichkeit, sich zu erklären und um Vergebung zu bitten.

So kurz vor dem Tod waren die Schmerzen kaum noch zu spüren. Grüßend streckte er seine Hände nach der Gestalt aus und erschrak. Der linke Unterarm war wie ausgebrannt. Die Knochen waren zu sehen. Kein dunkles Mal mehr. Er war endlich frei. Das Silber der rechten Hand war flüssig geworden. Das schwarzmagische Metall hatte sich auf dem Boden verteilt und ließ einen in Verwesung übergegangenen Stumpf zurück. Beide Arme senkte er wieder, bevor er in das strahlende Gesicht seines ehemaligen Freundes blickte. „Nimm mich mit“, bat Peter sehnsüchtig. Einen Augenblick später schloss er die Augen für immer.

Den Tod zu bejahen lohnte sich nur für diejenigen, die ihr Leben gelebt hatten, aber auch für die, die es erneut leben wollten.

Mit getrübten Augen betrachtete der Phönix in Hogwarts das Spiel des Kindes auf dem Schoß des Elfs. Mit letzter Kraft richtete sich Fawkes in seiner Feuerschale auf und begann zu singen – für den Jungen, von dem er so geliebt wurde und für die Sonne, die er mit seinen Tönen herbeirufen wollte.

Für einen kurzen Moment lockerte sich die Schlechtwetterfront über Schottland auf. Die dunklen Wolken rissen auseinander. Als der Schein der aufgehenden Sonne auf Fawkes traf, breitete er willkommen seine Flügel aus, damit ihre Macht ihn entzünden würde.

Als der Vogel in Flammen aufging, war Wobbel wie gelähmt. Die Trauer um den Verlust eines Gefährten war nicht zu unterdrücken, obwohl der Elf wusste, dass dies nur das Ende vom Anfang war. Die gold, gelb und orange glitzernden Lohen züngelten umher und umschlossen die ausgestreckten Schwingen. Hedwig schuhute dem Freund ein liebes Lebewohl.

Es war die Verzückung, so einem seltenen Moment beiwohnen zu dürfen, dass er viel zu spät merkte, wie Nicholas um seinen Freund weinte.

„Nicht doch, er ist doch noch da. Er ist jetzt ein Baby, genau wie du“, beruhigte Wobbel den Jungen, doch der schniefte noch immer. „Ich zeig ihn dir.“ Der Vogel hatte nur kurz gebrannt, dafür sehr intensiv. Rauch hatte sich im Zimmer gebildet, so dass Wobbel mit einem Fingerschnippen die Fenster öffnete. Hedwig nutzte die Gelegenheit und flog sofort nach draußen.

Als er mit Nicholas auf dem Arm an der Feuerschale angelangt war, schauten beide auf einen Haufen Asche, unter dem es sich rührte. Ein kleiner Kopf kam zum Vorschein. Hungrig streckte der neugeborene Phönix den beiden seinen weit aufgerissenen Schnabel entgegen und piepte dabei fordernd. Nicholas‘ Tränen waren versiegt und durch ein zufriedenes Lächeln ersetzt.

„Siehst du! Unser Freund ist noch da.“ Den Jungen setzte Wobbel im Laufgitter ab, damit er sich dem neugeborenen Vogel widmen konnte, was er wie selbstverständlich zu seinen Aufgaben zählte. Das Tier hatte Hunger, das konnte Wobbel sehen. „Was frisst ein Phönix nur?“, murmelte er zu sich selbst. Er entschloss sich dazu, den Vogel erst zu säubern, weswegen er ihn vorsichtig aus der Asche nahm. Mit leichten Pflegezaubern reinigte er den hungrigen Fawkes und setzte ihn danach in ein Körbchen, das er mit weichen Tüchern ausgelegt hatte.

„Wen kann ich fragen, was ich dir für Futter geben kann?“

Die Frage beantwortete ihm Hedwig. Sie kam durch das Fenster zurückgeflogen, aber nicht allein. Eine tote Maus, frisch erlegt, war ihr Willkommensgruß an den neuen alten Freund. Wobbel wollte nicht dabei zusehen, wie die Maus verfüttert wurde. Er reinigte lieber die Feuerschale und stieß dabei auf einen Gegenstand, der in dem Vogel gewesen sein musste und die hohen Temperaturen des magischen Feuers überlebt hatte. Vorsichtig nahm er das noch warme Objekt aus der Schale und reinigte es mit einem Tuch, bis er am Ende einen unförmigen, roten Stein in der Hand hielt.

Der Stein der Weisen.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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202 Ein schwarzer Tag




Sechs Wachen waren es, die mit erhobenen Zauberstäben den Zellentrakt betraten, in welchem man viele der Todesser untergebracht hatte. Der Leiter der Wachen, der ehemaliger Auror Philbin, blickte durch das kleine Fenster der Zellentür in den Raum hinein, aus dem man vor kurzem noch Schreie hörte, die durch Mark und Bein gingen. Walden Macnair lag bewegungslos auf dem Boden.

„Und?“, fragte einer seiner Mitarbeiter.
Philbin ging von der Tür weg, damit seine Kollegen hineinsehen konnten. „Sieht genauso aus wie bei den anderen. Mach auf!“

Drinnen richteten vier der Wärter ihre Stäbe auf den leblosen Körper, der zusammengekauert auf dem feuchten Steinboden lag. Ein Zauberspruch auf Macnair gerichtet brachte keine Ergebnisse. Er rührte sich nicht, so dass Philbin zu dem Mann hinüberging und ihn berührte. Er fühlte nach einem Puls.

„Das war's für ihn. Ist auch mausetot.“
„Und sein Arm?“, wollte Ken, der jüngste von ihnen, wissen. Die anderen Todesser, die sie bisher gefunden hatten, verband das gleiche scheußliche Merkmal.

Unsanft drehte Philbin den Toten auf den Rücken. Der bedeckte Arm lag in einer fauligen Lache aus zersetztem Fleisch und geronnenem Blut. Es stank bestialisch nach Verwesung, obwohl die noch gar nicht eingesetzt haben dürfte.

„Reicht das?“
„Zieh den Ärmel hoch!“, forderte einer seiner Freunde. Seine Finger wollte sich der ehemalige Auror nicht schmutzig machen und so entfernte er mit Hilfe seines Zauberstabes den Ärmel der schwarzweiß gestreiften Gefängnisbekleidung, um das Loch im Arm des Toten freizulegen. „Jetzt genug? Bei den anderen sieht's genauso aus.“

Vom Gang her hörte man Schritte. Ein Wärter mittleren Alters, einer vom anderen Wächtertrupp, suchte Philbin und seine Männer auf. Von dem Schrecken, den er heute erleben musste, hatte Nuncius ein ganz fahles Gesicht.

„Ich soll ausrichten, dass es Überlebende gibt, Sir. Sie alle ...“ Nuncius war völlig schockiert. „Sie alle schreien, sind gar nicht zu beruhigen. Die Erste Hilfe schlägt nicht an.“
Der ehemalige Auror seufzte. „Informiert das Mungos!“

Im Mungos war die Hölle los. Mike hatte die Schreie aus dem Raum, in dem sich seine Kollegin Marie mit dem ehemaligen Patienten aufhielt, als Erster gehört und war sofort zu Hilfe geeilt. Kaum hatte er das Zimmer betreten, wies sie ihn an, dieses und jenes heranzuzaubern: Mittel zur Desinfektion, Tupfer, Mullbinden, Tränke. Nicht alles konnte er sofort verstehen, denn Malfoy, der sich am Boden wandte, schrie vor Schmerzen. Mittendrin wimmerte er immerzu „Er kann nicht zurück sein! Er kann nicht zurück sein!“. Marie hielt Lucius fest und sprach einen Zauberspruch nach dem anderen, um – und da wurde Mike ganz übel, als er das sah – die riesige offene Wunde am Unterarm des Patienten zu säubern. Der sonst so pfleglich behandelte Boden war voll mit frischem Blut und einer schwarzen Flüssigkeit. Beides lief aus der Wunde heraus, die Marie säuberte – wieder und wieder säuberte, denn diese schwarze Flüssigkeit war schwer zu entfernen; sie höhlte den Arm immer weiter aus, fraß sich durch das Fleisch hindurch.

„Nichts hilft!“ Marie war außer sich. „Die Wunde wird immer größer!“ Ein Schwelbrand im Gewebe. „Wenn sie nicht endlich ...“ Sie hielt inne. Ein Geistesblitz schoss ihr durch den Kopf. „Murtlap-Essenz!“ Maries Anweisungen an Mike waren knapp, aber sie schien zu wissen, was sie tat und so assistierte er ihr. Er reichte ihr die Heillösung, die bei allen schmerzhaften magischen Verletzungen Wunder wirkte. Die schwarze Brühe wurde endlich aus dem offenen Arm herausgespült und zwar komplett. Marie begann zu zittern. Sie fürchtete um das Leben des Patienten, um das Leben eines neuen Freundes. „Hol den Trunk des Friedens.“ Wenigstens sollte Lucius keine Schmerzen mehr haben.

Dieses starke Beruhigungsmittel verfehlte seine Wirkung. Lucius bäumte sich vor Schmerzen auf, murmelte dabei immer wieder mit bebender Stimme, dass „es nicht sein darf“. Er befürchtete, weil es nahe lag, Voldemort hätte ihm diese Qual beschert. Mehr von dem starken Beruhigungsmittel durfte sie ihm nicht geben. Eine weitere Dosis wäre tödlich.

Dank der Murtlap-Essenz war zumindest die schwarze Masse aus dem Arm gespült. Nur deshalb wurde die Wunde nicht mehr größer. Sie war bereits tödlich und würde nicht gleich etwas geschehen, müsste Lucius sterben. Er verlor zu viel Blut. Marie erinnerte sich an all das, was sie aus Büchern über die Heilkunst gelernt hatte. Wieder ein Geistesblitz. Mit einem Wutsch ihres Stabes öffnete sie eine der verschlossenen Schranktüren und ließ einen Ein-Liter-Behälter auf sich zufliegen.

„Marie, das darfst du nicht! Dafür wird man dich rausschmeißen!“, mahnte Mike, doch Marie hatte längst den Korken entfernt, um die teure Essenz großzügig über die Wunde fließen zu lassen. Der Schmerz blieb, aber der Brand war endgültig gelöscht. Einen Augenaufschlag später hörte es auf zu bluten. Die seltene Essenz hatte den Heilprozess eingeleitet, der bei der Größe der Wunde dauern würde.

Marie fühlte den leichten Druck der bleichen Finger an ihrer Hand. Mit seiner rechten hatte Lucius nach ihr gegriffen. Er wollte die Wärme eines anderen Menschen spüren. Sie drückte einmal seine Hand, blickte ihn dabei an und lächelte das Lächeln, das einem Sonnenaufgang ähnelte. Der Schmerz hatte sämtliche Adern in dem Weiß seiner Augen platzen lassen. Lucius atmete nur noch flach, aber regelmäßig und biss die Zähne zusammen, um weitere Schreie zu unterdrücken. Jede noch so kleine Bewegung war unerträglich.

„Ist die 14 noch frei?“
Voller Entsetzen blickte Mike auf den offenen Unterarm, auf die Knochen und das ganze Fleisch. Das war beinahe wie der Unterricht bei Professor Junot, ging es ihm durch den Kopf, nur dass dieser Mann hier noch lebte. „Was?“
„Zimmer 14, noch frei?“
„Ja“, bestätigte Mike.
„Dann hilf mir.“

Die Tür wurde aufgeschlagen. Ein aufgebrachter Professor Puddle stürmte herein. Es war offensichtlich, dass er etwas ganz anderes wollte, denn beim Anblick von Malfoy und seiner Wunde verschlug es ihm die Sprache. Es benötigte nur ein Räuspern, um die Stimme wiederzufinden.

„Was zum Teufel ist denn hier los?“ Sofort stürmte der Heiler auf Marie zu, widmete sich aber nicht ihr, sondern dem Patienten, neben dem er kniete. „Wie ist das passiert?“ Mit seinem Stab sprach er einige Diagnosezauber. Puddle mochte ein Mann mit unerträglichem Charakter sein, aber er war ein guter Heiler.
Lucius war nicht in der Lage, auf die Frage des Heilers zu antworten, also übernahm Marie es. „Es fing ganz plötzlich an, ohne Vorwarnung.“ Puddle schob sie beiseite und während sie ihm die Situation erklärte, betrachtete er die tiefe Wunde.
„Die Schmerzen müssen unerträglich sein. Geben Sie ihm etwas vom Trunk des Friedens.“
„Das habe ich schon, Sir“, gab sie zu.
„Auf wessen Anweisung?“, fragte der Heiler provokant nach, betrachtete dabei die ganzen Dinge, die am Boden neben Marie lagen. Tränke, Binden und ... „Phönixtränen?“
„Erst mit denen gab es eine Reaktion, Professor. Vorher hat nichts geholfen. Erst jetzt hat die Wunde aufgehört zu bluten.“

Puddle schnaufte wütend, kümmerte sich jedoch um Lucius und sprach ein paar Zauber, die allesamt ohne Wirkung verpufften. Weder nahmen sie den Schmerz noch konnten sie die Wunde schneller heilen. Einzig die Phönixtränen, die wie in einer Schale aus Fleisch schwammen, vermochten die Wunde zu heilen.

„Mike?“
„Ja, Professor Puddle?“
„Bringen Sie Mr. Malfoy so vorsichtig wie nur möglich in Zimmer 14. Achten Sie darauf, dass die Tränen in der Wunde bleiben. Fixieren Sie den Arm und ...“

Wieder wurde die Tür aufgerissen. Eine andere Schwester stürmte hinein und – wie schon Puddle vor ihr –erstarrte beim Anblick von Lucius' Arm zur Salzsäule.

„Ellen“, begann Puddle reserviert, „Sie haben Schlimmeres erlebt, also fangen Sie sich wieder. Was ist?“
„Der Patient ...“ Sie überschlug sich. „Der Komapatient ist wach! Sein Arm ... Sein linker Arm ...“ Ellen deutete auf Malfoy. „Genau das Gleiche!“
„Was?“ Wie von der Tarantel gestochen erhob sich Puddle. „Warum muss das ausgerechnet samstags passieren, wo wir so schlecht besetzt sind?“ Er stöhnte, bevor er sich an Marie und Mike wandte. „Bringen Sie Mr. Malfoy sofort ins Zimmer. Tun Sie alles, was ihm Erleichterung verschafft.“ Er blickte Marie an. „Vielleicht könnten Sie seine Familie kontaktieren, wenn Sie einen Moment Zeit finden?“ Marie nickte. „Gut, danach möchte ich, dass immer jemand bei ihm ist.“ Jetzt gab der Heiler seine Anweisungen an Schwester Ellen. „Professor Junot ist unten. Flohen Sie sie an und wenn Sie nicht erreichbar ist, dann gehen Sie persönlich runter und zerren sie her!“ Schwester Ellen rannte sofort los. Puddle warf noch einen Blick auf Malfoy. „Ich bin bei unserem Dornröschen und sehe nach, was mit ihm ist.“ Vorsichtshalber griff er sich den Behälter mit Phönixtränen, falls das auch bei dem jungen Mann das Einzige sein sollte, das helfen würde. „Ich werde gleich nochmal zu Ihnen kommen, Mr. Malfoy.“

Mike und Marie transportierten Lucius sorgsam mit einer schwebenden Trage in Zimmer 14. Er stöhnte bei der kleinsten Erschütterung. Sein Gesicht war die ganze Zeit über schmerzverzerrt, aber was Marie viel mehr Sorgen machte, war der große Blutverlust.

