Harry Potter und die Schatten der Vergangenheit - BEENDET

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Muggelchen
EuleEule
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Beitrag von Muggelchen »

203 Die Ruhe vor dem Sturm




Wie gelähmt stand Narzissa in Zimmer 14 und blickte auf den mit einem weißen Laken bedeckten Körper, der kein einziges Lebenszeichen von sich gab. Sie konnte sich nicht rühren, war gefangen in einem Strudel aus Erinnerungen an schöne Zeiten, die mit einem Mal ein jähes Ende fanden. Nie wieder würde sie in den Armen ihres Mannes liegen, nie wieder seine gehauchten Liebesbekundungen hören, nachdem sie eins geworden waren. In dem Teil ihres Herzens, wo sonst er hauste, klaffte ein Loch, so groß, dass es sie beinahe mit verschlungen hätte.

Die Tür öffnete sich unerwartet und laut. Vom Flur drang Hektik ins Zimmer. Narzissa löste sich aus der Starre und blickte zu denen, die ihren Abschied störten. Zwei Pfleger und eine Schwester.

„Bringt die Leiche raus und ...“ Schwester Ellen bemerkte den Gast und hielt mit ihrer ruppigen Art inne. „Madam, war das ein Verwandter von Ihnen?“ Mit wenigen Schritten war Ellen bei Narzissa, die mit Tränen in den Augen dabei zusah, wie der Leichnam mit einem Zauberspruch auf eine Bahre gelegt wurde. „War das Ihr Vater?“
„Was?“ Narzissas Kopf fuhr herum. „Mein Vater?“
„Ich dachte nur ...“ Die Schwester bekam rote Ohren. „Dann Ihr Mann?“ Doch bevor Narzissa antworten konnte, erklärte Ellen ihr die Situation. „Wir müssen das Zimmer freimachen, Madam. Es tut mir wirklich leid, aber wir benötigen es für die anderen Patienten.“

Mit schimmernden Augen folgte Narzissa jedem Handgriff, jeder Zauberstabbewegung der Pfleger, die mit der schwebenden Bahre an ihr vorbeigingen. Der Gang war so eng, dass das weiße Tuch Narzissas Bauch streifte und schwarze Haare freigelegt wurden. Ohne nachzudenken riss Narzissa dem Toten das Laken vom Kopf. Zum Vorschein kam ein ungefähr 60jähriger Mann mit dunklen Haaren. Das schmerzverzerrte Gesicht, in der Leichenstarre wie ein morbides Kunstwerk festgehalten, erschreckte sie nicht.

„Das ist er nicht!“ Hoffnung auf ein Wiedersehen. „Das ist nicht mein Mann! Man sagte mir, er läge in diesem Zimmer.“ Die aufkommende Euphorie zauberte Freude in Narzissas Gesicht.
„Wie heißt Ihr Gatte?“
„Malfoy! Lucius Malfoy!“
„Ah“, Ellen nickte, „der war hier, wurde aber in ein anderes Zimmer verlegt. Ich zeig es Ihnen.“

Mit der Schwester voran war es leicht, sich einen Weg durch das Chaos im Flur zu schaffen. Narzissa blieb ihr auf den Fersen und wurde durch eine Tür hindurch in die benachbarte Station geführt.

„Hier“, Schwester Ellen war an einer Tür zum Halt gekommen, „Mr. Malfoy liegt nicht allein. Sie können gleich rein. Ich bin in ein paar Minuten zurück.“

Der Schwester blickte Narzissa einen Moment hinterher, bevor sie so mutig war, ihre Hand auf die Klinke zu legen und den Raum zu betreten. Der Gestank hier drinnen war trotz den weit geöffneten Fensters penetrant. Sofort bemerkte sie zwei Betten. In einem lag ein junger Mann, dessen Gesichtszüge ihr bekannt vorkamen, doch sie widmete sich sofort dem anderen Bett.

