Harry Potter und die Schatten der Vergangenheit - BEENDET

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Muggelchen
EuleEule
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Beitrag von Muggelchen »

Rest von Kapitel 231

Beschämt blickte Lucius auf seine Fingernägel. Innerlich stimmte er Draco zu. Charles sollte keine häusliche Gewalt erleben. Die lockere Hand hatte Lucius von seinem alten Herrn geerbt, dem eigenen Kind gegenüber aber nie ausrutschen lassen. Es war Dobbys unterwürfiges Gewinsel, das ihn zu Ohrfeigen gereizt hatte, manchmal auch zur Prügel mit dem Stock. Niemals war von dem Elf ein Gegenschlag gekommen, nie hatte er gewagt, die Hand gegen den Herrn zu erheben. Erst als Dobby frei war und Potter verteidigte, spürte Lucius am eigenen Leib, zu welcher Kraft der Hauself überhaupt fähig war. Dobby war kein ebenbürtiger Gegner – er war überlegen.

Lucius’ Blick fiel auf ein ausgefülltes Formular, das er in die Hand nahm und überflog, bevor er es Draco entgegenhielt und wissen wollte: „Was soll das?“
„Das ist Charles’ Anmeldung für den Kindergarten.“
„Wir kümmern uns doch um ihn. Er hat deine Mutter und mich, die …“
„Vater“, unterbracht Draco mit ruhiger Stimme, „ich möchte, dass Charles andere Kinder kennenlernt.“
„Aber …“ Lucius war völlig perplex, schüttelte nur den Kopf und sah sich nochmals das Formular an.
„Charles sieht viel zu selten andere Kinder. Das, was ich gelesen habe, hat mich überzeugt.“ Draco dachte an die Muggelstudie, die Harry ihm gezeigt hatte. „Kinder entwickeln sich besser, wenn sie Umgang mit Gleichaltrigen haben.“
Lucius nickte geistesabwesend, sagte dann plötzlich: „Du hast Fencheltee vergessen.“
„Bitte, was?“
„Bei der Frage, was das Kind gern isst und trinkt. Du hast Fencheltee vergessen.“

Draco war sich gar nicht bewusst, dass Charles diese Sorte mochte. Andererseits hatte sein Vater eine Menge Zeit mit dem Jungen verbracht. Solche Kleinigkeiten fielen Lucius auf. Ebenfalls war ihm aufgefallen, dass Draco seinen Sohn nur für fünf Stunden täglich im Kinderladen lassen wollte, nämlich von acht bis dreizehn Uhr.

„Gib mir eine Feder“, bat Lucius, „ich werde es eintragen.“ Im Nu war der Fragebogen vom Kinderladen Vinn korrekt ausgefüllt. „Soll ich es abschicken?“
„Das wäre nett.“ Draco nickte. „Vielen Dank!“
„Habt ihr euch schon überlegt, wer Charles hinbringt und wieder abholt?“
Draco nickte. „Susan bringt ihn hin, wenn sie zur Arbeit geht und ich hole ihn nach dem Mittagessen ab.“
„Mmmh“, machte sein Vater nachdenklich, strich sich dabei mit einem Finger über die Lippen. „Ich könnte ihn auch dann und wann abholen.“

Die Neugierde war groß. Eines Tages wollte Lucius mit eigenen Augen sehen, was Potter in der Winkelgasse organisiert hatte. Außerdem würde es dem Ansehen der Familie gut tun, mutmaßte Lucius, wenn er sich selbst dort sehen ließe, denn wo Potter sich aufhielt, war die Presse nicht fern. Ein freundliches Lächeln, ein kurzer Handschlag mit dem Kinderladen-Inhaber und ein Journalist, der zufällig in just diesem Moment ein Foto schoss, das man am nächsten Tag im Tagesprophet sehen konnte. Ja, stellte Lucius für sich fest, das war genau das, was jetzt noch getan werden müsste.

„Vater?“ Lucius blickte zu seinem Sohn, der mit dem neuen Formular für die Beantragung eines Hauselfs herumwedelte. „Soll ich es ausfüllen oder möchtest du …“
„Ich erledige das selbst. Du hast sicher eine Menge zu tun.“
„Na ja“, druckste sein Sohn herum. „Es gibt einige Dinge, bei denen ich gern deine Hilfe in Anspruch nehmen würde. Für unbestimmte Zeit, meine ich …“
Die Worte ließ Lucius sich einige Male durch den Kopf gehen, bevor er sie so verstand wie sie gemeint waren. Das brachte ihn direkt zum Lächeln. „Du möchtest, dass wir beide zusammen“, ungenau deutete Lucius auf den Schreibtisch, „arbeiten?“
Draco nickte erst zaghaft, dann viel bestimmter, als er am Gesichtsausdruck seines Vaters bemerkte, dass der sich darüber freute. „Ja, das wäre wunderbar! Wir besorgen gleich morgen einen zweiten Schreibtisch.“
Sein Vater war mehr als nur erfreut. Es war selten, dass man Lucius so zufrieden sah. „Ich dachte ursprünglich, du wärst mit meinen Methoden nicht einverstanden.“
„Nicht mit allen, das stimmt. Dennoch hast du einzigartige Ideen, Vater. Ich würde mich freuen, mit dir zusammenzuarbeiten.“
„Und ich bin gleichermaßen erstaunt und auch guter Dinge, dass du mir dieses Angebot unterbreitest, mein Junge. Ich bin gern dabei.“ Dankend nickte er seinem Sohn zu. „Wo wir gerade von geschäftlichen Angelegenheiten sprechen: Hat sich etwas in Bezug auf Professor Puddle getan?“
„Ja, er hat Mr. Shunpike im Nachhinein eine Abfindung von 10.000 Galleonen zugesprochen. Mr. Shunpike hat angenommen.“
„Na, das ist doch eine gute Nachricht. Jetzt versuchen wir es am besten auch bei der Poststelle. Womöglich zahlen die auch dafür, dass sie ihn nicht wieder einstellen müssen.“

Man hörte es läuten. Lucius horchte auf.

„Besuch? Um diese Zeit?“ Er deutete seinem Sohn, dass er die Tür öffnen würde. „Deine Mutter und Großmutter sind mit Charles spazieren. Ich werde sehen, wer uns einen Besuch abstattet.“

Einfachheitshalber apparierte Lucius ins Erdgeschoss. Durch das gemusterte Glas oberhalb der Tür konnte er zwei Köpfe sehen, die beide einen Hut trugen.
„Ja, bitte?“, fragte er, als er die Tür geöffnet hatte. Es handelte sich um ein älteres Ehepaar. Beide waren elegant gekleidet, und beide gehörten, was er an den Umhängen sehen konnte, offensichtlich der Zaubererwelt an.
„Mr. Malfoy?“, grüßte der alte Mann mit den eingefallenen Wangen und den Hahnepfötchen unter den Augen.
„Der bin ich. Und Sie sind …?“ Lucius schüttelte zaghaft den Kopf, als er die Hand zum Gruß entgegenstreckte. „Kennen wir uns?“
„Das ist schon sehr lange her“, sagte die alte Frau, die nicht nur gebrechlich wirkte, sondern durchs Alter mit vielen Runzeln im Gesicht gezeichnet war. „Wir sind die Carmichaels, Mr. Malfoy.“
Der Name sagte Lucius nichts. „Und Sie wünschen?“, fragte er unsicher. Er hatte das Gefühl, er müsste die beiden kennen.
„Ist es wahr?“, fragte die alte Dame aufgeregt. „Ist Abélia zurück?“
„Meine … Sie meinen meine Mutter. Ja, sie ist hier, unternimmt allerdings gerade einen Spaziergang mit meiner …“ Hinter Mr. Carmichael sah er seine Frau. „Ah, dort kommen sie.“
Die beiden älteren Herrschaften drehten sich um. Mrs. Carmichael schien ganz aus dem Häuschen zu sein. „Das ist sie!“ Die alte Dame eilte die Treppe hinunter.
Ihr Mann hielt sie am Unterarm und warnte: „Langsam, meine Teuerste. Du möchtest doch nicht fallen.“

Während Mrs. Carmichael den beiden Frauen und dem Kind entgegenlief, so schnell ihre alten Knochen es erlaubten, blieb ihr Gatte am Hauseingang stehen. Lucius gesellte sich zu ihm und beobachtete die alte Dame. Er sah, dass seine Mutter bei der Stimme aufhorchte, dann die Arme in willkommender Geste weit öffnete. Die beiden fielen sich um den Hals.

„Ihr Vater“, Mr. Carmichael schaute Lucius in die Augen, „hat damals den Kontakt zu uns abgebrochen.“
„Tatsächlich? Verzeihen Sie mir bitte, aber ich erinnere mich nicht an Sie, Sir.“
„Sie waren noch ein kleiner Junge.“ Mr. Carmichael lächelte, zeigte mit einer Hand einen Abstand vom Boden bis zum Bauch. „Nicht größer als so“, erklärte er. „Wir waren seit vielen Generationen Freunde Ihrer Familie, doch der gute Abraxas wollte nichts mehr von uns wissen.“
Nur vage kam die Erinnerung von einem freundlichen Ehepaar zurück, das ihm kleine Geschenke mitgebracht hatte, wenn sie zu Besuch waren. „Warum hat mein Vater den Kontakt abgebrochen?“
„Wir haben wohl zu viele Fragen gestellt.“

Mr. Carmichael blickte wieder nach vorn, und Lucius tat es ihm gleich. Seine Mutter und Mrs. Carmichael umarmten sich, drückten sich gegenseitig und küssten sich auf die Wange. Lucius’ Blick fiel auf seine Frau, die wenige Meter daneben stand. Mit einem weißen Taschentuch trocknete sie eine Träne. Charles hatte den Saum ihres Kleides fest im Griff.

„Meine Frau“, begann Mr. Carmichael, „und Ihre Mutter waren seit der Schule die besten Freundinnen.“
„Ist das so?“ Lucius wusste zu wenig über seine Mutter und über damalige Ereignisse oder Bekanntschaften.
„Als Ihre Mutter von einem Tag auf den anderen verschwand, stellte meine Frau eine Menge Fragen, klagte Abraxas sogar des Mordes an. Es gab leider nur eine halbherzige Untersuchung seitens des Ministeriums. Die Bemühungen meiner Frau verliefen im Sande.“ Mr. Carmichael seufzte gebeutelt. „Sämtliche Einrichtungen gaben uns keine Auskunft, weil wir nur Freunde waren, keine Familienangehörige. Mit einem kleinen Obolus bekamen wir wenigstens von einem Pfleger den Hinweis, dass sie sich im Goorsemoor aufhalten würde.“ Mr. Carmichael war ganz nach Lucius’ Geschmack, wenn der sogar zu Bestechungsgeldern griff. „Dort verlor sich leider unsere Spur.“
„Sie haben sie gesucht“, stellte Lucius erstaunt fest.
„Sicher!“, bestätigte der alte Mann. „Abraxas hat jedoch Vorsorge getroffen. Geld bringt manchmal Leute zum Reden – Abraxas hingegen brachte sie damit zum Schweigen. Es war ihm eine Menge wert, dass niemand etwas über Abélia in Erfahrung bringt.“

Seine Mutter und Mrs. Carmichael kamen näher. Narzissa hatte Charles auf den Arm genommen und folgte den beiden Frauen, die sich an die Hand genommen hatten, gleichzeitig weinten und lachten.

„Abélia“, grüßte Mr. Carmichael.
Sie hielt inne, schien in Gedanken die Stimme einer Erinnerung zuzuweisen, bevor sie ihre Hand austreckte und zurückgrüßte: „Logan! Du bist auch hier. Komm her!“
Mr. Carmichael näherte sich Abélia und ergriff ihre Hand, die er galant küsste, bevor die Begrüßung inniger wurde, denn auch er umarmte sie. „Wir sind so froh, dass du wohlauf bist, meine Gute.“
„Ihr beide“, begann Abélia, „Agatha und du, ihr habt geheiratet?“
Ihre alte Freundin ergriff ihren Arm und hakte sich unter. „Natürlich haben wir. Du hast mir damals immer gesagt, wir wären füreinander bestimmt.“
Lucius gesellte sich zu Narzissa und legte einen Arm um ihre Taille, bevor er das Wort an das Ehepaar richtete: „Seien Sie doch bitte unsere Gäste, Mrs. und Mr. Carmichael. Ich bin mir sicher, meine Mutter und Sie haben sich eine Menge zu erzählen. Sie bleiben sicher zum Mittagessen?“

Die Carmichaels blieben. Lucius und Narzissa bewirteten die Gäste, selbst Draco half. Aus den Gesprächen konnte man einiges heraushören. So waren die Carmichaels nicht die einzige Familie, mit der Lucius’ Vater damals den Kontakt abrupt abgebrochen hatte. Es waren einige Familien darunter, die sehr wohlhabend waren und zudem natürlich reinblütig.

In einer ruhigen Minute in der Küche, als man das Dessert zubereitete, sagte Narzissa zu ihrem Mann: „Es ist fabelhaft, dass deine Mutter noch Freunde hat. Für sie habe ich es mir sehr schwer vorgestellt, plötzlich wieder hier zu leben, zusammen mit einer Familie, die sie noch nicht gut kennt.“
„Ich hoffe sehr, dass meine Mutter sich es vielleicht noch überlegt, sich der Behandlung zu unterziehen. Es wäre zu ihrem Vorteil, wieder sehen zu können.“
„Es wird schmerzhaft werden, sagte der Heiler“, erinnerte ihn Narzissa. „Die Erblindung liegt schon so lange zurück. Ihre Behandlung würde sehr viel länger dauern als deine. Möchtest du wirklich, dass sie das über sich ergehen lässt?“
Nur ungern erinnerte sich Lucius an die eigene Behandlung. „Es liegt ganz an ihr. Ich werde sie zu nichts überreden. Dennoch muss ich sagen, dass ich mehr als froh bin, mich dafür entschieden zu haben. Auf diese Weise bleibt es mir nicht weiterhin verwehrt“, er ergriff Narzissas Hand, „deine Schönheit sehen zu dürfen.“ Er küsste ihren Handrücken.
„Ach, du Charmeur. Komm, hilf mir, den Nachtisch hineinzutragen.“

An Nachtisch war für Severus gar nicht zu denken. Er bekam nichts mehr hinunter. Zurück in der Apotheke nahm er sich nicht frei, sondern entschloss sich dazu, mit seinem Schüler etwas zu gestalten, das nicht überwiegend mit dem Brauen von Tränken zu tun hatte.

„Mr. Foster?“ Als der junge Mann seinen Namen hörte, blickte er zu seinem Tränkemeister. „Sind Sie noch mit der Dame liiert … Wie hieß sie noch gleich? Miss Beerbaum?“ Gordian kniff die Augen zusammen und überlegte, warum man das in Erfahrung bringen wollte. „Was müssen Sie da noch nachdenken?“, stichelte Severus. „Es ist eine einfach Frage, die mit Ja oder Nein beantwortet werden kann.“
„Ich frage mich nur, Sir, warum Sie das wissen möchten?“
„Herrje, müssen Sie denn alles hinterfragen?“
Hermine und Ignatius mussten grinsen. Es war Hermine, die glaubte, für Gordians Verhalten eine Erklärung parat zu haben. „Er ist ein Slytherin, Severus. Die sind immer skeptisch.“ Ignatius lachte kurz auf, sagte jedoch nichts zu dem Thema.
Severus warf Hermine einen bösen Blick zu, der sie nicht im Geringsten aus der Fassung brachte, bevor er sich wieder Gordian zuwandte. „Versuchen wir es auf hypothetischer Ebene, Mr. Foster. Wenn Sie eine Bekannte in Hogwarts hätten, wie würden Sie regelmäßig Kontakt zu ihr halten?“
„Ich würde ihr schreiben, Sir.“
„Also per Eule.“ Weil Gordian nickte, reichte Severus ihm ein Buch. „Wie lange braucht so ein Federvieh von Hogwarts bis zu Ihnen?“
Gordian antwortete schnell: „Zwei bis vier Tage, Sir, je nach Wetterlage. Die Schuleulen sind nicht die schnellsten.“
In dem Buch schlug Severus eine Seite auf. „Lesen Sie das hier. Wir beginnen heute damit. Für die Herstellung benötigen wir einige Tage.“
Gordian las die Überschrift laut vor: „Die Herstellung von Papier zur magischen Fernkommunikation?“
„Korrekt! Lesen Sie es, der Rest wird sich Ihnen erschließen. Außerdem hätten Sie damit das perfekte Weihnachtsgeschenk für Miss Beerbaum.“

An der Tür zum Labor klopfte es. Jeder rechnete mit Daphne und sie war es auch, doch keiner ahnte, dass sie so blass sein würde. Statt wie sonst nur hereinzuschauen, trat sie ins Labor und schloss die Tür hinter sich.

„Professor Snape, da ist jemand von der Abteilung zur Führung und Aufsicht Magischer Geschöpfe. Er sagt, es würde um irgendeinen Bluttrank für Vampire gehen. So etwas führen wir doch gar nicht, oder?“ Aufgrund von Daphnes Worten schluckte Severus kräftig. „Der Herr sagt, er muss dringend mit Ihnen darüber sprechen.“
„Danke, Daphne.“ Der Vorname war ihm nur herausgerutscht, was deutlich zeigte, dass Severus zerstreut oder besorgt war. Er wandte sich an Hermine. „Es wird wohl nichts Schlimmes sein. Vielleicht will man nur über mein Patent sprechen.“
„Ich hoffe doch“, sagte Daphne, sodass Severus sie anblickte. „Es ist nämlich auch ein Herr von der Abteilung für magische Strafverfolgung dabei.“

Severus stählte sich innerlich. Er rechnete mit einer Befragung, mehr nicht. Allerdings war es einschüchternd, dass gleich noch ein Herr von der Strafverfolgung anwesend war. Er näherte sich der Tür, doch bevor er hinausging, drehte er sich nochmals zu Hermine um.

„Sollte ich die Herren unerwartet begleiten müssen, dann bringe meine Aufzeichnungen in Sicherheit und warne schleunigst meine beiden, ähm, Testpersonen.“

Worple und Sanguini.

Der Schock bei Hermine saß tief. Im ersten Moment konnte sie sich nicht bewegen, nichts sagen. Sie hörte nur als leises Echo Ignatius’ Frage, war die Herrschaften wohl von Severus wollten. War es soweit, fragte sie sich. Nahm man Severus mit und bestrafte ihn für die Forschung mit Blut? Als die Sorge um Severus immer größer wurde, ließ sie ihren köchelnden Trank unbeaufsichtigt zurück und folgte Severus.

Vor der Tür zum Verkaufsraum atmete sie tief durch, um sich zu beruhigen, bevor sie hineinging. Vor ihrem inneren Auge sah sie bereits, wie Severus mit magischen Handfesseln wehrlos gemacht wurde und man ihm seine Rechte vorlas. Was sich jedoch in Wirklichkeit abspielte, war alles andere als beängstigend. Zwei Herren in Severus’ Alter lächelten ihn unbekümmert an. Hermine hörte die Worte Merlin-Orden erster Klasse.

„Und das haben Sie bisher alles in der Theorie ausarbeitet?“, fragte der eine Herr mit dem freundlichen Gesichtsausdruck.
„Ich, ähm“, Severus war um Worte verlegen. „Ja.“
Der Mann nickte. „Wir von der Abteilung zur Führung und Aufsicht Magischer Geschöpfe haben Ihr Patent sehr gründlich geprüft. Natürlich erwarten wir demnächst einige Testresultate, aber wir können Ihnen heute schon sagen, dass Sie, genau wie damals Damocles Belby für seinen Wolfsbanntrank, der neue Anwärter für den Merlin-Orden erster Klasse sein werden. Aber heute bin ich hier, um Ihnen eine Urkunde zu überreichen.“ Der Mann fuchtelte mit seiner Tasche herum und zog einen Bilderrahmen heraus, den er Severus festlich überreichte. „Für Ihr Bestreben zum Wohle der Magischen Gesellschaft erhalten Sie heute von uns eine Dankesurkunde im Namen des Zaubereiministeriums.“ Der Mann grinste und schüttelte einem perplexen Severus die Hand.
„Ich bin … Vielen Dank!“ Severus blickte zu dem anderen Herrn. „Ich dachte schon, weil ein Mitarbeiter von der Strafverfolgung …“
„Ach“, winkte der andere ab, „ich bin gar nicht im Dienst. Ich habe nur meinen Kollegen begleitet. Und ich wollte Ihnen persönlich gratulieren.“ Er streckte seine Hand aus, die Severus wie in Zeitlupe ergriff. „Weiter so, Mr. Snape. Der Orden ist Ihnen sicher.“

Hermine fiel ein Stein vom Herzen. Sie schaute zu Daphne. Für einen Moment hatten die beiden Frauen Blickkontakt. Daphne grinste breit, zeigte einen Daumen nach oben und gab damit Entwarnung, bevor sie sich wieder ihrer Arbeit widmete.

Der Rest der Woche war so schnell vergangen, dass Severus mit Schrecken feststellte, heute Abend das Dii Penates aufzusuchen. Lust verspürte er keine, andererseits drängte ihn das schlechte Gewissen. Sein Vater erwartete ihn. Es wäre ein verdienter Tritt in den Hintern für seinen alten Herrn, würde er nicht erscheinen, dachte Severus. Doch es gab noch einen weiteren Punkt, der ihn dazu anhielt, den Termin wahrzunehmen – und dieser Punkt hieß Hermine.

Daphne war am Freitag die Letzte in der Apotheke und sie würde das Geschäft schließen, denn die beiden Inhaber befanden sich längst im Genesungsheim. Vor der Tür zum Krankenzimmer seines Vaters wartete Severus darauf, dass Hermine bereit war. Als er über seine Schulter blickte, sah er, wie sie sich in dem kleinen Spiegel ihrer Puderdose betrachtete und unsichtbare Mängel beseitigte, indem sie mit einem Finger über ihre Augenbrauen strich, über ihre Mundwinkel, über … Er hatte genug und nahm ihr die Puderdose, die sie nie benutzte, außer sich mal im Spiegel zu betrachten, kurzerhand weg und steckte sie in eine Tasche seines Umhangs.

„Hey, was soll das?“, meckerte sie.
„Du sieht gut aus. Bist du nun fertig?“ Jetzt begann sie sogar damit, ihre Kleidung gerade zu zupfen. Severus stöhnte genervt. „Ich geh jetzt rein. Wenn du soweit bist …“
„Fertig!“, sagte sie plötzlich. Hermine war aufgeregt. Sie wollte einen guten Eindruck auf Severus’ Vater hinterlassen. Sie war sich nur nicht sicher, warum eigentlich.

Höflichkeitshalber klopfte Severus und wartete die Aufforderung zum Eintreten ab, die auch prompt kam. Severus trat ein und wurde sofort gegrüßt.

„Die Pünktlichkeit in Person, wie?“ Es war genau 18 Uhr, wie Tobias Snape es an dem Wecker auf seinem Tisch ablesen konnte.
„Guten Abend, Vater.“
„Gut, dass du nicht früher gekommen bist. Du glaubst gar nicht, in welche Körperöffnungen die einem hier Schläuche reinschieben.“

Aufgrund des Kommentars schloss Severus peinlich berührt die Augen. In diesem Moment tauchte Hermine hinter ihm auf. Sofort wurde sie von Tobias Snape beäugt.

„Guten Tach, wertes Fräulein.“
„Guten Tag, Mr. Snape“, sagte Hermine so schüchtern wie ein katholisches Schulmädchen, das zum ersten Mal einem Mann gegenüberstand.
„Lassen Sie sich mal ansehen.“ Sein Blick wanderte von ihrem Gesicht nach unten, wieder nach oben, bis er ihre Haare betrachtete. „Sagen Sie, waren Sie früher nicht rothaarig?“
„Meine Güte, Vater!“, blaffte Severus ihn an. „Meinst du nicht, Sie wäre dann zwanzig Jahre älter?“
„Na, bei euch weiß man das nie so genau. Hier läuft eine Heilerin rum, die ist neunzig und sieht aus wie sechzig.“ Severus’ Vater richtete seinen Blick wieder auf Hermine. „Und Sie sind auch ’ne Hexe?“
„Ja, Sir.“
Tobias hob die eine Augenbraue, die er noch bewegen konnte und sagte mit vorgetäuschter Bewunderung: „Sie hat mich Sir genannt!“
„Keine Sorge“, warf Severus gleichgültig ein, „der Fehler wird ihr nicht noch einmal unterlaufen.“ Den vorwurfsvollen Blick von Hermine ignorierte Severus. „Das ist Miss Hermine Granger, meine Verlobte.“
„Hermine?“, wiederholte Tobias verwundert. „Was ist das für ein besch…“
„Der Name“, unterbrach Severus die zu erwartende Beleidigung, „kommt unter anderem in Shakespeares Wintermärchen vor. Zudem findet man ihn in der griechischen Mythologie. Er ist ungewöhnlich, ja, aber er ist nicht“, Severus zwang sich dazu, das Wort zu benutzen, das seinem Vater auf der Zunge gelegen hatte, „bescheuert.“
„Beschaulich wollte ich sagen“, log Tobias seinen Sohn an. „Ein beschaulicher Name.“

Severus ließ es auf sich beruhen und trat näher an das Bett heran. Jetzt hatte er wieder einen guten Blick zum Zimmernachbarn. Der lag diesmal mit dem Gesicht zu ihnen. Es war ein alter Mann, der mit offenem Mund friedlich dalag und schlief. Der Patient war durch nichts zu wecken.

„Eine Hexe sind Sie also.“ Hermine nickte Tobias Snape zu. „Und Ihre Eltern ebenfalls?“
„Nein, meine Eltern sind wie Sie. Beide sind Muggel.“
„Mmmh“, summte Tobias, „und wie haben Sie meinen Sohn kennengelernt?“
„Ich war ...“ Hermine hielt plötzlich inne, weil sie nicht wusste, wie der Mann darauf reagieren würde.
Severus hingegen sah keine Probleme und offenbarte: „Sie war meine Schülerin.“
Tobias’ riss seine Augen weit auf, schnaufte dann plötzlich. „Und du sagst, ich wäre widerlich!“ Er bezog sich auf Severus’ Kommentar zu den Sexheftchen unter seinem Kopfkissen. „Ach, du meine Güte! Deine Schülerin … Fing das zwischen euch etwa schon während ihrer Schulzeit an?“
„Was zum Teufel denkst du denn von mir?“, zeterte Severus, blickte dann einmal kurz zu Hermine, dann wieder zu seinem Vater. „Wir haben uns nach der Schule jahrelang nicht gesehen, erst wieder, als sie längst erwachsen war.“
„Musst doch nicht gleich meckern!“, mahnte Tobias.
„Ich find es ungeheuerlich, was du für Gedankengänge hast. Eines lass dir gesagt sein: Ich konnte sie als Schülerin nicht mal ausstehen.“
Hermine schenkte ihm ein falsches Lächeln. „Danke, Severus, wirklich lieb von dir.“
„Ist doch aber wahr!“

Aufgebrachte ging Severus zum Fenster und schaute hinaus. Auf diese Weise wälzte er die Qual der Kommunikation vollkommen auf Hermine ab. Die nutzte den Moment, sich mit Tobias Snape zu unterhalten. Sie zog einen der Stühle ans Bett, setzte ihr freundlichstes Lächeln auf und plauderte einfach drauf los.

„Es ist schön, Sie einmal kennenzulernen, Mr. Snape. Ich habe schon einiges von Ihnen gehört.“
Was folgte, war eine Mischung aus Schnaufen und Grunzen, bevor Tobias sagte: „Das kann gar nichts Gutes gewesen sein.“
„Severus hat wirklich nicht schlecht von Ihnen gesprochen.“ Sie log nicht einmal. Überwiegend hatte er völlig oberflächliche Informationen weitergegeben. Fakten. „Wie geht es Ihnen überhaupt, Mr. Snape? Ich habe gehört, Sie hatten einen Schlaganfall?“

Und so ging es einige Minuten hin und her. Tobias Snape beantwortete eine Frage und stellte kurz darauf selbst eine.

„Sind Sie berufstätig?“, wollte Tobias neugierig wissen.
„Ja, ich führe zusammen mit Severus eine Apotheke.“
„Ist das so?“ Tobias schaute zu seinem Sohn hinüber, der weiterhin aus dem Fenster schaute. „Eine Apotheke“, wiederholte er, blickte dabei zu Hermine. „Läuft sie wenigstens?“
„Wir können uns wirklich nicht beklagen.“
„Waren Ihre Eltern schon Apotheker?“
Hermine schüttelte den Kopf. „Sie sind Zahnärzte, beide.“
„Mensch, das hätte ich mal früher wissen müssen“, seufzte Tobias. „Sehen Sie nur!“ Er zog die Lippen zurück, so gut es ihm möglich war und legte einige dunkle Stümpfe frei, die vereinzelt noch Halt im Zahnfleisch fanden.
Jetzt schritt Severus ein. „Das ist einfach widerwärtig! So etwas zeigt man nicht herum, Vater.“
„Ich hoffe nicht, dass du die schlechten Zähne von mir geerbt hast.“
Hermine wollte die Situation klären. „Vermutlich ist das eine Begleiterscheinung Ihrer Zuckererkrankung, Mr. Snape.“
„Woher wissen Sie denn …?“
Tobias wurde von seinem Sohn unterbrochen, der an den Nachttisch herantrat und entsprechendes Medikament in die Hand nahm. „Daher!“
„Ah, jetzt verstehe ich. Als Apotheker weißt du natürlich, was wofür genommen wird. Verdammt“, scherzte Tobias, „ich habe wohl keine Geheimnisse mehr.“
„Seit wann hast du Diabetes?“, fragte Severus mit ernster Miene, stellte dabei die Pillendose zurück an ihren Platz.
„Ach, das ist schon vor Jahren festgestellt worden. Hab mich nicht weiter drum gekümmert.“

Jetzt war für Hermine und Severus klar, warum es um den gesundheitlichen Zustand seines Vaters so schlecht stand. Es gab Menschen, die nie zu einem Arzt gingen, um sich medizinisch durchchecken zu lassen. Solang sie keine Beschwerden hatten, gab es für sie keinen Grund. Bei einem unbehandelten Diabetes kreisten die Zuckermoleküle, die nicht vom Körper verarbeitete werden konnten, im Blut durch den Körper und setzten sich nach und nach in den Blutgefäßen ab, verstopften sie.

Seinem Vater machte Severus ein mehr als großzügiges Angebot, als er sagte: „Es gibt Mittel, deine Krankheit zu heilen.“ Er würde Tränke gegen Diabetes und Bluthochdruck für seinen Vater selbst brauen, nahm sich Severus fest vor.
„Ich weiß.“ Tobias nickte. „Sie haben’s mir angeboten, aber ich habe abgelehnt.“
„Du hast …?“ Entgeistert hob Severus beide Unterarme in fragender Geste. „Warum zum Teufel?“
„Es ist meine Entscheidung und das haben sie akzeptiert, basta!“
„Du bist ein störrischer, alter Esel!“, schrie Severus aufgebracht.
Erschrocken blickte Hermine zu dem anderen Patient, dann zu Severus: „Ein bisschen leiser, bitte, wenn es geht.“
„Ach, wegen meiner nicht“, sagte Tobias, der kurz darauf verstand, was Hermine zu sagen versuchte. „Wegen Elis etwa?“ Tobias nickte zu seinem Zimmergenossen. „Der kriegt sowieso nichts mehr mit. Ich wette, er hört schon die Englein singen. Nicht wahr, Elis?“ Tobias wurde lauter. „Halt mir einen Platz frei, ja!“
„Vater! Du kannst deinen Zimmernachbarn nicht einfach anbrüllen!“
Schnaufend nahm Tobias den Einwand zur Kenntnis. „Ich sagte doch, dass er gar nichts mehr mitbekommt. Steht schon mit einem Bein im Grab, der Gute.“
„Wie bitte?“ Severus war fassungslos. Seiner Meinung nach war das barbarisch. „Warum um alles in der Welt legen die dich mit einem Sterbenden in ein Zimmer?“
In Tobias’ Gesichtszügen erkannte man für einen winzigen Augenblick lang Reue über die zurückgehaltene Information, bevor sein Alter Ego wieder die Oberhand gewann und er schnippisch entgegnete: „Ja, warum nur?“

Weder Hermine noch Severus wussten daraufhin etwas zu sagen. Das Ergebnis, zu dem ihr Verstand kam, wollte keiner von beiden wahrhaben, besonders nicht Severus. Das Schicksal hatte sich in der Vergangenheit schon einige Male einen üblen Scherz mit ihm erlaubt, aber das hier übertraf all den zurückliegenden Hohn und Spott des Lebens. Weil die beiden nicht imstande waren, etwas zu sagen, entschloss sich Tobias dazu, die Stille zu durchbrechen.

„Mann, ich muss mal pinkeln. Reich mir mal einer die Ente.“ Tobias deutete mit einem Finger auf das Plastikgebilde, das unten im offenen Teil des Nachttischs lag.
Hermine war geistesanwesend genug, die Bitte zu erfüllen. „Sollen wir rausgehen?“, fragte sie anstandshalber.
„Wegen meiner nich’.“ Schon schob Tobias die Urinflasche mit einer Hand unter die Bettdecke. In diesem Moment verließ Severus aufgebracht das Zimmer, was Tobias gelassen zur Kenntnis nahm. Er schaute Hermine an. „Wenn es Ihnen unangenehm sein sollte …?“
Hermine zuckte mit den Schultern. „Ich hab Heilerin gelernt, bin einiges gewohnt.“
„Wäre nett, wenn Sie die Ente danach gleich leeren könnten. Sonst stinkt’s im Zimmer wie auf’m Klo von ’nem Puff.“

Hermine ging solang zum Fenster und blickte hinaus. Im Hintergrund hörte sie ein leises, plätscherndes Geräusch, als die Flasche sich langsam füllte.