„Haben die Tränke wenigstens ein bisschen geholfen?“, wollte Marie von ihm wissen, während sie ihn auf das Bett legten. Lucius schüttelte benommen den Kopf. Noch immer biss er die Zähne zusammen. Tränen rannen ihm an den Schläfen hinab und verschwanden in den blonden Haaren. Das Brennen war unerträglich.
„Warum wird er nicht ohnmächtig?“, fragte Mike nebenher. „Bei solchen Wunden“, er warf einen Blick auf den ausgekratzten Arm, „müsste man umfallen, schon wegen des ganzen Blutverlusts.“

Marie achtete nicht auf das, was Mike sagte, sondern blickte Lucius in die Augen, damit er wusste, er wäre nicht allein in seiner Qual. Draußen im Flur hörte man plötzlich jemanden rufen, was unüblich war. In einem Krankenhaus, selbst in einem magischen, herrschte Ruhe auf den Gängen.

„Mike, sieh mal nach, was draußen los ist.“

Der Pfleger mittleren Alters ging vor die Tür. Man hörte, wie er mit jemandem sprach, bevor er völlig aufgelöst zurück ins Zimmer kam.

„Es kam ein Notruf aus Askaban. Offenbar sind alle ...“ Weder wollte er das Wort Todesser in den Mund nehmen noch die Bezeichnung „dunkles Mal“ verwenden. Er nickte einfach zu Lucius' Arm. „Anderen ging es genauso.“ Maries Unterlippe begann zu zittern, weshalb sie sie einfach zwischen die Zähne nahm. „Ich muss draußen helfen, Marie. Wir müssen ein paar Heiler herholen, die eigentlich heute frei haben. Schaffst du es allein mit ihm?“
„Ja“, bestätigte sie mit dünnem Stimmchen. Falls er sie nicht gehört haben sollte, nickte sie.
„Okay, ich bin dann im Schwesternzimmer und flohe die Leute an. Wenn irgendwas ist, dann ruf nach mir, in Ordnung?“ Nochmals nickte sie.
Nachdem Mike gegangen war, beugte sie sich zu Lucius und flüsterte: „Was ist nur geschehen?“
Auf ihre Frage ging er nicht ein. Sie hörte ihn immer wieder sagen: „Mein Sohn, was ist mit meinem Sohn?“
„Ich werde mich erkundigen, aber erst einmal muss ich mich um Sie küm...“
„Mein Sohn!“ Lucius hatte Angst, dass es Draco ebenso erwischt haben könnte wie ihn.
„Beruhigen Sie sich. Ich werde sehen, was ich herausbekommen kann.“

Im Mungos suchte man im Moment alle Heiler zusammen, die sich von ihrer Station entfernen konnten. Ein paar von ihnen sollten nach Askaban geschickt werden.

Helfende Hände waren gerade auch in den Kerkern in Hogwarts dabei, sich um Severus zu kümmern, was nicht so einfach war. Die riesige Wunde reichte von der Armbeuge bis kurz unter den Puls und sah aus, als hätte jemand eine Vertiefung eingeschnitzt. Ein Relief des Grauens. Severus hatte bereits eine Menge Blut verloren. Wofür Hermine in ihrer Ausbildung beim Mungos immer dankbar gewesen war, waren die vielen verschiedenen Tränke, mit denen sie den Menschen wenigstens den Schmerz nehmen konnte. Bei Severus schlug nichts von alledem an. Es schien fast so, als musste er diese Pein durchleiden.

„Zu Poppy!“, wies Hermine ihre beiden Freunde an. Sirius bückte sich und umfasste Severus' Oberkörper von hinten, während Remus einen Zauberspruch anwandte, damit sein Kollege so leicht wie eine Feder wurde.
„Durch den Kamin?“ Sirius war unsicher, was zu tun war, aber er war bereit, jede Anweisung entgegenzunehmen.
„Ja, das geht schneller“, bestätigte Hermine, deren Herz so schnell das Blut durch ihren Körper jagte, dass ihr Gesicht schon ganz heiß war. Severus hingegen hatte so viel von dem Lebenssaft verloren, dass seine eh schon blasse Hautfarbe nun an die eines blutleeren Vampirs erinnerte. Er hatte sich die Kehle rau geschrien, jetzt stöhnte er nur noch kraftlos und kniff die Augen fest zusammen, um den Schmerz wegzuwünschen.

Der Transport über den Kamin war kurz und alles andere als komfortabel. Sirius hatte sich an einem der anderen Kamine, die sie während der kurzen Reise passiert hatte, den Hinterkopf aufgeschlagen. Die Landung war so unsanft gewesen, dass Severus mit heiserer Stimme schrie. Sein durchgeschüttelter Arm quälte ihn. Hinter Sirius kamen die beiden anderen durch den Kamin. Remus war so geistesgegenwärtig und entfernte den Ruß auf Sirius und Severus. Noch immer schrie Severus, wenn auch nicht mehr aus voller Kehle. Dazu fehlte es ihm an Kraft. Seine linke Hand schlackerte unkoordiniert hin und her. Die Sehnen und Nerven, mit denen man normalerweise die Finger bewegen konnte, waren bei ihm weggebrannt.

Ein Zweitklässler mit einem Armverband – ein Souvenir vom letzten Quidditchspiel –, sprang vom Bett auf und blickte mit Horror in den Augen auf seinen schreienden Tränkelehrer, der von einem ihm nicht bekannten Mann in ein Bett gehievt wurde. Der Junge verließ sein Bett und rannte aus dem Krankenzimmer hinaus. Gerade als Hermine zu Poppy eilen wollte, sah sie die schon an der Tür zum Krankenzimmer. Der Schüler hatte sie geholt und zeigte mit ausgestrecktem Finger auf den Notfall. Sofort rannte Poppy zu Severus hinüber.

„Bei Merlin!“ Trotz des Schreckens, mit so einer Wunde konfrontiert zu werden, behielt sie die Ruhe und zog ihren Stab.
Hermine atmete genauso flach wie Severus, doch ihr Puls raste. „Ich hab ihm den Trunk des Friedens gegeben. Es hat nichts gebracht!“ Poppy nickte und hörte weiter zu, wie bisher schon bei diesem Patienten vorgegangen wurde. Während Hermine erklärte, sprach Poppy einen Diagnosezauber, der ein Stück Pergament in der Luft erscheinen ließ. Sirius und Remus hatten sich einige Schritte vom Bett entfernt, blieben aber hier, falls man ihre Hilfe benötigen würde.

Weil kein heilender Zauberspruch half, steckte Poppy ihren Stab weg. Vorsichtig legte sie ihre Finger neben die Wunde und erschrak, als der schwarze Sud darin ein Eigenleben zeigte und sich am Fleisch festklammerte.

„Das muss sofort raus aus der Wunde“, murmelte sie zu sich selbst. „Remus, informieren Sie bitte eine meiner Schwestern, danach Albus.“ Remus nickte und sprintete los. „Hermine, was ist geschehen? War das ein Brauunfall? Oder ein Fluch?“
„Nein Poppy, es fing aus heiterem Himmel an. Es ist die Stelle, an der das dunkle Mal ...“
Poppy streckte den Rücken und blickte Hermine mit großen Augen an. „Mr. Black?“ Sirius trat ans Bett heran. Sein Blick war starr auf die große Wunde gerichtet, doch er hörte Poppys Anweisung. „Wären Sie so nett, den Schüler in seinen Gemeinschaftsraum zu schicken?“
„Ja“, hauchte er verstört, bevor er zu dem Jungen hinüberging, der ohne Murren gehorchte und das Krankenzimmer im Pyjama verließ.

Für den Jungen war die Aufregung groß. Endlich hätte er etwas, das er brühwarm den Mitgliedern seines Hauses erzählten könnte, um einmal in seinem Leben etwas Bewunderung zu erhaschen. Eilig rannte er die Treppen hinauf, um ganz oben vom siebten Stockwerk aus in den Turm zu gelangen, in welchem Ravenclaw untergebracht war. Schon im zweiten Stock hielt er inne und presse sich ans Treppengeländer, weil eine aufgebrachte Meute Erwachsener ihm entgegenkam. Zu seinem Entsetzen schrie einer von ihnen wie am Spieß. Die beiden Männer, die ihn stützten, versuchten den Verletzten zu beruhigen. Als die drei an dem Jungen vorbeigegangen waren, folgte ein Mann, der einen anderen im Arm trug. Der Schüler erkannte seinen Lehrer für Verteidigung gegen die Dunklen Künste.

Um sich herum hörte Harry viele Stimmen. Als er blinzelte, bemerkte er die Bilder an sich vorbeihuschen, die im großen Treppenhaus hingen. Die Menschen in den Gemälden schienen durchweg erschrocken zu sein. Harrys Kopf brummte. Er war sich sicher, dass seine Beine sich nicht bewegten und doch schien er durchs Treppenhaus zu gleiten. Er blinzelte noch ein paar Mal und sah Rons Gesicht ganz dicht neben sich.

Mit schwacher Stimme fragte Harry: „Ron? Warum trägst du mich?“
„Du blutest, Harry.“ Ron klang besorgt und war außer Atem. Seine Worte waren zittrig und leise gewesen.
'Tatsächlich?', fragte sich Harry still, bevor er sich nochmals an Ron wandte. „Ich fühle mich gut.“
„Du siehst nicht gut aus. Wir sind gleich da.“
Harry schloss die Augen und genoss ein Gefühl, das er bis dato nie gespürt hatte. Man konnte es mit absoluter Freiheit bezeichnen. Harry lächelte. Ohne die Augen zu öffnen fragte er: „Wo blute ich?“
„Am Kopf.“
Der Weg war wackelig, aber es störte Harry nicht. Was ihm nicht gefiel waren die Geräusche um ihn herum. „Wer schreit denn da?“, wollte er wissen.
„Draco.“ Ein paar Schritte weiter hörte er Ron sagen. „Wir sind endlich da!“

Dean und Luna hielten die Flügeltür zum Krankenzimmer auf, damit zuerst Fred und Neville eintreten konnten. Sie hatten Draco in ihre Mitte genommen, dessen Füße am Boden entlangschleiften. Sein Blick war glasig, die Haut aschfahl und das Gesicht durch Schmerzen verzerrt.

„Was ist denn jetzt ...?“ Poppys Worte blieben ihr im Hals stecken, als sie Dracos Arm sah. Es zeigte sich die gleiche Wunde wie bei Severus, nur nicht so groß. „Auf das Bett mit ihm!“ Fred und Neville kamen der Aufforderung auf der Stelle nach. Als die gesamte DA sich ins Krankenzimmer drängte, sprach Poppy ein Machtwort. „Hinaus! Alle! Und zwar ...“

Wieder verschlug ihr etwas die Sprache. Es sah so aus, als würde Ron wie Moses das Wasser teilen, denn die DA-Mitglieder bildeten eine Schneise für ihn, um ihn passieren zu lassen. Mit einem bewegungslosen Harry im Arm eilte Ron so schnell wie möglich an den anderen vorbei und schnaufte dabei wie ein Stier. Immerhin hatte er Harry vom siebten Stock in den ersten getragen.

Von hinten hörte man Remus' Stimme, der die jungen Menschen anwies, den Krankenflügel schleunigst zu verlassen. Nur widerwillig drehten sie sich um und gingen. Die meisten warfen noch einen Blick auf Severus. Niemand musste es sagen, denn es schien eindeutig, dass das Unheil nicht nur Draco heimgesucht hatte, sondern alle, die auf diese Weise gerufen wurden. Gleich zwei Schwestern hatte Remus geholt und über deren Kamin Albus Bescheid gegeben.

Sirius drückte sich ein Tuch an den Hinterkopf, um die Blutung durch den Kaminunfall zu stoppen. Als sein Blick auf Harry fiel, wurde er von Angst erfüllt. Er warf das Tuch weg und hastete zu dem Bett hinüber, in welchem Ron gerade Harry abgelegt hatte.

Er nahm die Hand seines Patensohns. „Harry? Harry?“ Sein Patensohn öffnete die Augen nicht, atmete aber einmal kräftig ein und aus.
„Mmmh?“, hörte man Harry summen. Offenbar verspürte er keine Schmerzen, sondern schien nur furchtbar müde.
„Wie geht es dir?“
Harry fühlte eine Hand an seiner Wange. „Ich möcht' schlafen“, gestand er. Die Augen hatte er nicht ein einziges Mal geöffnet.

Von all der Aufregung zitterte Hermine am ganzen Leib. Sie blickte auf Severus, der die Augen fest zusammenpresse, genauso wie die Zähne. Sein Gesicht hatte beinahe die gleiche Farbe wie die frische Krankenbettwäsche. Gegenüber lag Draco, mit einer klaffenden Wunde am Arm, die wie der kleine Bruder von Severus' Verletzung aussah. 'Aber warum Harry?', fragte sie sich selbst. Fred und Neville befanden sich noch an Dracos Bett. Neville hatte sich setzen müssen. Fred hingegen blickte mit großen Augen auf seinen ehemaligen Zaubertränkelehrer, dann auf Harry, der in Dracos Nachbarbett lag und von einer der Schwestern umsorgt wurde. Auch er machte sich Gedanken, die sich ums dunkle Mal und um Todesser drehten.

„Esther?“
„Ja, Madam Pomfrey?“
„Kontaktieren Sie sofort unsere Anlaufstelle im Mungos. Ich möchte unverzüglich einen weiteren Heiler hier haben!“ Esther nickte und verschwand in Poppys Büro.
„Harry?“ Hermine stürmte zu seinem Bett. Sie schob sich an Sirius und Ron vorbei. „Harry?“ Sie berührte seine Wange. Er seufzte erleichtert.
„Lasst mich schlafen“, bat er flüsternd. „Nur ein Stündchen.“ Die Worte waren kaum geflüstert, da wurden sie durch ein leichtes Schnarchen abgelöst.
„Harry, verdammt“, Ron ergriff seine Schulter, „du kannst doch jetzt nicht schlafen!“
„Lassen Sie ihn in Ruhe, Mr. Weasley“, maßregelte Poppy in mit scharfer Stimme. Sirius untermalte ihre Worte, indem er Ron am Oberarm griff und von Harry weg zog.