„Lucius“, hauchte sie erleichtert. Erwartungsvoll eilte sie zum Bett hinüber. Auffällig war der linke Arm, der mit einem Tuch bedeckt war, so dass sie diese Seite mied. Lucius hatte die Augen fest zusammengepresst. Ein Zeichen dafür, dass er wach war und unter Schmerzen litt. Ihre Hände fanden seine Schultern, seine Wangen. Sofort öffnete er die geschwollenen Augen.
„Zissa“, seine Stimme war kaum hörbar, „meine Zissa.“

Als hätte er das Tor zu einem himmlischen Garten geöffnet, verwandelte sein Blick sich in Sehnsucht. Die Wiedersehensfreude war groß. Lucius hatte befürchtet, nur mit der Erinnerung an sie sterben zu müssen, doch hier war sie, an seiner Seite, und plötzlich war der Tod so fern. Er zog die Nase hoch. Was geschehen war oder wie es passierte stellten Fragen dar, die im Moment vollkommen unwichtig waren. Von Bedeutung war einzig und allein, seine zweite Hälfte bei sich zu haben. Ihre Finger, die das Haar übers Ohr strichen, waren genauso gewichtig wie ihre Lippen, die die seinen grüßten. Wozu Worte verschwenden, wenn die Herzen sprachen? Die Augen waren es, über die ihre Seelen sich gegenseitig austauschten, den Schmerz und die Sorge schilderten und am Ende kein Geheimnis voreinander verbargen.

Seine gute Hand fand ihr Haar, ließ die Strähnen durch seine Finger gleiten. „Wie aus Licht gegossen“, flüsterte er charmant und fasziniert zugleich. Mit ihren Fingerspitzen fuhr sie eine Augenbraue nach, glitt über die hohen Wangenknochen. Als sie am spitzen Kinn angekommen war, pflanzte sie ein Kuss in das kleine Grübchen, aus dem Hoffnung wachsen sollte.

Hoffnung war mehr als nur ein Gefühl. Es war Leben.

„Was ist mit Draco?“ Lucius' Stimme war schwach, kaum hörbar, aber den Namen des gemeinsamen Kindes hatte Narzissa vernommen.
„Er ist in Hogwarts. Susan und Charles sind bei ihm.“
„Geht es ihm wie ...“
„Wie dir? Ich befürchte ja.“ Ihre Hand spendete Trost, als sie seine Wange hielt. „Weißt du, wer uns Bescheid gegeben hat?“ Ein willkommener Themenwechsel. Lucius schüttelte den Kopf. „Eine Schwester Marie war es gewesen. Von Hogwarts aus hat sie uns angefloht. Ob das wohl 'deine' Marie war?“
Auf dem geplagten Gesicht zauberte sich ein Lächeln. „Wahrscheinlich.“

Von Gegenüber hörten sie ein Wimmern. Seit ihrer Ankunft im Krankenzimmer schaute Narzissa sich erst jetzt den jungen Mann genauer an und erkannte ihn sogar.

Mit Staunen in der Stimme stellte sie auch für ihren Mann laut fest: „Das ist Gregory Goyle!“
„Mit ihm lag ich schon zusammen ...“ Er legte eine Pause ein, um Luft zu holen. „Als ich aus Askaban hierher verlegt wurde.“
„Was ist mit seiner Familie?“ Wie so oft stellte Narzissa die Familie über alles, auch die von anderen. Nichtigkeiten wie das dunkle Mal wurden in den Hintergrund geschoben.
„Soweit ich weiß“, vor Schmerz verzog er das Gesicht, „war sein Vater im Gefängnis. Seine Mutter …verschwunden.“ Noch immer blickte Narzissa zu dem jungen Mann hinüber. Vor vielen Jahren hatte er noch an einen stattlichen Sybarit aus dem antiken Griechenland erinnert. Heute war er nur noch ein Strich in der Landschaft und entsprach ganz und gar nicht mehr den Erinnerungen, die sie an ihn hatte. Nur die Gesichtszüge waren ihr vertraut. „Narzissa.“
„Ich bin hier, mein Schatz.“ Es war wie eine Hand an ihrem Herzen, die fest zudrückte, als sie mit ansehen musste, wie Lucius in seiner Qual die Augen verdrehte. Die Fingerspitzen seiner rechten Hand fanden an ihre Lippen. Küsse vermochten zu heilen. „Ich bin hier“, wiederholte sie immerzu zwischen den Liebkosungen.