Draußen im Flur sah sich Severus aufgeregt um. Als eine Schwester an ihm vorbeiging, hielt er sie am Oberarm fest.

„Ich möchte sofort mit einem Heiler sprechen! Mit diesem …“ Er musste einen Moment überlegen, bis der Name ihm wieder einfiel. „Mit diesem Sacerdonus Cox.“
„Der ist gerade im dritten Stock bei …“
„Holen Sie ihn her!“ Sein Griff verstärkte sich, sodass die Schwester das Gesicht verzog und sich befreien wollte.
„Sie tun mir weh!“
„Ich will auf der Stelle …“
Eine weitere Stimme war zu vernehmen. „Gibt es hier ein Problem?“ Es handelte sich um den gesuchten Heiler.
„Mr. Cox!“ Severus ließ die Schwester los und wandte sich an den Herrn. „Ich möchte wissen, warum Sie nichts gegen die Erkrankung meines Vaters unternommen haben.“
„Das ist kein Grund, die Stimme zu erheben“, sagte Mr. Cox ruhig. „Wenn Sie mir bitte folgen würden? Dann können wir in Ruhe reden.“

Ein auffälliges Merkmal von Severus’ Wut war der freigelegte Eckzahn, den die zurückgezogene Oberlippe entblößte. Mr. Cox blieb ruhig und zeigte den Weg. In einem stillen Zimmer, womöglich dem Schwesternzimmer, denn hier befanden sich die Schränke mit all den Patientenakten, bot Mr. Cox dem aufgebrachten Besucher einen Stuhl an. Beide nahmen Platz. Mr. Cox erklärte die Situation mit sanftmütiger Stimme.

„Als Ihr Vater hier eingewiesen wurde, war sein Leiden schon weit fortgeschritten. Die Muggel-Ärzte im Paulinehaus am Quell konnten das Fortschreiten nicht aufhalten, nur verlangsamen. Hinzu kommt, dass Ihr Vater zugegeben hat, nicht immer alle Medikamente regelmäßig eingenommen zu haben.“
„Er ist aber nicht mehr in der Obhut der Muggel. Er ist bei Ihnen und das nicht erst seit Kurzem. Sie hätten …“
„Mr. Snape“, unterbrach der Heiler bedächtig. „Ihr Vater hat eine Behandlung abgelehnt.“
„Wie bitte?“
Mr. Cox nickte. „Ich persönlich habe ihm alle Möglichkeiten geschildert, die jetzt noch auf magische Weise zur Verfügung stehen. Dennoch hat er sich dagegen ausgesprochen, das Bein amputieren zu lassen.“
„Ampu…?“ Severus räusperte sich. „Ist eine Amputation wirklich notwendig?“ Ein Gedanke an Alastor mit seinem falschen Bein blitzte auf.
„In diesem Stadium leider ja. Hinzu kommt, dass der Schlaganfall ihn sehr in der Bewegung eingeschränkt hat, wie Sie gesehen haben. Das Bein, das er noch spüren konnte, wollte er nicht verlieren, obwohl ich ihm die Konsequenzen erläutert habe.“

Mr. Cox wartete einen Moment ab, bis sein Gegenüber alle Informationen verarbeitet hatte. Severus war erschüttert, gleichzeitig auch wütend – er wusste nur nicht, auf wen.

„Wir konnten ihn nicht zwingen“, erklärte Mr. Cox.
Mit einer Faust schlug Severus auf den Tisch. „Sie hätten ihn zwingen müssen!“
„Er ist im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte, Mr. Snape. Er wurde nicht entmündigt, kann deshalb auch selbst sein Testament gestalten.“
Erzürnt stand Severus auf und ging einige Schritte auf und ab. „Phönixtränen!“
Mr. Cox schüttelte den Kopf. „Phönixtränen können erkranktes Gewebe heilen, das ist richtig. Die Zuckerkrankheit und die halbseitige Lähmung bleibt von den magischen Heilkräften der Tränen jedoch unangetastet, ebenso das bereits abgestorbene Gewebe. Die Entfernung des befallenen Körperteils ist die einzige Lösung.“

Nein, dachte Severus, es war nicht die einzige Lösung. Das Elixier des Lebens! Er müsste nur Harry bitten, den Stein noch einmal benutzen zu dürfen, um dieses Elixier zu gewinnen. Es würde seinen Vater nicht nur komplett heilen, sondern ihm auch noch einige Jahre zusätzliches Leben schenken. Harry würde ihm die Bitte erfüllen, wusste Severus, obwohl man Acht geben musste, damit niemand, besonders nicht die Heiler, von der plötzlichen Genesung erfuhren.

Severus sprang von seinem Stuhl auf und ging wortlos hinaus auf den Flur. Mr. Cox folgte ihm.

„Mr. Snape? Ich weiß, dass diese schlechte Nachricht schwer zu verkraften ist, aber …“ Mr. Cox rannte ihm nach und wollte ihn aufhalten, doch Severus riss sich von der Hand frei, die es wagte, seine Schulter zu berühren. „Mr. Snape, es ist sowieso zu spät, um jetzt noch irgendetwas in die Wege zu leiten.“
Jetzt blieb Severus stehen. Noch auf den Hacken drehte er sich um. „Sie sind ein gottverdammter Heiler, Mr. Cox! Ist es nicht Ihre Aufgabe, Leben zu retten?“
„Nicht gegen den Willen des Patienten“, erwiderte Mr. Cox betrübt. „Ihr Vater ist 75 Jahre alt. Für einen Muggel ist das bereits ein hohes Alter.“
„Er könnte noch älter werden, wenn Sie Ihre Scheinheiligkeit mal außen vor lassen würden und einfach handeln“, blaffte Severus den Heiler zu Unrecht an.

Von dem Streitgespräch im Gang bekamen Hermine und Tobias nichts mit. Die beiden unterhielten sich weiterhin. Die ruppige und direkte Art, die der Mann manchmal an den Tag legte, war sie gewohnt. Severus würde es nicht gern hören, dass er genauso sein konnte.

„Meinen Vater“, erzählte Tobias, „habe ich nicht lange gehabt. Der kam 1934 bei einer Explosion ums Leben.“
„Bei einer Explosion?“, fragte Hermine nach. „Das ist eine ungewöhnliche Todesart.“
„Ja, es war das große Unglück im Bergwerk Gresford am 22. September. Ich glaube nicht, dass man heute noch viel darüber spricht, aber damals … Eine Tragödie, sag ich Ihnen. Ging durch alle Zeitungen. Das war in Wales. Wrexham hieß der Ort. Es gab 266 Tote. Die meisten kamen aber nicht bei der Explosion ums Leben, sondern durch das Feuer. Keiner hat das überlebt, kein Einziger.“
„Das ist ja schrecklich!“
„Mmm“, stimmte er ihr zu. „Ich war erst fünf, als das passiert ist. Meine Mutter starb ein paar Tage später an gebrochenem Herzen, behauptete jedenfalls meine Granny. Ich wuchs bei meinen Großeltern auf. Ich war recht schnell selbstständig. Bin nich’ zur Schule gegangen. Ich hab am Bahnhof Schuhe geputzt oder in der Nachbarschaft Zeitungen ausgetragen, was man eben so für ein bisschen Geld in meinem Alter machen konnte, bis ich meinen ersten Job auf dem Bau …“

Die aufgerissene Tür ließ Tobias mitten im Satz innehalten. Es war Severus, der gereizt das Zimmer betrat und mit vorwurfsvollem Blick seinen Vater anvisierte. Mr. Cox folgte geduldig, war aber jederzeit bereit einzuschreiten, falls die Situation eskalieren sollte.

„Ich habe gehört“, Severus’ Stimme bebte vor unterdrückter Wut, „dass du jede Behandlung abgelehnt hast. Ist das wahr?“
„Das ist mein Bier, Junge. Mach dir mal nicht meinen Kopf.“
„Das ist unverantwortlich von dir! Ist dir dein Leben überhaupt nichts wert?“
„Ich habe mein Leben gelebt und bin fertig damit. Dazu gibt es nichts mehr zu sagen.“

Sein Vater war die Ruhe in Person, was Severus vor Augen hielt, wie lange der Mann schon über das eigene Ableben nachgedacht haben musste. Das erklärte auch die Gelassenheit während des ersten Besuchs.

An Mr. Cox gewandt sagte Severus im Befehlston: „Lassen Sie uns allein!“
„Mr. Snape, wenn Sie die Stimme erheben, ist das ein Grund für mich, die Sicherheit zu rufen. Ich möchte nicht, dass meine Patienten aufgeregt werden.“
Severus atmete tief durch und rang sich ein Lächeln ab, das entgegen der eigentlichen gemeinten Aussage eher bedrohlich wirkte. „Ich bitte Sie vielmals“, begann Severus leise, „mich mit meinem Vater alleinzulassen.“
Mr. Cox schaute zu Tobias hinüber, der ihm zunickte. „Gut, dann gehe ich. Sie wissen, wo Sie mich finden.“

Wie versteinert wartete Severus darauf, die Tür zu hören, wie sie ins Schloss fiel. Er nach diesem Geräusch richtete er erneut das Wort an seinen Vater.

„Es gibt etwas Einzigartiges, mit dem ich dich durchweg von allen Leiden befreien kann.“
„Vielen Dank, Severus, aber ich muss leider ausschlagen.“
„Hast du mir nicht zugehört, du alter Gipskopf? Du könntest wieder gehen, wärst nicht mehr gelähmt, hättest kein Diabetes mehr.“
Tobias Snape schüttelte den Kopf, als Severus all die Dinge aufzählte. „Ach, lass es doch einfach sein“, bat er seinen Sohn.
Die gedrosselte Lautstärke war schnell wieder vergessen. „Ich verstehe dich nicht!“, blaffte Severus seinen Vater an. „Warum musst du so ein ignoranter Dummkopf sein? Hast du Depp nicht begriffen, was ich dir eben angeboten habe?“ Severus kam näher an das Bett heran und ergriff das metallene Gestell am Fußende. „Du kannst komplett geheilt werden! Du behältst auch das Bein, an dem dir ja so viel zu liegen scheint.“ Er verschwieg die zusätzlichen Jahre, die das Elixier des Lebens einem schenkte.
„Ich hab dich schon verstanden, Jungchen“, beteuerte sein Vater. „Aber du verstehst wohl mich nicht. Sieh her und lies es mir von den Lippen ab: Nein, danke!“

Mit voller Wucht schlug Severus gegen das Bett, sodass sein Vater kurz durchgeschüttelt wurde, als es an die Wand am Kopfende prallte. Zeit für Hermine einzuschreiten.

„Hör auf damit, Severus! So etwas kann man friedlich klären“, redete sie ihm ins Gewissen.
„Er hat seinen Verstand verloren“, warf Severus ein. „Das ist doch eindeutig! Es wäre ein Leichtes, ihn zu entmündigen. Dann können wir auch gegen seinen Willen handeln und ihn …“
„Rede hier nicht von uns im Plural, Severus“, warnte Hermine. „Lass mich da raus.“
Auch sein Vater erhob Einspruch: „Damit kommst du nicht durch. Du kann mir nicht meine Rechte wegnehmen. Die Gutachten belegen, dass ich nicht plemplem bin.“
„Dein Verhalten beweist das Gegenteil!“
„Warum? Weil ich sage, bis hier hin und nicht weiter? Es ist meine Entscheidung, ganz allein meine! Die Kröte musst du schlucken, ob es dir passt oder nicht.“
„Du verrückter, alter Narr! Das hier kann man heilen!“

Mit diesem letzten Satz schlug Severus die Bettdecke am Fußende auf und entblößte beide Unterschenkel. Ein Bein war in Verbandsmaterial gewickelt. Severus zückte seinen Zauberstab und richtete ihn auf den verbundenen Fuß.

„Was soll’n das werden?“, fragte Tobias alarmiert.
„Severus, nicht!“

Hermines Einwand kam zu spät. Severus hatte bereits einen Zauberspruch gemurmelt, der die Bandage in Windeseile aufwickelte. Ein fauliger Gestank breitete sich aus. Schwarze Zehen kamen zum Vorschein.

„Lass das sein!“, befahl sein Vater. „Ich will’s nicht sehen!“

Das Bein war freigelegt. Severus musste würgen. Zwar hatte er sich durch Hermines Beschreibung ein Bild von dem Leiden machen können, aber einen Fuß zu sehen, der noch immer am Körper hing und dennoch verweste, war zu viel für seinen Magen. An der Fußsohle war ein Loch wie in einem Schuh, den man durchgelaufen hatte. Man konnte das gelblich-gräuliche Fett sehen, das unter der schwarzen, vertrockneten Haut hervorblitzte. Dazu kam der üble Gestank, der zuvor von der verzauberten Binde unterdrückt worden war.

Severus bemerkte an dem übermäßigen Speichelfluss in seinem Mund, dass er kurz davor war, sein Frühstück zu erbrechen. Er musste raus aus diesem Zimmer, und zwar sofort! Severus stürmte hinaus auf den Flur. Es war egal, ob Hermine ihm folgte oder nicht. Er musste die nächste Toilette aufsuchen, wenn er den Gang nicht beschmutzen wollte.

Hermine war hin und her gerissen, entweder Severus zu folgen oder bei Tobias zu bleiben. Sie entschied sich für Letzteres.

„Tut mir leid“, sagte der alte Mann. „Sehen Sie einfach gar nicht hin.“ Er selbst hielt sich eine Hand als Sichtschutz vor die Augen. Auch für ihn war der Anblick nicht erträglich. „Rufen Sie eine Schwester, die wird sich drum kümmern.“
„Ach, das kann ich doch schnell machen“, bot Hermine vorgetäuscht gelassen an. „Ich hab schon Schlimmeres gesehen.“

Gelogen war es nicht, aber trotzdem hatte auch sie mit Übelkeit zu kämpfen. Unvorbereitet so eine entsetzliche Wunde zu sehen schlug auch ihr auf den Magen. Während ihrer Ausbildung im Mungos hatte sie Stümpfe von abgerissenen Gliedern verbunden oder offene Knochenbrüche behandelt. Sie würde es wohl noch schaffen, dachte sie, ein Bein zu verbinden. Mit ihrem Stab hob sie das Bein erst magisch an, bevor sie eine der steril verpackten Binden anvisierte, die man vorsorglich auf dem Nachttisch bereitgelegt hatte. Mit einem Wingardium Leviosa schwebte die Binde zielsicher ans Bett und wickelte sich nach einem weiteren Zauberspruch gründlich um das Bein – nicht zu fest und nicht zu lasch. Den Zauberspruch, um üble Gerüche zu unterdrücken, kannte sie ebenfalls. Schnell war alles wieder wie es war. Hermine griff zur Bettdecke und legte sie über seine Beine.

„Danke, mein Kleines.“
Hermine hob scherzhaft eine Augenbraue. „Kleines?“
„So heißen bei mir alle netten Frauen“, erklärte Tobias mit einem Schmunzeln auf den Lippen. „Machen Sie bitte das Fenster auf?“ Der Geruch des abgestorbenen Beines sollte verschwinden. Hermine tat ihm den Gefallen. Danach setzte sie sich wieder ans Bett. „Ach je!“, seufzte Tobias plötzlich, fasst sich dabei an die Brust. „Ich glaube, ich nehme lieber eine von den Herztabletten. Die Aufregung …“ Er machte sich lang, um zum Nachttisch zu greifen, aber er kam nicht heran.
„Lassen Sie mich Ihnen helfen.“ Mit wachem Blick überflog sie all die Mittel und griff zum richtigen Medikament. Eine Tablette drückte sie aus der Folie direkt in Tobias’ offene Hand. „Und ein Schluck Wasser dazu.“ Alles stand in Reichweite. Sie kam nicht drumherum, das Bild aus früheren Tagen zu bemerken. „Ihre Frau?“, fragte sie, obwohl es offensichtlich war. Schon einmal hatte Hermine ein Foto von ihr gesehen und zwar in einer alten Ausgabe des Tagespropheten.
„Ja, meine liebe Eileen.“ Die Sehnsucht in Tobias’ Stimme war nicht zu überhören. Hermine nahm das Bild in die Hand. „Und der kleine Severus.“ Tobias lachte. „Da kamen wir noch blendend miteinander aus.“ Nachdem er die Tablette geschluckt hatte, fragte Tobias: „Wollen Sie ihm nicht nachgehen?“
„Severus?“ Hermine schüttelte den Kopf. „Wir würden uns jetzt nur streiten und das möchte ich nicht.“ Das Bild stellte sie zurück an seinen Platz. „Warum ist Ihre Beziehung zu Severus eigentlich so schwer?“
„Fragen Sie mich was Leichteres.“ Tobias blickte einmal auf das Bild, dann zu Hermine. „’s war schon nicht leicht für mich, als Eileen nach der Hochzeit sagte, sie wär ’ne Hexe. In dem Augenblick dachte ich, sie hat nicht mehr alle Nadeln an der Tanne.“ Er schnaufte. „Hat dann ihren Stab gezogen und meine Kaffeetasse zum Fliegen gebracht. Ich hab mir beinahe in die Hosen gesch…“ Verlegen räusperte er sich. „Ich bin katholisch erzogen worden, müssen Sie wissen. Hexen sind nichts Gutes, steht sogar in der Bibel. Dieser ganze Wahrsagekrempel.“
„Wahrsagen hat nicht unbedingt etwas mit Hexerei zu tun. Ich bin da beispielsweise überhaupt nicht gut drin und mach es seit der Schule nicht mehr.“ Obwohl Hermine von ihren Eltern christliche Werte vermittelt bekommen hatte, wurde sie nicht streng gläubig erzogen. Die Bibel kannte sie jedoch, hatte sie mehr als nur ein Mal gelesen. „Propheten sind doch nichts anderes als Wahrsager, oder?“
Tobias schnaufte belustigt. „Sagen Sie das mal einem Pfarrer.“
„Dass man Hexen nicht leben lassen darf, steht nur im Alten Testament. Im Neuen Testament wird vor Dämonen gewarnt, und vor Magie in dem Sinne, dass sie anderen Menschen schaden kann. Wahrsagerei oder Hexen werden nicht mehr erwähnt.“
„Ja, ja, ich hab es irgendwann begriffen“, versicherte Tobias, „dass nicht jede Hexe bösartig ist. Trotzdem … Diese Zauberei kann einem schon Angst machen. Severus hat gern seine Späßchen damit getrieben.“
„Ehrlich?“ Hermine musste lachen. „Das kann ich mir gar nicht vorstellen.“
„Fragen Sie ihn mal, was er mit der Toilette angestellt hat.“

Ein Moment besinnliche Ruhe kehrte ein. Tobias dachte an alte Zeiten, besonders an seine damalige Ehefrau, die ihm viel zu früh genommen wurde. Diesen friedlichen Moment wollte Hermine nicht stören, aber sie blieb bei ihm, an seinem Bett. An dem Wecker auf seinem Nachttisch las sie die Uhrzeit ab. Es war kurz nach 19 Uhr. Sicherlich würde die Besuchszeit bald vorbei sein.

„Ich find’s sehr nett“, begann Tobias plötzlich, „dass Sie bei mir sind. Hatte schon lange keine richtige Unterhaltung mehr. Die Schwestern haben immer so viel um die Ohren. Kann’s ihnen nicht verdenken, dass sie nicht auch noch mit mir reden wollen. Es reicht, wenn sie mir den Hintern abwischen müssen.“ Er atmete einmal tief durch. „Ist ein bisschen öde hier. Elis ist auch nicht gerade ’n redseliger Geselle.“ Tobias blickte hinüber zu seinem Zimmernachbarn. „Er wird bestimmt vor mir ins Gras beißen. Als es ihm einigermaßen gut ging, haben wir noch drüber gescherzt. Er hat gewettet, dass ich vor ihm abnippel. Scheint, als hätte er die Wette verloren, nicht wahr, Elis?“

Der Mann im Nebenbett regte sich kein bisschen. Er atmete ruhig ein und aus, ein und aus. Es war beinahe hypnotisch. Irgendwann würde die Atmung aussetzen und er wäre erlöst.

„Seine Innereien sind völlig zerfressen, hat er mir erzählt. Hat jetzt auch sein Hirn zu Matsch gemacht. Keine Ahnung, wie man die Krankheit nennt, aber ich bin froh, dass ich sie nicht habe. Ich bin noch klar im Kopf und das wird hoffentlich bis zum Ende so bleiben.“
Hermine nickte verständnisvoll, bevor sie etwas aufgriff, das Severus vorhin angesprochen hatte, denn sie wollte wissen: „Ist es wahr, dass Sie alle Behandlungen ausgeschlagen haben?“
„Na ja“, Tobias versuchte, sich im Bett aufzusetzen. Mit Hilfe von Hermine klappte es wunderbar. „Die Heiler sagten, das Bein könnten sie nich’ mehr retten. Amputieren wollten sie’s. Das war deren Behandlungsvorschlag. Nein, sag ich. Mein Bein behalte ich!“
„Das, was Severus vorhin gesagt hat, ist wahr. Es gibt ein Mittel, das Sie komplett heilen kann. Es darf nur niemand davon erfahren, wissen Sie? Es darf nicht in die falschen Hände geraten. Wir müssten Sie erst hier herausholen, bevor wir …“
Tobias winkte ab. „Nein, wirklich nicht. Ich weiß es zu schätzen, was mein Sohn mir für eine Möglichkeit bietet, aber was dann? Wenn ich gesund bin, was dann? Ich hab doch niemanden. Sie sehen ja, wie es zwischen Severus und mir abläuft. Wir würden uns nur im Weg stehen. Nein … Meine Zeit ist vorbei, war sie schon vor Jahren. Wenn Sie so ein Wundermittel haben, dann geben Sie es meinem Freund hier.“ Er deutete auf Elis. „Er hat eine liebe Frau, drei Kinder und fünf Enkel, die ihn regelmäßig besuchen. Aber ich …? Nein, das wäre pure Verschwendung. Ich habe meine Eileen schon lange genug überlebt.“

Sehnsüchtig blickte er auf das Foto, und in diesem Augenblick verstand Hermine, was in dem Mann vorging. In seinem Alter durfte man des Lebens überdrüssig sein und auf eine Wiedervereinigung im Jenseits hoffen.

„Ich kann nur beten, ich lande auf der gleichen Etage wie Eileen“, scherzte Tobias, „und nicht ein Stockwerk tiefer.“
„Sie waren bestimmt kein schlechter Mensch“, vermutete Hermine laut.
„In Severus’ Augen …“
„Ach, nun vergessen Sie mal das Gezänk mit Severus.“
„Ich weiß ja, warum er so ist. Hat lange gedauert, aber irgendwann ging mir ein Licht auf.“ Tobias nickte sich selbst zu. „Wir haben aneinander vorbeigelebt. Ich habe ihn und seine Hobbys nicht verstanden und er hatte kein offenes Ohr für meine Interessen. Na ja, ich hatte ja nicht mal welche. War nur am Schuften, damit es beiden gut geht. Wir haben uns selten gesehen und wenn, dann gab es Streit.“

Hermine hörte die Reue über die nicht wieder gutzumachende Vergangenheit. Sie konnte den Mann sogar ein bisschen verstehen. Es war nur schade, dachte sie, dass Severus gegangen war. Er war derjenige, der hier sitzen und sich mit Tobias unterhalten müsste.

„Ich alter Suffkopp hab’s vermasselt. Hatte lange genug Zeit drüber nachzudenken. Wissen Sie was? Es gab ein paar schöne Momente zwischen uns. Wirklich! Ich hoffe nur, er kann sich auch an sie erinnern.“ Tobias nickte, als er Hermine anschaute. „Bin mit ihm mal in den Zoo gegangen, als seine Mutter im Mungos lag. Na ja, ich hatte natürlich solange den Jungen an der Backe. Er war vier oder fünf, hat die ganze Zeit geweint, weil seine Mutter nicht da war. Irgendjemand hat sie mit einem Scherzzauber belegt. Wie das eben so ist, musste ich mir was einfallen lassen. Im Zoo hat er endlich aufgehört zu weinen. Die Löwen haben’s ihm angetan. Die fand er klasse. Bevor’s ab ins Vogelhaus ging, habe ich ihm noch ein Eis geklaut, ähm, gekauft“, verbesserte Tobias. „Ich dachte erst, die Löwen waren sein absoluter Höhepunkt, aber nein, es waren die Vögel! Sie hätten ihn mal sehen müssen, den Kleinen. Die Augen ganz groß und den Blick immer nach oben gerichtet. Ein paar von den Tierchen waren zutraulich, kamen ganz nah an uns ran. Ich sag Ihnen, die Vögel haben alle anderen Tiere im Zoo getoppt. Ich habe ihn gar nicht mehr da rausbekommen. Er hätte sich wohl am liebsten ein Nest gebaut, um im Vogelhaus zu übernachten.“

Mit einem Male, Hermine war selbst überrascht und konnte es nicht aufhalten, schluchzte sie und eine Träne wollte sich über die Wange davonschleichen, aber sie erwischte sie mit dem Ärmel ihres Umhangs.

„Was denn, was denn …“, tröstete Tobias. „Nicht doch, Kleines. Was habe ich denn Falsches gesagt?“
„Nichts.“ Sie zog die Nase hoch, lächelte dabei. „Das mit den Vögeln … Wissen Sie, was ein Animagus ist?“
„Nein, keine Ahnung.“
„Das ist eine Tiergestalt, die manche Zauberer und Hexen annehmen können. Man kann sie sich nicht aussuchen. Der Charakter einer Person bestimmt, wie sein Animagus aussieht.“
„Und was hat das mit meinem kleinen Anekdötchen zu tun?“, fragte Tobias freundlich nach.
Hermine musste nochmals ihre Augen trocknen. „Severus ist einer von denen, die sich in einen Animagus verwandeln können. Seine Gestalt ist ein Vogel. Genau genommen ein Sekretär.“
Jetzt war es Tobias, der gequält lächeln musste. „Ja, das passt zu ihm. Das sind doch die grauschwarzen Vögel, die so selten fliegen, oder? Die mit den dürren, langen Beinen.“ Hermine nickte. „Ja, ich kann mich dran erinnern. Die haben wir zusammen gefüttert.“

Gegen halb acht kam eine Schwester ins Zimmer. Sie sah erst nach Elis, legte den Patient zusammen mit einer Kollegin in eine andere Position und schob ihm ein Kissen zwischen die Schenkel, damit es keine wunden Stellen geben würde. Nach einigen Zaubersprüchen, mit denen sie Elis pflegten, blickte eine der Schwestern hinüber zu Tobias.

„Sagen Sie ja nich’, dass Sie mir nochmal irgendwo was reinschieben wollen“, schäkerte Tobias. Die Schwester lachte.
„Nein, mein Guter, aber die Besuchszeit ist vorbei.“ Diesmal galt ihr Blick Hermine.
„Oh, dann werde ich mal …“ Hermine stand von ihrem Stuhl auf und stellte ihn ordentlich zurück an den Tisch. Ihr Blick fiel auf die Uhrzeit. „Meine Güte, die Zeit ist aber schnell vergangen.“ Sie nahm die Hand, die Tobias ihr entgegenhielt. „Es war wirklich schön, Sie kennengelernt zu haben, Mr. Snape.“
„Nein, die Ehre liegt ganz auf meiner Seite“, erwiderte er höflich. „Sagen Sie Severus bitte von mir, dass ich ihm für den Besuch danke.“
„Mach ich“, sagte Hermine strahlend.
„Ach, und tun Sie mir bitte noch einen Gefallen?“
„Aber sicher!“
Er lächelte sie an, womit er sie noch mehr ansteckte. „Besuchen Sie mich nicht mehr.“
Seine Worte ließen Hermines Lächeln abrupt verblassen. „Aber …?“
„Nein, bitte … Besuchen Sie mich nicht noch einmal. Ich …“ Er schüttelte hilflos den Kopf, weil er sich seinen eigenen Wunsch nicht erklären konnte. „Bitte, nehmen Sie es nicht persönlich. Ich habe die Unterhaltung mit Ihnen wirklich genossen, aber ich kann nicht … Es fällt mir so schwer.“

Hermine nickte. Tobias’ Bitte war für sie so deprimierend, dass sie ihren Tränen am liebsten freien Lauf gelassen hätte, aber sie riss sich zusammen. Er sollte sie nicht heulend in Erinnerung behalten. Stattdessen drückte sie nochmal seine Hand und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Sie war doch eine Hexe, dachte sie. Warum fiel es ihr dann so schwer, ein Lächeln auf ihr Gesicht zu zaubern? Schweren Herzens strich sie mit dem Daumen über seine Handrücken und verabschiedete sich.

„Machen Sie’s gut, Mr. Snape.“
„Leben Sie wohl, Miss Granger.“
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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232 Alle guten Dinge …




Im November wurde es so kalt, dass man jeden Tag mit Schneefall rechnen konnte. Außerdem war die Anfrage nach Tränken gegen Erkältungskrankheiten groß. Die ganzen Bestellungen konnte die Granger Apotheke mit links erledigen, denn es gab, dafür hatte Severus gesorgt, Unterstützung.

„Ich hatte heute Früh doch glatt Eisblumen an meinen Fenstern!“, erzählte Isabelle, die Nichte von Ignatius, die von Severus nach einem Vorstellungsgespräch eingestellt worden war. „Wenn das so weiter geht, muss ich meine Fenster zu Weihnachten gar nicht schmücken, das erledigt für mich Mutter Natur. Ich hoffe nur, dass meine Fenster nicht undicht sind.“

Besagte Mutter Natur hatte Isabelle Lyon sehr kräftig gestaltet. Die gewichtige Dame war nur wenige Jahre älter als Hermine. Auffälligstes Merkmal war ihr rundliches Gesicht, denn darin fand man immer ein liebenswertes Lächeln, was die frohe Natur der Dame widerspiegelte. Man musste sie einfach gern haben. Selbst Severus ertappte sich einmal dabei, durch ihre herzliche Art zu einem Lächeln animiert worden zu sein. Wenngleich sie auch einige Pfunde zu viel auf den Hüften hatte, war sie sehr gewandt und flink, vor allem aber dachte sie mit und konnte ab dem ersten Tag selbstständig arbeiten, ohne dass sie viele Fragen hatte.

„Wenn sich Eisblumen bilden, hat das mit der Temperatur im Raum zu tun“, mutmaßte Cyriakus Woodpecker, der Bekannte von Ignatius, der ebenfalls von Severus begutachtet und eingestellt worden war. „Die Fenster sind bestimmt nicht undicht. Wenn es nachts im Haus kälter wird und die Luft keine Feuchtigkeit mehr aufnehmen kann, setzt sich das Wasser am Fenster ab und gefriert, weil die Scheiben die gleiche Temperatur haben, die draußen herrscht.“

Cyriakus Woodpecker war im Gegensatz zu der Dame ein völlig anderer Schlag Mensch. Der Mann hatte das gleiche Alter wie Ignatius, war somit ebenfalls an die zehn Jahre älter als Severus. Dieser Mann war, was er wohl seiner vorangehenden Beschäftigung im Ministerium zu verdanken hatte, sehr penibel, was wiederum ganz im Sinne von Severus war. Die beiden neuen Angestellten hatten sich schnell eingelebt. Es stellte sich heraus, dass Isabelle den Umgang mit Kunden gewohnt war, was dazu führte, dass sie Daphne täglich einige Stunden im Verkaufsraum zur Hand ging, wenn wenig im Labor zu tun war. Alles in allem war Severus mit seiner Belegschaft sehr zufrieden. Außerdem konnte Isabelle gut kochen und wechselte sich freiwillig mit Gordian ab, um für alle ein köstliches Mittagessen zu zaubern. Durch ihre Künste hatte Severus sogar einige Kilo zugenommen und konnte nun, wenn er Hermines Worten Glauben schenken wollte, nicht mehr als unnatürlich dürr bezeichnet werden, sondern nur noch als schlank. Mit der tatkräftigen Unterstützung im Labor konnte sich Severus nun voll und ganz der Ausbildung von Gordian widmen. Hermine und er waren nicht mehr gezwungen, selbst noch Tränke für die Kunden herzustellen. Zum nächsten Vollmond müssten sie nicht einmal beim Wolfsbanntrank mithelfen. Dank der vergebenen Lizenz für den Vanillegeschmack würden sich die Kunden wieder auf alle anderen Apotheken und freiberuflichen Tränkemeister verteilten. Der nächste Vollmond war für Freitag, den 26. November, angekündigt. Bis dahin sollten alle gut eingearbeitet sein.

Mit einem Paket unterm Arm kam Daphne ins Labor und ging direkt zu Severus hinüber. „Das hat der Herr vom Posteulenamt gerade abgegeben. Ist wohl zerbrechlich.“
„Vielen Dank, Miss Greengrass.“
„Was ist aus Daphne geworden?“, fragte sie lächelnd, erwartete aber keine Antwort von ihm.

Unter den wachen Augen von Hermine öffnete er das Paket, welches aus Rumänien stammte. Er wusste, was Charlie ihm geschickt hatte und konnte es gar nicht abwarten, sie zu Gesicht zu bekommen. Endlich war das braune Paketpapier entfernt, das Päckchen geöffnet.