Hermine strich das wirre schwarze Haar von der Stirn ihres schlafenden Freundes. Die Wunde an Harrys Kopf musste stark geblutet haben. Sein Ohr war ganz rot und die Haare verklebt. Nachdem die Stirn von einer der Schwestern gereinigt worden war, konnte man seine blitzartige Narbe sehen. Anscheinend war sie aufgeplatzt. Ein Blick von Poppy reichte aus, um die Situation bei Harry nicht als lebensbedrohlich einzustufen.

„Ein Pflaster wird genügen“, wies sie die Schwester an, bevor Poppy sich Draco widmete. Am liebsten würde sie sich zweiteilen, denn Severus benötigte ebenfalls ihre Aufmerksamkeit. „Hermine, Sie sind Heilerin.“ Hermine nickte, auch wenn sie im Moment nicht einmal mehr wusste, wie ihr Name war. „Gehen Sie zu Severus und spülen Sie die Wunde aus.“ Sie reichte ihr eine metallene Schale, womit sie die Suppe aus Blut, gelöstem Fleisch und schwarzer Brühe auffangen sollte.
„In Ordnung“, murmelte sie abwesend.

Esther hatte von Poppys Kamin aus das Mungos kontaktiert.

Ihre Nachricht wurde von einer Schwester namens Ellen an Professor Puddle weitergegeben.

„Sir, Hogwarts beruft sich auf die Notfallklausel. Wir müssen zwei Heiler hinschicken“, sagte sie hastig.
Puddle entgleisten die Gesichtszüge. „Ja Merlin, ist denn heute die ganze Welt verrückt geworden? Sagen Sie Dumbledore, dass er einen Heiler und eine Schwester bekommt. Wir haben hier selbst Probleme. Mit ihren Quidditchunfällen kann ich mich heute nicht befassen.“
„Nein Sir, keine Unfälle.“ Ellen atmtete aufgeregt. „Zwei Fälle, wie wir sie haben.“
„Was? In Hogwarts?“ Aufgebracht blickte er sich um. Er erspähte Professor Junot, die gerade die Station betreten hatte. Sogleich rief er sie zu sich.
„Professor Puddle“, grüßte sie unsicher, „was ist denn hier nur passiert?“
„Hören Sie, nehmen Sie sich Schwester Marie und flohen Sie nach Hogwarts. Lassen Sie sich von Marie erklären, was geschehen ist. Sie hat bereits Mr. Malfoys Zustand stabilisieren können. Das Gleiche soll sie auch in Hogwarts tun.“
„Aber ...“

Junot wurde arg unterbrochen, aber nicht von Puddle, sondern Gwen, die sich eigentlich um den Eingangsbereich kümmerte.

„Professor! Die Notaufnahme platzt aus allen Nähten. Wir haben unzählige Neuzugänge. Alle haben eine große Verletzung am linken Unterarm. Die sterben da unten wie die Fliegen!“, rief Gwen verzweifelt.
„Das kann doch alles nicht wahr sein!“ Puddle fuhr sich durch die schütteren Haare und hielt bei dem Stress gleich ein Büschel zwischen den Fingern. Junot wies er an, mit Marie auf der Stelle nach Hogwarts zu flohen. An Gwen gerichtet befahl er: „Kontaktieren Sie das Gunhilda! Die sollen uns alle Heiler schicken, die zur Verfügung stehen. Selbst die, die sie normalerweise nicht entbehren können.“ Gwen nickte und verschwand. „Ellen!“
„Ja, Sir?“
„Haben Sie die Heiler zusammen, die nach Askaban gehen sollen?“
„Die sind schon weg. Ich habe alle geschickt, die ich finden konnte.“
Puddle nickte. „Gut so, gut!“ Er atmete einmal tief ein und aus, um seine professionelle Ruhe wiederzuerlangen, was unter diesen Umständen nicht leicht war. „Ellen, verlegen Sie Malfoy in das Zimmer des Patienten, der aus dem Koma erwacht ist und bleiben Sie bei den beiden! Ich bin unten in der Notaufnahme. Bei der geringsten Verschlechterung ihres Zustandes rufen Sie mich!“
„Ja, Sir.“

Von der Aufregung im Mungos war ein paar Blocks weiter im Ministerium nichts zu spüren. Kingsley und Tonks waren mit Kevin und Tracey gerade auf dem Weg nach unten, da kam ihnen Dawlish entgegen, der meistens samstags arbeitete, um sich bei seinen Vorgesetzten lieb Kind zu machen. Dawlish war im Stress. Das konnte man an seiner Mimik und der verspannten Körperhaltung erkennen.

„Shacklebolt! Ich bin so froh, dass ich Sie antreffe. Wissen Sie, wo der Minister ist?“
Kingsley nickte. „Der ist in Hogwarts und möchte nicht gestört werden. Um was geht es denn.“
„Irgendetwas ganz Furchtbares ist geschehen. Erst ist Mr. Abrahams zusammengebrochen, Sir. Auch einer seiner Kollegen.“ Mr. Abrahams war der Leiter der Abteilung für Magische Unfälle und Katastrophen. Er hatte den Muggel Geoffreys und seinen Trupp nach der Sicherstellung der Muggelwaffen mit einem Vergissmich belegt.
„Was ist mit Abrahams?“, fragte Kingsley nach.
„Sein Arm ist“, er suchte nach Worten, „verbrannt? Er hat ein Loch im Arm! Ich habe sowas noch nie gesehen! Ich habe erst gedacht, er ist angegriffen worden, aber das scheint nicht der Fall zu sein. Ich habe ihn und seinen Kollegen ins Mungos bringen lassen.“
„Na, dann ist doch alles geklärt.“
„Nein!“, widersprach Dawlish. „Drei Mitarbeitern der Magische Strafverfolgungspatrouille erging es eben genauso, außerdem auch welchen vom Büro gegen den Missbrauch von Muggelartefakten. Das Phänomen zieht sich durch alle Abteilungen, Shacklebolt! Überall gibt es Mitarbeiter mit einer großen Wunde am linken Arm! Wir müssen den Minister darüber unterrichten, denn das Merkwürdigste ist, dass wir gerade auch eine Meldung aus Askaban erhalten haben. Die haben mit dem gleichen Problem zu kämpfen. Die Todesser sterben!“
„WAS?“
„Ich vermute“, erklärte Dawlish weiter, „dass es sich bei denen mit dieser Verletzung durchweg um Todesser handelt. Minister Weasley hatte Recht! Es gab noch eine Menge versteckter Anhänger im Dienste des Zaubereiministeriums!“

Für einen kurzen Augenblick stand Kingsley unter Schock. Er war weder fähig, ein Wort herauszubringen noch zu handeln, doch Tonks' Hand an seinem Rücken ließ ihn die Ruhe wiederfinden.

„Dawlish, wenn Sie alle Verletzten ins Krankenhaus gebracht haben, erwarte ich unverzüglich einen vollständigen Bericht. Wir vier machen einen kurzen Abstecher nach Hogwarts, damit ich Minister Weasley unterrichten kann.“
„Gut!“ Dawlish drehte sich und rannte den gleichen Weg zurück.

Die vier Auroren versuchten, über das Flohnetzwerk zu Albus zu gelangen, doch sie kamen nicht durch. Albus war nicht in seinem Büro.

„Versuchen wir's bei einem der Lehrer!“ Wie selbstverständlich schlug sie ihre alte Hauslehrerin vor: „Sprout vielleicht?“
„Ja, machen wir. Immer zwei auf einmal!“

Außer Tonks, Kingsley, Kevin und Tracey flohten gleichzeitig noch Professor Junot und Schwester Marie nach Hogwarts. Die beiden Frauen kamen durch den Kamin in Poppys Büro und stürmten ohne einen Empfang abzuwarten ins große Krankenzimmer. Der Anblick, der sich ihnen bot, ließ beiden das Blut in den Adern gefrieren.

Auf der einen Seite stand eine junge Hexe, die Marie schon einmal flüchtig im Krankenhaus gesehen hatte, als Miss Parkinson erwachte. Auch den Mann, dessen Arm die junge Frau mit keimfreien Wasser spülen wollte, kannte sie vom Sehen. Marie ging sofort zu ihr hinüber.

„Ich bin Marie“, stellte sie sich kurz vor. „Spülen Sie die Wunde nicht mit Wasser aus, sondern mit Murtlap-Essenz. Das bindet die schwarze Substanz und sie lässt sich auswaschen. Danach reichlich Phönixtränen in die Wunde geben.“
An dem Häubchen erkannte Hermine, dass es sich um eine Schwester aus dem Mungos handelte. Ohne sich in ihrem Stolz verletzt zu fühlen, dass eine Krankenschwester ihr sagte, was sie zu tun hatte, folgte sie dem Ratschlag. „Poppy, wir brauchen Murtlap-Essenz. Damit spülen wir die Wunde aus“, gab Hermine an die Heilerin von Hogwarts weiter, die sich um Draco kümmerte.
Als Marie nochmals lauter sprach, damit alle es hörten, horchte Poppy auf. „Danach den Arm fixieren und die hohle Stelle mit Phönixtränen füllen. Das stoppt sofort die Ausbreitung der Wunde und läutet den Heilprozess ein.“

Auch Poppy nahm die Anweisung der Schwester ernst. Murtlap-Essenz hatte sie zur Genüge. Severus war so freundlich gewesen, dieses Mittel für sie zu brauen, als sie mit ihrem Zeitplan ein wenig hinterherhinkte. Von Esther ließ sie sich die Behälter bringen. Einer wurde gleich an Hermine weitergegeben.

Professor Junot erkannte Hermine als eine ehemalige Auszubildende wieder und schenkte ihr ein kurzes Lächeln, um sie unter diesen Umständen so knapp wie nur möglich zu grüßen. Gemeinsam behandelten sie den Arm von Severus, der bei jeder Bewegung Luft durch die Zähne einsog. Junot hielt ihn am Ellenbogen und an der Hand fest, während Hermine vorsichtig die Murtlap-Essenz in die Wunde goss, um sie zu reinigen. Sofort fuhr Severus zusammen, wehrte sich sogar, weil man ihm so einen Schmerz zufügte.

„Es ist gleich vorbei, Severus“, wollte Hermine beruhigen, doch mit der rechten Hand ergriff er Junots Handgelenk und drückte mit aller Kraft zu. „Severus, nicht! Du tust dir nur noch noch mehr weh!“ Ihre Worte kamen zu spät, denn weil er mit seiner rechten Hand über den eigenen Körper griff, drehte er sich dabei leicht. Unzählige Nerven und Muskeln wurden bei dieser kleinen Bewegung aktiv, leider auch die, deren toten Enden in dem ausgebrannten Loch zum Erliegen gekommen waren. Ein Schmerz von unermesslichem Ausmaß durchfuhr ihn und er schrie.
„Hilft gegen die Schmerzen denn gar nichts?“, wollte Junot wissen, die sich von seinem Griff an ihrem Handgelenk nicht gestört fühlte.
Hermine schüttelte den Kopf. „Die höchste Dosis vom Trunk des Friedens habe sich ihm verabreicht und noch immer ist er hellwach.“ Schwächlich wehrte sich Severus, so dass Hermine einen Moment innehielt und sich zu ihm beugte. Mit feuchten Augen blickte er in die ihren, als sie leise sprach: „Das Schwarze muss aus dem Arm heraus. Du musst stillhalten, auch wenn es wehtut! Erst danach kann es heilen.“ Sein Blick flimmerte unruhig hin und her. „Severus, hast du verstanden?“ Ein kurzes Nicken, dann ließ er Junots Hand los. Im gleichen Moment spannten sich die Muskeln seines Kiefers an. Er bereitete sich darauf vor, alles zu ertragen. Hermine blickte die Professorin an, bei der sie damals das Fach 'Inaugenscheinnahme' hatte und nickte ihr zu. „Noch einmal.“

Der faulig süße Geruch der öligen Masse, dem letzten Überbleibsel des Dunklen Lords, stieg Hermine in die Nase, als Junot Severus' Arm in Position drehte. Festklammern wollte es sich, das finstere Unheil, wollte sich an seinem Fleisch nähren, um nicht zu vergehen. Mit seinen kleinen Armen, gleich den Tentakeln einer umhertastenden Magie, suchte es halt an Knochen und Gewebe und verdarb dabei alles, was es berührte. Nochmals setzte Hermine die Flasche Murtlap-Essenz an. Mit großzügigen Mengen spülte sie die Wunde rein; wusch das Kainsmal ein für allemal aus seinem Körper.

Wie von einem kräftigen Bergwind geöffnet schlug die Tür zum Krankenflügel auf. Es war Albus, gefolgt von Arthur und Molly, die das Chaos für einen Moment betrachteten.

„Poppy?“
„Nicht jetzt, Albus.“ Selten verweigerte ihm jemand das Gehör, doch dass es diesmal vonnöten war, konnte er mit eigenen Augen sehen. Poppy reinigte Dracos Wunde. Der junge Mann konnte sich nicht so sehr beherrschen wie sein Patenonkel, hatte er doch zuvor noch nie so eine Qual erdulden müssen. Das dunkle Mal anzunehmen war schon schmerzhaft gewesen, aber sich dessen zu entledigen war fast unerträglich.
„Oh Merlin“, schluchzte Molly. „Was ist nur los?“ Ihr Blick fiel auf Ron, der bewegungslos neben Sirius stand und auf Harrys schlafenden Körper starrte. Furcht übermannte sie. „Was ist mit Harry?“ Ohne dass Arthur sie aufhalten konnte, war sie bereits am Bett des Schlafenden und führte die Hand an das Pflaster, unter der sich seine Narbe verbarg. Sie wagte nicht, die Stelle zu berühren. Stattdessen schwebten ihre zitternden Finger über dem Pflaster, als wollte sie Harry durch übermächtige Kräfte erwecken. Als sie den Blick von der Stirn abwenden konnte, beruhigte sie sein seliger Gesichtsausdruck auf der Stelle.
„Er schläft nur, Mom.“
„Ron? Oh Ron.“ Sie stürmte auf ihren Sohn zu und drückte ihn stärker denn je an sich, was er über sich ergehen ließ. Er war momentan nicht sehr aufnahmefähig.

Marie half Poppy und erwies sich als ausgezeichnete Schwester mit den Fähigkeit einer Heilerin.