Der Himmel über dem ganzen Land wurde durch die Wolken der Pein mehr verdunkelt als durch die des sich erneut zusammenbrauenden Unwetters. Überall waren Menschen zusammengebrochen. Alle litten an der gleichen Wunde. Jeder einzelne von ihnen hatte damals das Zeichen des Dunklen Lords angenommen – aus Überzeugung oder aus Angst. Es war dem Ministerium bekannt, dass Voldemort – wie Anfang der 80er Jahre – seine Schergen von Haus zu Haus geschickt hatte, um Menschen für seine Sache zu rekrutieren. Zweimal sagte man nicht „Nein!“, ohne mit dem Leben zu büßen. Der Zustand derjenigen, die nur aus Angst um ihre Familie gehandelt hatten, war nicht so besorgniserregend wie der der überzeugten Mitläufer. Rodolphus Lestrange war einer der Ersten gewesen, die das reinigende Feuer nicht willkommen hießen und deswegen an ihm zugrunde gingen.

In seinem Büro im Ministerium las Arthur eine haarsträubende Meldung nach der anderen. Manche Namen der im Mungos eingewiesenen Patienten waren ihm bekannt, andere völlig fremd. Mittlerweile hatte die Presse Wind von den Ereignissen bekommen. Arthur musste seinen Kamin abstellen, damit er vor den ganzen Interviewanfragen Ruhe hatte. Eine Dame namens Kimmkorn war besonders hartnäckig. Beunruhigend war, dass tatsächlich noch so viele der Anhänger nach dem Sieg über Voldemort im Ministerium untergekommen waren. Die meisten von ihnen hatten nicht einmal der Schlacht vor Hogwarts beigewohnt, weil sie an anderen Orten auf Befehle warten sollten. Nach und nach sandte Dawlish seine ersten Verhöre an Arthur, der diese mit Anspannung las. Voldemort hatte geplant, nach Hogwarts der Reihenfolge nach das Ministerium, das Mungos und die gesamte Winkelgasse einzunehmen, um auf diese Weise die wichtigsten Anlaufstellen für Zauberer und Hexen unter seiner Kontrolle zu haben.

Arthur konnte nichts dagegen unternehmen, ständig vor seinem inneren Augen Ginny zu sehen. Solange sie nicht in Sicherheit war, konnte er nicht klar denken.

Das Pergament mit der Aussage eines Familienvaters namens Humphrey Pidoray, einem der wenigen Todesser, die ansprechbar waren, weil das dunkle Mal nur oberflächlich gebrannt hatte, zitterte in Arthurs Händen, als er es las. Ein Schuldbekenntnis. Schuldig in dem Sinne, das dunkle Mal angenommen zu haben. Der Mann bestritt aber vehement, irgendwelche anderen Straftaten begangen zu haben, außer Voldemort nicht daran gehindert zu haben, sich sein gesamtes Vermögen anzueignen. Finanzielle Unterstützung, nicht mehr. Als Gegenleistung würde man seine Familie in Frieden lassen, hätten die Todesser ihm versprochen. Arthur blätterte weiter. Mr. Pidoray hatte eine Frau, fünf Kinder und lebte mit der gesamten Familie, einschließlich Großeltern und Urgroßeltern, in einem großen Haus. Arthur fragte sich, was er an der Stelle von Mr. Pidoray getan hätte, wäre jemals einer von Voldemorts Schergen auf die Idee gekommen, bei ihm anzuklopfen und ihn und seine Familie zu bedrohen. Natürlich wäre das nie geschehen. Die Weasleys waren „Blutsverräter“, wie Malfoy immer so schön betont hatte. Aber wenn … Wie hätte er gehandelt, wenn Todesser seine Kinder bedroht hätten und er sie nur hätte retten können, indem er das dunkle Mal akzeptierte?

Er schüttelte den Kopf. Mit solchen Fragen, auf die es keine Antwort gab, konnte er sich nicht befassen. Viel wichtiger war es jetzt, die Lage zu überprüfen und sich die Presse vom Hals zu halten.

Da der Minister nicht erreichbar war, wandte sich die Presse an Professor Dumbledore. Es wurde gemunkelt, dass es auch in Hogwarts solche Fälle gegeben hätte wie die, die dem Mungos im Übermaß zu schaffen machten. Die Gerüchte basierten auf der logischen Überlegung, dass Severus Snape, Zaubertränkelehrer von Hogwarts, nachweislich das Zeichen Voldemorts auf dem linken Unterarm trug.