„Sie es dir an!“, sagte er ehrfürchtig zu Hermine. Sie kam näher heran und betrachtete die silbernen Eierschalen mit ihren dunkelgrauen Punkten. Es waren vier Hälften. Ein Ei musste so groß wie ein Klatscher sein.
„Das sind die Eierschalen von Knuckern?“ Vorsichtig nahm sie eine Hälfte in die Hand. „Ist ziemlich schwer.“
„Tatsächlich?“ Davon überzeugte sich Severus selbst. Mit der Hand versuchte er, das Gewicht zu bestimmen. „Was meinst du, was eine komplette Schale wiegt? Sechshundert, siebenhundert Gramm?“ Er nahm die andere Hälfte in die Hand. Mittlerweile hatte er die Aufmerksamkeit seiner Angestellten auf sich gezogen. Isabelle, Cyriakus, Ignatius und Gordian versammelten sich um das Paket mit dem seltenen Inhalt.
„Was für Dracheneier sind das?“, wollte Cyriakus wissen und klemmte sich sein Monokel unter die rechte Augenbraue. „Die habe ich ja noch nie gesehen.“
Severus stand auf und hielt beide Hälften gut sichtbar nach oben: „Meine Damen und Herren, halten Sie sich fest. Das hier sind echte Knucker-Eierschalen!“
„Habe ich richtig gehört?“, fragte Gordian nach. „Knucker? Sind die Schalen etwa versteinert?“
Ignatius konnte es ebenfalls kaum glauben. „Die sind doch ausgestorben.“
„Nein, das dachte man ursprünglich. Diese Exemplare sind uns von einem Drachen-Reservat in Rumänien geschickt worden, nachdem die beiden Tierchen von einer Ukrainischen Eisenbauchdame ausgebrütet wurden. Wir werden darum gebeten, die Eierschalen auf ihre möglichen Wirkungen in Zaubertränken zu untersuchen.“
„Das ist absolut mein Gebiet!“, versicherte Cyriakus. Als er ein ernstes Gesicht machte, fiel ihm sein Monokel hinunter, das nun an einer goldenen Kette baumelte. „Im Ministerium war ich mit der Analyse verschiedener Stoffe beschäftigt.“
Isabelle erhob Einspruch, denn auch sie wollte sich mit diesen Schalen befassen: „Ich habe im Mungos gelernt, wie man Objekte und ihre Bestandteile unter die Lupe nimmt.“
„Keinen Streit bitte“, bat Severus. „Wir alle werden diese Schalen studieren. Das ist nämlich unsere Aufgabe. Und es werden in Zukunft sicherlich noch mehr kommen. Ich darf Sie alle daran erinnern, Stillschweigen zu bewahren, so wie sie es vertraglich versicherten. Verlieren Sie kein Wort über lebende Knucker oder deren Eierschalen.“
„Auf keinen Fall, Sir“, sagte Gordian. „Darf ich mal anfassen?“

Natürlich durfte er. Severus ließ eine halbe Eierschale durch die Hände seiner Angestellten gehen. Alle waren gleichermaßen fasziniert und begierig darauf, mehr über diese Schalen herauszufinden.

Wenige Meter von der Apotheke entfernt zeigte Harry seiner Frau und dem Jungen die Räume seines Kinderladens. Nicholas testete sofort die herumliegenden Spielzeuge auf ihre Qualität. Eines der Schaukelpferde hatte es ihm angetan.

„Das hier ist die Küche.“ Harry deutete mit einer Hand hinein.
„Ist sehr geräumig“, bemerkte Ginny.
„Es sollen ja auch drei hier drinnen arbeiten. Sie werden sich nicht auf die Füße treten.“ Einen Raum weiter zeigte er ihr die Toilette. Beim Anblick des so weit unten angebrachten Urinals wunderte sich Ginny, so dass er von sich aus erklärte: „Ich hab dir doch von dem Kobold erzählt.“
„Ach ja“, fiel es ihr wieder ein. „Meinst du wirklich, er meldet seinen Sohn hier an?“
„Warum nicht? Es kann natürlich auch nur ein Test gewesen sein. Vielleicht wollte er sehen, wie ich reagiere? Ich werde es ja merk…“

Nicholas helles Freudengeschrei unterbrach Harry. Beide stürmten zurück ins Spielzimmer und sahen den Grund für seine Fröhlichkeit. Er hatte eine große Kiste umgeworfen. Die darin aufbewahrten Figuren von Prinzessinnen und Königen, von Pferden und Kutschen, Bauern und Mägden – sie alle waren lebendig geworden, als sie den Fußboden berührten. So sollte es auch sein, dachte Harry, aber nicht alle auf einmal. Ein Paradies für Nicholas.

„An deiner Stelle solltest du ein paar Puppen mit nachhause nehmen“, riet Ginny, „sonst wird er die ganze Zeit quengeln.“
„Ja, du hast vielleicht Recht.“ Zu Nicholas sagte er: „Such dir eine Puppe aus. Von mir aus zwei.“ Nach und nach fing Harry die Puppen wieder ein und warf sie in die Spielzeugkiste, woraufhin sie auf der Stelle bewegungslos wurden. Nicholas hielt ein Pferd und einen König in den Händen, drückte sie ganz fest an sich. Hätte der Junge noch mehr Hände, würde jede von ihnen eine Puppe halten. „Die zwei Puppen?“, fragte Harry mit hoher Stimme.
„Papa“, kam als Antwort zurück.
Harry grinste, drehte sich zu Ginny um. „Hast du das gehört? Er hat Papa gesagt!“
„Papapapapa“, sagte Nicholas gleich mehrmals hintereinander.
Ginny lächelte und behielt es für sich, dass der Junge vor wenigen Tagen schon Mama gesagt hatte, als sie ihn anzog. „Ja, es ist auch nicht zu überhören.“
„Dann nehmen wir die beiden Püppchen mit nachhause.“

Harry nahm Nicholas auf den Arm, bekam dabei einmal das weiche Hufeisen des Pferdes ans Kinn. Sie waren nicht in die Winkelgasse gekommen, um sich den Kinderladen anzusehen. Die Entscheidung kam spontan. Ursprünglich wollten sie nur in die Apotheke, um etwas zu besorgen.

Wie es so kam, wurden sie auf ihrem Weg noch einmal abgelenkt. Im Schaufenster von Flourish und Blotts entdeckte Harry ein Buch, das seine Aufmerksamkeit erlangte.

„Sieh mal“, Harry nickte zum Schaufenster, „Lockhart ist zurück.“ Ginny betrachtete das Buch mit dem Titel Perplexe Persönlichkeiten. Auf dem Cover war Gilderoy Lockhart zu sehen, der im Gegensatz zu all seinen anderen Büchern nur dezent lächelte. „Lass uns reingehen“, bat Harry. „Ich will mal drin blättern.“

Im Geschäft schaute Ginny sich mit Nicholas die Kinderbücher an. Der Junge fand sogar ein, zwei Exemplare, die ihm gefielen. Harry nahm derweil eines von Lockharts Büchern in die Hand und las erst die Inhaltsangabe auf der Rückseite. Es schien sich dieses Mal um ein Thema zu handeln, das Lockhart persönlich erlebt hatte, denn es erzählte seine eigene Geschichte, nämlich die eines Mannes, der eines Tages in Anwesenheit eines Rothaarigen in einer Höhle aufwachte und keinerlei Erinnerungen an vergangene Tage hatte. Um das Inhaltsverzeichnis zu überfliegen, schlug Harry das Buch auf. Er stieß auf eine Widmung, die er las, dann nochmal las und am Ende noch immer nicht glauben konnte. Mit dem Buch in der Hand ging er zu Ginny.

„Schau mal, hier!“ Er hielt ihr die Stelle mit der Widmung vor die Nase.
Ginny las laut: „Für meine ehemalige Schülerin und gute Freundin Hermine Granger, als Dank für ihre beschwingenden und Mut machenden Worte, ohne die dieses Buch nicht möglich gewesen wäre.“ Ginny schüttelte den Kopf. „Weiß sie davon?“
„Ich habe keine Ahnung. Ich wüsste nicht einmal, wann sie ihn getroffen haben soll. Er kann sich doch an niemanden erinnern.“
„Ah, Mr. Potter!“ Mr. Flourish kam auf seine Kunden zu und sprach extra laut, damit auch jeder der anderen Kunden wahrnahm, dass Harry Potter bei ihm einkaufte. „Seien Sie gegrüßt, und auch Mrs. Potter wünsche ich einen guten Tag.“ Er bemerkte das Buch in Harry Händen. „Für Sie mache ich einen Freundschaftspreis.“
„Nein, ich wollte gar nicht …“
„Sie haben Recht!“, unterbrach Mr. Flourish. „Da wir im nächsten Jahr so etwas wie Kollegen sind“, er spielte darauf an, dass dann auch Harry zu den Ladeninhabern in der Winkelgasse gehören würde, „schenke ich Ihnen dieses Exemplar als Willkommensgruß.“
„Das ist gar nicht nötig.“
„Ach, wie bescheiden Sie sind. Genau deshalb liebt man Sie so sehr, Mr. Potter.“ Mr. Flourish klopfte ihm kräftig auf die Schulter, schaute danach zu Nicholas hinunter. „Hat der kleine Fratz auch was Schönes gefunden?“
„Ja“, sagte Ginny, „aber die Bücher bezahlen wir!“

So schnell wie möglich verließen Harry und Ginny das Büchergeschäft wieder. Die Apotheke war nicht weit. Ginny hielt ihrem Mann die Tür auf. Drinnen setzte Harry den Jungen ab, der sofort mit den beiden sich bewegenden Puppen spielte.

„Hallo Daphne“, grüßte Harry freundlich.
„Hi Harry, hallo Ginny. Soll ich Hermine holen?“
„Ja, das wäre nett.“

Bis Hermine kommen würde, stöberte Ginny in den Regalen und fand auf Anhieb das, weshalb sie hier war. Sie nahm eines der kleinen Fläschchen in die Hand.

„Hier!“ Sie zeigte Harry den Fund. „Wir hätten Hermine gar nicht stören brauchen.“
„Wer hätte mich nicht stören brauchen?“ Mit breitem Lächeln öffnete Hermine die Theke und kam auf die beiden zu, um sie innig zu begrüßen. „Hallo, Harry!“ Eine Umarmung folgte. Bevor sie Ginny umarmte, bemerkte sie das Fläschchen. „Ein Schwangerschaftstest?“ Sie blickte von der Flasche auf zu Ginny, dann zu Harry, wieder zu Ginny. Langsam hoben sich ihre Mundwinkel zu einem zaghaften Lächeln. „Ehrlich?“ Sie freute sich jetzt schon.
„Das wollen wir ja gerade sehen“, beruhigte Ginny sie. „Wie funktionieren die Tests?“

Die Anwendung war leicht. Es war ähnlich wie bei den Muggeltests. Ein paar Tropfen Urin, die man in das Fläschchen geben musste, reichten aus. Eine Verfärbung stellte einen positiven Test dar. Blieb die Flüssigkeit durchsichtig, war es ein Fehlalarm. An ihrer Hose bemerkte Hermine plötzlich ein Ziehen. Nicholas.

Mit einer Hand wuschelte sie ihm durchs schwarze Haar. „Wie konnte ich dich nur so unverschämt übergehen, mein Spatz?“

Den Kleinen nahm Hermine auf den Arm. In dem Moment trat Severus in den Verkaufsraum. Natürlich grüßte auch er die Besucher – und er bemerkte ebenfalls den Artikel in Ginnys Hand, zu dem er sich vorerst nicht äußerte. Als er sich oberflächlich mit Harry über den Kinderladen unterhielt, beobachtete Severus, wie Hermine mit ihrem Patensohn umging. Sie drückte ihre Wange an seine und erwähnte seine kalte Nase. Gleich darauf folgte ein Eskimokuss, bei dem Nicholas aus unerklärlichen Gründen anfangen musste zu giggeln. Vielleicht hatte es gekitzelt. Der Junge beugte sich beim Lachen weit nach hinten, aber Hermine hatte ihn fest im Griff, so dass er nicht fallen konnte. Im Anschluss warf Nicholas die Arme um Hermines Hals und drückte sie, während sie seinen Rücken streichelte. Den sanften Ausdruck in Hermines Gesicht mochte Severus.

„Severus, hörst du mir überhaupt zu?“, hörte er plötzlich Harry fragen.
„Was hast du eben gesagt?“
Harry presste die Lippen zusammen, grinste dabei, bevor er wiederholte: „Ich wollte wissen, wie sich die Angestellten so machen.“
„Bestens, bestens! Wirklich, sie sind hervorragend.“ Wieder war Severus von Hermine abgelenkt, die dem Jungen einen Kuss auf die Wange gab, bevor sie ihn wieder absetzte. Als sich Hermine mit Ginny unterhielt, blickte Severus zu Harry und fragte: „Schwanger?“
Harry strich sich über den eigenen Bauch und erwiderte: „Sieht man das etwa?“
„Scherzkeks.“
Harry lachte, gab letztendlich aber eine ehrliche Antwort: „Eintracht Pfützensee hat sie abgelehnt, weil sie laut der Tests schwanger sein soll. Wir wollen uns nur vergewissern.“
„Die Heiler des Teams Eintracht Pfützensee ordern ihre Tränke bei uns. Wenn nichts vertauscht wurde …“
„Genau deswegen machen wir einen Test. Könnte ja sein, dass man Blut oder Urin durcheinandergebracht hat.“ Aus seiner Tasche holte er das Buch von Lockhart und wandte sich an Hermine. „Schau mal her!“ Er hielt das Cover in die Höhe.
„Ach, hat er es doch gewagt und eines geschrieben!“, sagte sie überrascht.
„Es steht sogar eine interessante Widmung drin.“ Harry schlug die Stelle auf und las sie laut vor. Nicht nur Hermine war davon sehr verblüfft, sondern auch Severus.
Letzterer musste sofort seine Meinung darüber kundtun, denn Severus fragte: „Hast du was mit dem Kerl?“
Hermine lachte, steckte damit den Jungen an, den sie gerade wieder auf den Arm nahm, weil er sehnsüchtig die Arme nach ihr ausgestreckt hatte. „Ich habe Lockhart getroffen, als ich Nevilles Eltern im Mungos besucht habe. Ich hab doch davon erzählt, oder etwa nicht? Er hat mir sogar ein Autogramm gegeben. Ich bin mir sicher, ich habe es herumgezeigt.“
Mit dem Buch wedelte Harry hin und her. „Kannst es haben, wenn du möchtest.“ Weil sie keine Hand frei hatte, überreichte Harry Severus das Buch. „Ich lese es ja doch nicht.“
„Danke, Harry“, sagte Hermine, bevor sie sich wieder in ein Gespräch mit Ginny vertiefte, zwischendurch immer wieder dem Kind ein Kuss gab, wo sie gerade eine geeignete Stelle fand.

Harry blickte hinüber zu den beiden Frauen. Hermine konnte nicht davon ablassen, mit Nicholas zu kuscheln. Der Junge hatte einen Narren an seiner Patentante gefressen.

„Sie kann wirklich gut mit Kindern umgehen“, dachte Harry laut, aber nur so laut, dass Severus es hören konnte. „Vor ein paar Jahren hätte ich mir das nur schwer vorstellen können. Sie ist sonst immer die allwissende Enzyklopädie auf zwei Beinen.“ Beide begutachteten das, was Harry eben gesagt hatte, aus nächster Nähe. Es stimmte. Hermine konnte gut mit dem Jungen umgehen. „Habt ihr auch schon mal drüber nachgedacht?“
Severus’ Kopf schnellte herum. „Über was?“
„Na, was Kleines in die Welt zu setzen“, erörterte Harry.
„Ich, ähm ...“ Mit diesem Thema fühlte sich Severus nicht wohl. „Ich muss langsam wieder weiterarbeiten.“ Er nickte Harry und Ginny zu. „Auf Wiedersehen.“

Verwundert schaute Harry Severus hinterher und fragte sich, ob er gerade ein Thema angesprochen hatte, das zwischen Hermine und Severus womöglich tabu war.

„Du kannst den Test hier machen, oben in der Wohnung“, bot Hermine ihrer Freundin an.
„Was denn, gleich hier?“
„Ja, wenn er positiv ist, musst du ihn auch nicht bezahlen.“ So sehr freute sich Hermine über den potenziellen Nachwuchs.
Ginny lächelte. „Wer kann so ein Angebot schon ablehnen?“

Wie vorgeschlagen verzog sich Ginny nach oben ins Badezimmer. Sie führte den Test genauso durch, wie Hermine es erklärt hatte. Schon nach nur vier Tropfen Urin färbte sich die Flüssigkeit dunkellila. Nachdem sie sich gründlich die Hände gewaschen hatten, kam sie freudestrahlend heraus und zeigte das Resultat. Hermine fielen beinahe die Augen aus dem Kopf.

„Meine Güte! So eine kräftige Farbe entsteht nur, wenn …“
Harry fiel ihr ins Wort. „Sie ist schon beinahe im fünften Monat.“
Erst stand Hermines Mund vor lauter Staunen weit offen, dann grinste sie so breit, dass man einen perfekten Blick auf die grade Reihe ihrer weißen Zähne hatte. „Das sind ja mal schöne Neuigkeiten! Nicht so trübsinnige wie die mit Severus’ Vater.“
„Seinem Vater?“, wiederholte Harry. Hermine biss sich auf die Lippe, doch er fragte trotzdem nach: „Was ist mit seinem Vater?“
„Ach, eine lange Geschichte“, winkte Hermine ab. „Ich weiß nicht, ob ich sie erzählen darf.“

Nach dem letzten Besuch im Dii Penates hatte Severus nicht mehr mit ihr über seinen Vater gesprochen, hatte auch nicht den Gedanken geäußert, ihn noch einmal besuchen zu wollen. So blieb es Hermine erspart Severus zu sagen, um was Tobias sie gebeten hatte. Der kranke Mann wollte nicht, dass sie ihn ein weiteres Mal aufsuchten. Sie würde Severus erst davon erzählen, sollte der tatsächlich von sich aus dazu bereit sein, seinem alten Herrn einen weiteren Besuch abzustatten.

Die frohe Kunde über Ginnys andere Umstände musste sie Severus brühwarm mitteilen. Weil sie sich für ihre Freundin so sehr freute, bekam er ein schlechtes Gewissen. Severus wurde sogar neidisch auf Harry, der so prächtig in seiner Vaterrolle aufblühte und alles mit links zu erledigen schien. Noch immer konnte sich Severus nicht in der gleichen Rolle sehen. Sein Vater hatte Recht gehabt, denn es lag an ihm und an der Kindheit, die er Severus beschert hatte, weswegen er selbst Zweifel hegte, ob er für Nachwuchs eine geeignete, vorbildliche Vaterfigur verkörpern könnte. Doch wenn er sich Hermine und Nicholas ins Gedächtnis rief, wurde er sich darüber klar, dass sie mit ihrem freundlichen, warmen Wesen ein Kind verdient hatte. In ihrer gemeinsamen Beziehung wollte er ihr solche Freuden nicht vorenthalten. Zwiespalt. Zwiespalt war ein treffender Ausdruck für die Zwickmühle, in der sich Severus seit einiger Zeit befand. Bei einem Kind gab es keine Kompromisse. Entweder man entschied sich für eines oder man wollte keines.

„ …und wenn Mr. Snape mit seinen Gedanken bei und wäre …“, hörte er plötzlich Ignatius sagen.
„Wie bitte?“
„Ah, Sie sind ja doch ansprechbar“, scherzte sein Angestellter. Sie alle saßen gerade gemeinsam bei Tisch. Isabell hatte gekocht. „Ich habe gesagt, es wäre sicherlich unverschämt zu fragen, ob einer von uns so etwas wie Weihnachtsgeld bekommt.“
Severus nickte. „Sie haben vollkommen Recht: Es ist unverschämt.“
„Sage ich doch“, bestätigte Ignatius seine Vermutung. Isabelle und Cyriakus schauten betrübt drein, verstanden aber die Entscheidung ihres Chefs. Sie waren erst seit Anfang November in der Granger Apotheke beschäftigt.
„Wenn es ums Geld geht …“, begann Severus. „Sie können monatlich zu Vollmond Überstunden machen, die Ihnen natürlich vergütet werden. Der Wolfsbanntrank nimmt viel Zeit in Anspruch. Außerdem wird Miss Greengrass“, sie blickte auf, „nichts dagegen haben, wenn einer von Ihnen ein oder zwei Stunden länger bleibt, um sie bei der Buchhaltung zu unterstützen.“

Nach dem Mittagessen ließ man Cyriakus, Isabelle und Ignatius allein im Labor. Gordian begleitete Severus und Hermine nach oben ins Wohnzimmer. Der junge Mann befand sich zum ersten Mal in den privaten Räumlichkeiten seines Zaubertränkemeisters. Er wirkte ein wenig unbeholfen.

„So, Mr. Foster“, Severus winkte Gordian heran und deutete auf ein Denkarium.
Der junge Mann staunte. „Ist es das, wofür ich es halte?“
„Ein Taufbecken ist es jedenfalls nicht.“
Gordian bemerkte die Flüssigkeit in der steinernen Schale. „Tatsächlich! Ein Denkarium.“
„Korrekt! Haben Sie schon einmal Erfahrungen mit so einem Objekt gemacht?“
„Nein, Sir, ich habe nur von diesen Becken gelesen. Es soll vier in Schottland geben. Professor Potter hat mir einmal erzählt, er würde eines besitzen, aber gesehen habe ich es nie.“
„Na, dann ist das jetzt eine Premiere für Sie, Mr. Foster. Sie sehen nicht nur eines, Sie werden auch eines betreten.“
Sein Auszubildender machte ganz große Augen. „Ist das Ihr Ernst, Sir? Ich darf …?“ Sprachlos nickte er zum Denkarium hinüber.
Hermine näherte sich den beiden mit einem Krug und erklärte für den jungen Mann: „Hier sind einige Erinnerungen von einem Herrn drin. Nach seinem Tod haben wir sie erhalten.“
„War der Mann ein Tränkemeister?“, fragte Gordian aufgeregt. „Ich habe mal gehört, dass es Tränkemeister gegeben haben soll, die Ihre Notizen in Form von Erinnerungen vererbt haben.“
„So ähnlich ist es. Sind Sie bereit, in eine der Erinnerungen einzutreten?“, fragte Severus.
„Klar bin ich!“
„Dann vorab ein paar Informationen. Es muss nur die Nasenspitze eingetaucht werden. Wehe, Sie verschmutzen das Denkarium mit irgendwelchen Sekreten! Wie Sie sehen, ist das Becken groß genug, dass vier oder sogar fünf Mann auf einmal in dieselbe Erinnerung eintreten können. Erschrecken Sie nicht. Sie werden das Gefühl haben zu fallen. Es spielt sich nur in Ihrem Kopf ab. Ihnen droht keine Gefahr.“
„Okay! Muss ich sonst noch etwas beachten?“ Severus schüttelte den Kopf. „Oh Mann, bin ich aufgeregt! Was sehen wir uns an?“
Diesmal ergriff Hermine das Wort. „Wir haben keine Ahnung. Bisher haben wir uns nur eine von den vielen Erinnerungen angesehen. Es wird für uns genauso neu sein.“
„Verstehe! Sie wollen nachsehen, ob etwas Brauchbares dabei ist.“
„Der Junge denkt mit“, lobte Severus mit neutraler Stimme. An Hermine gewandt sagte er: „Dann such uns mal eine Erinnerung aus.“

Ihre Stabspitze tauchte sie in den Krug. Als sie diese wieder herauszog, hing ein silbernes Fädchen daran, das sie vorsichtig ins Denkarium manövrierte. Alle drei holten gemeinsam Luft, als wollten sie untertauchen, bevor sie sich bückten und ihre Nasenspitzen die Flüssigkeit berührten.

Endlich kamen Severus und Hermine dazu, ihre Vorliebe für Entdeckungen und Erfindungen gleichermaßen zu befriedigen. In der ausgewählten Erinnerung bestaunten sie zunächst ein Veloziped, das der Alchimist in einem hinteren Teil seines Labors zwischenlagerte. Das warf natürlich die Frage auf, wie alt diese Erinnerung wohl sein mochte und wie alt der Alchimist war, als er letztendlich verstarb. Hermine wollte sich später informieren, aber vorerst staunten sie über die im Kessel blubbernden Tränke, die der Mann wortlos zusammenbraute, und sie rätselten über deren mögliche Wirkung.

Der Ausdruck der Freude konnte auf vielerlei Arten dargestellt werden. Harry, der Hund, wedelte mit seinem Schwanz, besonders dann, wenn einer der Angestellten ihn streichelte oder Isabelle ihm während des Kochens heimlich einen Leckerbissen zuwarf. Fellini war da schon bedächtiger und legte wenig wert auf Körpersprache, denn er schnurrte, wenn er Freude empfand – und nur ganz selten fiel ihm vor lauter Wonne ein Tröpfchen Speichel von dem kleinen Mäulchen, wenn man ihn an der richtigen Stelle kraulte. Gordian, der noch so jung an Jahren war, lachte häufig vergnügt, schlug sich manchmal dabei auf die Schenkel. Im Gegensatz zu ihm war Hermine zurückhaltender, dafür war ihr Lächeln beständig. Severus hingegen erlaubte sich dann und wann durch leichtes Anziehen des Musculus zygomaticus major, des Muskels, den er normalerweise für seine boshaften Gesichtsausdrücke bemühte, ein halbseitiges Lächeln. Das Gefühl kindlicher Aufregung, das er momentan in der Erinnerung des Alchimisten verspürte, erinnerte ihn an den Tag, an dem ihm sein erster Chemiebaukasten geschenkt wurde – und ja, Severus wusste auch noch, dass sein Vater derjenige war, der ihm damit eine Freude bereitet hatte.

Freude konnte einen Menschen ebenfalls so sehr bewegen, dass Tränen flossen. Neville war so einem wuchtigen Gefühl gerade ausgesetzt, als er im Mungos seine Eltern abholte.

„Junge, nicht doch weinen“, tröste seine Mutter ihn. „Es ist doch alles gut.“ Luna, die ständig ein Gesicht machte, als würden Feen sie küssen, streichelte ihrem Freund über den Rücken und bot stillschweigend ihre Schulter an.
„Geht es denn auch?“ Augusta stellte sich zu ihrem Sohn ans Bett. Er musste einen Moment verschnaufen und hatte sich gesetzt. „Kannst du laufen? Sonst besorge ich einen Transport.“
„Nein, Mutter, es geht schon. Lass mich nur kurz Luft holen.“
Alice strich ihrem Sohn über die Wange, musste beinahe selbst anfangen zu weinen. „Neville, bitte, mein Schatz.“
„Tut mir leid“, schluchzte er. „Ich freue mich nur so sehr.“

Die Longbottoms waren mittlerweile wieder gut genährt, hatten ihre Bewegungen endlich unter Kontrolle. Heute durften sie aus dem Krankenhaus auschecken. Therapien standen dennoch an, doch die würden sie Zuhause erhalten.

„Wir müssen euch erst einmal nachhause schaffen“, sagte Augusta, „dann sehen wir weiter. Ich glaube, ich organisiere doch lieber einen Krankentransport.“

Die Muskeln waren noch schwach. Nach so vielen Jahren, die sie nicht benutzt wurden, war es kein Wunder, dass ein kurzer Fußmarsch bereits an den Kräften zehrte und für Muskelkater sorgte. Beide, Frank und Alice, wollten aber so schnell wie möglich nachhause. Weihnachten stand vor der Tür und dieses Fest wollten sie nicht in einem Krankenhaus feiern.

Schwester Kathleen betrat das Krankenzimmer und hielt Frank eine kleine Flasche unter die Nase, während sie sagte: „Ein Stärkungstrunk. Damit sollten sie beide“, die andere Flasche reichte sie Alice, „es sicher bis nachhause schaffen. Außerdem bekommen Sie von uns noch dieses Rezepte für andere Tränke.“ Das Stück Papier überreichte sie Neville, doch Luna war es, die es entgegennahm, weil er noch immer mit den Tränen zu kämpfen hatte. „Kopf hoch, junger Mann!“, sagte Schwester Kathleen und drückte Mut machend Nevilles Schulter. „Es sieht doch alles bestens aus.“
Es klopfte an der angelehnten Tür. Kurz darauf lugte Sirius’ Kopf herein: „Wir sind nicht zu spät, oder?“ Er kaute etwas mit leicht geöffnetem Mund, grinste dabei. „ ’s war Remus’ Schuld.“
„Von wegen!“, hörte man hinter Sirius, bevor der die Tür weit öffnete und hereintrat. „Du musstest ja unbedingt noch was Süßes kaufen, obwohl wir schon spät dran waren.“
Sirius schlenderte gelassen und freudestrahlend ins Krankenzimmer. In seiner rechten Hand hielt er eine Tüte, aus der er sofort Frank etwas anbot: „Bertie Botts Bohnen?“
„Gern, danke!“ Frank griff zu.
Sirius hielt allen nacheinander die Tüte entgegen, drehte sich derweil zur Tür und sagte: „Nun kommt schon rein oder wollt ihr da draußen Wurzeln schlagen?“

In das leicht überfüllte Krankenzimmer passten sicherlich noch zwei Personen, dachte er. Und die traten nun zögerlich ein. Anne und Tonks.

Mit einer Hand knetete Sirius’ Franks Schulter, bevor er stolz präsentierte: „Meine Frau, Anne.“
Frank ließ es sich nicht nehmen, höflichkeitshalber vom Bett aufzustehen. „Guten Tag, Mrs. Black.“
„Guten Tag, Mr. Longbottom“, kam es schüchtern zurück.
„Ach, kommt“, beschwerte sich Sirius, „das mit dem Mr. und Mrs. lassen wir mal ganz schnell unter den Tisch fallen, nicht wahr?“
„Ich hätte ja nicht gedacht“, begann Alice erstaunt, „dass du mal heiraten wirst.“
„Ha, komisch! Das sagt irgendwie jeder.“ Demonstrativ stellte er sich breit grinsend neben Anne und umfasste mit einem Arm ihre Schulter. „Es ist nur schade, dass ihr nicht schon zu unserer Hochzeit wohlauf wart.“
Alice musste plötzlich lachen. „Herrje, ich erinnere mich noch an dich auf unserer Hochzeit.“
„Ehrlich? Ich habe nur noch vage Erinnerungen daran“, gestand er.
Frank nickte. „Ich weiß auch, woran das liegen könnte. Am Alkohol“, neckte er seinen Freund. Franks Blick fiel auf die Dame mit den rosafarbenen Haaren. „Und wer ist diese entzückende, junge Dame?“
Diesmal ergriff Remus das Wort: „Das ist Tonks, ähm, ich mein Nym…“
„Nein, nein, Tonks ist schon völlig korrekt“, unterbrach sie schnell, damit sich niemand über ihren Vornamen lustig machen konnte. Sie begrüßte alle per Handschlag, während Remus erklärte: „Meine Frau.“

Mit einem Male machten Alice und Frank ganz ernste Gesichter. Sie blickten sich erst gegenseitig an, schauten dann mitleidig zu Remus hinüber.

„Was ist?“, fragte Remus nach. „Ist irgendwas … Habe ich vielleicht etwas Falsches gesagt?“
Frank war mutig genug, es zur Sprache zu bringen: „Na, wegen der Gesetze. Remus, du hättest nicht … Das ist einfach grauenvoll!“
„Wovon zum Teufel sprecht …?“ Bevor er die Frage gestellt hatte, war der Knut bei Sirius gefallen. „Ach, jetzt verstehe ich! Nein, keine Sorge. Remus hat sich nichts abschneiden lassen. Beide sind körperlich völlig unversehrt.“
„Ach so!“ Jetzt verstand auch Remus und war deshalb peinlich berührt. Er kratzte sich am Hals, während er sagte: „Die Gesetze sind geändert worden, müsst ihr wissen. Kein Werwolf muss sich noch unters Messer legen, bevor er heiraten darf.“
Erleichtert fasste sich Alice ans Herz. „Du meine Güte, und ich dachte schon … Ich bin erleichtert! Wirklich erleichtert, Remus. Dann wünschen wir im Nachhinein alles Gute und Liebe zur Hochzeit.“

Nach etwas Smalltalk wurde es Augusta zu viel. Sie griff nach ihrer roten Handtasche und stand von ihrem Stuhl auf.

„Ich möchte ungern das nette Beieinander stören, aber wir hätten das Zimmer längst freimachen müssen“, sagte sie, schaute dabei ihren Sohn Frank an. Kurz darauf blickte sie abwechselnd Sirius und Remus in die Augen. „Heute ist ein schlechter Zeitpunkt für einen Krankenbesuch. Frank und Alice werden heute entlassen.“
„Na, aber das wissen wir doch!“, beteuerte Sirius. „Wir sind hier, weil wir helfen möchten.“
„Ach, tatsächlich?“ Augusta klang überrascht. An Remus gewandt fragte sie: „Von wem wissen Sie denn, das die beiden heute entlassen werden?“
„Ich weiß es von Sirius.“
Alle Augenpaare ruhten nun auf Sirius, der einmal mit den Schultern zuckte und überlegte: „Wer hat mir das nochmal gesagt? Auf jeden Fall war es meine Idee, euch zu helfen und nachher vielleicht noch eine Flasche Wein zu köpfen.“
Endlich hatte sich Neville wieder unter Kontrolle: „Bei den ganzen Zaubertränken ist Alkohol keine gute Idee.“
„Jetzt weiß ich’s wieder!“, behauptete Sirius. „Alastor hat es mir gesteckt, dass ihr heute rauskommt!“
Remus war das Ganze etwas unangenehm. „Tut mir leid, Mrs. Longbottom“, die alte Dame war gemeint, „ich ging davon aus, dass das abgesprochen war.“
Sirius mischte sich ein. „Ach, wozu denn absprechen? Die Überraschung ist doch gelungen, oder?“
Seiner kindlichen Frohnatur konnte niemand böse sein. „Gut“, sagte Augusta, „dann helfen Sie uns. Ich habe nichts dagegen. Ich hole am besten zwei Rollstühle.“
„Mutter, wir brauchen keine Rollstühle. Wir nehmen den Kamin im Erdgeschoss.“
„Frank, du glaubst doch nicht, dass ihr alleine flohen dürft“, widersprach seine Mutter.
Mit erhobenem Zeigefinger und frechem Grinsen auf den Lippen erhob Sirius Einspruch: „Deswegen sind wir hier. Remus und ich flohen mit Frank und Alice.“
Anne wurde ganz bleich um die Nasenspitze. „Und wer nimmt dann mich mit?“
Ihre Frage machte Alice neugierig: „Können Sie nicht flohen?“
Sirius war so frei zu erklären: „Anne ist ein Muggel. Alleine flohen geht noch nicht so gut.“
„Ein Muggel?“ Frank klang erstaunt, aber keinesfalls angewidert. „Das ist ja mal was! Sirius, du überrascht mich.“
„Nein, mich nicht“, hielt Alice dagegen. „Sirius war schon immer aufgeschlossen. Wenn ich da allerdings an seine Mutter denke … Was hat die dazu gesagt? Hatte sie einen Herzinfarkt?“
„Meine Mutter gibt es zum Glück nicht mehr.“
„Pfui, Mr. Black“, schimpfte Augusta, „so etwas sagt man nicht.“
„Ja, Sie haben Recht. Es tut mir leid.“ An Alice gewandt erläuterte er: „Sie ist schon vor Jahren gestorben. Es gibt aber ein Bild von ihr. Das ist allerdings kein Deut besser als …“
„Haben Sie überhaupt keinen Respekt vor Ihren Eltern?“, rügte Augusta ihn.
„Madam!“ Sirius ergriff ihre Hand und küsste sie. „Wenn ich eine so gütige Frau wie Sie zur Mutter hätte, wäre mein Respekt nicht zu überbieten.“

Damit war Augusta ruhiggestellt. Mit hochrotem Gesicht bedankte sie sich für die freundlichen Worte. Einige Minuten später gab sie Anweisungen, wer wann durch den Kamin im Eingangsbereich des Mungos mit wem zusammen nachhause flohen sollte. Tonks war so frei und nahm Anne unter ihre Fittiche. Das endete damit, dass beide Frauen bei der Landung im Wohnzimmer der Longbottoms zu Boden fielen.