„Haben Sie Phönixtränen hier?“, fragte Marie. Poppy nickte und schickte eine ihrer Schwestern, um die Flaschen zu holen. Eine war schon angebrochen und stand seit über zwanzig Jahren im Schrank, was der Wirkung jedoch keinen Abbruch tat. Die andere war ganz frisch. Die Schwester reichte eine der kleinen Flaschen an Poppy.
„Danke, Esther.“ Voller Zuversicht gab Poppy die Flasche an Marie weiter, die erstaunt darüber war, dass man sie freiwillig mit so einer kostbaren Essenz arbeiten ließ. Von Professor Puddle – da war sie sich sicher – müsste sie sich, wenn alles vorüber war, wegen der unerlaubten Anwendung von Heilmitteln noch eine Standpauke anhören. Vorsichtig träufelte sie die Tränen mit der heilenden Wirkung in das klaffende Loch im Arm des Patienten, der dabei kraftlos wimmerte.
„Die Wunde wird nicht mehr größer!“, stellte Poppy erstaunt fest. „Und die Tränen beginnen schon zu wirken. Wie es aussieht, dauert es bei einer so komplexen Verletzung sehr viel länger.“
„Ja“, stimmte Marie zu. „Das Gleiche habe ich im Mungos bei einem Patienten gemacht.“ Sie blickte zu Draco hinüber. Die Ähnlichkeit war unverkennbar, aber dennoch wollte sie sichergehen. „Wie ist Ihr Name, Sir?“ Seine Lippen bebten, aber antworten konnte er nicht. Das übernahm Poppy.
„Draco Malfoy.“
„Malfoy“, wiederholte Marie leise. „Darf ich einen Moment mit Mr. Malfoy allein sprechen?“ Poppy schaute skeptisch drein. „Nur einen kurzen Moment“, versprach Marie. Die Heilerin von Hogwarts nickte und verließ das Bett, um bei Severus nach dem Rechten zu sehen. Marie beugte sich zu Draco vor, legte eine Hand auf seine Schulter und lächelte milde. „Ihrem Vater erging es genauso.“ Bevor er das Gefühl der Sorge entwickeln konnte, gab sie Entwarnung. „Die Wunde heilt – langsam, aber sie heilt. Ich habe mich um ihn gekümmert. Er hatte Glück, dass er im Krankenhaus war, als es passierte.“
„... meine Schuld ...“, murmelte er.
„Was?“
„Es ist alles ... meine Schuld.“
„Nicht doch“, sie tätschelte seine Schulter, „das kann nicht sein.“

Erleichterung machte sich bei den Heilern und Schwestern breit, als die gröbste Arbeit getan war. Die großen Wunden waren mit Tränenflüssigkeit gefüllt und ließen in Zeitlupe das Gewebe, die Nerven, die Muskeln und Sehnen wieder wachsen. Eine schmerzhafte Prozedur, wie man an den Gesichtern der beiden Patienten erkennen konnte. Dracos Brustkorb und senkte sich aufgeregt. Mit jedem Atemzug brannte sein Arm mehr und mehr, aber er wollte es durchstehen. Severus hingegen machte Professor Junot Sorgen. Er atmete noch immer flach, hatte kaum einen Puls. Sein Blick ging ins Leere. Sie richtete ihren Stab auf ihn sprach einen Diagnosezauber, der gleich darauf auf einem Stück Pergament geschrieben in ihre Hand flog, was Hermine beobachtete. Die Professorin überflog die Daten des Patienten.

„Er hat zu viel Blut verloren. Seine Lage ist kritisch. Wir sollten seine Familienangehörigen verständigen. Nur vorsichtshalber ...“ Mit diesen Worten verließ Professor Junot sein Bett, um zu Poppy hinüberzugehen. Die beiden Heilerinnen betrachteten die Diagnose und die Werte, während Hermine bei ihm blieb.

'Die Familie verständigen', wiederholte sie in Gedanken. Hermine schüttelte den Kopf. Severus hatte einen Vater, von dem er nichts wissen wollte, was auf Gegenseitigkeit zu beruhen schien. Er hatte keine Familie, nur die Malfoys, für die er durch die Patenschaft von Draco ein Mitglied geworden war. In diesem Sinne war er also nicht allein. Draco lag gegenüber. Sie bemerkte, wie Severus blinzelte, doch Schlaf wollte ihn nicht übermannen. Schon der Vorabend war für Hermine anstrengend gewesen, doch der war nichts im Vergleich zu heute Morgen. Erschöpft zog sie sich einen Stuhl an Severus' Bett, um ihn im Auge zu behalten. Sie saß zu seiner Rechten.

So viel Besuch hatte der Krankenflügel seit langer Zeit nicht mehr gehabt. Als auch noch Kingsley, gefolgt von Tonks und zwei jungen Auroren hereintrat, schien das kaum jemanden zu verwundern.

Ganz hinten hatte er den Minister erspäht. „Arthur!“ Kingsley winkte ihn zu sich heran. Die Zeit, die Arthur dazu benötigte, sich ihm zu nähern, nutzte Kingsley, um das herrschende Szenario zu betrachten. Severus und Draco waren ganz offensichtlich vom gleichen Schicksal heimgesucht worden wie die vielen Insassen in Askaban und die im Ministerium untergetauchten Todesser. Dawlish hatte mit seiner Vermutung sehr wahrscheinlich Recht. Kingsleys Blick fiel kurz auf Harry, doch da war Arthur schon bei ihm. „Was ist mit Harry?“, fragte Kingsley verwirrt, denn es war ihm nicht klar, wie er in dieses Bild passte.
„Harry schläft nur. Seine Narbe hat geblutet.“
Diese Erklärung genügte Kingsley, so dass er Arthur in Hörweite von Hermine über die Gesamtsituation aufklärte. „Arthur, wir haben Meldungen aus Askaban. Die Todesser sterben. Dort ist das Gleiche passiert wie hier.“

Hermine schloss die Augen und kämpfte mit den Tränen. Die winzige Möglichkeit, dass auch Severus sterben könnte, drückte ihr aufs Gemüt.

„Severus?“ Er reagierte nicht auf ihre Stimme. Vielleicht ein wenig lauter, dachte sie. „Severus?“ Keine Regung seinerseits, also lauschte sie weiterhin den Worten Kingsleys.

„Es gab auch Fälle, bei denen Mitarbeiter des Zaubereiministeriums involviert sind!“
„Wie bitte?“ Arthur fasste sich ans Herz.
„Dawlish hat mich unterrichtet. Abrahams war unter denen, die diese Wunde am linken Unterarm aufwiesen! Ich konnte den Typen nie ausstehen.“ Kingsley verzog das Gesicht, als er sich an den arroganten Mann erinnerte.
Arthur fasste sich an die Stirn. „Der Leiter der Abteilung für Magische Unfälle und Katastrophen war ein Todesser? Merlin ...“
Unerwartet hatte sich Professor Junot den beiden genähert. „Entschuldigen Sie bitte, Herr Minister, dass ich mitgehört habe. Das ist normalerweise nicht meine Art, aber die Situation ist so außergewöhnlich ... Ich war vorhin noch im Mungos, als dieser Unglückstag begann. Es gab erst zwei Fälle auf einer unserer Stationen. Und kurz, bevor ich hergekommen bin, habe ich von der Empfangsdame gehört, dass die Notaufnahme regen Ansturm hat. Alle haben die gleiche Wunde und viele sind daran bereits zugrunde gegangen. Ich dachte mir, Sie sollten das wissen.“

Als Hermine diese Worte vernahm, zog sie die Nase hoch. Sie schaute zur Seite und sah, weil sich Tränen in ihren Augen bildeten, Draco nur verschwommen, aber trotzdem konnte sie gut erkennen, dass er wach war und sich bewegte. Ihr Blick wanderte zu Severus, an dessen Seite sie saß. Er wirkte leblos, wie zur letzten Ruhe gebettet.

Wie es in Severus aussah konnte niemand ahnen, nur er selbst musste es erfahren. Nyktophobisch irrte er durch die Finsternis der eigenen Sinne; fühlte so viel und gleichzeitig nichts. Der Arm glühte, hatte alles andere in ihm entflammt. Sein ganzer Körper brannte lichterloh und doch umhüllte ihn die Dunkelheit. Sein Geist war in einem trüben Morast versunken. War er allein? Träumte er? Möge ihn jemand aus diesem Albtraum erwecken, er wäre ewig dankbar! Schlaf. Er sehnte sich nach Schlaf. Oder wenigstens sollte ihn die Ohnmacht umarmen, damit er das Dunkel um sich herum nicht mehr bewusst wahrnehmen musste. Mit dem Schmerz hatte Severus längst Freundschaft geschlossen, denn man reichte denen die Hand, die einen Tag für Tag begleiteten. An seiner Wirbelsäule entlang züngelte ein Feuer, und es fraß sich wie ein Nimmersatt durch all die anderen Gefühle hindurch. Es gab nichts mehr außer dem Schmerz und der Finsternis.

Da, ganz plötzlich, fühlte er etwas anderes als den alles verzehrenden Brand. Etwas, das er schon einmal fühlen durfte. Eines morgens war er davon sogar erwacht. Damals hatte er geglaubt, er wäre nicht allein in seinem Schlafzimmer, aber die Sonne hatte ihm nur einen Streich gespielt, denn es waren ihre Strahlen gewesen, die seine Wange streichelte. Diese Wärme fühlte er auch jetzt. Die Sonne musste durch die Fenster scheinen, schlussfolgerte Severus, und er wollte sie willkommen heißen. Sie nahm den Schmerz und brachte Licht. Severus seufzte erleichtert.

Als Hermine seinen Seufzer hörte, nahm sie erschrocken ihre Hand von seiner Wange, doch als sein Gesicht sich wieder verzog, strich sie erneut zaghaft mit der Handfläche über die Bartstoppeln, um die er sich heute früh nicht gekümmert hatte. Wieder schenkte er ihr einen Ausdruck der Erleichterung; atmete tief ein und stieß einen Seufzer aus.

„Stirb mir ja nicht unter den Händen weg“, flüsterte sie, halb als Drohung, halb als Bitte. Seine Lider mit ihren dunklen dichten Wimpern flatterten so schnell wie die Flügel eines Spatzes, der sich vom Boden erheben wollte. Unscharf konnte er sie an den Konturen ihres buschigen Haares erkennen. Mit der Zeit wurde sein Blick klarer. Hermine. Sein Mund öffnete sich, seine Lippen bebten, doch nicht ihren Namen sagte er, sondern einen anderen.
„Albus ...“ Schwach, kaum hörbar. Hermine drehte sich um und sah den Direktor hinter sich. Mitleidig schaute er auf Severus hinab.
„Ja, ich bin hier, mein Freund.“

Mit einem einzigen Blick gab der alte Zauberer Hermine zu verstehen, sie möge den beiden einen Augenblick allein schenken. Natürlich ließ sie Albus gewähren. Auch er sollte noch einen Moment mit Severus haben, falls der diesen Tag nicht überleben sollte.

Ziellos ging Hermine in dem Krankenzimmer auf und ab, bis Neville sich erhob und ihr seinen Stuhl neben Dracos Bett anbot.

„Danke“, hauchte sie kraftlos. Es gingen ihr so viele Gedanken durch den Kopf, dass sie keinen einzigen von ihnen greifen konnte. Nur deswegen konzentrierte sie sich auf das Jetzt und Hier und sah zu Draco hinüber. Der schaute mit wachem Blick zurück, wenngleich auch seine Augen sich manchmal verdrehten, wenn er den Schmerz verdrängen wollte. „Wie fühlst du dich?“ Eine dumme Frage, dachte sie, aber sie wollte es hören.
„Kannst du ... Susan ...?“ Jedes Wort war eine Qual. „Sag ihr Bescheid.“
Gerade wollte Hermine aufstehen, da kam die nette Schwester aus dem Mungos, die von allen Anwesenden die härtesten Nerven zu haben schien. Ihr Lächeln war Balsam für Draco. Sie führte ihr Gesicht nahe an seines. „Ich habe Ihre Mutter und Ihre Frau benachrichtigt. Ihre Frau kommt so schnell wie möglich her. Ihre Mutter sucht erst Ihren Vater auf.“
So, wie auch das Gähnen ansteckend war, schien das Lächeln von Marie auf ihn überzuspringen, denn es formte sich wie von selbst auf Dracos Lippen. „Danke.“

Neville hatte das Gespräch beobachtet und war froh, dass die Gefahr gebannt schien. Er fuhr jedoch heftig zusammen, als jemand laut seinen Namen sagte. „Neville!“ Unerwartet kam Poppy forschen Schrittes auf ihn zu. In ihren Händen hielt sie einige Akten, von denen sie aufblickte. „Sind Sie bereit für eine Blutspende?“
Voller Mitleid blickte Neville zu Draco hinüber, dann wieder zu Poppy: „Ja, bin ich.“
„Gut, dann halten Sie sich bereit. Ich komme gleich.“

Alle drei – Draco, Hermine und Neville – betrachteten das Bett gegenüber, an dem Albus noch immer mit seinem Freund sprach und das so leise, dass niemand ihre Worte verstehen konnte.

„Albus ... Ich wusste immer ...“, auch Severus fiel jedes Wort, jeder Atemzug schwer, „dass ich eines Tages ... für meine Fehler einstehen muss.“
Der Direktor ergriff die unverletzte Hand seines Freundes und drückte zu. Das fröhliche Funkeln seiner Augen war zurückgekehrt, als er zustimmte: „Du wirst eines Tages büßen, mein Guter, genau wie ich und jeder andere auch, aber weder heute noch hier.“
„Ich spüre“, Severus presste die Augen zusammen, „den Hauch des Todes an meinem Nacken.“
„Nein, Severus.“ Albus umfasste Severus' Hand mit seiner anderen. „Nicht der Hauch des Todes ist es, den du spürst. Verwechsle ihn nicht mit einer leichten Sommerbrise.“ Man hatte wegen des Gestanks der Wunden alle Fenster im Krankenzimmer geöffnet. „Ein Wind, der frisches Leben bringt, Severus.“
„Ich sterbe ... und du machst Späße.“
Mit väterlicher Güte lächelte Albus ihn an. „Ich spaße nicht, mein Freund. Du hast die Chance, frei vom Zeichen der Schuld ganz neu zu beginnen. Halt dich am Leben fest und lass auf keinen Fall los, ganz gleich, wie viel Leid du erdulden musst!“
„Albus?“ Poppy war ans Bett herangetreten. „Ich unterbreche nur ungern, aber Severus benötigt dringend etwas frisches Blut.“
„Ah, habt ihr einen Spender gefunden?“, fragte der Direktor, der sich bereits erhob und Platz machte.
„Dank der Schulakten war es einfach.“ Hinter sich blickend gab Poppy dem Spender ein Zeichen. Zögerlich kam Neville ans Bett heran. Er hatte damit gerechnet, Draco sein Blut zu spenden, aber für Severus würde er es natürlich auch tun – für jeden hier im Raum.
„Darf ich dabei bitte liegen? Mir wird sonst schlecht.“
Poppy war erstaunt, wo sie doch wusste, dass Neville als Mitglied der DA in einigen Schlachten an Harrys Seite gekämpft hatte. „Können Sie etwa kein Blut sehen?“
„Doch, nur nicht mein eigenes“, gab Neville beschämt zu.
„Dann ab aufs Nebenbett.“

Arthur hatte derweil die Auroren wieder entlassen, die sich nun auf zum Verbotenen Birkenwald machen sollten. Besorgt blickte Ron zu Harry herab, bevor er Fred am Ärmel zupfte und mit ihm den Weg nach draußen ansteuerte.