„Es entzieht sich meiner Befugnis“, erklärte Albus einem Journalisten über den Kamin, „über Patienten unseres Krankenflügels zu sprechen. Mir liegt daran, die Persönlichkeitsrechte zu wahren. Ich werde Ihnen also weder über lapidare Magenverstimmungen unserer Schüler berichten können noch über andere Gebrechen.“
„Aber ...“
„Danke für das Gespräch.“ Albus hatte dem jungen Mann eine heftige Abfuhr erteilt. Trotz der vielen Anrufe entschied er sich dafür, den Kamin nicht zu schließen. Es könnte immerhin eine wichtige Mitteilung eintreffen. Ständig hielt er Kontakt zu Poppy, die ihm vor einer halben Stunde mitgeteilt hatte, dass die gesundheitliche Verfassung der beiden Patienten stabil wäre. Details gab es nicht. Weder stellte Poppy ihren Patienten viele Fragen noch gab sie Informationen an Dritte weiter. Diskretion stand bei ihr an erster Stelle.

Im Krankenflügel machte Poppy nach getaner Arbeit vorsichtshalber noch eine Visite, angefangen bei Harry, der so laut schnarchte, dass sie in Erwägung zog, ihn bei Gelegenheit auf seine Polypen anzusprechen.

Am Bett von Draco herrschte völlig unerwartet eine ausgelassene Stimmung. Es erstaunte Poppy, dass der junge Mann nicht mehr so weinerlich war wie zu Schulzeiten. Damals hat er bei einem winzigen Kratzer gestöhnt und geächzt, als stünde er zur Schwelle des Todes. Jetzt, mit einer so tiefen Verletzung, die ihn tatsächlich ins Jenseits hätte befördern können, schien es ihm nicht einmal schwerzufallen, für seinen gerade erwachten Sohn zu lächeln.

Severus machte ihr Sorgen. Seit sein Besuch gegangen war, wirkte er apathisch. Er reagierte erst beim dritten oder vierten Mal, wenn Poppy seinen Namen sprach. Harry war der Einzige, der Schlaf gefunden hatte. Draco und Severus war diese Erholung rätselhafterweise nicht vergönnt. Die Schmerzmittel, wie Poppy von beiden Patienten erfahren hatten, halfen nicht. Während Draco die Schmerzen durchstand und sich mit seiner Familie Abwechslung verschaffte, dämmerte Severus vor sich hin. Gerade als Poppy die Wandschirme verließ, die sein Bett umgaben, hörte sie seine Stimme.