„Hast du dir was getan, Liebes?“ Remus half seiner Frau auf die Beine.
Sirius kam seiner Frau zu Hilfe. „Alles okay?“ Kaum war Anne wieder auf den Beinen, eilte Sirius hilfsbereit zu Frank, weil der verdächtig taumelte. Von der Seite umfasste er ihn mit beiden Armen. „Komm, Frank, wir setzen dich erst mal irgendwo hin.“

Augusta räumte ihre Stricksachen beiseite, damit Frank auf dem Sessel Platz nehmen konnte. Alice war einigermaßen gut zu Fuß, aber auch sie hatte der kurze Weg zu den Kaminen im Mungos angestrengt. Die Muskeln in ihren Beinen begannen zu zittern.

Zur Stelle war Neville, der seine Mutter an die Hand nahm und sagte: „Komm, setz dich auf die Couch.“
„Danke, mein Junge. Vielen Dank.“
„Ach, nichts zu danken.“ Neville besorgte eine Decke und legte sie über die dürren Oberschenkel seiner Mutter. „Möchtest du etwas essen?“

Sie sah so zerbrechlich aus, obwohl sie in den letzten Wochen anständig gegessen hatte. Der Magen war so sehr geschrumpft, dass sie nur wenig aufnehmen konnte. Die Krankenschwester hatte Neville nahegelegt, häufiger eine kleine Mahlzeit für seine Eltern zuzubereiten. Viele kleine Portionen über den Tag verteilt sollten die beiden bald wieder kräftig genug werden lassen, damit sie auch für einen Einkaufsbummel in der Winkelgasse gewappnet waren.

„Ich mache dir ein Brot“, sagte Neville, tätschelte dabei ihre Hand. „Und Vater bekommt auch eines.“
„Mach dir nicht so viel Mühe, Junge.“
Neville schüttelte den Kopf, lächelte seinen Vater liebevoll an. „Das ist keine Mühe, Dad. Wirklich nicht.“
„Ich helf dir“, bot Remus an und folgte Neville in die Küche.

Mit einem Schwung seines Stabes öffnete Neville zielsicher den Vorratsschrank und ließ ein Brot auf das Brett schweben. Ein weiterer Zauberspruch holte Butter und Aufschnitt herbei. Beides dauerte zusammen nicht länger als vier Sekunden.

„Du bist flink geworden“, lobte Remus, der noch wusste, dass Nevilles Zaubersprüche in der Schule etwas träge waren. Doch schon bei Harry in der DA hatte der junge Mann viel hinzugelernt. Neville lächelte nur, kommentierte das Lob jedoch nicht. „Deine Mutter mochte früher sehr gern Leberwurst.“ Von den damaligen Ordenstreffen war Remus das noch bekannt. „Mag sie die immer noch?“
Neville nickte. „Aber nur die Feine, die Grobe ist für Großmutter.“
„Dann machen wird doch gleich für uns alle einen kleinen Happen. Sirius und ich haben ein wenig zusammengelegt, um heute eine kleine Willkommensfeier zu veranstalten.“ Weil Neville ihn erstaunt ansah, fügte Remus hinzu: „Keine Sorge, wir bleiben nicht lange! Eigentlich wollten wir noch ein wenig was besorgen, Brötchen und Kuchen und dergleichen, aber Sirius hatte viel zu tun und wir waren spät dran.“
Beide begannen damit, ein paar Scheiben Brot zuzubereiten. „Was macht Sirius denn so? Harry hat was von einer Initiative erzählt.“
„Ja, die Initiative für die Forderung eines Anti-Diskriminierungsgesetzes für
magische und nichtmagische Halbwesen.“ Die Bezeichnung könnte Remus fehlerfrei und fünfmal hintereinander sagen, ohne dabei ins Stottern zu geraten, so oft hatte er sich damit beschäftigt. „Sie wollen sich demnächst umbenennen. Dank Arthur sind die Gesetze nicht mehr diskriminierend. Ein neuer Name ist ihnen aber noch nicht eingefallen.“

Neville begann damit, ein paar Gurken und Tomaten als Dekoration aufzuschneiden. Zwar schien der junge Mann in Remus’ Augen ein wenig geistesabwesend zu sein, als würde ihn etwas beschäftigen, aber zu Smalltalk war Neville dennoch imstande.

„Ich habe noch gar nicht gefragt, wie dir dein neuer Posten gefällt?“
„Es ist wunderbar!“ Die Freude war aus Remus’ Stimme deutlich herauszuhören. „Ich mochte damals schon das Fach Verteidigung. Also, ich meine, als ich Schüler war. Und natürlich, als ich euch unterrichtet habe. War leider ein bisschen kurz.“
„Der Unterricht bei dir“, man duzte sich seit fast einem Jahr, „war der beste, den ich je hatte.“ Remus schenkte ihm ein dankbares Lächeln. „Nein, ich meine das ernst“, beteuerte Neville. „Das ist nicht nur so daher gesagt.“
„Danke, Neville. Soll ich dir mal was verraten?“ Remus richtete die Häppchen auf einem Teller an und garnierte sie mit den Gurkenscheiben. „Du warst mein Lieblingsschüler.“ Nevilles Mund stand offen, weshalb Remus noch einmal Brief und Siegel drauf geben wollte: „Wirklich, Neville!“
„Und was ist mit Harry?“
Remus lachte. „Harry zählt nicht. Er ist so etwas wie Familie für mich. Damals schon und auch heute noch. Bei dir hab ich eine Menge Potenzial gesehen, Neville. Es tat mir nur leid, dass Severus dich immer so eingeschüchtert hat.“
„Na ja“, Neville fühlte, wie sein Gesicht warm wurde, „das hat sich jetzt gegeben. Ich komme gut mit ihm zurecht, wenn wir uns mal sehen.“
Da musste Remus zustimmen. „Ich glaube, jeder kommt ein kleines bisschen besser mit ihm zurecht.“ Er richtete die Tomatenscheiben auf der Platte an. „Außer vielleicht Sirius, aber das ist in Ordnung. Es kann nicht alles immer Friede, Freude, Eierkuchen sein. Ich würde sogar in höchstem Maße skeptisch werden, sollten die beiden einmal Brüderschaft trinken und ihre Freundschaft besingen.“
„Mmmh“, summte Neville gedankenverloren. Er hielt das Messer in der Hand, als wüsste er nicht, was als Nächstes kommen sollte.
Remus hatte ein Gespür für die Probleme anderer Leute. Er widmete sich voll und ganz dem jungen Mann und fragte: „Neville, was ist los?“ Ein gebeutelter Seufzer war die erste Antwort. Neville sah bekümmert aus. „Komm schon, raus mit der Sprache.“
Ein zweiter Seufzer folgte, bevor er sich offenbarte: „Ich habe ein Ausbildungsangebot bei einem wirklich fabelhaften Kräuterkundelehrer bekommen.“
„Und wo liegt das Problem?“ Remus konnte keines erkennen.
„Es wäre in …“, Neville schloss die Augen, als hätte er längst damit abgeschlossen. „Japan.“
„Aber das ist doch wunderbar! Wer ist es? Takeda?“ Neville nickte, sah jedoch weder glücklich noch zuversichtlich aus. „Takeda ist klasse! Kräuterkunde und Zaubertränke. Soweit ich weiß, waren Hermine und Severus mal bei ihm.“
Wieder nickte Neville. „Der Kontakt kam durch Hermine zustande. Wir haben uns erst geschrieben. Er war von meinem Dünger hellauf begeistert. Als er erfuhr, dass ich hier eine Ausbildung angefangen habe, hat er sein Angebot unterbreitet, aber …“ Irgendetwas lag Neville schwer im Magen.
„Aber …?“, half Remus zaghaft nach.
„Aber meine Eltern! Ich kann sie doch nicht alleine lassen, jetzt, wo ich sie“, er schluchzte, „wieder zurück habe.“ Eine Hand bedeckte die aufkommenden Tränen. „Ich muss doch für sie da sein.“
„Neville …“ Remus legte eine Hand auf Nevilles Schulter und drückte sie Mut machend. „Du warst all die Jahre für sie da. Seit du ein kleiner Junge bist.“ Remus reichte ihm ein Stück von einer Küchenrolle, mit der sich Neville die Nase putzte. „Du hast dein Leben gelebt, als sie im Mungos lagen und daran wird sich jetzt nichts ändern. Was sagt denn Luna dazu?“
„Sie sagt, ich soll annehmen.“
Remus nickte. „Und was möchtest du?“
„Ich möchte es auch! Wenigstens die Hälfte der Ausbildung würde ich gern bei Takeda absolvieren.“
„Na dann – tu es! Eineinhalb Jahre, Neville. Das ist doch ein Klacks. Du kannst beim Ministerium einen Pendler-Portschlüssel beantragen. Kostet zwar ein bisschen was, aber du kannst in null Komma nichts herkommen, wann immer du möchtest.“
Eine weibliche Stimme war unerwartet zu hören. „Hallo, ihr zwei.“ Die Stimme klang schwach, und sie gehörte Nevilles Mutter.
„Alice“, Remus schenkte ihr ein warmes Lächeln. „Hab ich dir eigentlich schon gesagt, dass dir die Farbe steht?“ Noch im Krankenhaus hatte sie darum gebeten, sich die Haare färben zu dürfen. „Sieht genauso aus wie früher. Und du bist noch genauso jung und hübsch.“
„Ach, jetzt hör aber auf, bevor ich noch rot werde.“ Sie kam näher an die Arbeitsplatte heran. „Remus, würdest du das bitte schon in die Stube bringen?“
„Sicher.“

Den Wink mit dem Zaunpfahl verstand er auf Anhieb. Alice musste Teile des Gesprächs mitgehört haben und wollte einen Moment mit ihren Sohn allein haben. Ohne zu murren brachte Remus die belegten Brote ins Wohnzimmer. Als er weg war, strich Alice mit beiden Händen über Nevilles Oberarme.

„Du bist so unglaublich groß geworden.“ Sie ergriff seine Hände. „Ich bedaure zutiefst, dass ich dein Heranwachsen verpasst habe.“ Eine seiner Hände küsste sie. „Und ich würde es noch mehr bedauern, wenn du etwas im Leben verpasst, das du dir so sehr wünscht.“
„Du hast mitgehört.“
Überraschenderweise schüttelte seine Mutter den Kopf. „Nein, Luna hat mir gerade von dem Angebot erzählt, von der Lehrstelle in Japan. Du wärst ein Dummkopf, Neville, wenn du da nicht zugreifen würdest.“ Ihre Stimme war keinesfalls wütend, sondern sanft und freundlich. „Wir laufen dir nicht weg. Greif zu! Takeda sagt sogar mir etwas. Der Mann muss steinalt sein. Was der dir alles beibringen könnte …“ Verträumt schüttelte sie den Kopf. „Kräuterkunde war auch mein Lieblingsfach. Ich hätte damals gern …“ Sie verstummte. Den Jahren nachzutrauern, die man ihr genommen hatte, wäre nicht gesundheitsfördernd. Das hatte ihr nicht nur Augusta gesagt, sondern auch Miriam Strout, die Stationsheilerin im Mungos. „Man muss immer nach vorn sehen, Neville. Das tu ich auch.“ Sie lächelte. „Das tut dein Vater und du solltest es genauso handhaben.“

Im Wohnzimmer unterhielt sich Frank mit seinen alten Schulfreunden und Ordenskameraden. Manchmal, nur ganz selten, tat es ihm weh, in Erinnerungen zu schwelgen, denn obwohl die ihm so nahe schienen, als wäre es gestern gewesen, lagen in Wirklichkeit mehr als zwei Jahrzehnte dazwischen. Es würde immer ein Schock bleiben, aber mit Hilfe ihrer Familie und Freunde würden seine Frau und er die verlorenen Jahre überwinden.

„Habt ihr Kinder?“ Die Frage hatte Frank an Sirius und Anne gerichtet.
„Nein“, kam es von Sirius, „aber wir sind fleißig dabei. Immerhin läuft da eine Wette mit Remus.“
Tonks riss die Augen weit auf. „Wie bitte? Was für eine Wette?“
„Ach, das meint er nicht so“, wollte Remus es herunterspielen, aber Sirius machte ihm einen Strich durch die Rechnung.
„Von wegen … Ich habe hundert Galleonen gewettet, dass ihr beide“, er blickte Remus und Tonks an, „ein Mädchen bekommt, Anne und ich aber einen Jungen.“
„Hundert Galleonen?“, regte sich Tonks auf.
„Das ist doch nur …“ Remus schaffte es nicht, sich herauszureden.
Spielerisch gab Tonks ihm einen Knuff am Oberarm. „Ich fasse es nicht! Und was hast du gewettet?“
Remus grinste. „Natürlich das Gegenteil, nämlich dass wir einen Jungen bekommen und die beiden ein Mädchen.“
„Gegen ein Mädchen hätte ich nichts einzuwenden“, sagte Anne.
„Sag mal“, Sirius drehte sich zu ihr um, „fällst du mir jetzt in den Rücken?“
„Mir ist es völlig egal, was es wird. Gesund soll es sein, mehr verlange ich gar nicht.“
„Recht hat sie!“, gab Tonks als Rückendeckung. „Darauf eine Wette abzuschließen … Ihr habt sie doch nicht alle!“ Sie war nicht so wütend, wie es im ersten Moment klang, denn andererseits war ihr Instinkt geweckt worden, gewinnen zu wollen.

Alice und Frank wurden von vorne bis hinten bedient. Jeder kümmerte sich rührend um die beiden und sorgte dafür, dass sie nicht nur genug zu sich nahmen, sondern auch angemessen unterhalten wurden. Es nahm den beiden die Angst vor dem Leben, das ihnen bevorstand. Ein Leben, das zu großen Teilen daraus bestehen würde, die Ereignisse aus den verschlafenen Jahren wie aus einem Geschichtsbuch zu lernen, sich von ihren Freunden, die als Lehrer fungieren würden, all die wichtigen Dinge erzählen zu lassen, die man in ihrem Alter wissen sollte: Kriegsereignisse, Gefangennahmen, politische Fehlschläge, Namen von Opfern, von Todessern, von Spionen und sogar die nicht belanglose Information, wer bei der letzten Quidditch-Weltmeisterschaft als Sieger hervorging.

Nicht alles konnte man aus Büchern lernen. Oft fehlten den sachlichen Geschichtsbüchern unterschiedliche Meinungen oder sogar das Schicksal des Einzelnen, um historische Geschehnisse so gewichtig zu übermitteln, wie sie es verdient hätten. Ein Krieg forderte unzähllige Leben. In Sachtexten werden diese Opfer viel zu schnell zu Zahlen degradiert. Nur der Mensch, der Zeitzeuge, war dazu in der Lage, etwas Leben in die Weltgeschichte zu bringen.

Eine solche ganz persönliche Lebensepisode in schriftlicher Form hielt gerade Adina von Gorsemoor in der einen Hand, während sie mit dem Handrücken der anderen ihre Tränen trocknete. Obwohl Maries Ausbildung zur Heilerin noch lange nicht beendet war, hatte sie ihre Abschlussarbeit fertiggestellt und der Leiterin des Sanatoriums vorgelegt: Eine vierhundert Seiten dicke Abhandlung, teils aus der nüchternen Sicht eines Heilers, teils aus der persönlichen Sicht der Patientin geschrieben. Adina musste sich die Nase putzen, so bewegt war sie von den Leiden und dem Leben der Abélia Estelle Malfoy. Adina würde dieses Werk gern, Abschlussarbeit hin oder her, so bald wie möglich auf den Markt bringen. Ein Klopfen an ihrer Tür kündigte den erwarteten Besuch an.

„Herein!“
„Mrs. Gorsemoor“, Marie trat ein und schloss die Tür hinter sich, „Sie wollten mich sprechen?“
„Ja, meine Liebe. Ich habe Ihre Arbeit gelesen.“
Marie war erstaunt. „Waren Sie etwa die ganze Nacht auf?“
„Ich befürchte, das war ich. Aber keine Sorge, den Tag überlebe ich schon noch.“ Adina legte eine flache Hand auf das Manuskript. „Das hier ist hervorragend geschrieben, Marie. Ich bin der Meinung, Sie sollten es nicht als Abschlussarbeit einreichen. Dafür ist es zu schade. Haben Sie nicht vielleicht Interesse daran, es zwischendurch zu veröffentlichen?“
„Würde ich schon gern, aber ich kenne keine Verlage.“
„Darüber machen Sie sich mal keine Gedanken. Ich habe genügend Kollegen, die ihre Bücher verlegen lassen. Dabei handelt es sich nicht ausschließlich um Fachbücher.“
„Ich würde das gern zuvor mit Mrs. Malfoy besprechen. Sie gab mir die Interviews in dem Wissen, dass es meine Abschlussarbeit werden wird.“
Adina lächelte freundlich. „Ich glaube mich zu erinnern, dass Sie ursprünglich eine Abhandlung über die Wirkung von Vergissmich-Zaubern auf die zentral gelegenen Pyramiden-Neuronen und die magische Einwirkung auf die Myelinscheide im Auge hatten. Oder irre ich mich da?“ Marie schüttelte den Kopf. „Sprechen Sie mit Mrs. Malfoy. Erklären Sie ihr, dass Sie das Buch vorzeitig auf den Markt bringen möchten und bieten Sie ihr angemessene Tantiemen an. Nichts hält Sie auf, in den nächsten zwei Jahren doch noch Ihre eigentliche Abschlussarbeit zu verfassen. Dann ist Ihr Name nicht mehr unbekannt, und nach absolvierter Ausbildung wird man sich alle zehn Finger nach Ihnen lecken. Jede Tür wird Ihnen offenstehen.“
„Das heißt, Sie finden es gut?“, fragte Marie unsicher nach.
„Gut? Das ist gar kein Ausdruck dafür. Es ist erstklassig, um nicht zu sagen phänomenal. Damit werden Sie sich unter den Heilern gewiss einen Namen machen. Ich bin stolz behaupten zu dürfen, dass Sie Ihre Ausbildung bei uns begonnen haben.“ Adina stand von ihrem Stuhl auf und ging hinüber zu Marie, um ihr die Hand zu schütteln. „Ich bin froh, dass ich Mr. Malfoy keine Absage erteilt habe, als er mit mir über die Gönnerschaft sprach.“

In gewisser Weise hatte Marie gleich zwei Mitgliedern der Familie Malfoy zu danken. Ohne Lucius finanzielle Unterstützung hätte sie keine Ausbildung im Gorsemoor beginnen können, und ohne Abélias Lebensgeschichte wäre das Buch nie entstanden.

Was Biografien anbelangte, wäre die von Severus sicherlich nicht in der Sparte Unterhaltung einzuordnen. Schon seine Kindheit war kein Zuckerschlecken gewesen. Bei seiner Entwicklung würden sich Psychiater darum reißen, seine Person analysieren zu dürfen. Und sie würden sich die Zähne daran ausbeißen in Erfahrung zu bringen, warum er den Gedanken nicht loslassen konnte, für seinen Vater eine kleine Phiole vom Elixier des Lebens herzustellen.

„Ich bin mal kurz unterwegs“, kündigte er bei Hermine seine bevorstehende Abwesenheit an.
Sie überflog gerade die Bestellungen und blickte nicht auf, als sie fragte: „Gehst du zur Bank?“
„Nein, ich habe etwas zu erledigen.“
Dieses Mal sah sie ihn verwundert an. Er hätte seinen Zielort längst preisgegeben, wenn er das gewollt hätte, also fragte sie nicht nach. „Wann bist du in etwa zurück?“
„Vielleicht in einer Stunde.“

Sie wurde skeptisch, ließ ihn jedoch gehen. Hermine war die Letzte, die er als nervtötend bezeichnen sollte. Jeder hatte ein Recht auf ein wenig Freiraum, nicht wahr? Sie seufzte und widmete sich wieder ihrer Arbeit.

Für Hermines zurückhaltendes Verhalten war Severus mehr als dankbar. Vom Wohnzimmer aus rief er über den Kamin Hogwarts – genauer genommen das Zimmer von Harry. Der junge Mann war sofort zur Stelle und steckte den Kopf ins Feuer.

„Severus, hi.“
„Guten Tag, Harry.“
„Was gibt es?“
„Darf ich für einen Moment zu dir kommen?“ Im Hintergrund hörte Severus ein Kind fröhlich schreien.
„Klar, die Bahn ist frei.“

Harrys Kopf verschwand und machte Platz für den Gast. Nach wenigen Sekunden loderten die Flammen im Kamin grün auf und Severus trat mit wehendem Umhang heraus. Von diesem beeindruckenden Auftritt war Nicholas hellauf begeistert. König und Pferd ließ er auf dem Teppich zurück, als er sich mit sicheren Schritten dem großen Mann näherte. Harry überblickte kurz das Wohnzimmer und begann, als er mit Severus sprach, hier und da einige Dinge von der Couch und dem Boden zu nehmen, damit es ordentlich aussah.

„Was gibt es, Severus? Ich hoffe, es ist nichts passiert.“ Harry bückte sich, um die Nuckelflasche vom Boden auf den Tisch zu stellen. Als er sich wieder aufrichtete und sich umblickte, zog er beide Augenbrauen in die Höhe. „Wo ist Nicholas?“

Severus stand steif im Wohnzimmer, hatte sich nach dem Austritt aus dem Kamin nicht einen Schritt bewegt. Wortlos griff er mit einer Hand nach seinem Umhang und öffnete ihn einseitig, womit er den Blick auf Nicholas freigab. Der Junge hatte sich unter dem Umhang versteckt und klammerte sich nun an Severus’ Bein, kicherte dabei. Harry hatte ihn bemerkt, reagierte aber völlig anders.

„Ja, wo ist denn nur Nicholas?“, fragte er in den Raum hinein und grinste dabei.
Mit gekräuselter Stirn fragte Severus: „Bist du blind?“
„Das ist ein Spiel“, erklärte Harry leise.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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Teil 2/4 von Kapitel 232

In normaler Lautstärke fragte er nochmals, wo sein Sohn sich wohl verstecken mochte. Severus verdrehte die Augen, als er Harry dabei beobachtete, wie der vorgab, im Wohnzimmer nach Nicholas zu suchen. Der Junge schnaufte vor Lachen und klammerte sich mit beiden Armen an Severus’ Bein, während er seinem Vater mit dem Blick folgte. Mit einem Male schoss Harry auf den Jungen zu und nahm ihn auf den Arm. Vor Überraschung schrie der Junge so laut, dass Severus sich mit einem Finger ein Ohr zuhielt.

„Meine Güte“, beschwerte sich der Gast, „hast du keine Angst, dass bei den hohen Tönen irgendwann das Glas deiner Brille springt?“
Harry kitzelte den Kleinen, bevor er ihn wieder auf dem Boden absetzte. Severus Bemerkung ignorierte er. „Was kann ich für dich tun?“
„Ich … Gib mir den Stein der Weisen.“ Es klang zu fordernd, weshalb Severus sofort anfügte. „Bitte.“
Das Lächeln in Harrys Gesicht verschwand nicht, aber es zügelte sich aufgrund der ernsthaft vorgetragenen Bitte auf ein dezentes Maß. „Äh …?“ Ja, auch Harry konnte man sprachlos machen. Es war aber nicht die gesprochene Bitte, die ihn davon abhielt, Fragen zu stellen, sondern die flehende Miene seines Gegenübers, in der so viel Hoffnung herauszulesen war.
„Du hast ihn morgen zurück. Versprochen! Ich werde keinen Unfug damit anstellen“, versicherte Severus.
„Das hätte ich auch nicht gedacht. Ich habe mich nur gefragt …“ In Severus’ Augen, die längst all ihre Dunkelheit verloren hatten, sah Harry die Bitte, nicht nach dem Grund zu fragen. „Okay, Moment. Ich muss ihn erst holen.“

Harry verschwand im Schlafzimmer. In der Zeit schaute sich Severus im Wohnzimmer um. Die Aufbruchsstimmung war nicht zu übersehen. Der Raum war beinahe leer. Umso auffälliger war der Phönix, der ihn streng anzublicken schien. Severus wandte den Blick ab und hatte plötzlich das fröhliche Gesicht des Jungen vor Augen, der ihm in seiner kindlichen Großzügigkeit ganz ohne Vorurteile gegenüberstand. Der Junge hielt ihm ein Pferd entgegen, das in der Luft mit den Hufen strampelte.

„Nein, danke.“ Severus’ Worte sorgten nur dafür, dass Nicholas ihm das Pferd an den Schenkel drückte. „Was soll ich damit?“ Letztendlich nahm er dem Kind das Spielzeug ab, damit er seine Ruhe hatte. „Und was jetzt?“ Der Junge stürmte aus dem Blickfeld, so dass Severus sehnsüchtig zur Schlafzimmertür blickte und auf Harrys Rückkehr wartete. Wahrscheinlich war der Stein so sicher verstaut, dass selbst Harry einige Zeit benötigte, um die Sicherheitszauber wieder zu entfernen. Plötzlich zupfte etwas an seinem Hosenbein. Severus sah an sich hinunter und bemerkte als Erstes die Puppe. Der König windete sich in der Hand des Jungen, als der sie dem Tränkemeister entgegenstreckte. „Schön!“, blaffte Severus den Jungen halbherzig an. „Du hast Spielzeug! Na und?“

Die Sorte Spielzeug kannte Severus sogar. Er setzte sich auf die Couch, wurde gleich darauf von Nicholas belagert, der den Besuch zum Spielen animieren wollte. Severus fragte sich, ob die Befehle für die Figuren sich im Laufe der Zeit womöglich geändert haben könnten oder die alten noch immer Gültigkeit hatten. Er müsste es ausprobieren, nahm nur deshalb den König aus Nicholas’ Händen. Beide Figuren, Pferd und König, stellte er nebeneinander auf den Boden.

„Aufsitzen!“, sagte Severus zur Spielfigur. Der König blickte ihn fragend an. „Aufsitzen!“, drängte Severus das Spielzeug. Als Nicholas eingreifen wollte, hielt Severus ihn mit beiden Armen locker fest. Der Junge wehrte sich nicht mal. „Na wird’s bald?“, fuhr er den König an.
Plötzlich stöhnte der Spielzeugkönig und ließ den Kopf hängen. „Mann … Dabei war ich so froh, dass der Junge noch nicht sprechen kann.“ Das Spielzeug seufzte, während Nicholas das Schauspiel gebannt verfolgte.
„So ein ungehöriges Spielzeug ist mir noch nicht untergekommen“, murmelte Severus zu sich selbst. „Vielleicht bist du defekt und man sollte dich umtauschen?“
„Ich bin nicht defekt!“, meckerte der König. „Ich bin gewaltsam von meiner Königin getrennt worden.“
„Ich weiß genau, wie man sich da fühlt“, Severus nickte, „aber das ist kein Grund, das Dasein aufzugeben und jetzt mach gefälligst das, wofür du hergestellt wurdest. Unterhalte uns! Und sitzt endlich auf.“
Der König musterte das Pferd und zeigte darauf, bevor er zu Severus sah. „Das nicht mal meines! Das ist der Gaul von diesem Bauern.“ Ohne weitere Widerworte stieg der König in die Steigbügel und setzte sich auf den Rücken des Stofftiers. „Und jetzt?“
„Mach ein paar Kunststücke.“
„Pfft“, machte die Puppe, bevor sie sich leise über das Leben beschwerte. „Da bin ich schon als König in die Welt gesetzt worden und dann soll ich Kunststückchen vorführen. Meine Güte, wie tief ist diese Welt gesunken?“

Am Ende fügte sich das Spielzeug seiner Bestimmung und vollführte einige Tricks, ritt beispielsweise mit dem Pferd seitwärts oder sprang mit ihm über die leblose Stoffeule, die auf dem Boden lag. Nicholas war hin und weg.

„Ich fasse es nicht“, hörte man Harrys Stimme sagen. „Das Spielzeug kann sprechen?“ Er musste einige Zeit schon im Türrahmen gestanden haben, dachte Severus, der erst jetzt Nicholas losließ. Das Kind kam dem Reiter gefährlich nahe. Der König gab aus lauter Angst, wieder in die Hand genommen zu werden, dem Pferd kräftig die Sporen und sauste durchs Wohnzimmer.
„Hast du dir nicht die Gebrauchsanleitung durchgelesen? Das ist pädagogisches Spielzeug, das Kinder beim Erlernen der Sprache unterstürzen soll.“
„Ehrlich?“
„Nein, war nur ein Scherz. In Wirklichkeit habe ich mit meinen Bauchrednerkünsten die Rolle des Königs gesprochen, nur um dich jetzt auf den Arm nehmen zu können“, erwiderte Severus trocken. „Raffiniert von mir, nicht wahr?“
Harry presste die Lippen zusammen, um nicht zu lachen. Nach einigen Schritten war er bei Severus und hielt ihm zwischen Daumen und Zeigefinger den Stein der Weisen vor die enorme Nase. Ehrfürchtig nahm Severus das kostbare Objekt entgegen. „Hat so lange gedauert“, vermutete er laut, „weil du erst die ganze Schutzzauber entfernen musstest, oder?“
„Nein, ich hatte ihn verlegt“, gestand Harry wenig besorgt.
„Ver…?“ Severus biss sich auf die Zunge, damit er Harry nicht die Leviten lesen würde. „Du solltest besser darauf Acht geben, Harry. Das ist nicht nur irgendein Schmuckstein, das ist …“
„Ich weiß, was das ist, Severus. Wenn ich schon so lange danach suchen muss – und ich hatte wenigstens eine vage Ahnung, wo ich ihn abgelegt habe –, dann wird ein Dieb sich zu Tode suchen.“
„Was für ein umwerfende Logik“, scherzte Severus mit ernster Miene, bevor er sich, als hätte er ihn nie zuvor gesehen, den Stein vor Augen hielt und ihn musterte. Mit einem Male war Nicholas bei ihm und streckte die kleine Hand nach dem roten Lebensretter aus. „Nein, das ist nichts für kleine Jungs“, sagte Severus streng. Nicholas hatte längst etwas anderes gefunden und griff nach einem der großen Knöpfe an Severus’ Gehrock. „Nein!“ Mit nur einer Hand versuchte Severus, sich gegen die Kinderhände zur Wehr zu setzen. Der Junge erinnerte sich offenbar daran, dass er irgendwann einmal einen der Knöpfe abgedreht hatte. „Hörst du wohl auf!“, zischte Severus, bevor er über seine Schulter zu Harry blickte. „Willst du mir nicht helfen?“
„Ich überlege eher, ob ich die Kamera holen soll.“
„Wie immer sehr hilfreich. Danke, Harry.“ Severus erhob sich, verstaute den Stein sicher in der Innentasche seines Gehrocks. Ohne Umschweife ging er auf den Kamin zu. „Du hast ihn morgen zurück.“

Harry nickte. Er traute Severus. Dennoch musste er zugeben, dass das Verhalten des Tränkemeisters ihn mehr als nur neugierig gemacht hatte.

Es war mitten in der Nacht, als Severus sich aus dem gemeinsamen Bett stahl und das Labor aufsuchte. Wie schon einmal braute er den Trank, den er zusammen mit dem Stein der Weisen im Destillier-Apparat verwenden würde, um ein paar Milliliter vom Elixier des Lebens zu erhalten. Es dauerte wenige Stunden. Der Vorgang war keinesfalls so aufwendig wie bei der Herstellung der fünf Liter, die er kurz vor der Hochzeit für Harry produzieren sollte. Die paar erhaltenen Milliliter füllte er in einen kleinen Glaskolben, den er auf der Stelle verkorkte, unzerbrechlich zauberte und in seiner Westentasche verschwinden ließ. Wenn sich das Dii Penates melden sollte, so wie er es mit Professor Sacerdonus Cox ausgemacht hatte, würde Severus sich auf den Weg ins Heim machen und ein letztes Mal seinen Vater besuchen – allein.

Schnee.

Soweit das Auge reichte, lag Schnee, aber nicht nur das. Er fiel sogar! Schon vorgestern, als er Harry den Stein zurückgab. Aber auch gestern und ebenfalls heute, ununterbrochen. Er sammelte sich in der ganzen Winkelgasse an, auf den Stufen der Geschäfte, auf den Fensterbrettern, auf den Blüten der Blumen, die sich nicht rechtzeitig geschlossen hatten und sogar auf Fellinis Fell, der sich nach einem kleinen Ausflug mit Severus und Harry, dem Hund, wieder in der warmen Stube einfand und die nächsten Stunden damit beschäftigt sein würde, sein Fell trocken zu lecken.