„Wo geht ihr hin?“, fragte Hermine ihn, als sie an ihr vorbeigingen.
„Die anderen warten draußen. Wir werden weiterplanen, bis Harry dazustößt.“ Nochmals schaute er zu dem Schlafenden hinüber. „Ich hoffe, es bleibt bei dem einen 'Stündchen'.“
„Wartet ...“
Hermine wollte mitgehen, doch Ron hielt sie auf. „Du bist völlig fertig, Hermine. Keine besonders große Hilfe für uns. Nimm's mir nicht krumm, aber du bleibst hier. Wenn Harry aufwacht und das Gegenteil sagt, dann bitteschön.“
„Aber ...“
„Denk an Nicholas“, rief er ihr ins Gedächtnis zurück. „Das war es auch, was Harry dir gesagt hat, bevor er uns einsperrte. Deswegen wirst du nicht mitkommen. Klär es mit ihm, wenn er aufwacht.“

Erst jetzt hatte Schwester Marie die Zeit gefunden, sich um Sirius' Hinterkopf zu kümmern, den Remus bereits gründlich gereinigt hatte.

„Wir müssen die Haare nicht abschneiden, oder?“, fragte Sirius vorsichtig, griff sich dabei in die schwarze Mähne, die er über alle Maßen vermissen würde.
Marie lächelte beruhigend und tätschelte ihm wie einem Kind den Kopf. „Aber nicht doch, das ist nicht notwendig. Ich werde die Wunde nochmal mit einem Zauber desinfizieren und danach mit einer Tinktur besprühen.“

Gedankenverloren blickte Hermine geradeaus und beobachtete Poppy dabei, wie sie langsam etwas von Nevilles Lebenssaft mit einem Schlauch aus Magie in Severus' blutleeren Körper pumpte.

„Meine Schuld ...“, hörte Hermine plötzlich neben sich, so dass sie Draco anblickte.
„Was ist deine Schuld?“
„Das dunkle Mal ... Ich hab das getan!“
Vor lauter Unverständnis schüttelte sie den Kopf. „Wie soll das deine Schuld sein?“
„Ich habe Harrys Hand genommen“, Draco holte tief Luft, „und seinen Stab auf meinen Arm gedrückt.“
Erschrocken blickte sie zu Harry hinüber, der mit einem seligen Lächeln auf den Lippen fest schlief. „Ja natürlich!“, sagte sie eher zu sich selbst. „Es war egal, welches Mal berührt werden würde. Es war immer egal. Wie ein Steppenfeuer breitet es sich aus, ist nicht aufzuhalten.“
„Wie meinst du das?“
„Draco“, sie nahm seine gute Hand in ihre, „du erinnerst dich an die Prophezeiung, die Trelawney gemacht hat?“ Er nickte. „Das ist der Beginn, Draco!“
Mit glänzenden Augen blickte er sie an. „Und ich hab's ausgelöst?“
Trotz ihrer Furcht, dass alles anders kommen könnte als erhofft, schenkte sie ihm ein Lächeln. „Ja, du hast die erste Hälfte wahr werden lassen.“
„Ich hab es geahnt“, er musste kräftig schlucken. Jedes Wort strengte ihn an. „Mir war bei der Prophezeiung nicht wohl. Ich habe vermutet, dass es mit dem dunklen Mal zu tun hat.“
„Ich auch“, stimmte sie zu, „aber dass es so kommen würde ...?“

In seinem Traum hatte Severus nur die Andeutung gesehen, nicht aber, wie Harry sein Mal berührte.

„Danke“, hauchte Draco.
„Wofür?“
„Dass ich nicht allein bin.“ Kraftlos drückte er ihre Hand, was ihr Mut gab, die Sache durchzustehen und es gab ihr Hoffnung, dass Severus' Zeit noch lange nicht gekommen war.

Ein paar Schritte weiter sprach Arthur mit Albus.

„Ich werde ins Ministerium gehen. Wie es aussieht, werde ich gebraucht.“ Mit einer zittrigen Hand fuhr sich Arthur durchs Haar. „Ich lege all meine Hoffnung in Harry und Kingsley und will zuversichtlich sein, dass meine Tochter bald zurück ist. Unversehrt.“
Albus nickte. „Dort liegt die Hoffnung gut, Arthur.“
„Ich denke, unter diesen Umständen wird Molly hierbleiben wollen.“ Arthur blickte zu Harrys Bett hinüber, wo Molly bereits Wache hielt.
„Sie ist willkommen“, versicherte Albus.
„Dann danke ich dir für deinen Trost. Ich melde mich, sobald ich etwas erfahren habe.“
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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Rest von Kapitel 202

Die Männer verabschiedeten sich voneinander, was Hermine nur nebenher hören konnte. Es erschrak sie, dass Albus unerwartet bei ihr auftauchte.

„Hermine, auf ein Wort. Unter vier Augen.“ Sie warf Draco einen letzten Blick zu, bevor sie sich vom Stuhl erhob und gleich darauf zu wanken begann. „Sie haben noch nichts zu sich genommen?“, fragte Albus fürsorglich. Hermine schüttelte den Kopf. „Dann darf ich Sie zu einem Frühstück einladen?“
„Ich weiß nicht, ob ich etwas herunterbekomme.“
„Wir werden sehen, Hermine.“

Albus war so galant und hielt ihr seinen Arm hin, den sie dankend ergriff. Das war genau das, was Hermine jetzt benötigte: Halt von einem großen starken Mann.

Es war von Vorteil, intern durch den Kamin von einem Stock zum anderen zu gelangen. So sparte Hermine sich die vielen Treppen vom ersten Stock hinauf bis in den hohen Turm, in dem das Direktorenbüro lag. Noch einmal hätte sie diese Strecke heute nicht zurücklegen können.

Die vielen Gemälde der ehemaligen Direktoren täuschten im Gegensatz zu sonst diesmal keine Müdigkeit vor. Hellwach beobachten Albus und seinen Gast.

„Setzen Sie sich doch, Hermine.“

Ganz in der Nähe von Albus' Büro – im Raum der Wünsche – hatte sich die DA versammelt. Kein Thron aus Perlmutt war mehr zu sehen, keine goldene Sonne. Stattdessen hatte der Raum den Forderungen nachgegeben und einen Ort geschaffen, an dem sich ein Angriff planen ließ. Es gab Tische, auf denen verschiedene Pergamente verteilt lagen. Einige von ihnen waren groß und zusammengerollt. Colin nahm sich so ein großes Pergament und rollte es auf.

„Hey Leute, seht mal: Das ist ein Lageplan von einer Festung!“, rief der junge Mann. Die anderen DA-Mitglieder versammelten sich um den runden Tisch herum und griffen nach den Rollen. Jeder für sich öffnete eine, um eine Kopie von dem Plan betrachten zu können, den schon Colin inspizierte.
„Das“, Ron zeigte stolz auf die ganzen Unterlagen, „ist genau das, was wir jetzt brauchen!“
„Da soll Ginny gefangen gehalten werden?“, wollte Alicia wissen.
„Ganz offensichtlich, sonst würde der Raum uns die Pläne nicht zeigen.“
„Hier!“ George hatte sich ein anderes Pergament zur Brust genommen. „Ein Grundriss des Gebäudes, mit allen Räumen, Türen und Fenstern.“
Fred schaute seinem Zwillingsbruder über die Schulter. „Na, besser geht’s nicht!“
Auf dem Tisch entdeckte Parvati eine lange Liste, die sie in die Hand nahm und verwirrt betrachtete. „Hier stehen lauter Namen drauf!“
„Lass mal sehen.“
Sie reichte Ron die Liste, der damit nichts weiter anfangen konnte. Nur ein Name stieß ihm übel auf. „Pablo!“
Fred und George blickte auf. „'Unser' Pablo? Der Mistkerl steckt dahinter?“
„Er ist offenbar einer von ihnen“, Ron nickte, „aber hier stehen noch eine Menge anderer Namen, die mir alle nichts sagen. Es sind eine ganze Menge. Wenn das hier unsere Gegner sein sollen, dann muss ich euch leider mitteilen, dass sie in der Überzahl sind.“
„Wenigstens wissen wir das und können uns drauf einstellen“, warf Dennis furchtlos in die Runde.
„Wie gehen wir vor?“, fragte Hannah mit großen Augen. „Desillusionierungszauber und dann ab durch die Mitte? Oder lieber ...“

Die Tür zum Raum der Wünsche öffnete sich erneut und alle blickte auf. Vier Gestalten traten ein, mit denen sie nicht gerechnet hatten, aber sie waren willkommen. Bill mit Fleur an der Hand, Charlie und Percy.

„Dann sind die Weasley-Brüder jetzt alle vollzählig!“ Ron begrüßte seine älteren Brüder kumpelhaft mit einem Schlag auf den Rücken, doch bei Percy musste er ein Wort verlieren. „Wenn Dad rauskriegt, dass du dich uns angeschlossen hast, wird er dich feuern müssen.“
„Das ist mir gleich“, erwiderte Percy zum Erstaunen aller.
Fred blickte ihn eindringlich an. „Bist du wirklich Percy oder hat da jemand mit Vielsafttrank gespielt?“ Er zwinkerte ihm zu. Niemand hätte erwartet, dass er seine Karriere im Ministerium auf Spiel setzen würde, denn es würde nicht nur eine Kündigung bedeuten, sondern auch eine Gefängnisstrafe, wenn man sich als Ministeriumsangestellter einer solch bedenklichen Aktion anschließt, die nicht im Sinne des Ministers sein konnte.
Percy blickte kurz zu Boden, dann zu Fred, bevor er mit erschreckender Ernsthaftigkeit sagte: „Für unsere kleine Schwester ist mir kein Preis zu hoch.“
„Und du, Charlie“, Fred schlug ihm auf die Schulter, „dass du den weiten Weg von ...“
Charlie unterbrach ihn. „Ich war bereits in der Nähe bei einer Konferenz über Drachenreservate. Ron hat mir Bescheid gegeben und da bin ich sofort hergekommen.“ Wie er hergekommen war, verriet er nicht. Über das Flohnetzwerk jedenfalls nicht, denn sonst wäre er viel früher eingetroffen.
„Dann lasst uns beginnen, Leute. Lasst und planen, wie wir den Muggeln den Wind aus den Segeln nehmen und Ginny unverletzt dort rausholen!“

Unverletzt.

Dieses Wort ging Narzissa durch den Kopf, als sie sich in Windeseile ankleidete. Sie verzichtete auf prunkvoll zurechtgemachtes Haar, auf repräsentative Kleidung und auf ihr rosafarbenes Rouge, das ihren blassen Wangen sonst immer etwas Leben einhauchte. Unverletzt war ihr Gatte nicht, dass hatte eine Schwester namens Marie ihr mitgeteilt. Es musste die Krankenschwester gewesen sein, das hatte Narzissa erst während des Ankleidens überdacht, von der ihr Mann immer in den höchsten Tönen sprach. Endlich war Narzissa bereit, das Haus zu verlassen.

„Susan?“, rief sie vom Eingangsbereich hinauf. Ihre Schwiegertochter kam mit roten Wangen und feuchten Augen die große Treppe hinuntergerannt. In ihren Armen hielt sie Charles. Ihn musste sie mitnehmen, denn ein Hauself gehörte der Familie nicht. „Susan.“ Narzissa hielt ihre Arme auf, um die Frau ihres Sohnes zu trösten. „Es wird schon alles gut werden.“
Susan wollte diesen Worten Glauben schenken, aber es fiel ihr schwer. „Wünsch ihm von uns“, sie umfasste Charles, „eine gute Besserung aus. Ich hoffe so sehr ...“

Dass nichts Schlimmes geschehen war, das die Familie auseinander reißen würde, doch sie wollte die Worte nicht laut sagen.

„Grüß Draco und gib ihm einen Kuss von mir.“

Susan nickte ihrer Schwiegermutter zu, bevor sie nacheinander in den grünen Salon gingen, um von dort aus zu ihren Männern zu flohen.

Narzissa erreichte den Eingangsbereich des Mungos und musste sich sofort an die Wand neben den Kamin pressen, weil die Menschen hier in Aufruhr waren. Viele Männer und einige Frauen schrien sich die Seele aus dem Leib. Als Narzissa ihren angsterfüllten Blick schweifen ließ, bemerkte sie leblose Körper am Boden. Der gesamte Eingangsbereich war voller Verletzter, deren verzweifelter Verwandter und ratloser Freunde – und auch voller Toter. Unzählige Heiler und Pfleger rannten herum, kümmerten sich um die Bedürftigen oder bedeckten die Leichname derjenigen, die diese Qualen nicht überlebt hatten. Die Personen mit den stechend gelben Umhängen waren aus dem Gunhilda-von-Gorsemoor-Sanatorium, wie Narzissa bemerkte. Einige Heiler trugen zivile Kleidung. Offenbar waren sie zum Noteinsatz gerufen worden. Irgendwo blitzte es. Narzissas Kopf fuhr herum. Ein Mann hatte ein Foto geschossen. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen konnte er selbst nicht glauben, was sich ihm hier für ein Anblick bot.

Vor lauter Schrecken hielt sich Narzissa eine Hand vor den Mund, als sie das Ausmaß dieser Situation begriff. Die am Boden liegenden Verletzten wimmerten. Ein älterer Mann starb in den Armen seiner Tochter, die bitterlich um ihn weinte. Als Begleiter des Todes lag der widerliche Geruch süßer Fäulnis in der Luft. Narzissa würgte, hielt sich weiterhin die Hand vor den Mund. Mit der anderen fuchtelte sie nach ihrem parfümierten Taschentuch, das sie sich, nachdem sie es gefunden hatte, vor die Nase hielt. An der Wand entlangtastend ging sie Schritt für Schritt, um die Fahrstühle zu erreichen. Dabei beobachtete sie mit Herzklopfen das Chaos im Anmeldebereich des Krankenhauses. Pfleger rannten an ihr vorbei. Ihnen folgten schwebend sämtliche Utensilien, mit denen man sich um die Wunden kümmern wollte. Ein Hindernis gab es für Narzissa, denn an der Wand, an der sie entlangging, lehnte ein sterbender Mann. Was mit all den Leuten hier geschah, konnte sie jetzt aus der Nähe bestens an seinem linken Arm sehen. Schwächlich drückte er ein Stück Stoff in die offene Wunde, aus der er stark blutete. Für jeden Atemzug musste er viel Kraft aufwenden. Langsam sank er zu Boden. Narzissa kniete sich neben ihn.

„Es ist vorbei“, hauchte er. „Das ist der Preis für ...“

Sie legte eine Hand auf seine Schulter und sah zu, wie die Augen des Mannes unkontrolliert blinzelten, bis die Lider plötzlich still waren. Langsam kippte sein Kopf nach vorn. Ein letztes Mal holte er tief Luft, die ohne sein Zutun wieder aus dem Körper entwich, nachdem ihn der Tod geholt hatte. Bevor Narzissa irgendetwas tun konnte, kam ein Pfleger auf sie zu.