„Poppy?“
Sofort war sie an seiner Seite. „Was ist?“
Schwächlich flüsterte er: „Ich möchte auf die Toilette.“
„Daraus wird leider nichts.“ Sie bückte sich und suchte in dem Schrank neben seinem Bett etwas.
Verwundert drehte Severus den Kopf. „Poppy, ich möchte die Toilette aufsuchen!“, wiederholte er energischer.
Mit einem Male stand sie kerzengerade vor ihm und hielt zwei Gegenstände in der Hand. „Du hast die Wahl zwischen dem hier“, sie hob die Ente, die in Krankenhäusern dazu verwendet wurde, Urin von bettlägrigen Patienten aufzufangen, „oder dem hier.“ Der Gegenstand in der anderen Hand ließ ihm eine Gänsehaut über den Rücken laufen.
„Oh Merlin, eine Bettpfanne?“, fragte er entrüstet. „Nein, das ist demütigend!“ Er holte tief Luft. „Lass mich selbst gehen!“
„Der Arm muss in dieser Position bleiben, Severus, damit die Phönixtränen nicht vergeudet werden. Ich habe nämlich keine mehr und du möchtest doch sicher, dass die Wunde heilt.“
Störrisch wie eh und je erwidert er grantig: „Dann werde ich es solange zurückhalten, bis es geheilt ist!“
„Das wird bei dem Tempo drei, vier Tage dauern. So eine große Wunde braucht ein Weilchen.“
„Ich werde nicht“, giftete er durch zusammengebissene Zähne, „vor aller Welt mein Geschäft verrichten.“
„'Vor aller Welt'?“ Amüsiert schüttelte sie den Kopf. „Es ist schön zu sehen, dass es dir offensichtlich besser geht.“
„Poppy!“
„Ich gebe dir mindestens drei Stunden. Länger wirst du es nicht aushalten. Also“, mit gestrenger Miene hielt sie Ente und Pfanne in die Höhe, „was davon darf's denn sein?“
„Nichts!“
„Wie du meinst.“ Beide Objekte platzierte sie wieder in dem Schrank, bevor sie sich bei ihm verabschiedete.
„Poppy?“, wimmerte er. „Bitte!“
Sie seufzte und setzte sich auf sein Bett. „Severus, ich habe während meiner Ausbildung zur Heilerin viele scheußliche Dinge gesehen, eine Menge skurriler Verletzungen behandelt und brutale Menschen meine Patienten nennen müssen. Nichts – und das versichere ich dir – ist für mich so normal wie die täglichen Bedürfnisse.“ Severus hatte eine Miene aufgesetzt, als hätte sie ihm gerade erklärt, er müsste vier Wochen lang bei Filch eine Strafarbeit absitzen. „Mach nicht so ein Gesicht, Severus. Ich lass dich nicht aus dem Bett heraus.“ Er war ein schwerer Brocken, kein leichter Patient. „Jetzt hör mal gut zu: Es gibt einen Stillezauber um dein Bett herum und einen gegen, ähm, Geruchsbelästigung.“ Severus bekam dank Nevilles Blutspende ganz rote Wangen. „Niemand wird auch nur das Geringste mitbekommen“, versprach die Heilerin.
„Aber du ...“
„Das ist meine Arbeit!“, unterbrach sie mutig. Wieder verzog er das Gesicht, womit er Poppys Geduld strapazierte. „Oder sträubst du dich, weil wir uns schon so lange kennen? Ich könnte eine meiner jungen Schwestern damit beauftragen ...“
„Nein! Merlin bewahre ...“
„Also …?“

Nach langem Zögern und unter größten Anstrengungen deutete er auf die Bettpfanne und Poppy begann gleich darauf mit ihrer routinierten Arbeit.

Weit entfernt von Hogwarts musste jemand anderes auch ganz dringend auf die Toilette, aber entsprechende Örtlichkeit fehlte, die man normalerweise dafür benutzte. Stringer hielt sich den Bauch und atmete schwer. Fogg war so hilfsbereit, ihm das leere Einmachglas zu reichen, aus dem sie alle Pfirsiche vertilgt hatten.

„Soll ich da etwa reinmachen?“ Stringer kräuselte die Nase. „Das ist nicht dein Ernst?“
„Mein voller Ernst, denn ich habe leider keinen Stab bei mir, mit dem ich deine Hose reinigen könnte, sollte es einen 'Unfall' geben.“
„Die Stäbe liegen bestimmt noch oben in der Apotheke.“
Fogg nickte. „Und da liegen sie gut. Die Tür ist das Einzige, das hier wirklich verzaubert ist. Wir kommen nicht raus.“
Mit einer Bewegung seines Kopfes deutete Stringer in eine bestimmte Richtung. „Wir haben das Oberlicht noch nicht ausprobiert.“
„Du wirst es gar nicht bis dahin schaffen, ohne dass ...“
„Ich kann es halten!“, wütete Stringer verlegen. „Herrje, ich hätte nicht den ganzen Pfirsichsaft trinken sollen.“
„Zu spät, um sich darüber Gedanken zu machen. Zier dich nicht und folge dem Ruf der Natur.“ Fogg hielt Stringer das Einmachglas vor die Nase.
„Das ist so demütigend!“ Stringer nahm das Glas an sich und verdrückte sich in eine Ecke. „Hör weg!“, forderte er von seinem Freund.
„Wie soll ich das machen? Mir die Ohren abschrauben?“
„Zuhalten!“
Fogg schnaufte amüsiert. „Übertreib nicht. Ich weiß, wie sich so was anhört oder warst du nie auf einer öffentlichen Toilette?“
„Ich kann nicht, wenn mich jemand von der Seite anquatscht!“

Beinahe – wirklich nur beinahe – wäre Fogg in Gelächter ausgebrochen. Er tat seinem Freund den Gefallen und hielt sich die Ohren zu, obwohl der das nicht einmal sehen konnte. 625 Milliliter später schmückte ein erleichterter Ausdruck Stringers Gesicht.