„Verdammtes Wetter“, schimpfte Severus und befreite seinen Umhang magisch vom Schnee. „Das ruiniert mein gesamtes Erscheinungsbild. Es sieht albern aus, wenn ich kleine Schneehäufchen auf den Schultern spazieren trage.“
Hermine lachte. „Aber so sieht doch jeder aus.“ Sie näherte sich ihm und nahm ihm den Umhang ab. „Außerdem ist es ganz gut, dass es mal schneit. Mit dem hellen Hintergrund finde ich dich viel besser.“
Einer seiner Mundwinkel zuckte amüsiert. „Die Vereinigung der Ladenbesitzer aus der Winkelgasse hat beschlossen …“
Hermines Stirn schlug Falten. „Sind wir da Mitglied?“
„Sicher! Man spricht sich gegenseitig ab, wann man öffnet, wann man schließt. Was meinst du, warum es hier noch nie jemand gewagt hat, gegen die lange Mittagspause anzugehen, in denen die Geschäfte geschlossen sind? Ein paar Regeln muss man schon einhalten. Aber was ich eigentlich sagen wollte“, er holte ein Stück Pergament aus seiner Innentasche, „wir sind über Weihnachten nicht für den Notfall eingeteilt.“
„Puh!“ Hermine war erleichtert, denn ansonsten hätten sie ab dem 23. Dezember, natürlich auch an Heiligabend und den beiden Weihnachtsfeiertagen damit verbracht, den Wolfsbanntrank zu brauen. Der Vollmond fiel auf den 26. Dezember.
„Freu dich nicht zu früh. Dafür müssen wir in der Nacht zwischen Silvester und Neujahr Nacht- und Notdienst schieben, weil die Besitzer der Squib-Apotheke in London nach fünfzehn Jahren mal wieder Urlaub haben möchten.“
„Ach, das ist ja doof.“
„Das ist das Los der Selbstständigkeit.“
„Dabei hatte ich mich so gefreut, bei Harry und Ginny Silvester zu feiern.“ Sie spürte eiskalte Lippen an ihrer Stirn, die ihr einen Kuss gaben.
„Deswegen habe ich Ignatius dazu überredet, zusammen mit Isabelle diese Aufgabe zu übernehmen. Gegen einen kleinen Obolus, versteht sich.“
„Du hast ihnen aber nicht gedroht, oder?“
„Ich möchte diese Angestellten behalten, Hermine. Was würde mir es nützen, ihnen zu drohen?“ Er legte einen Arm um ihre Schulter und begleitete sie in die Küche. „Beide benötigen das Geld und haben sich freiwillig gemeldet. Ah!“ Sein Blick fiel auf den Kaffee. „Frühstück ist fertig?“
„Ja!“

Sonntag. Zeit zum Erholen. An diesem Tag hatten nur der Florist und der Bäcker bis 14 Uhr geöffnet. Die Tüte mit warmen Brötchen legte Severus auf dem gedeckten Küchentisch ab. Danach, zu Hermines Erstaunen, durchsuchte er die Küchenschränke.

„Was suchst du?“
„Ich …“ Würde er sagen, er suche nach einer Blumenvase, wäre die ganze Überraschung hinüber. „Einen Moment.“ Severus verschwand. Hermine hörte, dass er die Tür zum Labor genommen hatte. Mit einem hohen Glaskolben kam er zurück in die Küche. Er füllte den Kolben mit Wasser und verlangte dann von ihr: „Mach die Augen zu!“ Die Situation war so außergewöhnlich, dass sie nur lachte und seiner Aufforderung nachkam.

Vorhin war er auf dem Nachhauseweg bei der Floristin vorbeigekommen und fühlte sich von der Schaufensterdekoration angezogen, die ihn an seine Kindheit erinnerte. Fein geschnitzte Holzengel mit weißem, flauschigem Haar, für die seine Mutter Feuer und Flamme gewesen war, standen neben Blumentöpfen und verströmten angenehm dezente Weihnachtsstimmung. Das Schild, auf dem stand, dass Hunde draußen warten mussten, war durch Schnee unkenntlich.

„Guten Morgen“, hatte die junge Frau gegrüßt, gleich darauf holte sie erschrocken Luft, verließ ihre Theke und stürmte auf Severus zu. „Nicht doch …!“, wimmerte sie und zog den weißen Hund von den Farngewächsen weg. „Das bekommt dir nicht, Hundchen. Deswegen müsstest du eigentlich draußen bleiben.“ Die Dame nahm Harry an die kurze Leine und lächelte Severus an, bevor sie sagte: „Aber wer würde bei so einem Wetter einen Hund auf die Straße jagen?“
„Das tut mir leid“, entschuldigte sich Severus. „Ich werde aufpassen.“ Diesmal nahm er die Leine kurz.
„Und wer bist du?“
„Bitte?“, fragte Severus, der wegen der persönlichen Anrede ein wenig brummig war.
„Ich meine den Kniesel.“
„Ach der, der folgt uns immer, wenn wir spazieren gehen. Gehört meiner Verlobten.“ Im dem Augenblick, als der Satz ausgesprochen war, fragte er sich, warum er einer wildfremden Frau das alles erzählte.
Die junge Dame lächelte ihm freundlich zu. „Mit der Apotheke alles im grünen Bereich?“, erkundigte sich die Frau interessiert. Sie schien ihn offenbar zu kennen. Es war für die Ladenbesitzer wesentlich einfacher, sich nur einen oder zwei neue Personen zu merken.
„Ja, sie läuft bestens, vielen Dank. Und selbst?“
„Zu Weihnachten werde ich wieder mehr Kunden haben. Im Moment ist das Interesse an Blumen eher lau. Wie darf ich Ihnen behilflich sein?“
„Ich wollte eigentlich etwas Dezentes.“ Woher seine plötzliche Zurückhaltung kam war ihm ein Rätsel. „Für meine Verlobte. Nur eine kleine Dekoration“, er schluckte, „für den Frühstückstisch.“
„Demzufolge eine Rote“, schlussfolgerte die Dame.
„Muss nicht sein, das kommt später noch zur Genüge. Etwas Hübsches, was Damen eben so mögen.“ Die Blume sollte lediglich auf dem Frühstückstisch stehen, dachte sich Severus. Vorn am Tresen entdeckte er eine weiße Rose, aus deren Mitte sich ein sanfter Rosafarbton ausbreitete. „Wie wäre es mit der?“
Die Floristin folgte seinem Zeigefinger und lachte kurz. „Die sind aus Marzipan, Sir, stehen aber auch zum Verkauf.“
„Eine wunderbare Arbeit“, lobte er, um sich aus dem Missverständnis zu retten und nicht als Dummkopf dazustehen.
„Danke, Sir. Die mache ich nämlich selbst. Ich habe sie diesen hier“, sie machte sich lang und griff aus einem der hinteren Töpfe nach einer Blume, „nachempfunden, einer Eden-Rose.“
„Perfekt, die nehme ich.“
„Die Marzipanausführung oder die Echte?“
„Beide.“

Das war vorhin gewesen, doch jetzt stand Severus bereits in der Küche und roch an beiden Blumen, um nicht versehentlich die aus Marzipan in den Glaskolben zu stecken. Die Rose platzierte er mittig auf dem Tisch, die andere verbarg er hinter seinem Rücken.

„Voilà!“, sagte er als Zeichen dafür, dass Hermine nun die Augen öffnen durfte. Natürlich sah sie die Blume, die den einfach angerichteten Tisch sofort edel erscheinen ließ.
„Oh, vielen Dank, Severus!“ Ein Kuss war das Mindeste, das sie ihm als Anerkennung geben wollte.
Plötzlich schnellte eine seiner Hände nach vorn und präsentierte: „Hier die essbare Variante, falls du Appetit bekommen solltest.“ Severus bekam noch einen Kuss als Dankeschön und er überlegte ernsthaft, ob er das nächste Mal einen ganzen Strauß besorgen sollte.
„Was für eine Überraschung! Komm, setz dich.“ Er ließ sich bewirten – ein Teil ihres Dankeschöns. „Hier ist dein Kaffee.“ Sie holte etwas aus dem Vorratsschrank. „Und dein Käse.“ Die Käseplatte stellte sie neben die Blume. „Mal sehen, welcher Duft den anderen übertüncht.“

Der Geruch des blauen Schimmelkäses hatte gewonnen, aber keiner kam mehr dazu, diese Kunde zu verbreiten, denn Hermine und Severus wurden durch ein heftiges Klopfen gestört. Es war Sonntag! Das Schild an der Tür mit den Öffnungszeiten sollte groß genug und deutlich lesbar sein. Severus stand bereits missgelaunt auf, als mit einem Male die Klingel ertönte, die man nur im Notfall betätigen sollte. Beide waren mit einem Satz aus der Küche hinaus und in den Verkaufsraum gestürmt. Ein älterer Herr und ein noch betagterer Mann mit krummem Rücken und Gehhilfe standen vor ihrem Geschäft.

Als Severus die Tür öffnete, hörte man noch, wie der Jüngere schimpfte: „Du kannst nicht einfach eine Notfallklingel betätigen! So etwas tut man nicht, Vater.“
„Ja, ja“, brummte der alte Herr, der die Hundert schon überschritten haben musste.
„Ein Notfall?“, fragte Severus mit erhobener Augenbraue. Er fand Gefallen daran, den beiden diese Unsitte unter die Nase zu reiben.
„Nein, Sir, kein Notfall“, erwiderte der Jüngere, der, was Severus und Hermine erst jetzt bemerkten, ein großes, dafür aber sehr flaches Päckchen mit sich führte, dass ihm vom Boden bis zum Bauch reichte.
„Wenn es sich nicht um einen Notfall handelt …“
Hermine drängte sich vor, sah den Jüngeren und sagte: „Ich wusste, Ihre Stimme kam mir gleich bekannt vor. Guten Morgen, Mr. Callidita.“
„Guten Morgen, Miss Granger.“ Er nahm sogar den schwarzen Spitzhut ab, als er sie grüßte und das Wort danach an Severus richtete. „Auch Ihnen einen schönen guten Morgen, Mr. Snape. Es tut mir leid, dass mein Vater …“
„Können wir endlich reingehen?“, raunzte erwähnter Vater grantig. „Es ist kalt!“
„Wir haben geschlossen!“, schoss Severus zurück, doch Hermine und der junge Mr. Callidita schlichteten die Situation.
„Treten Sie doch bitte ein“, bat Hermine.
Der junge Mr. Callidita half mit einer Hand seinem Vater, mit der anderen schleppte er das Paket. „Wir sind nicht hier, weil wir etwas kaufen möchten. Mein Vater und ich haben uns überlegt, wie wir uns bei Ihnen bedanken können, Miss Granger. Ohne Sie hätten wir niemals von dem Gemälde unseres Ahnen erfahren. Mit dem Einverständnis von Professor Dumbledore, von dem wir gerade kommen und übrigens Sie beide schön grüßen sollen, möchten wir Ihnen das hier als verfrühtes Weihnachtsgeschenk überreichen.“
„Ach, das wäre doch gar nicht notwendig gewesen“, sagte Hermine beschämt, doch neugierig wie sie war griff sie nach dem Paket.
„Öffnen Sie es doch bitte gleich, Miss Granger.“

Der Aufforderung kam Hermine gern nach. Vorsichtig entfernte sie die Schnüre und das Papier. Zum Vorschein kam ein Gemälde, das einen roten, gut gepolsterten Sessel und einen rotbraunen Tisch zeigte, auf dem Zaubertrankbücher zu sehen waren, eine Tasse Tee und Schreibfeder samt Tintenfass und Pergament. Es war von vorzüglicher Qualität, nur das Motiv war etwas langweilig, doch das behielt sie für sich.

„Warten Sie, lassen Sie mich es halten.“ Mr. Callidita jr. stellte sich hinter das Gemälde und hielt es, damit Hermine die Überraschung sehen konnte. Die trat in Form von Corvinus Callidita ein.
„Mmmm“, summte er aufgeregt, bis der Name endlich über seine gemalten Lippen kam, „Miss Granger, ich grüße Sie!“
„Das ist ja …! Aber …“ Hermine war überrascht, erfreut, irritiert – alles auf einmal.
„Professor Dumbledore erfüllte uns damals den Wunsch, ein Gemälde zu erhalten, in welchem Corvinus auftauchen konnte, wann immer er wollte. Es hängt in unserem Haus, direkt im Wohnzimmer, so dass er seine Familie jederzeit sehen kann.“ Erklärte der jüngere Callidita. „Und da kam mir die Idee, ein ähnliches Gemälde Ihnen zu überreichen. Ich bin der Überzeugung, Corvinus könnte Ihnen das ein oder andere Mal ein interessantes Gesprächsthema bieten. Er kann nun zwischen der Krankenstation in Hogwarts, seinem Familiensitz und Ihnen wechseln. Selbstverständlich nur, wenn es nicht Ihre Privatsphäre verletzt, Miss Granger.“

Severus äußerte sich zu diesem Geschenk nicht, denn kein freundliches Wort würde über seine Lippen kommen. Dem Gemälde mit Callidita, dem stotternden Heiler, konnte er schon nichts abgewinnen, als Hermine es in ihrem Zimmer in Hogwarts hängen hatte. Doch vielleicht, dachte er, würde er mit diesem Gemälde irgendwann genauso gut auskommen wie mit seinen Angestellten. Nach seiner Heilung hatte sich einiges geändert, er hatte sich geändert. Er beobachtete, wie Hermine sich bei den beiden Herren bedankte. Höflicherweise rang er sich ebenfalls ein Dankeschön ab. Corvinus wollte gar nicht lange stören, wie es aussah. Hermine entschied, das Gemälde eventuell im Labor aufzuhängen, doch Severus warnte vor den ganzen Dämpfen. Dafür hatte Corvinus einen passenden Zauberspruch parat, der Leinwand und Farben gegen Hitze und Ausdünstungen schützen würde. Während der Arbeit hätte Severus nichts dagegen, ab und an von Callidita beobachtet zu werden. Auf jeden Fall war das Labor besser als die persönliche Wohnung, in die Severus das Gemälde höchstens in das ungenutzte Schlafzimmer gehängt hätte.

Während Callidita in der Apotheke eventuell mit Ideen helfen könnte, ohne jedoch selbstständig Hand anzulegen, stand das Haus Malfoy kurz davor, eine tatkräftige Unterstützung zu erhalten.

An der Tür des Herrenhauses der Malfoys klopfte es. Lucius war am nächsten, daher öffnete er dem Besuch. Es war nicht, wie gedacht, die Familie Carmichael. Es handelte sich um einen jungen Mann, einen dunkelhäutigen, wie Lucius es zur Kenntnis nahm. Auffällig waren die offiziell aussehende Kleidung und vor allem das Klemmbrett mit der schwebenden Feder.

„Guten Tag, Mr. Malfoy“, grüßte der Herr.
„Guten Tag.“
„Mein Name ist Dean Thomas. Ich bin Mitarbeiter der Abteilung für die Neuzuteilung von Hauselfen.“
Jetzt war der Moment gekommen, erkannte Lucius, sich mehr als nur freundlich zu geben. Er setzte dementsprechend sein schönstes Lächeln auf und reichte dem jungen Mann die Hand. „Sein Sie gegrüßt, Mr. Thomas.“
Nach dem Handschlag griff sich Dean das Klemmbrett, das neben ihm in der Luft schwebte. Er warf ein Auge auf das Formular. „Wie ich Ihrem Antrag entnehmen kann, wäre es für Sie von Vorteil, wenn ein Hauself sich ebenfalls mit gebrechlichen Menschen ...“
„Nein, nein, nein“, unterbrach Lucius freundlich. „Verzeihen Sie mir, wenn ich das korrigieren möchte. Gebrechlich ist nicht das richtige Wort. Wissen Sie, meine Mutter kann kaum sehen. Sie wird hier und da Hilfe benötigen, beispielsweise beim Richten der Frisur, bei der Auswahl von Kleidung. Sie ist nicht im Sinne der Amtssprache pflegebedürftig, was das Ankleiden oder die Hilfe bei der Nahrungsaufnahme betrifft.“ Als ehemaliger Mitarbeiter des Ministeriums war Lucius über formelle Begrifflichkeiten im Bilde.
„Ah, gut das Sie das erwähnen.“ Dean strich etwas auf dem Formular aus.
„Mr. Thomas, darf ich Sie zunächst hineinbitte? Es ist kalt draußen.“
„Das ist sehr freundlich von Ihnen, danke.“

Dean trat ein. Lucius wartete noch, bis das Klemmbrett samt Feder hinterherschwebte, doch als er die Tür schließen wollte, stand dort ein Hauself, der schüchtern und geradezu ängstlich zu Lucius aufblickte. Der Elf bewegte sich kein Stück.

„Ich nehme nicht an“, Lucius blickte zwar zum Elf, sprach jedoch mit Dean, „dass Ihr Begleiter draußen warten soll.“
„Nein, natürlich nicht. Tatson, kommst du bitte?“
„Ja, Sir, Tatson kommt.“ Der Elf eilte zu Dean und stellte sich nahe an dessen Beine. Es fehlte nur noch, dass er die Hand nach dem Hosenbein ausstreckte, doch das blieb aus. „Mr. Malfoy.“
„Ja, Sir?“
„Das ist, wie Sie gerade erfahren haben, der Elf Tatson. Er ist ein Anwärter für die Stelle bei Ihnen.“
In Lucius Ohren hörte es sich beinahe so an, als hätte er dem Elf eine Anstellung in Aussicht gestellt.
„Ja, das habe ich vernommen.“
„Gut, dann würde ich Sie nämlich bitte, das heißt, wenn Sie die Zeit haben ...“
„Sicher, Mr. Thomas!“
„Sehr schön!“ Dean klatschte einmal in die Hände und rieb sie sich. „Dann würde ich nämlich gern die Bedingungen mit Ihnen durchgehen. Ich bin hier, um mich davon zu überzeugen, dass der Elf das erhält, was ihm zusteht.“

Ein Zimmer mit Fenster, eine Möblierung. Draco war so freundlich gewesen, seinen Vater über die Bedingungen vollständig aufzuklären. Natürlich hatte man sich bereits Gedanken darüber gemacht, wo man einen potenziellen Hauself unterbringen könnte. Es blieb nur eines der Gästezimmer. Die große Kammer neben der Küche, in der Dobby damals gehaust hatte, existierte nicht mehr. Noch vor der Hochzeit mit Susan war sie von Draco entfernt worden, um die Küche zu vergrößern. Die Besenkammer im ersten Stock würde ebenfalls abgelehnt werden. Sie verfügte nicht über Fenster, wie es laut Formular gefordert wurde.

„Dann führen Sie mich mal herum, Mr. Malfoy.“
Immer lächeln, dachte Lucius. „Was möchten Sie zuerst sehen? Das Zimmer, das wir dem Hauself zur Verfügung stellen?“
„Damit können wir beginnen.“
Lucius verbeugte sich kurz. „Folgen Sie mir doch bitte.“

Als Hausherr ging Lucius voran, nahm die geschwungene Treppe in den ersten Stock. Dean folgte mit seinem schwebenden Klemmbrett. Der Elf, Tatson, schlich hinter Dean her und schaute sich mit großen Augen aufmerksam um. Während des Weges hielt Lucius ein wenig Smalltalk.

„Im Ministerium alles in Ordnung, Mr. Thomas?“
„Ja, es gibt nichts zu beanstanden.“
„Darf man fragen, wie viele Elfen sich eigentlich hinter Ihrer Abteilung verbergen?“
„Bedaure, das darf ich nicht publik machen.“
„Das macht doch nichts.“ Lucius blickte zum Elf, der mit Bewunderung die Gemälde im Flur betrachtete, den sie gerade betreten hatten. Als er an entsprechendem Zimmer angelangt war, blieb Lucius stehen und erklärte: „Das hier ist eines unserer ehemaligen Gästezimmer. Es wurde kaum benötigt und steht mit der gesamten Möblierung zur Verfügung.“

Die Tür zum Gästezimmer öffnete Lucius in einem Schwung. Es war, wie alle Zimmer in Malfoy Manor, groß. Es verfügte über riesige Fenster und sogar über einen kleinen Balkon.

„Es hat ein eigenes Badezimmer.“ Nie hätte Lucius einem Elf erlaubt, eines der anderen Badezimmer zu nutzen oder gar mit der Familie zu teilen. „Und einen begehbaren Schrank“, fuhr Lucius fort und öffnete mit Hilfe seines Zauberstabes die entsprechende Tür. Tatson war hin und weg. Die Augen des Elfs waren kurz davor, aus ihren Höhlen herauszutreten. „Das Einzige, was ich geklärt haben möchte: Die Gemälde, die hier hängen, sollen bitte achtsam behandelt werden. Auf Wunsch können wir sie auch aus diesem Zimmer entfernen, wenn“, Lucius blickte zu dem Elf und gab sich redlich Mühe, nicht die Nase zu rümpfen, „Tatson es vorzieht, sich selbst häuslich einzurichten.“
„Ach“, winkte Dean ab, „ich denke, er ist damit mehr als zufrieden.“ Um sich zu vergewissern, sprach er den Elf direkt an. „Was sagst du, Tatson? Alles nach deinem Geschmack?“
„Groß!“, staunte der Elf. „Der Raum ist kolossal! Tatson hat viel Platz.“
„Über die Arbeitszeiten sind Sie informiert?“ Dean schaute Lucius in die Augen und zählte auf: „Urlaub, Pausen ...“
„Ich habe mir alles durchgelesen, Mr. Thomas, und ich bin mit allem einverstanden. Ich erwarte lediglich, dass mit den Gegenständen in diesem Haus, besonders aber mit den Bewohnern, die hier leben, anständig umgegangen wird. Mein alter Elf war leider etwas“, er zog kurz beide Augenbrauen nach oben, „ungehörig.“
„Wieso?“, fragte Dean nach. „Dobby war doch ein klasse Elf! Ich mag ihn. Er arbeitet übrigens noch immer in der Küche in Hogwarts.“
„Ja, ich weiß“, sagte Lucius und hoffte das Thema erledigt.
Dean wandte sich an den Hauself. „Wie sieht's aus, Tatson? Interesse?“

Lucius schüttelte den Kopf – nur innerlich, versteht sich, damit er Mr. Thomas nicht verärgerte. Der Hauself sollte sich seinen Meister aussuchen? Ein Elf war doch kein Zauberstab! Ein Elf war ein Diener, der ein Leben lang dafür sorgen sollte, dass es seinen Herren an nichts mangelt. Langsam ging man zurück in den Flur.

„Tatson hat eine Allergie gegen Erdnüsse“, sagte Dean auf einmal. „Es wäre freundlich, wenn Sie das bei den Arbeiten in der Küche berücksichtigen würden.“
„Elfen können Allergien haben? Das wusste ich gar nicht.“
„So etwas erfährt man nur, wenn man sich auch mal mit einem unterhält, anstatt sich nur von ihnen bedienen zu lassen.“ Das war absichtlich ein verbaler Tritt in den Hintern, wusste Lucius. „Wir, die Mitarbeiter der Abteilung für die Neuzuteilung von Hauselfen, werden im ersten Vierteljahr monatlich ein kurzes Gespräch mit dem Elf führen. Entweder kommen wir her oder der Elf kommt zu uns. Danach wird es jedes Jahr zwei ausführliche Gespräche geben, für die die Elfen von der Arbeit bei ihren Herren befreit sind.“
„Aha“, machte Lucius desinteressiert.

Eine Tür öffnete sich und heraus trat Charles, gefolgt von Draco. Er erkannte Dean, den ehemaligen Mitschüler.

„Hallo!“, grüßte er den Gast sehr persönlich.
„Hi, Draco.“

Beim Anblick des Hauselfs bekam Charles einen Schreck. Er ging ein paar Schritte rückwärts, bis er an die Beine seines Vaters stieß. Kaum hatte er diesen Körperkontakt hergestellt, versteckte sich der Junge hinter seinem Vater. Vorsichtig lugte Charles an ihm vorbei und beäugte skeptisch den Elf. Draco bemerkte ihn ebenfalls.

„Ah, der Hauself. Ich hoffe, wir bekommen ihn genehmigt.“ Draco nickte dem Elf freundlich zu.
Mit einer Hand griff Dean nach seinem schwebenden Klemmbrett. „Es sieht so aus, als könnte ich den guten Tatson gleich hier lassen.“ Er schaute zum Elf hinunter. „Wie siehst du das? Wäre diese Familie für dich in Ordnung?“

Lucius stöhnte ganz leise. Er konnte nicht begreifen, warum man so viel Wert auf die Meinung eines Hauselfs legte. Das Zimmer, die Möbel … Der Elf hatte damit zufrieden zu sein. Er sollte hier arbeiten und sich nicht erholen.

Ein wenig scheu blickte Tatson zu dem Jungen und gab zu bedenken: „Tatson glaubt, der junge Mr. Malfoy hat Angst vor ihm.“
„Nein“, widersprach Draco mit einem freundlichen Lächeln. „Er hat einen Hauself nur noch nie von Nahem gesehen. Angst hat er nicht, sonst würde er wegrennen und nicht neugierig gucken.“
Tatsons Gesichtszüge entspannten sich. „Tatson möchte gern hier bleiben.“
„Dann möchte ich Mr. Malfoy bitten, die Erklärung zu lesen und zu unterzeichnen.“ Dean reichte Lucius das Klemmbrett, das dieser entgegennahm. Wie es aussah, musste er eine Menge lesen.
„Würden Sie mich bitte in den grünen Salon begleiten? Ich lese es mir in Ruhe durch. Wie wäre es zwischenzeitlich mit einer Erfrischung, Mr. Thomas?“
„Ja, gern.“

Nachdem Tatson seine erste Aufgabe erledigt hatte, nämlich mit Dracos Hilfe eine Erfrischung in der Küche zuzubereiten, hatte Lucius den Vertrag mit dem Ministerium gelesen und unterzeichnet. Mit Tatson würde das Zusammenleben vollkommen anders ablaufen als mit Dobby. Lucius erinnerte sich noch gut an den alten Elf. Ständig hatte Dobby Angst gehabt und daraus keinen Hehl gemacht. Er hatte viel geredet, sich häufig für Nichtigkeiten entschuldigt. Alles in allem hatte sich Dobby durch seine Unterwürfigkeit nur noch unbeliebter bei den Malfoys gemacht. Lucius strengte sich sehr an, Tatson höflich zu behandeln. Der Elf war, das musste er zugeben, angenehm still. Er quasselte nicht ununterbrochen, hängte nicht an jeden Satz ein Sir. Ja, dachte Lucius, mit diesem Elf ließe es sich leben. Außerdem hatte Charles nach einigen Minuten die Furcht vor ihm verloren und rannte dem kleinen Wesen bereits überall hinterher.

Einen Elf zu beantragen kam nicht für jede Person, schon gar nicht für jedes Geschäft in Frage. Severus und Hermine sprachen sich einstimmig gegen die Beschäftigung eines Hauselfs aus, selbst wenn der frei wäre und für seine Arbeit wie jeder Angestellte entlohnt werden würde. Die Magie eines Hauselfs könnte sich eventuell auf die magische Beschaffenheit der Zutaten auswirken. Einen Elf wollte auch Harry nicht für den Kindergarten einstellen. Freie Hauselfen waren selten. Harry bezweifelte sogar, dass es neben Dobby noch andere gab. Wobbel und Shibby sollten bei Ginny und dem Jungen bleiben. Im Notfall war Harry immer in der Lage, seine Elfen herbeizurufen. Allein das beruhigte ihn ungemein. Dennoch wollte er lieber Squibs, Zauberer und Muggelgeborene beschäftigen. Es gab viele Menschen, die nach dem Krieg stark eingeschränkt waren, entweder in finanzieller Hinsicht oder in Bezug auf die Gesundheit. Solchen Menschen wollte er eine Chance geben.

Mit der Gesundheit war es so eine Sache. Während die Longbottoms sich von Tag zu Tag erholten, baute Tobias Snape mehr und mehr ab. Bald wäre seine Zeit gekommen, wusste Professor Cox. Seit Tagen bekam der Patient starke Mittel gegen die Schmerzen, um den Tag überstehen zu können. Die Nächte waren meist unruhig, die Atmung hektisch. Durch die Nebenwirkungen der Tränke und Medikamente döste der alte Patient den ganzen Tag.

In der Nacht zum 24. Dezember war der Zeitpunkt gekommen. Sacerdonus Cox war während seiner Nachtschicht zu dem Patienten gegangen und hatte ihn lange beobachtet. Der Puls war nur schwer fühlbar, so selten und unmerklich schlug das Herz. Der Blutdruck fiel kontinuierlich. Nach und nach würden die Organe ihre Funktion aufgeben, eines nach dem anderen. Wenigstens hatte der Patient keine Schmerzen. Für Heiler Cox stand fest: Tobias Snape würde den nächsten Morgen nicht mehr erleben. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es kurz nach zwei Uhr morgens war. Er griff nach der Hand seines Patienten und drückte sie.

„Ich werde Ihrem Sohn Bescheid geben, Mr. Snape.“ Die leise gesprochenen Worte schienen kein Gehör zu finden, wurden nicht wahrgenommen. Tobias Snape reagierte nicht wie sonst, drückte nicht zurück. Er atmete langsam, schien diesmal tatsächlich zu schlafen, nicht nur benommen zu dösen. „Er hat mich darum gebeten, ihn zu benachrichtigen, wenn es soweit ist.“

Auf dem Weg ins Schwesternzimmer rief sich Sacerdonus das Gespräch mit dem Sohn seines Patienten ins Gedächtnis. Severus war aufgeregt gewesen, wütend, geradezu aufbrausend, als er vom Schicksal seines Vaters erfahren hatte. So ein Gefühlsausbruch war verständlich, dennoch kein Grund, die Stimme zu erheben. Das Zimmer von Tobias Snape hatte Cox nicht aus den Augen gelassen. Ihm war daher nicht entgangen, dass Severus mit ungesund bleicher Gesichtsfarbe herausgestürzt kam und die Herrentoilette aufsuchte. Das war die zweite Gelegenheit für Cox gewesen, mit dem jüngeren Mr. Snape zu sprechen, ihn zu beruhigen und die Situation genauer zu schildern. Severus war dieses Mal friedvoll geblieben, hatte sich alles genau angehört. Am Ende der Unterhaltung konnte Severus den Heiler gleichermaßen erstaunen und erfreuen, denn er trug die Bitte vor, über das bevorstehende Ableben seines Vaters unterrichtet zu werden – zu jeder Tages- und Nachtzeit.

Sacerdonus hatte den Kamin im Schwesternzimmers erreicht. Er kniete sich nieder und rief die Adresse der Granger-Apotheke.

In der Wohnung über der Apotheke waren längst alle Lichter gelöscht. Im Schlafzimmer hörte man den Ruf durch den Kamin nicht, dafür war es zu weit weg. Aber Severus hatte vorgesorgt. Mit einem Zauberspruch war sein Stab so verhext, dass er einen leisen Weckruf von sich gab, sobald das Dii Penates sich über den Kamin melden würde. Durch das Summen unter seinem Kopfkissen wurde Severus aus dem Schlaf gerissen. Im ersten Moment war es desorientiert. Sein Herz schlug schnell, beinahe als hätte er einen Alptraum gehabt, an den er sich nicht mehr erinnern konnte. Ein Schauer lief ihm den Rücken hinunter, als er erkannte, was das Summen zu bedeuten hatte. Den Alarm beendete er mit einem geflüsterten Zauberspruch. Ein Blick zur Seite bestätigte ihm, dass Hermine weiterhin selig schlummerte. So sollte es bleiben. Severus eilte ins Wohnzimmer und nahm den Ruf entgegen.

„Mr. Snape?“
„Ja, Professor Cox?“
„Es ist soweit. Ihr Vater ... Es wird nicht mehr lange dauern.“

Jeden Tag hatte Severus damit gerechnet, einen Anruf zu erhalten. Trotzdem war es ein großer Schreck, dass dieser Moment mit einem Male gekommen war, real geworden war. Severus war vollkommen überwältigt, fühlte sich für einen Augenblick hilflos. Auf solche Nachrichten konnte man sich offenbar nicht vorbereiten.

„Ich danke Ihnen, Professor Cox.“ Seine Kehle war wie zugeschnürt, so dass sich Severus räuspern musste. „Ich werde mich auf den Weg machen.“
„Wir sehen uns, Mr. Snape.“

Um Hermine nicht zu wecken, ging Severus nicht zurück ins Schlafzimmer. Stattdessen zog sich seinen dicken Winterumhang über das Nachthemd. Mit einem Aufrufezauber besorgte er sich Socken, bevor er in seine Schuhe schlüpfte. Sein Hund kam angerannt und wedelte mit dem Schwanz.

„Nicht jetzt, Harry.“ Der Hund dachte, es wäre Zeit zum Gassigehen. Severus kraulte Harry hinter den Ohren. „Geh wieder schlafen“, flüsterte er. Severus befühlte die Taschen seines Winterumhanges. Ein harter Gegenstand. Er nahm ihn heraus und vergewisserte sich, dass er das Elixier des Lebens bei sich hatte. Seine Hände zitterten, als er die unscheinbare Flüssigkeit betrachtete, die so wertvoll war, dass manche Menschen dafür töten würden. Severus atmete tief durch und steckte die Phiole wieder in die Tasche, bevor er zum Kamin ging. Er hoffte innig, das knallende Geräusch beim Flohen würde nicht im Schlafzimmer zu hören sein. Vorsichtshalber richtete er den Stab auf das Flohpulver in seiner Hand und murmelte einen Zauberspruch, der die Lautstärke mindern sollte.