„Madam, war das ein Verwandter von Ihnen?“ Sie schüttelte den Kopf. „Einer von den anderen hier?“ Er deutete auf die Eingangshalle. Nochmals verneinte sie, so dass er ihr nahelegte: „Dann sollten Sie gehen. Das ist heute nicht der richtige Ort für Sie.“
„Mein Mann ...“ Der Pfleger war schon auf dem Sprung gewesen, blieb aber nochmals stehen, um sie anzuhören. „Mein Mann war wegen seiner Augenuntersuchung hier. Eine Schwester hat mich gerufen.“
„Ah, dann wissen Sie, welche Station?“
„Ja.“
„Seien Sie darauf gefasst, dass es in jedem Teil des Krankenhauses so aussieht wie hier. Die, die wir stabilisieren konnten, wurden bereits auf die freien Zimmer verteilt.“
„Danke.“

Der Pfleger nickte und ließ sie mit all ihrer Sorge um Lucius allein.

Die Fahrstühle konnte sie nicht nehmen, da sie ständig dafür benötigt wurden, Patienten nach oben zu transportieren. Für Narzissa blieb nur das Treppenhaus. Hier war es ruhig. Es war unheimlich zu wissen, dass außerhalb dieses Treppenhauses so viel Aufregung herrschte. Als sie im richtigen Stockwerk angekommen war, öffnete sie vorsichtig die Tür. Sofort schlugen ihr die Schreie der Verletzten entgegen und die noch lauteren Anweisungen der Heiler an das Pflegepersonal. Der Pfleger im Eingangsbereich hatte Recht behalten. Auch hier oben war die Hölle los. Der faule Gestank der Wunden hatte sich im gesamten Gebäude ausgebreitet. Die Schwestern und Pfleger waren damit beschäftigt, die Verletzten in freie Zimmer zu bringen.

Sie nahm all ihren Mut zusammen und hielt einen der Pfleger auf, der gerade an ihr vorbeirannte. Auf seinem Schild stand „Mike“.

„Bitte, wo finde ich Mr. Malfoy?“
„Malfoy? Zimmer 14, soweit ich weiß. Ich muss gehen, Madam.“ Schon war er in der Menschenmenge verschwunden.

Zimmer 14. Das Ziel.

Narzissa behielt so gut es ging die Ruhe. Auch dieses Mal presste sie sich dicht an die Wand, um niemandem im Wege zu sein. Ständig verdeckte jemand die Schilder neben den Türen, weswegen sie warten musste, um einen Blick darauf zu erhaschen. Zimmer 08 stand gegenüber. Sie selbst befand sich gerade an Zimmer 07. So schnell sie konnte und ohne jemanden anzustoßen führte sie ihren Weg fort.

Zimmer 10, Zimmer 12 und endlich – sie atmete erleichtert aus – Zimmer 14, direkt gegenüber. Voller Freude auf ein Wiedersehen mit ihrem Mann rannte sie hinüber und stürmte das Zimmer. Die Tür schloss sie sofort wieder, um das Grauen aus diesem Raum zu verbannen. Das Aufatmen brachte Ekel mit sich, denn es stank bestialisch nach Tod. Vorsichtig ging sie den kleinen Flur entlang, der zum Badezimmer führte, bis sie endlich das Bett sehen konnte. Jemand lag darauf. Jemand, der sich nicht rührte und dessen Körper man mit einem weißen Laken bedeckt hatte. Sie presste beide Hände über ihren Mund, um nicht zu schreien. Ihr Herz zersprang vor Schmerz.

Ihr Mann ...

Auch Susan dachte nur an ihren Mann. Mit dem Jungen dicht an sich gepresst, den kleinen Kopf mit ihrer Hand geschützt, flohte sie zu Poppy ins Büro und rannte ins Krankenzimmer. Ihr ehemaliger Tränkelehrer war der Erste, den sie sehen konnte. Im Nebenbett lag Neville, der mit einem magischen Schlauch aus der Vene seiner Ellenbogengrube Blut spendete. Auf der gegenüberliegenden Seite hatte Draco sein Bett. Ihr Draco.

„Draco!“ Er schrecke auf. Geschlafen hatte er nicht. Er befand sich jedoch in einem Dämmerzustand zwischen Schmerz und Leben und im Moment war beides schwer zu ertragen. Der Schmerz sorgte dafür, dass er wach blieb und alles bewusst erleben musste. „Draco!“ Susan war bei ihm, an seiner Seite. Ihr verweintes Gesicht glich dem seinen. Das Brennen hatte ihm die Tränen in die Augen getrieben. Die nun aufkommenden Freudentränen waren von den anderen nicht zu unterscheiden.
„Susan, komm her“, hauchte er sehnsüchtig. Unter großen Schmerzen strecke er seine unverletzte Hand nach ihr aus, die sie sofort umfasste. Sie bedeckte seine Stirn mit küssen, schluchzte dabei und küsste sich den Weg hinunter zu seinem Gesicht.
„Eine Schwester hat uns gerufen. Was ist passiert?“

Mit aufgeweckten Augen musterte sie ihn. Sofort fiel ihr der linke Arm auf. Kein Verband war zu sehen, aber ein Tuch schwebte schützend darüber. Man hatte den Arm mit der Innenseite nach oben fixiert, so dass er ihn nicht einmal aus Versehen bewegen konnte. Unter dem Arm befand sich eine metallene Schale. Tropfen für Tropfen fing die Schale eine Mischung aus Blut und Gewebe auf. Der Schrecken saß tief.

„Was ist nur geschehen?“, wiederholte Susan.
„Das dunkle Mal ...“ Er schloss die Augen. Kaum dachte er an die Wunde, begann sie noch heftiger zu schmerzen. „Es hat gebrannt.“ Sie verstand es falsch, dachte sofort an Voldemort und eine mögliche Rückkehr, weshalb sie ihn schockiert anblickte. „Das Mal ist fort“, beruhigte Draco sie.
„Fort?“
„Es hat sich aufgelöst“, stöhnte er. „Und alles, was damit in Berührung kam.“

Noch immer mit Charles im Arm erhob sie sich vorsichtig, um zur anderen Seite des Bettes zu gehen. Sie wollte einen Blick unter den Stoff riskieren. Der Gestank hatte sie längst auf etwas Schreckliches vorbereitet. Vorsichtig hob sie das Tuch. Gegen den Schrei, der ihr entwich, konnte sie nichts tun. Neville zuckte erschrocken zusammen. Severus ebenfalls, was ihm wiederum große Schmerzen bereitete.

„Miss Bones!“ Poppy kam zu Susan hinüber. „Setzen Sie sich auf die andere Seite und lassen Sie den Arm in Ruhe!“ Sie nickte und ging gehorsam zurück zur rechten Seite. Tränen liefen an ihrem Gesicht hinunter. Charles begann zu quengeln. Er hatte sich ebenfalls erschrocken.
„Das muss furchtbar wehtun“, schluchzte sie. Charles stimmte mit ein, weil er die Trauer seiner Mutter spürte.
„Nicht doch, Susan. Komm, setze dich neben mich.“ Draco hielt ihr die Hand entgegen. Sein Unwohlsein überspielte er mit einem Lächeln. „Setz dich.“ Seine Finger umfassten ihre Hand. „Nicht weinen, Susan.“
„Das ist so grauenvoll“, jammerte sie. „Wie konnte das nur geschehen?“
„Ist doch egal.“
„Kann ich irgendetwas tun, damit es dir besser geht?“
Mit seinem Daumen strich er über ihren Handrücken. Es tat gut, sie bei sich zu haben. Schon diese kleine Berührung gab ihm Kraft, den Schmerz zu ertragen. „Es geht mir schon besser, seit du hier bist.“ Er log nicht einmal, als er das sagte. Ihre Anwesenheit und die seines Sohnes wirkte wie ein schmerzstillendes Mittel. Mit seiner Familie an der Seite würde er alles durchstehen. Als er seinen Sohn schluchzen hörte, wischte er ihm eine Träne von der rosigen Wange. „Leg ihn mir in den Arm.“
„Meinst du nicht, dass das ...?“
Draco hatte bereits mit seinem rechten Arm eine Kuhle geformt, in die sie Charles legen sollte. „Mach schon, ich will ihn bei mir haben. Er sieht sowieso müde aus.“
„Ist er auch. Ich hab ihn aus dem Schlaf gerissen, bevor ich hergekommen bin.“ Vorsichtig legte sie den Jungen seitlich an Dracos Brustkorb. „Ich konnte ihn doch nicht allein lassen.“

Mit der Krankenhauswäsche deckte sie den Jungen zu. Es dauerte nicht lange, da schloss Charles die Augen, um in der warmen Höhle, die sein Vater für ihn gebaut hatte, ein Schläfchen zu halten. Draco war so auf Susan und den Jungen konzentriert, dass er die linke Seite seines Körpers ignorierte. Zu seiner Rechten lag das Leben, das er umfasste und an sich drückte. Um nichts in der Welt wollte er loslassen.

Loslassen wollte auch Hermine nicht. Noch immer hielt sie sich an Albus' Arm fest. Er störte sich nicht daran und tätschelte liebevoll ihre Hand.

„Setzen Sie sich doch, Hermine.“
„Danke.“

Ein Elf brachte Frühstück, das normalerweise wunderbar duften müsste, doch noch immer hatte sie den Geruch von verdorbenem Fleisch in der Nase. Der Anblick des gebratenen Specks, der im eigenen Saft schwamm, war alles andere als verlockend.

„Ich glaube, ich krieg' nichts runter, Sir.“
„Nehmen Sie eine Scheibe Toast. Dazu etwas Orangenmarmelade.“ Albus griff selbst zu den Dingen, die er ihr ans Herz legte. „Und ein Schluck Tee oder Kürbissaft, Hermine.“ Die Kanne schenkte ihr von ganz allein ein. Es musste ein wort- und stabloser Zauber von Albus gewesen sein. Den Toast, den er vermeintlich für sich selbst zubereitet hatte, reichte er auf einem Teller an Hermine weiter. Lustlos biss sie hinein. Kaum hatten Zunge und Gaumen das Fruchtfleisch berührt, schmeckte sie die Sonne. Den Toast aß sie in Windeseile. Sie hätte nicht gedacht, dass ihr Hunger so groß war. Beim dritten Toast, diesmal mit Himbeermarmelade, musste sie plötzlich an Severus denken. Das angebissene Stück Brot legte sie zurück auf den Teller.

„Wie ich sehe, fanden Sie Gefallen an den Sorten. Sie gehören zu meinen Lieblingen.“
„Albus?“ Hilfe suchend blickte sie ihn an. Sie suchte Rat, Trost oder wenigstens einen Hinweis, was sie nun tun sollte.
„In jeder anderen Situation“, begann er leise, „und bei jedem anderen Menschen würde ich den Rat geben, auf das Herz zu hören, aber nicht dieses Mal, Hermine.“ Verwundert runzelte sie die Stirn, blinzelte dabei voller Unverständnis. „Es ist der Verstand, der nun weiterhelfen wird. Halten Sie ihn beisammen.“
„Das ist leicht gesagt“, schnaufte sie, was ihr ein Schulterklopfen seinerseits einbrachte.
„Hermine, wenn ich Sie fragen dürfte, was mit Draco und Severus geschehen ist?“
„Ich habe nicht gesehen, was es ausgelöst hat, Albus. Draco hat mir aber gesagt, er hätte Harrys Hand genommen und seinen Stab aufs dunkle Mal gepresst.“
„Ah“, machte Albus, als sei er nun erleuchtet.
„Was ist da passiert? Warum konnte Harry etwas tun, wozu sonst nur Voldemort in der Lage war?“ Es lag auf der Hand, dass Albus keine Erklärung für die Geschehnisse hatte, aber Vermutungen.
„Draco hat nicht Harrys Stab genommen, sondern Harrys Hand, die den Stab noch hielt?“, fragte er nach. Hermine nickte und wartete geduldig auf seine Theorie. „Ich kann nur alle Ereignisse als Tatsachen betrachten und damit spekulieren. Harry hatte schon als Kind viel mit Voldemort gemeinsam, was den Tod der Eltern betrifft oder dass beide Parsel beherrschten. Gewisse Übereinstimmungen haben Harry eines Tages große Angst bereitet.“
„Ich erinnere mich“, stimmte sie zu.
„Dabei hat Harry so viel mehr als Voldemort.“ Der Sternenhimmel in Albus' Augen funkelte gütig. „Sie waren sich zwar ähnlich und ihre Magie glich sich, nur war es für Harry von Vorteil, noch eine andere Macht zu besitzen. Wahrscheinlich wäre nichts geschehen, hätte Draco ihm den Stab nur abgenommen und sich damit selbst berührt. Das, was heute geschehen ist, konnte nur durch Harrys Hand ausgelöst werden.“ Aufmerksam hörte Hermine zu, als Albus seine Gedanken preisgab, die halb auf Vermutung basierten, halb auf fundierten Schlussfolgerungen. „Nicht nur aufgrund seines gewaltigen Magiepotenzials war es Harry möglich gewesen, auf das dunkle Mal einen so uneingeschränkten Einfluss nehmen zu können wie Voldemort es konnte. Es war noch etwas anderes mit im Spiel.“
„Was?“, stieß Hermine neugierig hervor.
„Eine Besonderheit, eine exklusive Gemeinsamkeit war dafür verantwortlich, dass die letzten Überreste Voldemorts endgültig ausgelöscht werden konnten. Ein einziger Gegenstand besaß diese Macht.“

Hermine war kurz davor, vor Neugierde zu platzen. Albus gab seine Vermutung einfach nicht preis. Stattdessen wartete er darauf, bis ihr Verstand wieder normal arbeitete. 'Eine Besonderheit', wiederholte sie in Gedanken. 'Ein Gegenstand.'

„Ja natürlich, Harrys Zauberstab!“
„Richtig, Hermine.“ Er tätschelte ihr Knie, was sie ihm gestattete. „Ihre Stäbe waren verschwistert. Diese Zwillingsstäbe trugen einen Kern in sich, der von demselben Wesen stammte.“
„Eine Schwanzfeder von Fawkes!“

Albus war erfreut, dass Hermine selbst drauf gekommen war. Ohne seine Hilfe hätte sie viel länger benötigt, um zu diesem Schluss zu kommen, denn am heutigen Tage stand das Denken an zweiter Stelle. Ihr Handeln war gefragt gewesen. Wo ihre Hilfe vonnöten war, hatte sie geholfen. All die Informationen hatten Hermine vollkommen überwältigt. So war es also doch indirekt der Phönix gewesen, der das dunkle Mal entflammt hatte, wenn auch nur mit einer seiner Federn und Harrys einzigartiger Magie.