„Zur Strafe müssten wir denen das Glas zurück zu den anderen ...“
„Das ist eklig“, rügte Fogg seinen Freund. „Stell es in die Ecke da und gut ist.“
Stringer kam dem Ratschlag nach, richtete seinen Blick danach auf das Oberlicht. „Versuchen wir's jetzt?“
„Eigentlich möchte ich nicht ohne unsere Stäbe gehen. Mit denen kann man uns identifizieren. Die brauchen nur Ollivander zu fragen und ...“
„Die sind aber oben und dort kommen wir nicht hin!“
Resignierend nickte Fogg. „Dann eben ohne. Ich werde Miss Granger später aufsuchen und Sie bitten...“
„Du hast wirklich eine Meise, weißt du das?“
„Wieso?“, fragte Fogg unschuldig.
„Solltest du nochmal bei ihr auftauchen, wird sie dir wichtige Körperteile abhexen. Hast doch gehört, was dieser Todesser gesagt hat. Ich weiß, was Keimdrüsen sind und ich möchte meine gern behalten!“
„Ich glaube nicht, dass sie das machen würde“, winkte Fogg gelassen ab.
Ernüchtert schüttelte Stringer den Kopf. „Du bist so naiv, dass du dich sogar von einer Nonne über den Tisch ziehen lassen würdest!“ Von Fogg ließ er seinen Blick zum Oberlicht wandern, das er aufmerksam musterte. „Wenn du dich an die Wand stellst, dann kletter ich an dir hoch und öffne das Fenster.“
„Warum muss ich unten stehen?“
„Weil du fetter bist als ich!“ Wegen der verletzenden und vor allem unwahren Worte zog Fogg ein beleidigtes Gesicht, weshalb Stringer verbesserte. „Ich meine natürlich, weil ich leichter bin.“
„Da geht’s aber nicht zur Straße raus. Wohin führt dieses Fenster?“
Beide blickten die schmutzigen Glasscheiben mit einem solchem Respekt an, den man normalerweise nur für eine Mona Lisa oder einen Gobelin aufbringen würde. „Es führt nach oben.“
„Was sind wir heute wieder lustig“, murmelte Fogg hinter Stringers Rücken. „Was machen wir, wenn wir draußen sind?“
Ein gleichgültiges Schulterzucken war die erste Antwort, bevor Stringer vorschlug: „Wir könnten dann in die Apotheke einbrechen und unsere Stäbe ...“
„Moment!“ Mit hochgehaltener Hand verbat Fogg seinem Freund jedes weitere Wort, so dass er in Ruhe in der Tasche seines Umhangs kramen konnte, um ein Notizbuch herauszuholen. Er schlug eine Seite auf und zitierte: „'Ich schwöre, ich gebe alle kriminellen Machenschaften auf und werde ein guter Mensch.'. Das hast du vorhin gesagt!“
„Ich hab aber auch angefügt, wenn sie uns nur etwas zu essen bringen und das haben sie nicht.“ Skeptisch die Zunge in die Wange steckend betrachtete er Fogg und fragte: „Wer bist du? Irgendein Heiliger, der mich auf den rechten Pfad bringen will?“
Seine Antwort wiegte Fogg zunächst ab, bevor er deutlich wurde: „Sagen wir es mal so: Wenn du noch einmal irgendeinen Blödsinn anstellst, dann bekommst du nichts – und ich meine absolut gar nichts – von meinem Vermögen ab.“
„Das“, zischte Stringer, „ist Erpressung! Eine Straftat!“
„Ich sehe es als Freundschaftsdienst. Vielleicht auch als kleinen Ansporn für dich. Und jetzt komm“, Fogg stellte sich an die Wand und machte mit seinen Händen Steigbügel, „sitzt auf.“ Gerade wollte Stringer seine Schultern berühren, da stieß er ihn zurück. „Hast du dir die Hände gewaschen?“
„Was?“
„Na vorhin, nach deinem 'Geschäft'?“
Stringer schnaufte. „Mit was denn? Soll ich sie mir mit der Flasche Ammoniak dahinten sauberätzen, nur weil du plötzlich Mr. Penibel geworden bist?“ Grob packte Stringer ihn an den Schultern und stieß ihn an die Wand. Es war mühselig, an Fogg hinaufzuklettern. Dessen Hände rutschten immer auseinander, wenn er Schwung holen wollte. „Geh etwas in die Knie, ich steig auf deinen Oberschenkel.“ Fogg ging in die Knie und jaulte auf, als Stringer mit seinem Schuh einen Nerv im Bein malträtierte.