Im Schlafzimmer räkelte sich Hermine vorsichtig, denn sie spürte ein Gewicht an ihren Füßen. Fellini wärmte sie. Als ihre Hand die andere Hälfte des Bettes nach Severus absuchte, an den sie sich ankuscheln wollte, fühlte sie nur die warme Bettdecke. Sorgen über Severus’ Abwesenheit machte sich keine. Er war sicherlich nur auf der Toilette, dachte sie mit einer halb wachen Gehirnhälfte. Ihren Arm ließ sie auf seiner Seite liegen. Im Nu war sie wieder eingeschlafen.

Severus erschien in der Eingangshalle des Dii Penates. An der Rezeption schien das Licht ein wenig heller, ansonsten war es überall gedimmt. Der Herr dort widmete Severus seine ganze Aufmerksamkeit.

„Professor Cox hat mich kontaktiert“, erklärte Severus dem Herrn seinen Besuch zu später Stunde.
„Verstehe“, der Mann nickte, „Sie wissen sicher, wo Sie ihn finden.“ Vorsichtshalber deutete der Herr mit einer Hand in die Richtung der Abteilung.
„Ja, danke.“

Das flaue Gefühl im Magen war überraschend gekommen. Sein Herz schlug heftig. Severus war angespannt, als er den Weg einschlug. Nachts herrschte eine himmlische Ruhe im Heim. Eine Totenstille. Professor Cox befand sich auf dem Flur und schien dort auf Severus zu warten. Severus öffnete die Glastür und ging auf den Mann zu. In dem kleinen, durch Glas vom Flur abgetrennten Raum saß eine Schwester, die etwas in eine Krankenakte schrieb. Durch die Scheibe hindurch grüßte sie Severus stumm mit einem freundlichen Lächeln.

„Mr. Snape.“ Cox sprach leise, aber verständlich. Severus brachte nur ein Nicken zustande. Seiner Stimme traute er nicht. „Wenn ich Ihnen kurz über den Zustand Ihres Vaters berichten darf, bevor Sie ins Zimmer gehen?“ Wieder nickte Severus, so dass Cox ihn zu einer kleinen Sitzgruppe im Flur führte. Beide nahmen Platz. „In den letzten Tagen ging es Ihrem Vater ganz rapide schlechter. Er hat, als er sich noch mitteilen konnte, ausdrücklich abgelehnt, einen katholischen Pfarrer hinzuzuziehen. Wegen seiner Konfession habe ich ihm diesen Vorschlag gemacht. Außerdem hat er zugestimmt, dass wir eine automatische Schmerzpumpe einsetzen. Wissen Sie, was das ist?“ Severus schüttelte den Kopf. „Ein kleines Gerät aus der Muggelwelt, mit dem man dem Körper beständig Schmerzmittel zuführen kann. Ihr Vater ist auf jeden Fall schmerzfrei, das ist das Wichtigste. Allerdings ist sein Zustand allgemein sehr beeinträchtigt.“
„Inwiefern beeinträchtigt?“, fragte Severus nach.
„Er ist kaum noch ansprechbar. Nur selten reagiert er mit einem Händedruck. Seit drei Tagen hat er nicht mehr gesprochen. Er schläft die meiste Zeit oder befindet sich in einem Dämmerzustand.“

Bei der Erklärung von Professor Cox musste Severus zwangsläufig an den stillen Zimmergenossen seines Vaters denken, dem es genauso gegangen war. Auch der war nicht ansprechbar gewesen, hatte nicht auf die Gespräche oder die lauten Stimmen reagiert.

„Kann er mich verstehen?“, wollte Severus wissen.
„Das kann man in seinem Zustand leider nicht genau sagen, Mr. Snape. Aufgrund meiner Erfahrung gehe ich aber von einer positiven Antwort auf diese Frage aus und behaupte“, Mr. Cox nickte langsam, „ja, er wird Sie verstehen können.“ Severus blieb still, als er über die Situation nachdachte.
„Er reagiert noch manchmal, wenn man ihn direkt anspricht, öffnete gestern sogar einmal die Augen, als eine der Schwestern einen Scherz über seine Nachtlektüre machte.“ Mr. Cox lächelte aufgrund der Erinnerung an diese Situation. „Im Augenblick ist sein Bedürfnis nach Ruhe sehr groß, Mr. Snape.“ Die Anspielung auf die laute Auseinandersetzung beim letzten Besuch verstand Severus. Er nickte dem Heiler verständnisvoll zu, der das mit einem zufriedenen Lächeln zur Kenntnis nahm. „Das Kopfende ist hochgestellt. Bitte lassen Sie es so. Ihr Vater klagte letzte Woche über Schwierigkeiten beim Atmen. So, wie er jetzt liegt, etwas erhöht mit einem Kissen im Nacken, empfand er es als sehr angenehm. Und erschrecken Sie nicht, wenn Sie seine Hand nehmen. Die Durchblutung hat sich verschlechtert. Die Gliedmaßen ist merklich kühler.“

Die ganzen Informationen nahm Severus einfach in sich auf, ohne sich näher mit ihnen zu befassen. In Gedanken war er mit vielen Fragen beschäftigt, auf die es keine Antwort gab. Was hätte er im Leben ändern können? Warum musste sich das Verhältnis zu seinem Vater so schlecht entwickeln und wie wären sie miteinander ausgekommen, wäre seine Mutter noch am Leben?

„Es wäre freundlich von Ihnen, wenn Sie Ihrem Vater ab und an die Lippen befeuchten könnten. Ansonsten würde die Schwester das sicherlich übernehmen, wenn Sie nicht …“
„Nein, nein“, sagte Severus langsam, „ich mach das.“
„Auf dem Nachttisch steht ein Glas mit stets frischem Wasser und einige Papiertaschentücher.“ Der Heiler schaute ihn einen Moment lang an. „Möchten Sie, dass die Schwester Ihnen etwas zu trinken reinbringt?“
„Ich … Ich weiß nicht.“

Professor Cox war die Hilflosigkeit seines Gegenübers nicht entgangen, die plötzliche Unsicherheit. Er beobachtete Severus aufmerksam.

„Warum wollten Sie hier sein, Mr. Snape?“ Eine Antwort blieb der Gast dem Heiler schuldig. „Ich verstand es so, dass Sie während seiner letzten Stunden bei Ihrem Vater sein wollen.“

Severus war noch mit der Antwortfindung auf die Frage beschäftigt. Warum war er hier, kurz nach zwei Uhr nachts, bei seinem Vater, mit dem er 26 Jahre seines Lebens nichts zu tun hatte.

„Ich bin es ihm schuldig“, offenbarte Severus nicht nur dem Heiler, sondern auch sich selbst.
Professor Cox legte eine Hand auf Severus’ Schulter. „Wenn es Ihnen zu viel wird: Ich bin gleich hier im Schwesternzimmer.“ Zur Sicherheit deutete Cox zum entsprechenden Bereich. „Sie müssen nichts tun, wenn es zu belastend für Sie ist.“
Severus hatte in seinem Leben eine Menge Menschen sterben sehen, trug bereits einige Lasten auf seinen Schultern. „Ich bin der Sache gewachsen“, beteuerte er. Dem streng beurteilenden Blick des Heilers hielt Severus stand.
„Ich möchte Ihnen noch etwas Persönliches mitteilen.“ Normalerweise hätte Severus eine Augenbraue in die Höhe gezogen, doch seine Mimik war wie betäubt und so lauschte er dem Heiler regungslos, als der sagte: „Ich habe mich lange und ausgiebig mit Ihrem Vater über Ihren Besuch unterhalten, Mr. Snape. Wir haben über Sie gesprochen. Ich erwähnte, dass Sie für Ihre Leistungen im Krieg, für Ihre Opferbereitschaft, die höchste Auszeichnung der Magischen Welt erhalten haben.“ Die Augen von Professor Cox leuchteten freundlich. „Er hat gesagt, dass er sehr stolz auf Sie ist. Und er bedauert es sehr, dass Sie beide kaum Zeit miteinander verbringen konnten.“

Das könnte sich ändern, dachte Severus zuversichtlich. Die Phiole in seinem Umhang könnte alles Übel vertreiben und darüber hinaus für mehr Zeit sorgen.

„Außerdem sagte er“, begann Cox, „dass er rückblickend betrachtet ein erfülltes Leben gehabt hat, weil er Ihre Mutter kennengelernt und geheiratet hat.“

Professor Cox hatte dem nichts mehr hinzuzufügen. Wiederholt bot er seine Bereitschaft an, Severus unter die Arme zu greifen, doch der lehnte ab. Niemand durfte dabei sein, wenn er seinem Vater das Elixier gab.
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Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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Teil 3/4 von Kapitel 232

Im Krankenzimmer traf Severus eine weitere Schwester an, die neben dem Bett seines Vaters saß und dessen Hand hielt. Sie grüßte ihn freundlich und überließ Severus wortlos ihren Platz. Offenbar hatte Professor Cox ihr mitgeteilt, dass er diese Aufgabe übernehmen würde. Sie ließ ihn allein. Wie versteinert stand Severus im Krankenzimmer und blickte zum Bett seines Vaters. Wie der Heiler es ihm gesagt hatte, war das Kopfende höher gestellt. Dennoch jagte ihm der Anblick einen Schrecken ein. Durch die Nackenrolle war der Kopf etwas nach hinten gefallen, so dass der Mund offen stand. Severus wusste, dass man mit einem leicht gestreckten Hals besser Luft bekam, zumindest das Gefühl hatte, dass dem so war. Sein Blick huschte hinüber zum anderen Bett. Es war frisch bezogen, geschützt durch eine durchsichtige Plastikhülle. Severus lief es heißt und kalt den Rücken hinunter, als er realisierte, dass Elis gestorben sein musste. Und wie sein Vater es vorhergesagte, noch vor ihm. Severus blickte nochmals zu seinem Vater, der ganz und gar anders aussah als beim letzten Besuch. Die Haut war fahler, der Gesichtsausdruck ohne jede Mimik.

„Vater?“, fragte Severus leise in den Raum hinein. Keine Antwort, keine Regung. Einen der beiden Stühle, die neben dem Tisch am Fenster standen, nahm sich Severus, um sich direkt ans Bett zu setzen. Ein stetes Geräusch erweckte Severus’ Aufmerksamkeit. Die Schmerzpumpe drückte in kurzen Abständen regelmäßig ein Mittel in die Venen. Ein anderes, viel lauteres Geräusch stammte von seinem Vater selbst. Lange, ruhige Atemzüge. Manchmal war ein leichtes Röcheln aus dem offenstehenden Mund zu hören. „Vater?“ Auch aus der Nähe war keine Regung von Tobias auszumachen. Er schlief. Severus betrachtete den alten Mann ganz in Ruhe. Die Haare waren nicht mehr so voll, wie er es von früher in Erinnerung hatte. Und die Zähne sahen furchtbar aus, völlig schwarz und faulig, von Karies zerfressen. Das Zahnfleisch war stellenweise entzündet. Hermine hatte erklärt, dass dies eine Begleiterscheinung der Zuckererkrankung sein würde.

Dieser Mann, dachte Severus, sein Vater, hatte einem anderen Menschen gegenüber offenbart, stolz auf seinen Sohn zu sein. Gern hätte Severus das mit eigenen Ohren gehört. Vielleicht war sein Vater dazu zu bewegen, ein paar Sätze zu sprechen.

„Vater, kannst du mich hören?“ Jetzt zuckte eine Hand. Der Zeigefinger streckte sich langsam. Ohne zu überlegen griff Severus zu, umschloss die runzlige, kalte Hand mit seiner warmen. „Ich bin es.“ Ein Vater sollte seinen Sohn an der Stimme erkennen. „Du musst nicht leiden.“ Severus’ Stimme war ruhig, dennoch gut zu verstehen. „Du musst nicht leiden“, wiederholte er und zog mit der anderen Hand die Phiole aus der Tasche. „Ich habe es hier, das Mittel, von dem ich dir erzählte.“ Severus spürte eine Regung in seiner Hand, doch er schenkte ihr keine Beachtung, so unbedeutend schien sie. Mit den Zähnen entfernte Severus den Korken, den er aufs Bett fallen ließ. „Es wird dir wieder gut gehen.“

Langsam, ganz langsam, um seinen Vater nicht zu erschrecken, legte er den die Öffnung der Phiole an die trockenen Lippen. Noch bevor Severus das Gefäß heben konnte, fuhr ein Schauer durch den zuvor so stillen Körper seines Vaters. Fingernägel krallten sich in seine Hand. Die Atmung wurde hektisch. Die Worte von Sacerdonus Cox wiederholten sich in Severus’ Gedächtnis. „Außerdem sagte er, dass er rückblickend betrachtet ein erfülltes Leben gehabt hat, weil er Ihre Mutter kennengelernt und geheiratet hat.“ Dieser Satz bewahrte Severus vor einem großen Fehler. Niemand besaß das Recht, seinem Vater den Wunsch zu nehmen, zu sterben. Nicht einmal der eigene Sohn, der in seinen Händen etwas so Wertvolles hielt, für das Götter kämpften und Helden starben. Die Goldenen Äpfel. Der Jungbrunnen. Ganz ohne Gefecht gegen den hundertköpfigen Drachen Ladon verfügte Severus über die gleiche Macht, die von irdischen und unirdischen Geschöpfen begehrt war. Er konnte Leben retten und es verlängern. Genügend Elixier würde angejahrte Haut verschönen. Sein Vater stand jedoch über alledem. Nichts schürte die Lust auf Leben, weil die Liebe schon lange vergraben war. Auf einmal verstand Severus, dass seine Aufgabe heute Nacht keineswegs darin bestand, das Leben seines Vaters zu retten. Etwas viel Schwieriges wurde ihm abverlangt, denn er war hier, um ihn beim Sterben zu begleiten.

„Beruhige dich, Vater.“ Severus nahm die Phiole von den trockenen Lippen seines Vaters, verkorkte sie und steckte sie wieder ein. „Du musst nicht allein gehen.“ Severus’ Stimme zitterte. „Ein Stück des Weges werde ich dir das Geleit geben.“

Die Atmung seines Vaters wurde wieder ruhiger, als er begriff, dass sein Sohn nicht gegen seinen Willen handeln würde. Severus rückte den Stuhl weiter vor, so dass die Hand seines Vaters direkt neben ihm auf der Matratze lag. Er beobachtete seinen Vater, das Gesicht, den dürren Oberkörper. Seit dem letzten Besuch hatte er viel Gewicht verloren. Severus wusste von Beschreibungen in Büchern, dass der Körper eines Sterbenden kaum noch über ein Hungergefühl verfügte, doch das quälende Gefühl von Durst blieb bis zum Schluss. Das erinnerte Severus an etwas, das Professor Cox gesagt hatte. Sein Blick fiel auf den Nachttisch. Dort stand ein verzaubertes Glas, in dem immer frisches Wasser zur Verfügung stand. Daneben eine Packung Taschentücher, die man oben aus einem Loch herausziehen konnte. Severus nahm zwei Taschentücher, befeuchtete sie mit Wasser und beugte sich zu seinem Vater, um dessen trockene und gesprungene Lippen zu befeuchten. Einige Tropfen ließ er in die Mundhöhle tröpfeln. Die träge Zunge verteilte sie sofort am Gaumen, um das Durstgefühl zu bändigen. Als Severus die gebrauchten Taschentücher in den naheliegenden Papierkorb, warf bemerkte er mit einem Blick aus dem Fenster, dass es wieder schneite. Dicke Flocken tänzelten graziös zu Boden.

„Es schneit draußen“, gab Severus bekannt. „Alles ist weiß.“ Beim nächsten Ausatmen seines Vaters war ein leichtes Stöhnen zu hören, als wollte er etwas sagen – oder als wollte er darauf aufmerksam machen, dass er seinen Sohn verstanden hatte.

Severus setzte sich wieder ans Bett. Mit Sicherheit konnte er nicht sagen, ob sein Vater ihn wirklich hören konnte. Dennoch wollte er die jahrelange Erfahrung von Professor Cox nicht in den Wind schlagen, denn der hatte die Frage bejaht. Unbeholfen spielte Severus mit seinen Fingern. Er war sich nicht sicher, ob er etwas sagen sollte. Erwähnen könnte er, dass Professor Cox ihm mitgeteilt hat, dass sein Vater stolz auf ihn wäre. Sein Vater würde nichts erwidern können, und Severus wollte in dem sterbenden Mann nicht einen Wunsch wecken, der jetzt unmöglich zu erfüllen war. Keine Aussprache. Man musste keinen Monolog führen, denn das ein oder andere Thema könnte seinen Vater innerlich aufregen. Ihn aufzuwühlen wollte Severus vermeiden und so saß er nur neben ihm und atmete im gleichen Takt wie sein Vater, ruhig und gleichmäßig.

Nach einer Stunde war ein leises Klopfen zu vernehmen. Die Schwester kam herein. In ihrer Hand hielt sie eine Tasse mit dampfendem Kaffee, in der anderen eine Untertasse mit ein paar Keksen. Beides reichte sie Severus.

„Schwarz?“, fragte sie leise. Severus’ Nicken war Antwort genug. „Ihr Vater liebt Kaffee, besonders den Duft.“ Sie wandte sich an Tobias, der die Augen weiterhin geschlossen hatte und strich ihm fürsorglich mit den Außenseiten ihrer Finger über die Wange. „Nicht wahr?“ Den Sterbenden bezog sie wie selbstverständlich mit ein ins Leben. Außerdem prüfte ihr fachmännischer Blick, ob es dem Patienten an etwas mangelte. Ganz zu ihrer Zufriedenheit bemerkte sie, dass dessen Lippen befeuchtet waren. Gekommen war sie, um die Schmerzpumpe nachzufüllen. Nach einigen geübten Handgriffen war die Aufgabe in weniger als zwei Minuten erledigt. Sie schaute Severus an und lächelte sanft. „Wenn Sie nachher für fünf Minuten das Fenster öffnen könnten? So eine leichte Brise gefällt ihm bestimmt.“ Die Schwester ersetzte die Nackenrolle durch ein anderes Kissen und änderte die Position des Kopfes, so dass Tobias Snape ein wenig zur Seite schaute. „Ich schüttel kurz die Bettdecke auf, ja, Mr. Snape?“. Sie sah dem Patienten auf die Hand. Er hob einen Finger, das von der Schwester als Zustimmung gedeutet wurde. Die Frau entfernte die Decke und schüttelte sie aus, während sie mit dem Rücken zu Severus stand. Der war verwundert, dass das Nachthemd seines Vaters vorn geschlossen werden konnte. Es handelte sich nicht um ein Krankenhaushemd. Womöglich ein Wunsch seines Vaters, der erfüllt worden war. Einige Schleifen waren aufgegangen. Man konnte den Bauch sehen – und auf ihm bläulich-grünliche Flecken, die rund um den Bauchnabel angeordnet waren. Sein erschütterter Gesichtsausdruck war noch immer vorhanden, als die Schwester den Vater wieder bedeckte. Sie nahm Severus beiseite und flüsterte ihm die Erklärung für die Flecken ins Ohr: „Die Nieren arbeiten jetzt nicht mehr, Mr. Snape. Wünschen Sie, dass ich bei Ihnen bleibe?“ Ihre Erklärung wiederholte er in Gedanken. Totenflecken waren ihm bekannt, er hatte sie zur Genüge an Bellatrix’ Opfern sehen müssen, aber diese waren anders. Es waren keine. Die Harnsäure war für die Verfärbung verantwortlich. Auf ihre Frage hin schüttelte er den Kopf. Sie strich ihm Mut machend über den Oberarm, auf und ab. In anderen Momenten hätte er sich so eine persönliche Geste verbeten, aber jetzt half ihm die Nähe zu jemandem, der ihn verstand.

Der Tastsinn von Tobias Snape war vorhanden. Er fühlte die Berührung an der Wange, das aufgeschüttelte, warme Bettzeug und er würde nachher ebenfalls den Wind spüren, die frische, kalte Winterluft. Den Kaffee konnte er riechen. Der Duft weckte heimelige Erinnerungen an einen Frühstückstisch, an Eileen und seinen kleinen Jungen, die mit ihm zusammen am Tisch saßen. Der Junge war hier, bei ihm. Er hörte dessen Stimme, die nun tiefer war, dunkler – erwachsen. Tobias stellte sich vor, wie er aus dem Zimmer des Krankenfensters blickte und den Schneeflocken dabei zusah, wie sie die Bäume im heimeigenen Park weiß zeichneten. Er vernahm die Stimme der Schwester und bereute, dass seine Lider so schwer waren und er die junge Frau weder sehen noch ihr seinen Dank aussprechen konnte. Als sie ging, war er nicht allein. Sein Sohn war bei ihm.

Von dem Kaffee nahm Severus vorsichtig einen Schluck. „Ich frage mich ernsthaft, warum man immer über Krankenhaus-Kaffee schimpft. Der schmeckt doch ausgezeichnet“, sagte er in den Raum hinein, um die Stille erträglich zu machen. Die Kekse ließ er unangetastet. Gedanken an Essen bereiteten ihm Übelkeit. Darüber hinaus hielt er es für pietätlos, am Bett eines sterbenden Mannes Weihnachtsgebäck zu verzehren.

Was genau in einem Menschen vorging, der sich mehr und mehr dem eigenen Tode näherte, konnte man nur erahnen. Selbst die Echos der Personen, die in Hogwarts hausten, waren überfragt, wenn man von ihnen in Erfahrung bringen wollte, wie es im Moment des Todes war, wie man sich fühlte, was man empfand und erlebte. Solche Fragen stellte sich nun Severus. Es bereitete ihm große Schmerzen, allein nur daran zu denken, dass Hermine unter ungünstigsten Umständen vor ihm gehen könnte und er hoffte innig, dass dies nie geschehen würde. Severus wusste noch gut, wie es ihn zerriss, Albus das Leben nehmen zu müssen, so wie der es von ihm verlangt hatte. Mit dem Tod war Severus viel zu oft in Berührung gekommen. Nach der Schule war er Zeuge der Folter und Ermordung von Muggeln durch Todesser. Er hörte sie noch Nächte später schreien und flehen. Bei einem von ihnen, einem jungen Mann, den Bellatrix in ihre Finger bekommen hatte, sah er im Augenblick des Todes einen friedvollen Ausdruck in den feuchten Augen, ein seliges Lächeln auf den blutigen Lippen. Der Tod selbst war nicht im Entferntesten grausam, war manchen Menschen sogar willkommen. Das, wovor die meisten Menschen sich fürchteten, war der Vorgang des Sterbens. Sanft und schmerzfrei sollten die letzten Momente auf Erden sein, nicht lang und qualvoll. Professor Cox und die Schwestern taten alles in ihrer Macht Stehende, damit Tobias Snape es gut hatte; genauso gut wie Elis, der verblichene Zimmernachbar.

Mit einem Taschentuch befeuchtete Severus ein weiteres Mal die Lippen, ließ erneut ein paar Tropfen in die Mundhöhle fallen. Die Atmung seines Vaters hatte sich hingezogen, die Züge waren mittlerweile länger geworden. Severus bemerkte die erschreckend blassen Arme. Mit den Fingern fühlte Severus den Puls am Handgelenk. Bei der Berührung spürte Severus, wie sehr die Körpertemperatur abgefallen war, aber es war noch Leben in ihm. Die kalten Finger seines Vaters schlossen sich um die seinen. Severus wagte es nicht, seine Hand wegzuziehen. Nach einem kurzen Moment gab er sich einen Ruck und nahm die Hand seines Vaters vollends in seine, so dass die Handflächen aneinanderlagen und der Daumen jeweils den des anderen umfassten. Kraft besaß sein Vater nur noch wenig, dennoch fühlte Severus das kleinste Zucken der Finger. Severus rührte sich kaum. Er lauschte der Schmerzpumpe und der Atmung seines Vaters. Manchmal brachte die alte Kehle Töne hervor, die Severus nur schwer ertrug. Ein sanftes Röcheln, ein fiependes Stöhnen. Geräusche, die er nie zuvor bei einem Menschen gehört hatte. Bei jedem Zug glaubte Severus, es wäre der letzte. Während das Herz seines Vaters immer langsamer schlug, nahm das Pochen in Severus’ Brust zu. Es wäre bald soweit. Severus spürte es. Er könnte seinem Vater noch immer das Elixier verabreichen, war für einen Moment sogar davon überzeugt, sein Vater würde es ihm danken. Irgendwann. Severus focht einen inneren Kampf aus. Die Möglichkeit zur Rettung war vorhanden. Severus führte sie in der Innentasche seines Umhangs mit sich. Er könnte … Er könnte … War der Moment des Sterbens erst einmal vorüber, wäre es endgültig zu spät. Sein Vater wäre tot. In seinen Adern würden sich nur schmerzstillende Mittel befinden, nicht das Leben, das der Stein der Weisen hervorzubringen imstande war. Severus stellte sich die Frage, ob er, wenn er seinen Vater gehen ließe, sich später selbst Vorwürfe machen würde, weil er nicht gehandelt hatte. Wäre ihre Beziehung endgültig zerstört, würde er den Wunsch seines Vaters mit Füßen treten?

Mehr als eine Stunde lang rang Severus mit sich selbst und mit der Frage, die er sich gestellt hatte. Sein Vater begann allmählich, kraftlos nach Luft zu schnappen. Was das zu bedeuten hatte, darüber war sich Severus im Klaren. In diesem letzten Moment schossen ihm Tränen in die Augen. Der Kampf war gewonnen. Severus respektierte den Wunsch seines Vaters und ließ ihn in Würde gehen.

„Ich kann dich ab jetzt nicht mehr begleiten, Vater.“ Severus zog die Nase hoch. In seinen Augen sammelten sich Tränen, die sich einen Weg über die Wangen bahnten. Vorsichtig drückte er die Hand seines Vaters, legte seine andere auf den kalten, runzligen Handrücken. „Wenn du Mutter siehst, dann grüße sie von mir.“

Zu mehr war Severus nicht fähig. Trauer schüttelte seinen Körper. Das Gefühl hackte ihm den Atem ab und öffnete die viel zu selten benutzten Tränenkanäle. Die Hand, die er hielt, regte sich ein letztes Mal. Sie sagte danke für das Geleit, wünschte ein schönes Leben mit Hermine und sprach ein Lebewohl.

Der letzte Atemzug entwich ohne Zutun aus dem Körper. Tobias Snape war gegangen.

Severus ließ die entseelte Hand los und stand auf. Hilflos ging er einen Schritt auf die Tür zu, doch er blieb stehen und drehte sich um. Das Fenster zog ihn magisch an. Der Schnee fiel noch immer. Er benötigte frische Luft. Severus wollte sich beruhigen, bevor er der Schwester oder dem Heiler Bescheid gab. Das Fenster öffnete er weit. Mit einer Hand stützte er sich an der Wand daneben ab. Sein Kopf sank unter der schweren Last der Trauer von selbst nach unten. Mit geschlossenen Augen atmete er die frische Luft. Ein paar Schneeflocken wurden hereingeweht und legten sich auf die geröteten Wangen, bevor sie sich mit den Tränen vereinigten.

Gehört hatte er es nicht, dass die Schwester hereingekommen war. Ihre Hand an seinem Rücken erschreckte ihn nur kurz. Die Nähe ließ er zu. Kreisförmig strich sie mit der flachen Hand über die Stelle zwischen den Schulterblättern, bevor sie an seiner Schulter zur Ruhe kam. Im Hintergrund hörte er Geräusche, die nicht von ihr stammten. Severus atmete tief durch. Die feuchten Wangen trocknete er mit den Ärmeln seines Umhangs, bevor er sich umdrehte. Die Schwester lächelt ihn sanft an, zeigte ihr vollstes Verständnis für sein Durcheinander. Sie war einer der Engel, die es so selten gab. Ein Blick zum Bett seines Vaters erklärte die Geräusche. Professor Cox hatte die Schmerzpumpe abgeschaltet und entfernt. Er war gerade dabei, das Kopfende des Bettes zu senken. Den Tod des Patienten musste er bereits festgestellt haben, als Severus aus dem Fenster schaute, denn Professor Cox zog die Bettdecke hinauf und bedeckte das zufrieden wirkende Gesicht, auf das Severus einen letzten Blick werfen konnte. Sein Vater war zufrieden gestorben. Auch wenn es so sehr schmerzte, wusste Severus jetzt, dass er das Richtige getan hatte.

Professor Cox richtete das Wort an Severus: „Kann ich etwas für Sie tun?“ Die Situation hatte Severus so verunsichert, dass er nicht wusste, was sein nächster Schritt sein würde.
„Ich weiß nicht“, erwiderte er daher ehrlich.
Die Schwester hatte mehr Erfahrung. Sie legte eine Hand auf seinen Rücken, übte wenig Druck aus und sagte mit sanfter Stimme: „Kommen Sie mit mir, Mr. Snape.“

Vertrauensvoll ließ er sich von ihr führen. Mit Blick auf den verschneiten Garten platzierte die Schwester ihn in einem bequemen Sessel des Tagesraums. Sie blieb bei ihm stehen, eine Hand auf seiner Schulter. Trost konnte man auch spenden, ohne dabei ein Wort zu verlieren. Bald hatte Severus seine Gedanken wieder geordnet, wenigstens für den Moment. Durch den Tod seiner Mutter wusste er, dass eine gewisse Zerstreuung noch Wochen später auftreten würde.

„Möchten Sie einen Schluck Wasser, Mr. Snape?“ Er nickte der Schwester zu, ohne ihr in die Augen zu sehen, obwohl er sich nicht dafür schämen musste, geweint zu haben. „Hier“, hörte er ihre Stimme. Das Glas Wasser kam in sein Blickfeld. Er ergriff es und trank, merkte erst in diesem Moment, wie groß sein Durst war. Das leere Glas wurde ihm sofort wieder abgenommen. „Soll ich jemanden für Sie kontaktieren? Jemand, der Sie nachhause begleiten kann?“
„Wie spät ist es?“
„Kurz vor fünf Uhr.“
Hermine sollte in Ruhe schlafen. „Nein, Sie müssen niemanden wecken“, sagte er kraftlos.
„Dann begleite ich Sie durch den Kamin.“
„Das ist nicht …“
Die Schwester unterbrach mit freundlicher Stimme. „So lasse ich Sie nicht allein gehen.“

In seinem Zustand war an Apparation nicht zu denken, schon zuvor nicht, nachdem Professor Cox ihn angefloht hatte. Severus war zu zerstreut. Eine Reise übers Flohnetz war nicht ungefährlich. Die ganzen Kamine, an denen man vorbeirauschte, zudem die lauten Fahrgeräusche und die Temperaturschwankungen. Severus blickte die Dame an und nickte sein Einverständnis.

Sie begleitete ihn hinaus auf den Flur. Als sie an der Tür vorbeikamen, hinter welcher noch immer der Körper seines Vaters lag, wich er zurück, als diese sich öffnete. Es war nur Professor Cox, der heraustrat. In seiner Hand hielt er einen Bilderrahmen, den er Severus entgegenhielt.

„Möchten Sie das gleich mitnehmen? Ihrem Vater hat das Bild viel bedeutet. Ich möchte nicht, dass es versehentlich Schaden erleidet oder abhanden kommt.“ Mr. Cox zog seinen Stab und verkleinerte das Foto. Wortlos griff Severus zu und verstaute es in einer Tasche seines Umhangs, spürte dabei den harten Gegenstand: die Phiole mit dem Elixier des Lebens. Er musste kräftig schlucken. Die Traurigkeit kam mit einem Male zurück und mit ihr das erste Mal die Frage, ob er wirklich richtig gehandelt hat. Der Professor beantwortete die nicht gestellte Frage, denn er sagte: „Was Sie für Ihren Vater getan haben, Mr. Snape … Ich bin mir ganz sicher, dass es ihn beruhigt hat, Sie an seiner Seite zu wissen.“
„Danke, Professor Cox.“ Über seine dünne Stimme war Severus selbst erschrocken.
„Kommen Sie gut heim. Ich werde mich demnächst mit Ihnen in Verbindung setzen.“

Wie versprochen brachte die Schwester ihn nachhause. Sie fing ihn sogar auf, als er beim Ausstieg aus dem Kamin taumelte. Er bedankte sich bei ihr und sah dabei zu, wie sie den neugierigen Harry kurz hinter den Ohren kraulte. Ein letztes Mal warf sie Severus einen Blick zu und vergewisserte sich, dass sie ihn allein lassen konnte. Das Flohpulver in ihrer Hand verzauberte sie, bevor sie mit gedämpftem Knall durch den Kamin verschwand. Er kannte nicht einmal ihren Namen.

Angewurzelt stand Severus in seinem Wohnzimmer. Das Licht, das er bei seinem Fortgehen entzündet hatte, leuchtete noch immer, was ihn glauben ließ, Hermine würde noch schlafen. Erst der Hund, der mit seiner kalten Schnauze an Severus’ Hand stupste, erinnerte ihn daran, dass er nicht mehr am Bett seines Vaters saß. Es war zehn nach fünf. Den Tieren gab er jetzt schon etwas zu fressen, damit diese Aufgabe in eineinhalb Stunden ausfallen würde, denn dann würde der Wecker klingeln. Die Apotheke hatte am 24. Dezember von neun bis zwölf geöffnet. Bis auf Daphne hatten die Angestellten Urlaub. Severus überlegte, ob er sich noch einmal hinlegen sollte. Zurück im Wohnzimmer zog er seinen Umhang aus. Er ertastete das Bild, welches er herausnahm und wieder vergrößerte. Zunächst fand es einen Platz auf dem Couchtisch. Severus sah es sich an, während er seine Schuhe auszog. Es fröstelte ihn. Nur ein Nachthemd unter dem Umhang zu tragen war unangenehm kalt gewesen. Der Entschluss, sich im Bett noch einmal aufzuwärmen, war gefasst.

Im Schlafzimmer verhielt er sich leise. Hermines Arm lag auf seiner Seite. Vorsichtig ergriff er ihr warmes Handgelenk, hob den Arm und legte sich unter ihn.