„Wie geht es weiter, Hermine?“
Seine Frage ließ sie stutzen. „Wie meinen Sie das?“
„Die gute Sibyll hat mich in ihre letzte Prophezeiung eingeweiht. Ich habe ihr das Versprechen abgenommen, nicht damit hausieren zu gehen.“
Hermine begriff, auf was Albus anspielte. „Ich würde meinen“, begann sie zögerlich, „dass sich die Prophezeiung nun erfüllt. Die erste Hälfte ist eingetroffen. 'Feuer verzehrt, ein Brand erneuert.' - das ist heute passiert.“
„Und wie war noch das Ende der Prophezeiung?“, fragte er scheinheilig, obwohl Hermine sich sicher war, dass er solche wichtigen Dinge nicht vergaß.
„Jetzt muss 'seine Flamme es finden' und ...“ Sie hielt inne und fragte sich selbst, ob sie sich so sicher sein durfte, wer seine Flamme war. Vielleicht handelte es sich nicht einmal um eine Person, sondern um einen Gegenstand oder etwas völlig anderes. Das müsste geklärt werden, nahm sie sich vor, bevor sie weitermachen konnte. Es wäre anmaßend, die Prophezeiung nach ihren eigenen Wünschen zu interpretieren.
„Hermine?“
„Ich ...“ Verlegen blickte sie auf ihre Hände. „Ich bin mir nicht sicher.“
„Womöglich hilft es Ihnen, über den zweiten Teil ein wenig nachzudenken“, empfahl er. „Die Meinung Dritter darf man auch nicht außen vorlassen.“
„Wen sollte ich schon fragen können?“, hielt sie ihm vor Augen.
Über seine Halbmondbrille hinweg schaute er sie eindringlich an. „Diejenigen, die davon wissen.“

Mit Harry und Ginny konnte sie momentan nicht reden. Weil sie an Ginny denken musste, übermannte sie erneut das Schuldgefühl, aber auch etwas anderes fiel ihr ein.

„Herrje, ich habe ja noch ...“ Bevor ihr etwas herausrutschte, stoppte sie sich und überdachte ihren Satz. „Ich habe noch Gäste in der Apotheke.“ Stringer und Fogg, über deren Schicksal sie sich noch keine Gedanken gemacht hatte. Sollte sie die beiden anzeigen, würde sie selbst eine Menge Ärger am Hals haben und ihre Tränkemeister-Lizenz gleich an den Nagel hängen können. Auf jeden Fall müsste sie handeln, sonst hätte sie im schlimmsten Fall Leichen im Keller – und zwar im wahrsten Sinne des Wortes.

Entsprechende Herren waren bereits fest davon überzeugt, ihr letztes Stündlein hätte geschlagen.

Im Keller der Apotheke ging Stringer aufgebracht hin und her. „Ich habe Hunger!“, schimpfte er aufgewühlt.
Fogg schien resigniert zu haben. „Was, wenn sie uns vergessen haben? Wie spät ist es überhaupt?“
Ein Blick auf seine gestohlene Taschenuhr verriet die Uhrzeit. Nervös fuhr Stringer eine Hand übers Gesicht. „Es ist schon Mittag durch. Wollen die uns mürbe machen? Das haben sie geschafft! Ich schwöre, ich gebe alle kriminellen Machenschaften auf und werde ein guter Mensch, wenn sie uns nur etwas zu essen bringen.“ In der Hoffnung, jemand hätte ihn gehört, blickte Stringer erwartungsvoll zur Tür, doch sie öffnete sich nicht. „Ich werde sämtliche gestohlene Gegenstände zurückbringen.“ Noch immer nichts. „Verdammt!“ Hoffnungslos nahm er neben seinem Freund auf dem schmutzigen Boden Platz. Fogg hatte ein Notizblock aus seinem Umhang genommen und schrieb etwas hinein. „Was tust du da?“, wollte Stringer wissen.
Fogg grinste verstohlen, als er antwortete: „Ich schreibe mir in den Kalender ein, dass du heute all den kriminellen Machenschaften abgeschworen hast.“

Normalerweise würde Stringer ihn anbrüllen und das Notizbuch aus seinen Händen schlagen. Desto mehr erstaunte es Fogg, dass sein Freund vollkommen ruhig blieb, nicht einmal eine spitze Bemerkung machte. Stattdessen hielt sich Stringer den Bauch. Man konnte Geräusche vernehmen, die der leere Magen von sich gab.

Fogg stieß ihn mit dem Ellenbogen an. „Dort in den Regalen steht Eingemachtes.“
Sein Freund hielt dagegen: „Der Todesser hat gesagt, wir sollten lieber nichts anfassen.“
„Meinst du, sie haben die Pfirsiche und Birnen mit einem schwarzen Fluch belegt? Das glaub ich nicht.“ Um sich die Schilder auf den Gläsern anzusehen, erhob sich Fogg und ging zu den Regalen. „Sogar Gewürzgurken gibt es hier!“
„Fass es nicht an!“, fuhr Stringer ihn harsch an.
„Maiskolben und hier“, mit einem Zeigefinger deutete er auf das Glas, „Hering! Erbsen und Bohnen, Kartoffeln, Kohl. Also, verhungern werden wir hier nicht!“
„Mag sein, aber vielleicht sterben wir an einem gemeinen Fluch, sobald wir auch nur wagen, eines der Gläser zu berühren.“ Stringer stand ebenfalls auf und näherte sich seinem Freund, dem sichtlich das Wasser im Mund zusammenlief. Als Fogg seine Hand nach den Pfirsichen ausstreckte, hielt Stringer ihn an den Handgelenken fest. „Bist du denn wahnsinnig geworden?“
„Du hast doch selbst gesagt, du hast Hunger. Ich glaube nicht, dass sie sich die Mühe machen, so viel Lebensmittel zu konservieren, nur um sie dann zu verfluchen. Was für einen Sinn macht das?“
Stringer ließ die Hände seines Freundes nicht los. „Und ich kann mich schwerlich mit dem Gedanken anfreunden, dass ein Todesser das Konservieren von Lebensmitteln zum Hobby hat. Was bringt es ihm, wenn er dabei nicht ein paar Gemeinheiten ausheckt? Der Mann ist nicht umsonst Todesser!“
„Der Mann hat einen Merlin bekommen“, winkte Fogg ab.
„Ich hab auch Zeitung gelesen. Gut, dann ist er eben ein Ex-Todesser und trotzdem: Ich trau ihm nicht.“
Fogg schnaufte belustigt. „Du traust doch niemandem.“
„Doch, ich traue dir, aber ich traue dir auch zu, so naiv zu sein und einfach was anzufassen, wovor man uns gewarnt ...“

In Windeseile befreite Fogg seine Hände und griff so schnell zu dem Glas, dass Stringer die Worte im Hals stecken blieben. Er rechnete mit einem Fluch, der Foggs Hände zusammenschrumpfen lassen würde oder ihn wahnsinnig machte, aber nichts geschah. Trotzdem war der Schrecken groß.

„Bist du denn von allen guten Geistern verlassen?“, meckerte Stringer aufgebracht. „Da hätte sonst was passieren können.“
„Es ist aber nichts passiert.“ Mit einem leisen Geräusch, das die luftdichte Versiegelung beim Öffnen des Glases machte, hielt Fogg ihm die Pfirsiche unter die Nase. „Auch welche?“
Zögernd griff Stringer in die Flüssigkeit und fischte eine halbe Frucht heraus. Erst roch er dran, dann biss er ab. Das zarte Fruchtfleisch zerging auf der Zunge. „Mmmh, ist gut.“
„Wenn die Gläser nicht verflucht sind“, überlegte Fogg laut, „und der Tisch auch nicht, an den den du vorhin gestoßen bist – außerdem die Werkzeuge nicht, über die du gestolpert bist ...“
„Willst du mir Tollpatschigkeit vorwerfen?“, fragte Stringer schmatzend.
„Nein, ich will damit nur sagen, dass sie vielleicht gelogen haben. Bisher war hier gar nichts verflucht.“ Langsam drehte sich Fogg in dem kleinen Kellergewölbe, bis er ein Oberlicht ausgemacht hatte. „Vielleicht hätten wir die ganze Zeit schon fliehen können?“
Stringer folgte erst dem Blick seines Freundes, der das Kellerfenster anvisiert hatte. Gleich darauf schaute er auf das Regal mit den ganzen eingemachten Lebensmitteln, bevor er kurz innehielt und nachdachte. Nach wenigen Sekunden hatte er eine Entscheidung getroffen und teilte diese auch Fogg mit. „Ich ess jetzt erstmal was!“

Dunkel konnte sich Hermine daran erinnern, dass der Keller voll mit Lebensmitteln war, die Mrs. Cara, die Vorbesitzerin, zurückgelassen hatte. Verhungern würden die beiden nicht, wenn sie ihre Angst erst überwunden hätten, womöglich einem Fluch zu erliegen.

Das Gespräch mit Albus war kurz gewesen, aber aufschlussreich. Vor allem – und das war das Wichtigste – hatte sie ihren klaren Verstand zurückerlangt. Schuldgefühle wegen des Vielsafttrankes drängte sie beiseite, auch wenn es ihr sehr schwerfiel. Sie wollte Severus glauben, dass es nur eine Verkettung unglücklicher Zufälle gewesen war und ihr Vielsafttrank am Ende gar keine Rolle gespielt hatte. Letztendlich war es wie in Severus' Leben, denn auch er hatte mit Schuldgefühlen zu kämpfen, obwohl er nicht den Stab gehalten hatte, mit dem der Avada Kedavra gesprochen wurde. Sollte Harry sie später mitgehen lassen, wäre sie bereit dazu, alles in ihrer Macht stehende zu tun, um Ginny zu retten. Sie könnte es aber auch verstehen, wenn er ihr die Teilnahme an der Rettungsaktion verbieten würde.

Über das Flohnetzwerk war Hermine zurück zu Poppy gefloht. Ihr Ziel war Severus, doch ein Abstecher zur Toilette war nach dem vielen Tee bei Albus unumgänglich.

Was im Krankenzimmer geschah, registrierte Severus nur nebenher. Da war Poppy, die immer wieder in seinem Blickfeld auftauchte und wie ein Geist von links nach rechts huschte, dann wieder zurück. Er konnte Remus und Sirius flüstern hören. Schräg gegenüber hatte sich Molly damit die Zeit vertrieben, ihr Taschentuch zu malträtieren. Jedes Mal, wenn sie ihre Nase schnäuzte, kam in Severus der Drang auf, sie verhexen zu wollen. Gegenüber hörte er, wie sein Patensohn zärtliche Worte mit seiner Frau austauschte. Von allem tat das am meisten weh.

„Poppy“, hauchte er ungehört. Dreimal musste er tief Luft holen, bevor er ein weiteres Mal ihren Namen sagen konnte, doch auch diesmal sprach er so leise, dass sie ihn nicht hörte. Vielleicht lag es an den klappernden Geräuschen der metallenen Schüsseln, die sie an Dracos Bett stellte oder aber Severus war wirklich nicht zu hören. „Poppy!“ Sie wurde einfach nicht auf ihn aufmerksam. Das Geflüster von Draco und Susan ließ Wut in ihm aufkommen. Womöglich verwechselte er es Neid, aber mit der Klärung dieser Frage beschäftigte sich Severus nicht lange. „Poppy!“

Nicht die Heilerin hatte seine Stimme vernommen, dafür jemand anderes. Vorsichtig näherte sich Remus dem Bett seines Kollegen. Ihm war aufgefallen, dass sich Severus' Lippen bewegten. Eine unerklärliche Befangenheit überkam ihn, als er Severus betrachtete. Noch nie, nicht einmal damals in der Schule, hatte er ihn so kränklich und bleich erlebt. Es war, als würde er eine andere Seite von Severus sehen – die verletzliche Seite. Und weil Remus ahnte, dass es Severus zuwider sein musste, in diesem Zustand von anderen gesehen zu werden, wollte er ihm so normal wie nur möglich gegenübertreten.

„Hast du einen Wunsch, Severus?“, fragte er seinen Kollegen und Freund zuvorkommend.
Die Stimme von Remus ließ den Kranken aufblicken. Wenn schon nicht Poppy, dann sollte er ihm behilflich sein. „Wandschirme“, brachte Severus knapp hervor.
Um ihn besser zu verstehen, beugte sich Remus hinunter. „Was bitte?“
Von gegenüber hörte man ein geflüstertes Liebesgeständnis, gefolgt von dezenten Kussgeräuschen, die auch, das konnte Severus an dem peinlich berührten Gesichtsausdruck erkennen, bis an Remus' Ohren drangen. Severus wollte nicht aus der Ferne sehen, auf was er selbst verzichten musste. „Wandschirme“, wiederholte er entkräftet und dennoch wütend. Die Sicht auf Draco und dessen Frau und Kind quälte ihn mehr als sein linker Arm.
„Ah, die Paravane. Moment ...“

Mit Hilfe seines Zauberstabes faltete Remus die Wandschirme auseinander und ordnete sie so um das Bett herum an, dass Severus vollständig von den anderen abgeschottet war. Unerwartet schoss Remus ein Gedanke durch den Kopf. Wäre es möglich, fragte er sich selbst, dass er sich zum Sterben zurückziehen wollte? Remus konnte nicht anders, als bei Severus zu bleiben. Ohne zu fragen setzte er sich auf den Stuhl zu Severus' Rechten. Beide ignorierten sich, und beide waren froh, dass der andere da war.

Vorhin hatte Poppy den drei Patienten die üblichen Krankenhausnachthemden übergestreift, die man tragen musste, wenn man sich länger in ihrer Obhut aufhalten würde. Remus überwand seine Scheu und betrachtete Severus. Er konnte erkennen, dass Severus sich seiner Anwesenheit bewusst war. Umso positiver fand Remus es, dass er nicht fortgejagt wurde. Severus fühlte sich sogar behaglich genug, um die Augen zu schließen, auch wenn er nicht schlafen konnte. Die vorhin so flache Atmung war bereits wieder kräftiger geworden, aber durch den Schmerz stockend. Der schmale Brustkorb des Tränkemeisters bebte beim Einatmen. Die gesunde Hand krallte sich in die weiße Bettwäsche. Was Remus bei anderen Freunden sofort tun würde, unterließ er bei Severus. Er würde es nicht begrüßen, freundschaftlich und Mut machend berührt zu werden, darüber war sich Remus bewusst.

Hermine hatte die Waschräume hinter sich gelassen und das Krankenzimmer betreten. Sie ließ ihren Blick schweifen.

Ganz hinten saß noch immer Molly an Harrys Bett. Sie ließ ihren Schwiegersohn in spe nicht aus den Augen. Hermines Blick fiel auf Draco, der Besuch von Susan hatte. Was Hermine ganz herzerfrischend fand war der kleine Junge, der im Bett an Vaters Seite schlief. Weil es Draco besser zu gehen schien, ging sie erst zu ihm hinüber.

„Hallo Susan.“ In ihrer Stimme hatte sich die Erschöpfung des gesamten Tages niedergeschlagen, dabei hatte der erst angefangen.
Ausgelaugt blickte Susan auf. „Hallo.“
Hermine erhaschte einen guten Blick auf Charles, der sein Köpfchen auf Dracos Arm gelegt hatte. Der Anblick schenkte ihr ein wenig seelisches Gleichgewicht und Zufriedenheit. Es war nicht auszuschließen, dass Draco davon noch viel mehr profitierte, denn als sie ihn sich aus der Nähe ansah, wirkte er trotz der Verletzung viel ruhiger und entspannter als vorhin. „Hast du noch sehr große Schmerzen, Draco? Oder helfen endlich die Mittel?“, wollte sie von ihm wissen.
„Die Tränen … Die Phönixtränen nehmen ein wenig von dem Schmerz. Trotzdem fühle ich mich, als hätte eine Horde Hippogreife mich niedergetrampelt.“
Er sah auch so aus, was sie natürlich nicht sagte. Nur gequält kam ein Lächeln über Hermines Lippen. „Ich werde mal ...“ Ungenau deutete sie auf das Bett gegenüber, das von drei Seiten mit Raumteilern abgeschirmt war.
Draco nickte und gab ihr die Worte mit auf den Weg: „Sag ihm, dass es mir leidtut.“

An den türkisfarbenen Wandschirmen blieb Hermine stehen, bevor sie ihre Anwesenheit preisgab.