Es war bereits Mittag durch, als Hermine ihre Apotheke aufsuchte. Die Haustiere benötigten ihre Aufmerksamkeit. Einige Kunden hatte sie am heutigen Tag unbeabsichtigt verprellt, weil die Apotheke ohne Ankündigung geschlossen war. Viele Menschen hatten ihr Haus jedoch wegen der Unwettermeldung für das Wochenende nicht verlassen. Nur ein paar Figuren wurden von den wenigen Sonnenstrahlen nach draußen gelockt, obwohl es sich bereits erneut bewölkte. Noch bevor sie zu den beiden in den Keller ging, kümmerte sie sich erst um die wichtigen Dinge. Sie zauberte sie ein Schild. „Wegen familiären Gründen geschlossen“ stand nun gut leserlich an der Glastür. Fellini und Harry hatten sich miauend und schwanzwedelnd auf ihre Mahlzeit gefreut. Harrys kleinen Unfall in einer Ecke des Wohnzimmers nahm sie ihm nicht übel, schon gar nicht wegen des schuldbewussten Blicken, den der Hund ihr zuwarf. Mit einem Desinfektionszauber war die Schweinerei schnell behoben. Erst nachdem sie all diese Dinge erledigt hatte, führte ihr Weg sie in den Keller.

Die beiden Gauner waren so beschäftigt damit, das Oberlicht zu erreichen, dass sie die sich öffnende Tür gar nicht bemerkten. Hermine hatte die beiden an der Wand ausfindig gemacht und sagte zunächst nichts, beobachtete nur still das Szenario. In gewisser Weise war es komisch mit anzusehen, wie Fogg unter dem Gewicht von Stringer immer mehr in die Knie ging und zu zittern begann. Sie bemerkten Hermine auch nicht, als sie nochmal von vorn begannen. Mit beiden Händen am Gesäß seines Freundes drückte Fogg ihn so gut es ging nach oben, bekam dafür versehentlich einen Tritt ins Gesicht, als Stringer dessen Schultern besteigen wollte. Sollte das so weitergehen, würden sie sich bei ihrem Fluchtversuch noch gegenseitig k.o. Schlagen, dachte Hermine. Sie könnte wohl stundenlang hier am Tisch gelehnt zusehen, ohne dass man von ihrer Anwesenheit Kenntnis nehmen würde.

Es war eine wackelige Angelegenheit. Beinahe hatte Stringer das Oberlicht erreicht, da hielt sich Hermine nicht mehr zurück und fragte mit kräftiger Stimme: „Warum nehmen Sie eigentlich nicht die Leiter, die links an der Wand lehnt?“

Fogg, mit seinem Freund halbwegs auf den Schultern, drehte sich um, was ein Fehler war, denn Stringer fand an der Wand keinen Halt mehr. Der obere Gauner ruderte wie wild mit den Armen, um das Gleichgewicht wiederzuerlangen, während Fogg mit dem Gewicht auf seinen Schultern ins Torkeln kam. Das Unvermeidbare geschah – sie fielen. Mit einem lauten Krach landeten sie auf unbenutzten Regalbrettern, Unmengen an verschieden großen Gugelhupfbackformen und einer ausgedienten, aber antiken Standnähmaschine, die ganz schnell unter dem Gewicht der beiden Männer ihre Kostbarkeit verlor und sich in Schrott verwandelte.