Eineinhalb Stunden später wachte Hermine auf, noch bevor der Wecker klingelte. Sie machte ihn aus und schwang sich gut gelaunt aus dem Bett. Zunächst folgte die Morgentoilette. Als sie wieder auf den Flur trat, bemerkte sie Licht im Wohnzimmer. Einen Augenblick lang befürchtete sie, ein Dieb würde sich hier aufhalten, doch es befand sich niemand in dem Zimmer, bis auf Harry, der seinen Sessel belegte und sie müde anblinzelte. Ihre nun wachen Augen bemerkten den einen Gegenstand auf dem Couchtisch, der dort nicht hingehörte. Sie nahm den Rahmen in die Hand und erkannte das Bild mit Tobias und Eileen, die ihr schlafendes Baby hielten. Sie lächelte, doch dann wurde ihr blitzartig klar, dass es nur einen Grund geben konnte, warum sich dieses Bild hier befand. Obwohl sie Tobias Snape nur einmal gegenübergetreten war, weinte sie für ihn. Und auch für Severus, der bei ihm gewesen sein musste.

Hermine wusste nicht, wie lange Severus heute Nacht unterwegs gewesen war. Vorsorglich verzauberte sie die Vorhänge im Schlafzimmer, so dass sie nur ein Dämmerlicht wie am frühen Morgen erzeugten. Sie ließ Severus schlafen. Als Daphne ankam und die Apotheke geöffnet wurde, half Hermine im Verkaufsraum. Frisch gebraut wurde heute nichts, das Labor blieb kalt.

Die beiden Frauen bedienten die Kunden, die vorsichtshalber etwas gegen Gallenkoliken besorgten, weil sie das gute Essen an Weihnachten kannten. Andere wollten Tränke gegen Erkältungen oder gegen Migräne und einige kauften vorsorglich etwas gegen übermäßigen Alkoholgenuss. Nach Feierabend überraschte Daphne ihre Chefin mit einem Geschenk für Severus und sie. Hermine hatte so etwas geahnt und konnte ihr, die bereits mehr Freundin als Angestellte war, ebenfalls eine Freude bereiten.

Auf ein Mittagessen verzichtete Hermine, da sie beide in zwei Stunden bei ihren Eltern eingeladen waren. Langsam schlich sie sich ins Schlafzimmer. Möglicherweise war ihm heute nicht danach, das Haus zu verlassen. Sie trat näher heran und bemerkte, dass seine Augen bei dem Dämmerlich glitzerten.

„Du bist wach.“ Ohne weitere Worte zu verlieren zog sie ihre Schuhe aus und legte sich neben ihn. Wenn er reden wollte, sollte er den Anfang machen. Hermine bot ihm seine Schulter an, auf die er seine Wange ablegte. Als er ihren steten Herzschlag spürte, schloss er die Augen. Er fühlte eine Hand an seinem Kopf, die abwechselnd streichelte und mit Strähnen spielte.
„Er ist gestorben“, offenbarte er mit leiser Stimme. Die Hand an seinem Kopf stoppte nur kurz ihre Bewegungen. Ihre andere Hand legte sich auf seine, die auf ihrem Bauch ruhte. „Ich war die ganze Zeit bei ihm.“ Die zugeschnürte Kehle hinderte ihn daran, Details zu nennen.
„Ich habe das Bild im Wohnzimmer gesehen.“

Mehr sagte Hermine nicht. Sie drängte nicht, weil sie sich bald bei ihren Eltern einfinden sollten. Sie erzählte nicht einmal von dem Geschenk von Daphne und auch nicht von dem zufriedenen Kunden, der eine Flasche Wein dagelassen hatte. Sie behielt es für sich, dass die Zwillinge vorhin hier waren und frohe Weihnachten wünschten, obwohl man sich morgen bei den Weasleys sehen würde.

Nach einiger Zeit seufzte er und räkelte sich. „Wann müssen wir bei deinen Eltern sein?“ Severus klang verschlafen, obwohl er nicht mehr müde war.
„Möchtest du wirklich …?“
„Natürlich!“
Widerspruch wollte sie nicht leisten. „Gegen zwei Uhr.“
„Dann sollten wir uns langsam fertig machen. Wie spät ist es?“
„Wir haben noch Zeit“, beruhigte sie ihn, doch Severus war nicht mehr danach, im Bett zu liegen und sich dem Nichtstun hinzuwenden.
„Lass uns aufstehen.“

Es blieb kaum Zeit, unter vier Augen das zu besprechen, was Severus heute Nacht erlebt hatte. In einem ruhigen Moment erklärte Hermine ihren Eltern, dass Severus’ Vater gestorben war. Beide beachteten Hermines Wunsch, das Thema nicht zur Sprache zu bringen und ihm nicht zu kondolieren. Jane war dennoch liebeswürdiger denn je und bescherte Severus ein so behagliches Weihnachten, wie er es höchstens damals zusammen mit seiner Mutter erlebt hatte. Unter anderem sorgte Hermines Onkel Eddie dafür, dass man dieses Weihnachtsfest als einmalig bezeichnen konnte, als er beispielsweise damit angab, seinen Namen in den Schnee pinkeln zu können – mit verbundenen Augen – und zu alledem auch noch jedem, der das nicht für möglich halten sollte, androhte, es auf der Stelle zu beweisen. Mit einem milden Lächeln entschuldigte sich Hermine bei ihrem Verlobten für die Unart ihres Onkels, vor der sie ihn mehrmals gewarnt hatte. Severus winkte gelassen ab und gab Brief und Siegel, dass sein Vater früher solche Kunststückchen ebenfalls meisterhaft beherrscht hatte.

So wie der Prozess des Sterbens für jeden Menschen anders verlief, so ging der des Lebens ebenfalls immer unterschiedlich vonstatten. Die Familie Weasley war ein Synonym für die Freude am Leben. Der erste Weihnachtsfeiertag fand im neu errichteten Fuchsbau statt. Für Severus war ein Tag noch nie so schnell vergangen wie dieser. Er bedauerte sogar die vorangeschrittene Uhrzeit, weil er gern länger mit Charlie über Dracheneier gesprochen hätte, gern noch von Arthur mehr über die Ministeriumsangelegenheiten erfahren wollte und er es heimlich genoss, von Nicholas so viel Aufmerksamkeit zu erhalten, dass sogar Molly neidisch wurde. Severus hatte keine Ahnung, warum er in den Augen des Jungen so anziehend war, aber solange sich das Kind benahm, konnte Severus nichts dagegen haben, ihn auf den Schoß zu nehmen, wann immer die kleinen Arme sich ihm entgegenstreckten.

Ähnlich verlief der zweite Weihnachtsfeiertag bei Harry und Ginny. Es kamen die gleichen Gäste wie gestern. So konnte Severus all die begonnenen Gesprächsthemen fortführen.

„Ach ja“, begann Harry und richtete das Wort an alle. „Für diejenigen, die es noch nicht wissen …“ Hermine glaubte, sie würden Ginnys Schwangerschaft bekanntgeben, doch sie irrte sich. „Wir haben einen Geist, also erschreckt nicht, wenn ihr einen neunjährigen Jungen seht. Er heißt Billy und ist sehr freundlich.“ Ein kurzes Raunen ging durch das gut besuchte Wohnzimmer. Remus und Tonks waren ebenfalls hier sowie die beiden Blacks. Severus ertrug die Anwesenheit von Sirius. Die beiden wurden nicht gezwungen, sich miteinander zu unterhalten. „Und noch etwas!“ Alle horchten auf.
Diesmal trat Ginny an Harry heran und verkündete: „Ich bin schwanger!“

Die Anwesenden reagierten völlig verschieden. Molly brach in Tränen aus und küsste abwechselnd Tochter und Schwiegersohn, bevor sie sich in Arthurs Arme warf, um in Ruhe vor Freude weinen zu können. Remus und Sirius warfen sich gegenseitig einen Blick zu, verengten dabei die Augenlider und führten für einen kurzen Moment ihren kleinen Wettkampf auf nonverbaler Ebene aus, bevor sie den beiden werdenden Eltern gratulierten. Die Weasley-Söhne schlossen bereits, dazu angeregt von Fred und George, Wetten darauf ab, ob es ein Junge oder Mädchen werden würde. Selbst Molly gab ein paar Galleonen in den Topf und sprach sich für eine Enkelin aus, während Arthur einen weiteren Sohn vorhersagte, denn er kannte die Gene seiner Familie bestens.

„Hat mal jemand einen Spiegel zur Hand?“, fragte Harry plötzlich, rieb sich dabei ein Auge.
Während die anwesenden Damen zu ihren Taschen griffen und darin herumzuwühlen begannen, erinnerte sich Severus, dass er vor Kurzem erst Hermine die Puderdose abgenommen hatte. Ja, er fühlte sie, sie war noch in seiner Tasche. Severus war der Erste, der für Harry einen Spiegel griffbereit hatte. „Hier!“
Harry nahm den Gegenstand entgegen und runzelte die Stirn. Mit einem klackenden Geräusch war die Dose geöffnet. Er schnalzte mit der Zunge und schüttelte langsam den Kopf. „Eine Puderdose? Das hätte ich von dir ja nicht erwartet“, scherzte Harry.
„Ich bin ein Mann voller Geheimnisse“, hielt Severus mit ernster Stimme dagegen und brachte die Runde damit zum Lachen. Die störende Wimper hatte Harry schnell entfernt, doch es war Hermine, die ihm ihre Puderdose abnahm und in ihrer Tasche verstaute.

Noch vor dem Essen überreichte Harry Hermine ein kleines Geschenk, das in weihnachtliches Papier eingewickelt war. „Für dich und Severus. Öffne es erst Zuhause, ja?“ Hermine nickte und steckte den kleinen Gegenstand ein.

Severus war einer von denen, die sich nach dem kalorienhaltigen Weihnachtsbraten an der frischen Luft die Beine vertreten wollten, während die meisten Damen, Hermine eingeschlossen, Molly in der Küche halfen. Remus leistete ihm Gesellschaft. Beide schauten dabei zu, wie Sirius, Harry und Nicholas einen Schneemann bauten. Die unterste Kugel stand bereits.

„Ginny und Harry haben sich ein wunderbares Haus gekauft“, sagte Remus und betrachtete den hinteren Garten, obwohl man durch die Schneemassen kaum etwas erkennen konnte. „Könnte mir gefallen.“
„Du brauchst kein Haus, wenn du in Hogwarts Lehrer bist.“
„Ich weiß. Albus hat zugestimmt, dass Tonks bei mir leben darf. Ich frage mich wirklich, warum kaum ein Lehrer mit seinem Partner in Hogwarts lebt.“
„Aurora hat, soweit ich weiß, einen Partner, der selbstständig ist. Er besucht sie oft in der Schule, bevor sie gemeinsam ausgehen.“
Remus nickte. „Hat sie mir erzählt. Sie lässt übrigens schön grüßen und wünscht frohe Weihnachten.“
„Die Wünsche hast du gestern schon ausgesprochen.“
„Wirklich?“ Remus lachte. „Gestern war so viel los … Ich habe ein wenig den Überblick verloren. So ein ruhiger Moment wie jetzt hat gefehlt.“

Von wegen ruhig, dachte Fred, der Remus’ Worte aus kurzer Entfernung vernommen hatte. Er stieß seinen Zwillingsbruder mit dem Ellenbogen, ging gleich darauf in die Knie und sammelte Schnee. George hatte den Hinweis verstanden. Im Schutz eines Baumes visierten sie mit den fertigen Schneebällen ihre beiden Opfer an und warfen. Die Bälle trafen Severus und Remus zielsicher am unteren Rücken. Harry und Sirius, die das gesehen hatten, lachten.

„Was hältst du von einer Revanche?“, fragte Remus trocken. Severus blickte kurz hinter sich. Die Zwillinge kicherten, versteckten sich hinter dem Baum.
„Mit Magie oder auf altmodische Weise?“
Remus’ Mundwinkel zuckten, bevor er eine Antwort gab. „Wir vergelten auf die gleiche Weise – mit den Händen.“ Er nickte zu Harry und Sirius hinüber, die gerade zusammen die Schneekugel für den Mittelteil des Schneemanns anhoben. „Holen wir Verstärkung?“
„Nein, das schaffen wir allein. Wir bewaffnen uns mit zwei Schneekugeln“, schlug Severus vor, „und greifen gleichzeitig von beiden Seiten an.“

Beide schauten über ihre Schulter nach hinten und sahen gerade noch, wie zwei rote Köpfe hinter dem Baumstamm verschwanden. In Windeseile bückten sich beide, sammelten zwei Handvoll Schnee standen wieder auf. Gemächlich drückten sie den Schnee zu einer Kugel. Die Prozedur wiederholte sich, so dass sie beide in jeder Hand eine Kugel hielt.

Planung war ganz und gar Severus’ Gebiet. „Auf drei teilen wir uns, rennen um den Baum und werfen. Aber pass auf, dass du nicht mich triffst“, warnte Severus. „Ich wehre mich.“

Sirius und Harry schauten zu, wie Remus und Severus mit einem Male um den Baum rannten. Der Kampfschrei der Zwillinge lockte Besucher auf die verschneite Terrasse. Ginny, Ron und Arthur verfolgten das unterhaltsame Schauspiel. Remus warf und traf Fred, zur gleichen Zeit zerplatzte ein Schneeball an Georges Brust – von Severus geworfen. Beide Schneebälle der Zwillinge flogen ins Leere. Remus erwischte Fred erneut, diesmal am Allerwertesten, während Severus George mit zu viel Wucht seitlich am Kopf traf. Der junge Mann hielt sich eine Hand übers Ohr. Ein Zeichen für Severus, das Feuer einzustellen.

„Alles in Ordnung?“, fragte Severus den jungen Mann.
George nickte und legte den Kopf schräg, um sich den Schnee aus dem Ohr zu klopfen. Hinter ihm hörte man Fred plötzlich rufen: „Jetzt!“ George ließ sich wie eine Marionette, der man die Fäden durchtrennt hatte, zu Boden fallen. Den anfliegenden Schneeball sah Severus zu spät. Seine Schulter war getroffen. Freds feiger Angriff löste eine Schneeballschlacht aus, an der sich Arthur, Ginny, Ron und Tonks beteiligten.
„Bewerft mich endlich mal!“, schimpfte Ginny nach einer Weile.

Nach der Ankündigung, dass sie schwanger war, schien man sich kollektiv darüber geeinigt zu haben, sie als Ziel auszulassen. Ginny hielt sich nicht zurück und warf einen Schneeball nach dem anderen. Einer traf Severus am Bauch, doch der nahm als Gegenzug ihren Angetrauten unter Beschuss. Sirius eilte seinem Patenkind zu Hilfe.

„Na warte!“, drohte Sirius, sammelte im Schutz des fertigen Schneemannes etwas Material und drückte sich in Windeseile drei Schneebälle zusammen. Kaum tauchte er hinter dem Schneemann auf, geriet er in ein Dauerfeuer. Alle bewarfen ihn, selbst Tonks, die vor lauter Lachen kaum noch zielen konnte. Nicholas stapfte fröhlich kreischend im Schlachtgetümmel umher, streckte die Hände nach den fliegenden Bällen aus und wurde kein einziges Mal von einem getroffen. Nach einer kurzen Pause bei Onkel Ron, der ihn sachte weiterstupste, weil sein eigener Vater ihn gerade als Ziel auserkoren hatte, fand der Junge sich bei Severus ein. Wie schon gestern streckte er seine Arme aus, weil er hochgenommen werden wollte. Severus reichte seinen fertigen Schneeball an Remus und nahm das Kind auf den Arm. Als alle mit leeren Händen dastanden – sozusagen unbewaffnet waren – hob Sirius seinen Arm zum Wurf. Er erblickte das Kind auf Severus’ Arm. „Ein Kind als Schutzschild missbrauchen?“, scherzte er und schnalzte dabei geringschätzig mit der Zunge.

Mit kalten Händen, roten Gesichtern und teilweise blauen Lippen fand man sich wieder in der warmen Stube ein. Severus hätte nie gedacht, dass man mit Hilfe einer Schneeballschlacht Aggressionen abbauen konnte.

Am Ende des Abends zeigte sich sogar der Geist, von dem Harry gesprochen hatte. Es war ein schüchterner Junge, gebildet und freundlich. In vielerlei Hinsicht erinnerte er ein wenig an einen jungen Remus, nur dass Billy nicht ganz so kränklich aussah.

Nach der Weihnachtsfeier bei Harry und Ginny ließen sich Hermine und Severus gemütlich auf der Couch nieder. Sie erinnerte sich an das Geschenk von Harry, das noch immer nicht geöffnet war und zauberte es her.

„Harry sagte, wir sollen es Zuhause öffnen.“ Hermine drehte den verpackten Gegenstand in der Hand, konnte sich aber nicht vorstellen, um was es sich handeln könnte. „Es ist für uns beide.“
„Dann mach es auf“, empfahl Severus.

Mit ihren Fingernägeln zog sie das Klebeband vom Papier. Das kleine Päckchen war sehr schnell geöffnet. Trotz der geringen Größe befand sich unter der Verpackung das Wertvollste, das Hermine je in den Händen gehalten hatte.

Die Abwechslung, die Severus an den Weihnachtsfeiertagen hatte, war am Montag sofort wieder verflogen. Es war ein normaler Arbeitstag, ein Montag. Severus bekam eine Eule von Professor Sacerdonus Cox, in welchem er um einen Rückruf per Flohnetzwerk bat. Severus entschuldigte sich und verließ das Labor, in dem nur Hermine und Ignatius arbeiteten, denn die anderen hatten Urlaub genommen.

„Professor Cox, Sie möchten mit mir sprechen?“
„Guten Tag, Mr. Snape. Wie Sie sich denken können …“
„Es geht um die Sachen meines Vaters, um die Beerdigung und das Testament.“
„Ganz recht. Aber keine Sorge, es kommt keine Arbeit auf Sie zu. Die Dinge, die Ihr Vater hier im Heim hatte, werden Ihnen zugesandt. Um die Beerdigung hat er sich im Vorfeld selbst gekümmert.“ Severus stutze, hörte dem Professor jedoch weiterhin zu. „Sie kennen den Dearborn-Friedhof?“
„Dort ist meine Mutter beerdigt.“
„Ihr Vater hat vor vielen Jahren das Grab daneben für sich gesichert.“
„Das heißt, er wünschte sich eine Feuerbestattung?“
Sacerdonus nickte und verschwieg die Prozedur, die notwendig war, bevor man eine Leiche für die Beerdigung freigegeben wurde. „Die Urne, die Ihr Vater gewählt hat, ist für die Bestattung bereit.“ Tobias Snape war schon eingeäschert. „Nehmen Sie an der Bestattung teil?“
Ohne zu zögern sagte Severus: „Ja.“
„Wie bereits erwähnt, hat Ihr Vater alles organisiert. Der Bestatter kümmert sich darum, dass alles nach seinen Wünschen abläuft. Ein Termin steht ebenfalls fest. Wenn es Ihnen diesen Mittwoch um 12 Uhr recht ist?“
„Selbstverständlich.“
„Es gibt“, Sacerdonus zögerte, „zwei Patienten und eine Schwester, die Ihrem Vater gern die letzte Ehre erweisen möchten.“
„Ich werde niemanden verbieten zu erscheinen.“
„Gut, dann gebe ich diese Information an den Bestatter weiter. Ach, bevor ich es vergesse. Wegen des Testaments wird sich Mr. Pietavo bei Ihnen melden.“
Severus erinnerte sich an den Herrn, bei dem er seine Identität bestätigt hatte. „In Ordnung. Sonst noch etwas?“
„Nein, Mr. Snape, das war alles.“

Das Gespräch war beendet. Severus verschnaufte kurz, bevor er zurück ins Labor gehen würde. Schon übermorgen um 12 Uhr war der Termin für die Beerdigung angesetzt. Von Hermine wusste er, dass die Muggel ebenfalls zeitig dafür sorgten, dem Verstorbenen ein angemessenes Begräbnis zu geben. Verzögerungen gab es lediglich bei Fällen, in denen die Todesursache ein Rätsel war. Severus war danach, mit jemandem zu reden. Nicht mit Hermine. Sie hatte ihm bereits genügend zur Seite gestanden, wenn seine Trauer hervorbrach, besonders nachts. Sie war immer für ihn da und beteuerte, dass ihr die seelische Belastung nichts ausmachte. Was Severus jetzt aber benötigte war etwas, das er zu Weihnachten gehabt hatte: Abwechslung.

Als er zurück Im Labor war, sah er, dass wenig zu tun war. Ein Kessel bei Ignatius stand über einer Flamme. Auf den Inhalt warf der Angestellte immer wieder ein Auge, doch die meiste Zeit unterhielt er sich mit Hermine und Corvinus, dessen Gemälde im Labor angebracht war.

„Alles in Ordnung, Severus?“, fragte Hermine ihn. Sie gab sich Mühe, ihre Frage oberflächlich klingen zu lassen.
Severus nickte, bevor er zum Kessel schaute. „Mehr ist heute nicht zu tun?“ Weil Ignatius verneinte schaute er Hermine an und sagte: „Ich würde gern einen Freund besuchen, wenn du ein paar Stunden auf mich verzichten kannst.“ Das Privileg eines Arbeitgebers.
„Lucius?“, fragte sie nach. Wenigstens wollte sie wissen, wo er sich befand.
„Ja.“
Obwohl sie Lucius Malfoy nicht viel abgewinnen konnte, wusste sie Severus bei ihm in guten Händen. „Grüß alle schön von mir“, bat sie.
„Das werde ich.“

Im Wohnzimmer zog sich Severus seinen Winterumhang über, falls Lucius einen Spaziergang vorschlagen würde. Übers Flohnetz wollte er zunächst nachfragen, ob sein Freund überhaupt Zeit für ihn hatte, doch dazu kam er nicht. Severus wurde sofort eingeladen, kaum dass Lucius erkannt hatte, wer ihn anflohte.

Ein paar grüne Flammen später stieg Severus aus dem Kamin der Malfoys. Lucius klopfte ihm mit beiden Händen auf die Schultern.

„Willkommen, mein Freund. Seit du die Apotheke führst“, Hermine wurde gern übergangen, „sieht man dich kaum noch. Ich hätte dich wie früher gern über die Feiertage eingeladen, aber die waren von vorne bis hinten von meiner Frau verplant.“ Severus kam nicht einmal dazu, seinen Freund zu grüßen. „Rate mal, wen wir am Samstag hier bewirtet haben?“ Lucius half seinem Freund aus dem Umhang, wartete jedoch keine Antwort ab, sondern erzählte: „Die Carmichaels und die Pagnols! Beides sind überaus angesehen Familien in der magischen Gesellschaft.“
„Guten Tag, Lucius.“
Sein Freund stockte und sein Lächeln flackerte wie eine Kerze im Wind. „Verzeih mir bitte, Severus. Ich weiß nicht, wo meine Manieren geblieben sind. Du findest endlich die Zeit, mich nach Ewigkeiten zu besuchen, und dann musst du dir meine törichte Schwadronade anhören.“ Mit einem Blick entschuldigte sich Lucius, bevor er auf den Boden schaute und einen Namen rief. „Tatson?“
Zu Severus’ Erstaunen erschien ein jung wirkender, in einer Art Frack gekleideter Hauself, der sich vor beiden Männern verbeugte: „Sie haben Tatson gerufen?“
„Ja, das ist Mr. Snape. Er hat übrigens uneingeschränkten Zutritt zum Haus“, stellte Lucius zunächst klar. Dem Elf hielt er den Winterumhang entgegen. „Bitte hänge den in die Garderobe und bring uns eine Kleinigkeit.“ Lucius schaute Severus an und betrachtete dessen Gesicht, als er mutmaßte: „Einen Kaffee.“ In Severus’ Augen sah er, dass er richtig lag, weshalb sein Lächeln sich wieder festigte. „Und etwas Gebäck, bitte.“
„Tatson ist gleich zurück.“

Der Elf nahm den dicken Umhang entgegen, der ihn fast zu Boden riss, so schwer war der Stoff. Mit einem Fingerschnippen war der Umhang verschwunden und baumelte höchstwahrscheinlich gleich neben Lucius’ unzähligen, kostbaren Bekleidungsstücken.

„Ein Hauself?“, fragte Severus mit einem Schmunzeln.
Antworten konnte Lucius nicht, denn der Elf kam zurück und fragte: „Wo darf Tatson servieren, Sir?“
Lucius schaute abermals in das Gesicht seines Freundes, als wollte er dessen Wünsche dort erfahren. „Wie wäre es mit dem Spielzimmer, Severus? Nach dem Kaffee vielleicht eine kleine Runde Billard?“ Bevor Severus verneinen konnte, hatte Lucius ihm längst die Antwort aus den Augen abgelesen. „Nein, lieber hier, im grünen Salon“, entschied Lucius mit sicherer Stimme. Der Mann war ein Genie, dachte Severus, wenn er dank seiner Menschenkenntnis sogar aus einer kontrollierten Miene wie der seinen kleinste Änderungen zu deuten imstande war. „Ja, ich kann es noch immer“, beantwortete Lucius die nicht gestellte Frage mit einem selbstverliebten Lächeln. An den Elf gewandt sagte er, während er in eine Richtung zeigte: „Das gemütliche Plätzchen dort hinten.“

Auf den beiden Sesseln, die durch einen kleinen Tisch getrennt waren, saßen sie schon während Lucius’ Geburtstag. Dort hatten sie, wie Severus sich erinnerte, früher immer zusammen gesessen. Diese beiden Sessel strahlten für alle anderen die Botschaft aus, sich nicht dazuzugesellen. Auf diese Weise hatten sie während Feierlichkeiten jeder Art immer eine gemeinsame Verschnaufpause verbracht.

„Sag, wie geht es dir?“ Lucius bat ihn mit einer Geste seiner Hand, ihm zu folgen, da öffnete sich unerwartet die Tür. Man hörte ein kindlichen Juchzen und die Stimme einer älteren Dame. „Ah, das ist schön, dass du hier bist, Mutter. Ein Freund besucht mich, gerade. Darf ich vorstellen, Severus, das ist meine Mutter. Mutter, von meinem Freund Severus Snape habe ich dir bereits erzählt.“
„Oh ja“, sagte die Dame begeistert. Nur langsam kam sie Schritt für Schritt näher. Es war ersichtlich, dass sie schwer oder gar nicht sehen konnte. Vor den beiden blieb sie stehen und hob ihren rechten Arm etwas an. Der Handrücken deutete nach oben. Als Severus zu Lucius blickte, spitzte der die Lippen wie zu einem Kuss und nickte zu der Hand. Severus tat ihm den Gefallen und kehrte seine beste Seite heraus.
„Enchanté, Madame!“ Selbst den Handkuss, ohne die Haut tatsächlich zu berühren, vollführte Severus ganz zur Zufriedenheit seines Freundes.
„Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite, Mr. Snape. Mein Sohn erzählte mir, Sie sind der Patenonkel meines Enkels?“
„Das ist korrekt, Mrs. Malfoy.“

Mrs. Malfoy tastete sich nach vorn, bis sie Severus an beiden Oberarmen berührte. Sie drehte ihn ein wenig. Fragend blickte er zu Lucius, doch der war ratlos.

„Sie sind sehr groß, nicht wahr?“
„Ja, Madame.“ Severus stand mit dem Rücken zum Fenster und begriff, dass sie nun seine Umrisse gegen das Licht wahrnehmen konnte.
Der kleine Junge an ihrer Seite quengelte. Gespräche von Erwachsenen fand er salopp ausgedrückt doof, das glaubte man zumindest aus seinem Nörgeln herauszuhören. „Ich möchte Sie nicht weiter stören. Lucius erzählte mir, dass Sie wegen der Apotheke viel zu tun haben und nur noch selten Zeit finden. Und wie es aussieht, möchte mein Urenkel mich woanders hin entführen.“
Lucius ging in die Knie, und sofort war Charles bei ihm und grinste ihn an. „Kannst du schon grüßen, mein Junge? Kannst du Onkel Severus einen guten Tag wün…“
„Lucius, bitte! Du musst dem Jungen nicht beibringen, mich Onkel zu nennen.“
„Du wirst staunen, was er schon alles sagen kann. Er spricht nicht oft, aber wenn, dann kommt beinahe immer etwas Anständiges dabei heraus, nicht wahr?“ Er wuschelte Charles über die rotblonden Haare, bevor er sich wieder erhob. „Dann habt viel Spaß, ihr zwei“, wünschte er seiner Mutter und dem Enkel.

Als sie wieder allein waren, nahmen sie Platz. Kaffee war genau das Richtige für Severus. Der Duft erinnerte ihn diesmal jedoch an die Nacht mit seinem Vater.

„Was ist es, worüber du reden möchtest?“ Lucius hatte nicht geraten. Er hatte wie aus einem aufgeschlagenen Buch aus dem Gesicht gelesen, dass dem Freund etwas auf der Seele brannte.
„Ich habe meinen Vater besucht.“
„Ah!“ Lucius klang erfreut. „Hast du dir meinen Rat doch zu Herzen genommen?“ Während der Hochzeit von Tonks und Remus war es zu einem kurzen Gespräch zu dem Thema gekommen.
„Nicht ganz. Das erste Mal hat mich das Heim wegen einer rechtlichen Angelegenheit gebeten zu kommen. Das zweite Mal …“

Es war ungewöhnlich für Severus, mitten im Satz innezuhalten, denn er selbst konnte es nicht ausstehen, mit unvollendeten Sätzen konfrontiert zu werden. Um einen Fauxpas zu vermeiden, fragte Lucius nicht nach dem Wohlbefinden des Vaters, sondern nach dem seines Freundes.

„Geht es dir gut?“
Severus nickte, blickte Lucius dabei nicht an. „Er ist verstorben. Die Beerdigung ist übermorgen.“
„Ach, Severus …“ Hätte er das gewusst, hätte er Severus anfangs nicht mit Nichtigkeiten gelangweilt. Lucius beugte sich über den Tisch und legte eine Hand auf die Schulter seines Freundes. „Es tut mir leid, das zu hören. Kam es plötzlich?“
„Beim ersten Besuch sagte man mir, er würde nicht mehr lange leben. Ich war am Freitag bei ihm, als er …“
Wieder verstummte Severus. Lucius nahm seine Hand von der Schulter seines Freundes, drückte noch einmal den Unterarm, der auf der Lehne des Sessels ruhte und sagte danach: „Am Heiligabend.. Ich hoffe, er musste nicht leiden.“

Das würde bedeuten, dass auch Severus gelitten hatte. So war es Lucius damals ergangen, als sein Vater starb. Abraxas war zum Ende hin verwirrt, war durch die Blindheit verängstigt und hatte auch niemanden mehr an der Stimme erkannt. Lucius war bei ihm geblieben, bis sein Vater seine letzte Reise antrat. Damals hatte er bei Severus ein offenes Ohr gefunden, um Narzissa und schon gar nicht den kleinen Draco damit zu belasten. Jetzt wollte er das Gleiche für seinen Freund tun.

„Er hatte keine Schmerzen“, sagte Severus.
„Das zu wissen ist ein Trost, Severus. Ich weiß, dass ihr beide nur schwer zurechtgekommen seid, aber am Ende wenigstens etwas zueinander zu finden und ihm eine solche Ehre zu erweisen ist in meinen Augen nachahmenswert.“ Selbst Lucius konnte Stolz für jemand zeigen, der nicht den Namen Malfoy trug.

Da Lucius nun von dem Ableben des Vaters erfahren hatte, begriff er auch den Grund für den Besuch. Severus benötigte Abwechslung und die wollte er ihm bieten. Zunächst unterhielt man sich über Merlin und die Welt. Als Lucius dazu aufgefordert wurde, die Geschichte seiner Mutter preiszugeben, begann der gern von seinen Erlebnissen zu schildern, ließ dabei allerdings kein gutes Haar an dem Pförtner des Panagiotis-Genesungsheims. Am Ende kam Lucius doch noch dazu, über die Carmichaels und die Pagnols zu sprechen.

„Kannst du dir vorstellen, dass mein Vater es gewagt hat, so einflussreiche Familien vor den Kopf zu stoßen? Er hat ihnen glatt jegliche Auskunft verweigert. Unglaublich! Findest du nicht auch?“ Eine Antwort erwartete Lucius nicht. „Auf jeden Fall war zu Weihnachten hier die Hölle los. Meine Mutter war der Ansicht, und ich stimmte ihr zu, dass dieses Fest der richtige Moment war, um alte Freundschaften wieder aufblühen zu lassen. Hier und da habe ich durch die Blume erwähnt, dass Draco und ich in geschäftlichen Belangen gern unter die Arme greifen könnten.“
„Draco und du?“
„Ja! Sagte ich das nicht einmal? Wir beide arbeiten zusammen.“ Lucius’ Lächeln legte die weißen Zähne frei. „Er hat mich angesprochen und ich habe zugesagt. Mein Schreibtisch kommt im nächsten Jahr.“
„Ich gratuliere, Lucius. Und wie läuft es mit der Schwiegertochter?“
„Den Rat meines Sohnes habe ich befolgt. Ich bin nett zu ihr, also ist sie nett zu mir. Es gibt keine Probleme. Mit dem Auftauchen meiner Mutter hat sich die Familienbande sogar gefestigt, würde ich wagen zu behaupten. Wie hast du die Feiertage verbracht?“
Severus würde kein Wort über eine Schneeballschlacht verlieren. „Sehr angenehm, muss ich gestehen. Hermines Onkel ist allerdings ein Prachtexemplar. Den zu beobachten könnte dir Freude bereiten.“
„Wieso? Ist er ein Halunke wie Rosier?“
„Nein, eher von der unbeherrschten Sorte wie Wilkes. Nach ein paar Gläsern genauso enthemmt.“
Lucius’ Augen weiteren sich, bevor er fragte: „Er wird doch wohl nicht in die Bowle uriniert haben?“
„Hat er nicht. Dafür wollte er den verschneiten Vorgarten signieren, wenn du verstehst, was ich damit meinte.“
„Ist das wahr?“ Amüsiert schüttelte Lucius den Kopf. „Das hätte Wilkes auch zustande gebracht. Kann mich noch gut daran erinnern, was uns seine Ausfälle an Hauspunkten gekostet haben.“

Eine Weile lang erinnerte man sich an die lustigen Vorkommnisse aus der Schulzeit. In jungen Jahren waren nicht alle späteren Todessern Furcht einflößend gewesen. Wie jeder Schüler waren auch sie manchmal unsicher, wenn es beispielsweise darum ging, ein Mädchen anzusprechen. Auch sie waren vom Besen gefallen oder vom Lehrer beim Abschreiben erwischt worden, machten alberne Scherze und bekamen Strafarbeiten aufgebrummt. Als Severus nebenher auf die Uhr schaute, wusste Lucius, dass die gemeinsamen Stunden bald vorbei waren.