„Severus?“
„Hermine!“, antwortete eine Stimme, aber nicht die von Severus. Der Wandschirm schob sich zur Seite. „Hermine“, wiederholte Remus erleichtert. Ihr Blick wurde magisch von Severus bleicher Erscheinung angezogen. Remus bot ihr seinen Stuhl an. „Ich wollte sowieso gerade gehen“, log er. Ihre Augen ruhten weiterhin auf Severus' Gesicht, als sie nickte und Platz nahm. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als seine ganze Erscheinung ihr weismachen wollte, dass seine Zeit gekommen war. Blass, schwach, kaum ansprechbar.
„Severus?“ Seine Augen öffneten sich wie in Zeitlupe, doch nur bis zur Hälfte. „Helfen die Phönixtränen?“ Er seufzte und schloss die Augen wieder, was sie als Verneinung deutete. „Draco sagt, sie helfen bei ihm ein bisschen.“ Severus erwiderte nicht, dass es nicht die Tränen waren, die seinem Patensohn die Schmerzen nahmen, sondern die Nähe seine Familie. „Albus wollte mit mir sprechen“, unterbrach sie die Stille, „sonst wäre ich hier bei dir geblieben.“ Er vernahm Bedauern in ihrer Stimme. Sie sollte ihn nicht bedauern.

Sein verzerrtes Gesicht, die zusammengezogenen Augenbrauen und die allgemein sichtbare Anspannung seines Körpers sprach Bände. Er litt Höllenqualen. Eine qualifizierte Heilerin zu sein und doch nicht helfen zu können war für Hermine nicht leicht zu ertragen. So sehr wünschte sie, dass er wenigstens Schlaf finden würde, so wie Harry, den man bis hierher schnarchen hörte.

Unbewusst fühlte ihre Hand nach seiner. Mit einer Berührung hatte er nicht gerechnet, weswegen er zusammenfuhr. Erschrocken zog sie ihre Hand zurück, doch da griff er schwächlich zu, tastete auf dem Laken nach ihr. Seiner blinden Suche bereitete sie ein Ende, als sie ihre Hand in seine schob. So saßen sie eine ganze Weile. Abwechselnd betrachtete Hermine durchs Fenster die Vögel am Himmel oder sein blasses Gesicht, an deren Wangen sich zwei purpurne Flecken gebildet hatten. Die Blutübertragung hatte ihn stabilisiert.

Wie schon so oft hielten sie sich einfach an der Hand, auch wenn diese Situation sich so sehr von all den anderen unterschied. Bisher hatte sie seine Hand gehalten, wenn sie aufgeregt war, wie bei der Vorstellung ihres Farbtrankes oder wenn sie fröhlich war, wie bei dem Besuch bei Takeda. Oder auch nur, weil ihr danach war, wie beim Spazierengehen mit dem Hund. Die heutige Situation war eine völlig andere. Heute hatte sie Angst um ihn. Beide klammerten sich aneinander, weil sie befürchteten, von einer höheren Macht auseinander gerissen zu werden. Gedankenverloren betrachtete Hermine seine Finger. Die verfärbten Fingerspitzen gaukelten vor, der gelbe Blütenstaub eines Krokus hätte sich an ihnen festgesetzt. Safrangelb. Unüberlegt strich sie so leicht über seine Finger, als würde sie Blütenblatt befühlen.

„Die Prophezeiung“, begann sie leise, um zu sehen, ob er die Augen öffnen würde. Er enttäuschte sie nicht und blickte sie durch halb geöffnete Lider an. „Die Prophezeiung ist eingetreten.“ Zaghaft nickte er. Ihm war der gleiche Gedanke gekommen. „Du weißt noch, wie sie weitergeht?“

Wieder nickte er. Hermine riss sich zusammen. Sie müsste fragen, ob sie mit der Vermutung richtig lag, dass sie es sein würde, die die letzte Zutat finden sollte. All ihren Mut zusammennehmend schaute sie ihm in die Augen, doch anstatt zu fragen, war sie von dem Anblick ganz verzaubert. Das dunkle Braun seiner Augen schien das Licht der Umgebung nicht zu absorbieren, sondern nach außen abzugeben. Sie waren noch viel wärmer als zu dem Zeitpunkt, als Hermine die ersten Veränderungen an ihrer Farbe bemerkt hatte. Langsam, damit er nicht erschrecken würde, beugte sie sich zu ihm, so dass sie ihm tief in die Augen schauen konnte.

Severus' Herz machte einen Satz in die Kehle, als sie so dicht bei ihm war. Alles deutete darauf hin, dass sie ihn ...

„Deine Augen“, unterbracht sie seine Gedanken, „sie sind ...“ Ratlos schüttelte sie den Kopf, lächelte jedoch dabei. „Sie sind anders. Es hat sich etwas getan, Severus!“ Einen kurzen Augenblick später lag die Sonne heiß und willkommen auf seiner klammen Wange. Das Gefühl ihrer Hand war so einnehmend, dass er den Schmerz an seinem Arm kaum noch spürte. Genüsslich schloss er die Augen.
„Du wirst“, seine Stimme war rau, „es finden.“ Sein Brustkorb hob sich, als hätte das Leben ihn wach geschüttelt. „Du findest es!“, wiederholte er viel kraftvoller.

Er hatte ihr die Frage beantwortete, die sie sich nicht zu stellen getraut hatte. Zuversichtlich drückte sie seine Hand und blieb noch bei ihm, selbst als er die Augen schloss und Erholung fand.

Das Erfreulichste im Leben eines Menschen, der Schmerzen litt, war der Besuch von lieben Menschen. Die Nähe von Verwandten und Freunden konnte, das war wissenschaftlich bewiesen, sich positiv auf die Psyche auswirken und eine genesende Wirkung mit sich bringen. Auch in anderen unerträglichen Situationen konnte es helfen, nicht allein zu sein.

Ginny war allein.

Als sie langsam erwachte, erinnerte sie sich an Pablo. Ohne sich mit ihr zu unterhalten war er sofort los gerannt und hatte Bescheid gegeben, dass sie nicht mehr betäubt war. Dem Arzt, dem Tyler beim nächsten Besuch genau auf die Finger geschaut hatte, war nichts anderes übrig geblieben, als ihr tatsächlich das Mittel zu spritzen, von dem sie schlafen würde. Es war viel weniger gewesen, das hatte Ginny noch sehen können, bevor ein bleierner Mantel aus nicht erholsamer Ohnmacht ihr die Augen geschlossen hatte.

Blinzelnd schaute sie umher. Draußen war es hell. Der Tag. Wo war Harry? Wo war die DA? Panik gewann die Oberhand. Sie hätten längst hier sein müssen! So schnell sie konnte regte sie ihren Kreislauf an, indem sie ihre Beine bewegte, auch den rechten Arm, doch der linke war noch immer mit der Schelle an der Wand festgemacht. Sie musste unbedingt raus. Fliehen. Mühsam versuchte sie aufzustehen, doch gerade in diesem Augenblick öffnete sich die Tür. Der Mann namens Tyler trat ein.

„Ah, unser Prinzesschen ist wach.“ Er winkte mit der bereits aufgezogenen Spritze. „Diesmal musst du mit mir Vorlieb nehmen. Ich werde die Vene schon irgendwie treffen.“

Rapide reduzierten sich Ginnys Gedanken auf das Wesentliche. Nicht mehr Harry und Nicholas standen im Vordergrund, sondern nur die Absicht ihrer Flucht. Sie war bereit zu töten, um zu leben. Aufmerksam beobachtete sie, wie Tyler näher kam und die Hülle von der Spritze zog. Sie stellte sich orientierungslos und schwach, als er nach ihrem Arm griff. Dort waren die letzten beiden Einstiche noch zu sehen. Tyler konzentrierte sich, um einen davon zu treffen. Tyler war zu sehr auf ihre Armbeuge fixiert. Ginnys Moment war gekommen.

Ihr rechtes Bein zog sie so schnell an, dass Tyler keine Zeit zum Reagieren fand. Vor Schmerzen wimmerte er, als ihre harte Kniescheibe mit den weichen Körperteilen in seinem Schritt kollidierte. Er fiel vornüber, halb auf sie drauf. Ihre freie Hand vergrub sie sofort in seinen Nackenhaaren, um dort Halt zu finden. Mit aller Wucht zog sie an seinen Haaren, holte aus und schlug seine Stirn auf den Steinboden, dabei entwich ihr vor lauter Anstrengung selbst ein Stöhnen. Benommen versuchte Tyler wegzukrauchen, doch Ginny ließ ihn nicht gehen. Sie packte ihn an der Jacke und zog ihn zu sich; umfasste seinen Oberkörper mit den Beinen und drückte mit all ihrer Kraft zu. Sämtliche Luft entwich ihm aus den Lungen. Er durfte auf keinen Fall schreien, durfte keine Hilfe holen. Seine Hände fuchtelten unkontrolliert herum. Tyler wollte sie zu fassen kriegen, doch sie war schneller, schlug seinen Kopf nochmals auf den Steinboden. Sein Körper zuckte, auch seine Finger, die nicht mehr greifen konnten. Noch ein drittes Mal griff sie nach seinem Schopf, doch diesmal wehrt er sich. So kurz vor der Besinnungslosigkeit bäumte er sich auf, wollte ihr unbedingt entkommen, aber ihre Beine hielten ihn fest. Er oder sie. Keine Alternative. Ginny fletschte die Zähne und packte ihn an den Haaren. Sein Schädel prallte so stark auf den Boden auf, dass es ihn diesmal das Bewusstsein kostete.

Vorsichtshalber fühlte sie seinen Puls. Tot war er nicht, aber vorerst außer Gefecht. Mit der freien Hand durchsuchte sie ihn. Sie fand eine Waffe, mit der sie nicht umzugehen wusste. In hohem Bogen warf sie die Pistole in den Wäschehaufen, der sich rechts von ihr befand. Mit einer Hand befühlte sie seine Taschen, seine Hose, aber er trug keinen Schlüssel bei sich.

„Verdammt!“

Anstatt Blut floss nun Adrenalin durch ihre Adern. Sie war kräftig genug, um aufzustehen, doch die Handfessel hielt sie an Ort und Stelle. Wie wahnsinnig zerrte Ginny an der Kette. Der Mörtel war alt, aber gut verarbeitet. Die Befestigung der Kette an der Wand war beständig und bewegte sich keinen Millimeter. Das Eisen war ebenso widerstandsfähig. Ginny presste den Daumen der linken Hand in die Handinnenfläche und zog, bis es schmerzte – und dann noch ein Stück mehr. Nichts. Sie kam nicht aus der Fessel heraus. Der Daumen störte.

Panik.

Es war seltsam, am eigenen Leib zu spüren, wie sich dieses Gefühl in einem ausbreitete. Jeden Moment könnte die Tür aufgehen. Man würde mit ihr kurzen Prozess machen. Eine Kugel und aus war das Leben. Flucht, Kampf oder Starre. Mehr Auswahl gab es nicht. Ginny entschied sich zur Flucht, aber ihr Daumen – ein eigener Teil ihres Körpers – vereitelte ihren Plan.

„Ich muss weg, ich muss weg“, flüsterte sie immerzu. Schweiß stand ihr auf der Stirn und auch ihre Hände schwitzten, aber es reichte nicht aus, um die Fessel schlüpfrig zu machen. In der Nähe befand sich gar nichts, was sie nehmen könnte. Keine Butter, kein Öl, mit dem sie ihr Handgelenk einschmieren könnte.

Die Angst bescherte Ginny den Vorteil, dass ihr Sinne geschärft wurden und ihr logischen Denken von ganz allein nach einer Lösung suchte.

Der Daumen störte.

Sie atmete heftig, als sie sich die Fessel betrachtete. Mit der rechten Hand befühlte sie ihre linke, betastete den Mittelhandknochen ihres Daumens, der zur Handwurzel führte. Genau dieser Knochen war es, der sie an der Flucht hinderte. Ohne darüber nachzudenken umfasste Ginny mit ihrer rechten Hand die äußere Seite der linken und verhakte ihre beiden kleinen Finger miteinander. Kein Zögern. Vorhin war es Tylers Kopf gewesen, den sie gegen den Stein geschlagen hatte, jetzt war es ein Teil von ihr. Die gefesselte Hand traf auf die Wand. Es knackte. Ihr Daumen war schief. Durch das Adrenalin war der Schmerz erträglich. Nochmals versuchte sie, die Hand durch die Schelle zu ziehen. Wie zuvor scheiterte sie.

„Verdammter Daumen!“

Ein letztes Mal umfasste Ginny ihre Hand. Sie schlug sie gegen die Steinwand als wäre sie ein Feind. Diesmal war das Knacken lauter, der Schmerz größer. Ginny hielt die Luft an und presste die Augen fest zusammen. Das Große Vieleckbein war über das kleine gesprungen. Der Daumen war gebrochen, die Hand nun genauso schmal wie das Gelenk. Mit Leichtigkeit rutschte sie aus der Fessel.

Wie einen verletzten Vogel liebkoste sie ihre verletzte Hand und gab dem malträtierten Daumen einen Kuss.

„Nichts, was Poppy nicht heilen könnte“, beruhigte sie sich selbst, bevor sie zur Tür rannte und gleich darauf in die Knie ging. Ihr Körper war zu großen Belastungen noch nicht bereit, auch nicht zur Apparation. Hinter der Tür konnte sie Stimmen vernehmen, die immer lauter wurden. Jemand kam.

In Windeseile stand sie auf, schwankte. Heftig atmend blickte sie sich um. Keine Waffen, kein Zauberstab. Die Treppe! Sie wankte hinüber und betrat die erste Stufe, dann die zweite, bevor sie wieder zu Boden sackte. Auf Ellenbogen und Knien kroch sie, stand wieder auf und rannte, fiel erneut. Spiralförmig bewegte sie sich immer weiter nach oben, sah Tylers bewusstlosen Körper aus verschiedenen Blickwinkeln.

Es überraschte sie selbst, dass sie ein gutes Stück zurückgelegt hatte. Hier oben gab es Nischen; in die Wand eingearbeitete Schießscharten. Als Ginny die Tür hörte, robbte sie in eine dieser Nischen und presste sich wie ein verängstigtes Rehkitz an die Wand.

Stimmen. Man hatte Tyler entdeckt. Aufruhr.

Nicht bewegen, keinen Mucks von sich geben.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
~ Muggelchen.net ~

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