„Ich muss mich langsam auf den Rückweg machen, Lucius. Danke vielmals, dass ich kommen durfte.“
„Der Kamin steht für dich immer offen, das weißt du." Beide standen auf. „Tatson?“ Der Elf erschien und fragte höflich nach dem Begehr. „Bitte bringe den Umhang von Mr. Snape.“

Mit einem Fingerschnippen erschien der warme Winterumhang. Lucius nahm ihn ab und half seinem Freund hinein. Der Elf kümmerte sich ohne Aufforderung um das nicht mehr benötigte Kaffeeservice und verschwand damit in die Küche. Einen Moment lang hielt Lucius seinen Freund mit beiden Händen an den Schultern.

„Es hat mich sehr gefreut, dass du hier warst, Severus. Vielleicht können wir das bald wiederholen? Meine Mutter würde sich gern einmal mit dir unterhalten. Sie sagte, sie hätte viel über dich gelesen. Ich glaube eher, sie möchte sich indirekt dafür bedanken, der Familie in einer der schlimmsten Zeiten ein guter Freund gewesen zu sein.“
Severus erlaubte sich ein halbseitiges Lächeln. „Ist Hermine ebenfalls willkommen?“
„Sicher!“ Mittlerweile konnte er höflich zu Menschen sein, auch wenn er innerlich manchmal noch mit sich kämpfen musste. Vielleicht würde das nie vergehen, aber es war auch nicht notwendig.

Severus strich seinen Umhang glatt und fühlte mit der flachen Hand eine Beule in seiner Tasche. Ein Schatz, für den er keine Verwendung hatte, verbarg sich noch immer hinter dunklem Stoff. Mit einer Hand holte er die Phiole heraus und betrachtete sie nachdenklich. Sein Freund war irritiert, wollte gerade dazu ansetzen und eine Frage stellen, da hielt Severus ihm die Phiole mit der durchsichtigen Flüssigkeit entgegen. Zögerlich nahm Lucius sie in die Hand.

„Was ist das?“, fragte Lucius verwundert. Die Atmosphäre im Raum hatte sich mit einem Male verändert. Lucius spürte die Bedeutsamkeit, die dieses kleine Gefäß aus Glas mit ihrem unscheinbaren Inhalt ausstrahlte.
„Das ist ein Freundschaftsdienst, Lucius. Mein Vater hat es zurückgewiesen.“ Weitere Erklärungen blieb Severus ihm schuldig, aber Lucius glaubte zu verstehen.
„Für meine Mutter?“ Ein Nicken bestätigte seine Annahme.
Von Harry lieh sich Severus ein paar Worte, die der während seiner Hochzeit an die Gäste gerichtet hatte, denn er zitierte: „Gegen die verlorenen Jahre.“

Was das am Ende zu bedeuten hatte, würden alle Malfoys am Tag nach der Einnahme erfahren. Lucius bedankte sich überschwänglich bei seinem Freund, selbst wenn er noch nicht wusste, wofür eigentlich. Er traute Severus bedingungslos und beteuerte, seiner Mutter damit zu Silvester eine Überraschung zu bescheren. Severus hingegen war froh, die Phiole nicht mehr in seinem Besitz zu wissen, denn mit ihr war eine Last verbunden, die er nicht zu tragen bereit war.

Am Mittwoch war es so weit, endgültig Abschied von seinem Vater zu nehmen. Hermine und er fanden sich beide überpünktlich auf dem Dearborn-Friedhof ein. Vorn beim Pförtner erfuhr man, dass der Bestatter, der sich um alles kümmerte, bereits anwesend war. Beide gingen langsam los. Severus wusste, auch wenn er selten hier gewesen war, den Weg zum Grab seiner Mutter auswendig.

„Ist dir nicht kalt?“, fragte er Hermine plötzlich. Sie hatte sich für einen schwarzen Rock entschieden, der züchtig bis über die Knie ging.
„Wärmezauber auf den Strumpfhosen.“
„Ah!“

In der Ferne sah man einen Pfarrer, der mit einem anderen Herrn sprach. Es war ein mehr als ungewöhnlicher Anblick. Dieser Friedhof war vor Muggeln verborgen. Als sie von den beiden bemerkt wurden, kamen die Herren näher.

„Mr. Snape?“, fragte der junge Herr mit dem schwarzen Anzug.
„Ja, der bin ich.“
„McCanlies ist mein Name.“ Er reichte erst Hermine die Hand, dann Severus. „Ihr Vater hat mich damals persönlich mit seiner Bestattung beauftragt. Ich möchte Ihnen beiden mein aufrichtiges Beileid aussprechen.“
„Das ist sehr freundlich von Ihnen“, erwiderte Hermine, denn Severus äußerte sich nicht.
„Das ist Pfarrer Hawley“, stellte McCanlies vor.
Der Pfarrer begrüßte beide ebenfalls in der gleichen Reihenfolge und richtete danach das Wort an den Sohn des Hinterbliebenen. „Ich habe mit Ihrem Vater sehr häufig gesprochen, Mr. Snape. Er hat, als er noch gut zu Fuß war, meinen Gottesdienst im Dii Penates besucht.“
„Ich wusste nicht, dass ein Zauberer das Amt eines Pfarrers bekleiden kann.“
Hawley, der in etwa Severus’ Alter haben musste, lächelte freundlich. „Ich weiß, was Sie meinen. Meine Eltern sind beide magisch, aber mir blieb diese Gabe verwehrt.“ Ein Squib also, wusste Severus nun. „In der Muggelwelt habe ich ein katholisches Internat besucht. Für unsereins gibt es hier keine Schulen, wie Sie sicherlich wissen.“ Severus verstand die Situation. „Und hier bin ich“, sagte Hawley mit einem Augenzwinkern. „Ihr Vater wollte, dass ich ein paar Worte sage, wenn es soweit ist. Ich respektiere seinen Wunsch.“

Pfarrer Hawley erwartete von Severus, dass der diesen Wunsch ebenfalls respektierte, was er natürlich tat. Man unterhielt sich einen Augenblick. Beide Herren waren äußerst freundlich, was sie in so einer Situation und mit solchen Berufen – oder Berufungen – auch sein sollten. Eine Viertelstunde vor dem Termin, der für die Bestattung angesetzt war, erschienen vier weitere Personen. Es war die Schwester aus dem Dii Penates. Severus nahm sich fest vor, sie nach der Beerdigung nach dem Namen zu fragen. Ein älterer Herr lief neben ihr. Daneben erkannte Severus Sacerdonus Cox, bei dem sich eine ältere Dame untergehakt hatte. Allesamt trugen schwarz. Diese Tradition war bei Muggeln sowie bei Zauberern die gleiche. Den weiteren vier Kondolenzbekundungen hielt Severus stand. Jeder der Trauergäste sagte ein paar nette Worte über Tobias Snape, der nicht durchweg ein grantiger, mit sich selbst unzufriedener Mann gewesen war. Man sah in ihm nicht nur einen Patienten, sondern auch einen Freund, mit dem man im Gemeinschaftsraum oft Karten oder Mühle gespielt hatte, und wie es sich später herausstelle, war Tobias Snape für die ältere Dame eine nun verloschene Flamme.

Einen Gottesdienst hatte sein Vater nicht gewollt, nur eine freundliche Rede von Hawley, bevor die Urne herabgelassen wurde. Die Worte des Pfarrers waren weise gewählt. Sie berührten eine Stelle tief in Severus, die nur Hermines stärkende Hand zusammenhalte konnte. Während der Rede, die stellenweise fröhlich gehalten war, wie der Verblichene es gewünscht hatte, bemerkte Severus den Grabstein. Es war der Gleiche wie früher, nur dass sein Vater eine Erweiterung der Inschrift in Auftrag gegeben hatte. Eileen und Tobias waren vereint, als der Spaten damit begann, das Loch mit Erde zu füllen.

Am Ende, als man sich verabschiedete, fragte Severus die junge Schwester nach dem Namen. Joycelin Hammond. Verspätet bedankte er sich für ihre Unterstützung und die Begleitung nachhause. Die kleine Gruppe löste sich schnell auf, nicht nur in Tränen. Bisher war Severus standhaft geblieben, denn er hatte sich vorgenommen, nicht zu weinen. Die offene Trauer der anderen machte es ihm nicht gerade leicht.

Zusammen mit Hermine verließ er den Friedhof, der in der Nähe seines alten Zuhauses lag. Sie wechselten kein einziges Wort miteinander, sondern liefen Hand in Hand durch die verschneiten Straßen. Kaum ein Muggel schenkte ihnen Beachtung. Hermine spürte plötzlich ein Ziehen an der Hand, als Severus einen Weg wies. Er führte sie vorbei an Geschäften, über Straßen und hinein in einen Park.

„Es ist schön hier“, schwärmte sie. Man sah nur wenige Fußspuren im frischen Schnee. Die meisten Menschen wollten bei diesem kalten Wetter nicht länger draußen bleiben als nötig. Die Tannen trugen ein so blütenweißes Kleid, das eine Braut neidisch werden könnte. „Sieh mal, Eichhörnchen!“ Die Tierchen gruben gerade etwas Futter aus, das sie im Sommer wohlweislich als Vorrat angelegt hatten. Wieder spürte Hermine einen leichten Zug an der Hand. Sie folgte, wurde aber stutzig, als Severus ein Gebüsch neben einem riesigen Findling ansteuerte. „Wo willst du hin?“ Er ließ ihre Hand los und hob mit einem Arm Äste aus dem Weg, damit er hindurchgehen konnte. Irritiert folgte Hermine ihm. Er ging nicht sehr weit, nur um den Findling herum, so dass niemand die beiden vom Weg des Parks aus sehen konnte. Severus zog seinen Zauberstab und brachte an einer bestimmten Stelle den Schnee zum schmelzen. Eine durch Magie im Stein eingekratzte Schrift kam zum Vorschein. Hermine hockte sich hin, damit sie es lesen konnte.

Hier ruhen Kater und Katze.
S.S.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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Teil 4/4 von Kapitel 232

Hinter sich hörte sie ihn schluchzen. Fernab von neugierigen Blicken erlaubte sich Severus, seiner bislang erfolgreich unterdrückten Trauer über den Tod seines Vaters freien Lauf zu lassen, jetzt, wo alle, die Severus seine ganze Kindheit hindurch begleitet hatten, der Erde übergeben waren. Hermine umarmte ihn und teilte sein Leid.

Seinen Abschiedsschmerz überwand er. Nicht zuletzt mit Hermines Hilfe, denn sie war für ihn da, hatte ein offenes Ohr und überraschte ihn mit selbst erdachten Aphorismen, die das drückende Gewicht von seinem Herzen nahmen.

Am Tag nach der Beerdigung lagen sie abends zusammen auf der Couch. Hermine las das Buch von Lockhart zu Ende, während Severus seine Gedanken schweifen ließ. Der Kniesel, der mit hochgestrecktem Schwanz an der Couch vorbeilief, kitzelte mit selbigen Severus an der Nase.

„Ist es gut?“
Hermine drehte ihren Kopf, der auf seiner Brust lag. „Erstaunlich! Du solltest es wirklich lesen.“ Weil er das Gesicht verzog, erklärte sie ihm: „Danach hast du eine andere Meinung von ihm.“
„Vielleicht möchte ich keine andere Meinung von ihm haben.“
„Gibt ihm doch eine Chance. Er ist bei Weitem nicht mehr der arrogante Betrüger von damals. Es ist interessant zu lesen, wie er sein altes Ich zu deuten versucht und vor allem, wie er jetzt dabei empfindet.“
Völlig ohne Übergang wechselte er das Thema. „Hast du mitbekommen, was zwischen Remus und Black läuft?“
„Du meinst die blöde Wette mit dem Kinderkriegen?“
„Blöd?“, fragte er nach. „Ich meinte eigentlich, wir könnten da einsteigen.“
„Es ist doch egal, wer ein Mädchen und wer einen Jungen bekommt. Ich wette nicht auf sowas.“
„Ich stellte es mir eher so vor, dass man auch auf uns setzen könnte.“

Einen Moment lang blieb Hermine bewegungslos. Dann schloss sie das Buch und legte es zur Seite, um sich voll und ganz dem Thema zu widmen.

„Das ist kein Spiel, Severus.“
„Als ob ich das nicht wüsste.“
Sehr lange dachte sie nach, bevor sie wohl die einfachste Frage stellte, die es auf der Welt gab: „Warum?“
„Es gibt eine Menge Gründe“, erwiderte er ausweichend.
„Und welche wären das?“
Severus legte seinen Kopf auf der Armlehne ab und starrte nach oben. „Weil die Apotheke gut läuft“, war die erste Antwort. „Weil du eine gute Mutter wärst.“ In Severus’ Augen gab es in der Tat mehrere Gründe und er war gewillt, alle aufzuzählen. „Weil wir nächstes Jahr heiraten. Weil ich unsere Beziehung als gefestigt empfinde.“ Aus den Augenwinkeln heraus sah er, dass sie lächelte, weshalb er ihr in die Augen schaute. „Weil deine Eltern bei jeder Gelegenheit fragen, wann es endlich Enkel gibt.“
„Das tun sie nicht“, dementierte sie mit gleichbleibendem Lächeln auf den Lippen.
„Nicht mit Worten“, schäkerte Severus. „Außerdem bin ich Nicholas-geprüft.“
Hermine musste lachen. „Ja, das habe ich gesehen. Mehr als einmal.“ Bei den Weasleys und am Tag darauf bei Harry und Ginny war der Junge ganz fasziniert von ihm.
„Das wirst du morgen zu Silvester auch noch einmal bewundern können.“ Die Einladung von Harry hatten sie natürlich angenommen.
„Gibt es noch andere Gründe?“
Severus nickte. Seine Gesichtszüge wurden ernster, so dass ihr Lächeln langsam verblasste, doch bevor es vollständig aus ihrem Gesicht verschwand, gestand er leise: „Weil ich keine Angst mehr habe, etwas falsch zu machen.“

Das frischte ihr Lächeln blitzartig auf. Sie war überwältigt davon, dass Severus sich ihr gegenüber aus freien Stücken geöffnet hatte. Hermine nickte, atmete einmal tief durch.

„Aber nicht als Teil einer Wette“, sagte sie. „Ansonsten …“ Hermine nickte nochmals. Sie war für Veränderungen im Leben bereit.

Eine große Veränderung stand auch bei Harry und Ginny an. Die Nacht zu Silvester war ihre letzte Nacht in Hogwarts. Als Harry aufstand, hatte er nur noch die Kleidung vom Vortag, die er tragen konnte. Bis auf zwei Taschen, die noch gepackt werden mussten, das Bett, die Feuerschale von Fawkes, Hedwig samt Käfig und Nicholas’ Malsachen war alles bereits im neuen Zuhause untergebracht.

Zusammen mit dem Jungen frühstückten sie in der Großen Halle mit den wenigen Angestellten, die auch während der Feiertage in Hogwarts blieben. Albus, Filius, Hagrid, Pomona, Poppy, Minerva, Remus und Tonks. Nicholas rannte nach seinem Frühstück von einer Person zur anderen und beglückte jeden mit seinem unbekümmert kindlichen Lächeln. Albus schenkte ihm einen Kaubonbon. Die Stimmung war nicht gedrückt, obwohl man bei Hagrid nie wusste, ob er gleich anfangen würde zu weinen. Der Riese hatte ein entsprechend großes Herz, das solche Dinge wie das Abschiednehmen nur schwer verkraftete. Von Anfang an hatte Harry jedem, vor allem aber seinem großen Freund gegenüber beteuert, sie regelmäßig zu besuchen.

„Wann eröffnest du den Kinderladen?“, fragte Poppy neugierig.
„Am dritten Januar. Ich habe schon einige Anmeldungen bekommen.“
„Harry untertreibt“, warf Ginny ein. „Es sind keine Plätze mehr frei.“
„Ist das wahr?“, hakte diesmal Albus nach. Harry nickte. „Oh, wie wundervoll!“
Pomona war skeptisch. „Ich hoffe nicht, die Leute haben sich nur angemeldet, weil du eine bekannte Persönlichkeit bist.“
„Nein“, sagte Harry gelassen, „da bin ich mir sogar ganz sicher, dass das nicht so ist.“ Aufgrund der neugierigen Blicke rückte er sofort mit der Erklärung raus: „Die meisten Anmeldungen sind bei Draco eingetrudelt. Die Zeitung hat in der Annonce versehentlich seine Adresse abgedruckt, weil er der Auftraggeber für die Anzeige war. Es war die Idee, von der die Leute begeistert waren und nicht mein Name.“ Harry klang überaus zufrieden und war hörbar über den Fehler, der bei der Anzeigenannahme gemacht wurde, dankbar.
„Unser Harry!“, lobte Hagrid mit seiner tiefen Stimme. „Das wird schon alles werden. Was du anpackst, geht bestimmt nich’ daneben.“

Nach dem Frühstück verabschiedete sich Harry bei seinen ehemaligen Lehrern und Kollegen. Filius stellte sich extra auf einen Stuhl, um auf Augenhöhe zu sein, als er der kleinen Familie viel Glück wünschte. Hagrid hingegen ging in die Knie. Nicholas nutzte die Gelegenheit, hinter den riesigen Bart zu schauen, falls sich dort die Tür zu einem Wunderland verbarg. Minerva war die Einzige, die mit den Tränen zu kämpfen hatte. Hogwarts ohne Harry – Gryffindor ohne Harry – würde wieder ganz anders werden.

„Vor allem ruhiger“, antwortete Harry ihr und nahm sich die Freiheit heraus, die betagte Lehrerin zu umarmen.
Poppy rieb ihm den Rücken. „Ganz besonders wird es im Krankenflügel ruhiger werden“, scherzte sie und nahm ihn kurz in den Arm. Ginny wurde genauso innig verabschiedet. Poppy schaute hinunter zu dem Jungen und wuschelte sein Haar. „Und du, junger Mann, eiferst deinem Vater bitte nicht nach, was die Waghalsigkeit betrifft.“
„Wenn er in Gryffindor landen möchte“, gab Minerva zu bedenken, „ist Waghalsigkeit der erste Schritt.“ Auch sie tätschelte Nicholas. „In zehn Jahren erwarte ich dich in meinem Haus.“
Albus schritt an die beiden heran. „Ginny, Harry, wann geht es heute los?“
„In zwei, drei Stunden, Sir“, erwiderte Ginny. „Wir müssen nicht mehr viel packen.“
Mit einem Nicken nahm Albus die Information zur Kenntnis. „Ich werde nachher noch vorbeikommen, bevor ihr durch den Kamin tretet.“
„Machen Sie das, Sir“, stimmte Harry zu.

Während Ginny mit Nicholas schon vorging, unterhielt sich Harry noch ein wenig mit seinen Kollegen. Er bemerkte, dass die Aufbruchsstimmung immer mehr aufs Gemüt drückte, je länger er bei ihnen blieb. Es fiel ihm einerseits schwer zu gehen. Doch das Leben, das ihn erwartete, versprach interessant zu werden. Harry riss sich von der kleinen Truppe los, damit Ginny die restlichen Sachen nicht allein packen musste.

Im Wohnraum angelangt sah er, dass Ginny eine von den Taschen gerade aus dem Schlafzimmer heraustrug.

„Lass mich das nehmen. Du sollst im Moment nicht so schwer tragen“, sagte Harry und stürmte auf sie zu, um ihr die Tasche abzunehmen.
„Hätt‘ ich mal bloß nichts gesagt“, nörgelte sie zurück. Dass sie schwanger war, bedeutete nicht, dass sie keine fünf Kilo tragen durfte.

Sein Blick fiel auf Fawkes, der auf der Stange seiner Feuerschale saß und ihn aufmerksam anblickte. Es war ein intelligenter Blick. Der Phönix streckte seine Flügel und flog die kurze Strecke hinüber zum Fenster. Mit seinem Schnabel tippte er an das Glas.

„Fliegst du selbst?“, wollte er von dem Vogel wissen. Es war keine Einbildung. Der Phönix schüttelte zweimal den Kopf. Selbst Ginny hatte es gesehen, die mittlerweile bei Harry stand und seine Hand hielt. Harry schluckte kräftig, als er begriff. „Du bleibst hier.“ Der Vogel legte den Kopf schräg, als er das Zittern in Harrys Stimme vernahm. Nicht der Abschied rührte Harry, sondern die Entscheidung des Phönix, wieder zu Albus zurückzukehren. „Du gehörst hierher.“ Harry öffnete das Fenster. Fawkes flog nicht sofort davon. Die schwarzen Augen blickten Harry an. „Du bist immer willkommen, das weißt du.“ Wenn Albus’ Zeit eines Tages gekommen war, würde der scharlachrote Vogel zu ihm kommen, das wusste Harry, und er hoffte, dass dieser Tag weit in der Zukunft lag. „Auf Wiedersehen, Fawkes.“

Der Phönix stimmte ein wunderschönes Lied an, woraufhin Hedwig dem Gefährten einen Abschiedsgruß schuhute, bevor der sich in die Lüfte erhob und den höchsten Turm von Hogwarts anflog. Einen Moment lang schaute Harry ihm nach, bevor er Dobby rief und darum bat, die Feuerschale ins Büro des Direktors zu bringen.

Kurze Zeit später trat Albus ins Büro herein und hielt die Tür noch für Minerva auf, da klopfte es an seinem Fenster.

„Die Posteulen waren doch heute schon da“, wunderte er sich. Mit Hilfe seines Zauberstabes öffnete er das Fenster. Der Moment, in dem Fawkes mit seinem neu angestimmten Gesang in das Büro des Schulleiters flog und sich auf seiner Stange niederließ, war einer der magischsten Momente in Albus’ Leben, was sehr viel zu bedeuten hatte, wo er doch ringsherum von Magie umgeben war. „Mein Freund, mein guter Freund.“ Albus näherte sich dem Phönix, der wie eh und je, als wäre er niemals fort gewesen, auf seiner Stange saß und begann, sein Gefieder zu ordnen.

Minerva hörte nicht genau, was Albus dem Vogel zuflüsterte, doch es klang wie eine Entschuldigung, der ein Dank folgte.

Im Erdgeschoss wurde es langsam kühl, weshalb Harry nicht mehr länger in den Himmel schaute, sondern das Fenster schloss. Ginny hatte derweil die letzte Tasche gepackt. Sie wollte ihn nicht stören, als er gedankenversunken dem Phönix nachsah. Als sich Harry umdrehte, kam Nicholas angerannt. Der Junge lief um Harrys Beine, immer im Kreis.

„Was ist denn nun los?“, fragte er mit einem Lächeln auf den Lippen.
„Keine Ahnung“, erwiderte Ginny. „Vielleicht findet er das leichte Schwindelgefühl im Anschluss interessant? Er hat es in der letzten Zeit häufiger bei mir gemacht.“

Harry blickte sich im Wohnzimmer um. Selbst das Denkarium war schon im neuen Haus. Wobbel und Shibby hatten sich sehr gefreut, mit dem Umzug endlich mal wieder eine großartige Aufgabe zu haben, auch wenn die nur daraus bestand, die Möbel und andere Habseligkeiten von A nach B zu schnippen.

Nicholas stürmte plötzlich auf seine Malsachen zu, griff sich ein Bild, das er kürzlich mit Hilfe seines Vaters fertiggestellt hatte und rannte zur Tür. Ginny und Harry blickten sich fragend an. Wie sehr sich Nicholas auch streckte, er kam nicht an die Türklinge heran. Es war nicht zu übersehen, dass er unbedingt hinaus wollte.

„Wo willst du denn hin?“, wollte Harry wissen und näherte sich seinem Sohn. In den kleinen Händen hielt er das Bild von Hedwig, das sie gemeinsam mit ihren weißen Federn beklebt hatten.
„Mach doch die Tür auf und geh ihm nach“, riet Ginny.
„Ich wollte dir beim Packen helfen.“
„Es ist alles fertig, Harry. Das bisschen haben wir auch noch Zeit.“
„Okay, dann schau ich mal, wo er so dringend hin möchte.“

Die Tür war kaum geöffnet, da rannte der Junge auf den Flur hinaus. Die Gänge waren wie ausgestorben. Kein Schüler befand sich in Hogwarts.

„Wo soll es denn hingehen?“, fragte Harry, doch Nicholas lief einfach drauf los. Harry folgte ihm und genoss den kleinen Spaziergang durch Hogwarts, bevor sie abreisen würden. Ein neuer Lebensabschnitt würde heute beginnen. Als Harry an den sich bewegenden Gemälden vorbeikam, die ihn freundlich grüßten, wurde ihm ganz schwer ums Herz. Egal, wie viele schlimme Dinge er hier erleben musste: Hogwarts war und wird immer wie ein Zuhause für ihn sein.

Plötzlich hörte er ein klatschendes Geräusch wie von Händen, die auf Stein aufschlugen. Nicholas war hingefallen. In Windeseile war er bei ihm. Getan hatte der Kleine sich nichts, aber er hatte sich erschreckt und war kurz davor, in Tränen auszubrechen.

„Hallo, Harry!“ Es war Remus, der offensichtlich genauso einen Spaziergang unternahm wie Harry. Oder er hielt sich nur hier auf, um nachher, zusammen mit Albus, nochmals auf Wiedersehen zu sagen. „Na, Nicholas, wie geht es dir?“ Remus sah die aufkommenden Tränen in den Kinderaugen und kniete sich deshalb hin, um Nicholas abzulenken. „Bist du hingefallen?“ Der schwarze Haarschopf wurde getätschelt, die Wange gestreichelt und schon hatte Nicholas den Sturz vergessen. „Mit heute Abend geht alles klar?“, fragte Remus. „Sollen wir noch irgendetwas mitbringen?“
„Nein, für die Silvesterfeier haben wir alles. George und Fred haben angedroht, ihr bisher schönstes Feuerwerk zu präsentieren – und das lauteste, das sie je entworfen haben.“
Remus lächelte verträumt. „Wird es dir nicht schwerfallen, Hogwarts hinter dir zu lassen?“
Harry war nicht sehr glücklich darüber, dass Remus das unbedingt ansprechen musste. „Leicht fällt es mir bestimmt nicht. Hogwarts ist mir so vertraut ... Es ist, als wäre es von Anfang an mein Zuhause gewesen.“
„Ich weiß ganz genau, wie du dich fühlst, Harry. So ging es mir schon zweimal. Das erste Mal nach meinem Schulabschluss und das zweite Mal nach deinem dritten Schuljahr. Ich weiß nicht, ob ich es verkrafte, ein weiteres Mal Hogwarts hinter mir zu lassen. Hier habe ich mich immer verstanden gefühlt.“ Harry musste lächeln. „Wir sehen uns, Harry.“
„Bis spätestens heute Abend.“

Harry setzte seinen Weg fort, beziehungsweise übernahm das Nicholas, der vermeintlich ziellos durch die Gänge lief – das Bild fest in den Händen. Sie trafen im Eingangsbereich auf Sir Nicholas.

„Harry, mein Guter!“, grüßte der Hausgeist der Gryffindors. „Wie geht's, wie steht's?“ Er erblickte den Jungen. „Ah, und da ist auch mein kleiner Namensvetter. Guten Tag, Nicholas.“

Die kurze Unterhaltung mit Sir Nicholas genoss Harry, auch wenn sie ähnlich ablief wie die mit Remus, nur dass der Hausgeist heute nicht zur Feier kommen würde. Harry folgte wieder dem Jungen. Die kleinen Beine wurden immer flinker. Den Grund dafür erkannte Harry schnell. Albus. Bisher war Harry lässig hinter Nicholas gelaufen, doch jetzt musste selbst er einen Zahn zulegen.

„Harry, ich war eben auf den Weg zu dir.“ Albus nickte ihm zu und schaute dann hinunter zu Nicholas, weil der ihm das Bild entgegenhielt. Aus Neugierde nahm er es in die Hand und betrachtete es.
Harry erklärte: „Das ist Hedwig. Wir haben sogar ihre Federn benutzt und draufgeklebt.“
„Hedwig, sagst du?“ Albus rückte seine Halbmondbrille grade, kniff die Augen zusammen und betrachtete das Bild genauer. „Wenn ich mich nicht ganz täusche, lieber Harry, ist das nicht Hedwig, sondern ein Bildnis von mir.“

Albus drehte das Bild um, damit Harry es sich, obwohl er es kannte, noch einmal in Ruhe betrachten konnte. Mit etwas Abstand hatte er es sich noch nie angesehen. Ja, Albus schien Recht zu haben, dachte er. Die Federn stellten nicht Hedwigs Flügel dar, sondern Albus' Bart!

„Oh, dann möchte ich mich vielmals dafür entschuldigen, dass ich Ihrem Bart noch zwei Vogelfüße unten dran gemalt habe“, scherzte Harry.
Albus lachte. „Das ist doch nicht schlimm. Ich finde sogar, es passt ausgezeichnet zu meiner Person, denn einige Menschen behaupten durchaus, ich hätte einen Vogel. Und wo könnte der sich wohl besser verstecken als in einem Bart?“ Diesmal musste Harry lachen. Als Albus das Bild an den Künstler zurückgeben wollte, nahm Nicholas es nicht an. „Ist das etwa ein Geschenk für mich?“, fragte er den Jungen mit großväterlich warmer Stimme. Allein der freundliche Tonfall ließ Nicholas schüchtern lächeln.
Das Verhalten seines Sohnes deutete Harry richtig, als er sagte: „Ich glaube, Sie können es tatsächlich behalten.“

Albus setzte sich langsam in Bewegung und blickte hinter sich, um sicherzugehen, dass Harry und Nicholas ihm folgten. Währenddessen unterhielten sie sich noch etwas.

„Ich werde es in meinem Büro aufhängen, damit meine Augen auch mal etwas anderes sehen, als die langweiligen Gemälde schlafender Schuldirektoren“, sagte Albus mit einem Zwinkern. Sie bogen in den Gang, der zu Harrys Räumen führte. „Und ihr habt alles für eurer neues Zuhause? Falls ihr noch Schränke benötigen solltet … Es stehen in Hogwarts so viele schöne, antike Möbel herum, dass es seine Schande wäre, sie nicht jemandem zu übergeben, der sie auch benutzt.“

In der Nähe bei Harrys Tür sah man Remus, der gemütlich an der Steinwand lehnte und sich mit Minerva und Poppy unterhielt. Mit seinen Händen griff Nicholas plötzlich zu dem weißen Bart, der bis zu ihm hinunterreichte. Er zog daran, aber nicht fest. Albus sah das als Hinweis und ging in die Knie. Freundlich blickte er dem Kind in die Augen.

„Vielen Dank für das Bild, Nicholas. Wenn du alt genug bist und du hier zur Schule gehst, werde ich dich einmal zum Tee in mein Büro einladen. Dann zeige ich dir das Bild und erzähle dazu die Geschichte des heutigen Tages.“ Nicholas verstand absolut nichts, aber er mochte den alten Mann und traute sich, weil er jetzt endlich an den großen Mann herankam, ihn zu umarmen.
Die ganze Zeit über hatte Harry die beiden beobachtet. Es stellte sich ihm eine Frage, die er an Albus richten wollte. „Sir, darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?“
Albus stand wieder auf und legte eine Hand auf seine Schulter. „Aber sicher, Harry. Was liegt dir auf dem Herzen?“
„Warum haben Sie keine Kinder?“

Mit der anderen Hand strich sich Albus bedächtig über den weißen Bart, während er einmal den leeren Schulhof überblickte. Gleich darauf schaute er Harry an. Ein Sternenmeer funkelte in den blauen Augen des Direktors, bevor er sich zu ihm beugte und ihm die Antwort ins Ohr flüsterte.

„Ich habe Hunderte, Harry!“

Albus drückte einmal seine Schulter und ging langsam voran, gefolgt von Nicholas. Harry blickte ihm nach. Er beobachtete, wie der Direktor eine Hand auf Remus' Schulter legte und etwas zu ihm sagte, während er das Bild präsentierte und auf den Jungen deutete. Harry hörte nicht, was er sagte, aber Remus, Minerva und Poppy lachten allesamt ausgelassen.

Remus war eines, dachte Harry. Eines von Albus’ Kindern, genau wie Severus, wie Hermine und Ginny, wie Ron und dessen Brüder und Eltern, wie Sirius, Lucius, Draco, Susan, Tonks, Gregory, Blaise, Pansy und all die anderen. Albus hatte Hunderte von Kindern und Harry war stolz, eines von ihnen zu sein.



Ende





Liebe Leser,

das war, wie man unschwer erkennen kann, nun auch auf dieser Seite das letzte Kapitel. Bei Zauberhogwarts hatte ich etwa ein Jahr später angefangen, diese Geschichte zu veröffentlichen, daher gab es hier die Verzögerung.

Wer mich nicht aus den Augen verlieren möchte, kann mir gern folgen: http://www.facebook.com/people/Muggelch ... 1432483104

Ich wünsche allen ein frohes Fest einen guten Rutsch ins neue Jahr!
Euer Muggelchen
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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Tirion
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Re: Harry Potter und die Schatten der Vergangenheit - BEENDET

Beitrag von Tirion »

so dope

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