„Das erinnert mich an meine Kindheit“, warf Hermine gelassen ein. Mit Furcht in den Augen blickten die beiden sie an, weil sie ihren Zauberstab zog und mit ihren Fingern leger mit ihm spielte. „Ich konnte den Clowns im Zirkus nie etwas abgewinnen.“
Mit den Armen schützte sich Stringer gegen die Bretter, die an der Wand entlang auf ihn zugerutscht kamen. Sofort meckerte er drauf los. „Was erwarten Sie denn? Sie haben uns hier ohne große Worte eingesperrt! Wir wussten ja nicht mal, ob Sie uns verhungern lassen wollen?“ Demonstrativ warf Hermine ein Blick auf die Regale mit dem Eingemachten, so dass Stringer sich auf andere Weise Luft machen wollte. „Nicht einmal eine Toilette ...“
Hermine hatte genug und wies ihn lautstark zurecht. „Halten Sie Ihren Mund! Sie fordern hier eine Luxusgefangenschaft, während meine beste Freundin durch Ihre Mithilfe entführt worden ist?“Auf der Stelle war Stringer still.
„Miss, ähm“, Verlegenheit machte sich bei Fogg breit. „Miss Granger, dürften wir wohl nachfragen, wie Sie in unserer Angelegenheit weiter verfahren wollen?“
„Ich dachte eigentlich“, sie hob beide Augenbrauen, um ihre Gleichgültigkeit zum Ausdruck zu bringen, „dass ich ein paar fiese Flüche an Ihnen beiden ausprobiere.“ Unbewusst führten die Gauner schützend ihre Hände vor 's Gemächt. „Aber ich glaube, ich habe genug von Ihnen. Verschwinden Sie, bevor sich der Gestank von Gaunerei noch in meinem Haus festsetzt!“
Gegen die Beleidigung wollte Stringer offenbar wettern, doch Fogg gab ihm einen leichten Tritt ans Schienbein, damit der ruhig sein würde. Nochmals wandte sich Fogg kleinlaut an Hermine. „Und unsere Zauberstäbe?“
„Die werfe ich Ihnen hinterher, sobald Sie meine Apotheke verlassen haben.“ Mit ihrem gezückten Stab wies sie in Richtung Kellertür. „Gehen Sie vor!“

Im Verkaufsraum angelangt öffnete Hermine die Tür, die zur Winkelgasse führte. Stringer war der Erste, der in die Freiheit rannte, doch Fogg zögerte. Weil sie ihn harsch anblaffte und einen Schubs gab, verließ auch er die Apotheke.

„Sie haben beide Hausverbot!“ Wie versprochen warf sie ihnen die Zauberstäbe nach, die in dem aufgeweichten schlammigen Boden landeten. Mit einem lauten Knall warf sie die Tür ins Schloss, die sich auf der Stelle mit einem Schutzzauber versah.

Stringer schnaufte entrüstet und bückte sich nach den beschmutzten Stäben. Beide umfasste er mit seinem Umhang, um den Schlamm abzuwischen. Um seinen Stab kümmerte sich Fogg nicht. Er stand nur vor der Tür und blickte mitleidig drein wie ein Hund, den man aus dem Haus geworfen hatte.

„Komm schon.“ Stringer ging ein paar Schritte, blieb dann stehen und drehte sich um. „Komm endlich!“
Als wäre für ihn eine Welt zusammengebrochen trottete Fogg seinem Freund hinterher, der ihn aufzuheitern versuchte. „Lass den Kopf nicht hängen. Es hätte schlimmer kommen können.“
„Ach ja?“
„Ja! Immerhin ist unsere Hose im Schritt noch gut gefüllt.“ Erleichtert atmete er ein und aus, blickte dabei gen Himmel. „Und es hat endlich aufgehört zu regnen.“

Genau aufs Stichwort setzte der Platzregen ein. Beide stöhnten. Vereinzelte Besucher der Winkelgasse rannten, ihr Haupt mit einem magischen Schirm geschützt, an ihnen vorbei, ums das Trockene aufzusuchen – meist in Form des Tropfenden Kessels.

„Das Schicksal nimmt uns auf den Arm“, grummelte Stringer, bevor er den Weg zum Gehängten einschlug. Mit einigem Abstand folgte Fogg ihm. Sein Gewissen macht ihm zu schaffen. In der Nokturngasse begann es wieder zu stinken, weil der Müll nass wurde. Feuchte Essensreste rochen weitaus widerlicher.

Der Gastwirt begrüßte sie freudig, erkundigte sich nach ihrem Wohlbefinden. Fogg wurde das Gefühl nicht los, der Wirt hätte lediglich befürchtet, beide hätten die Zeche geprellt.

„Meine Herren, ich habe mir wirklich Sorgen gemacht!“
'Um die Bezahlung', dachte Fogg. „Es geht uns gut. Ein Missverständnis wollte geklärt werden.“
„Dann ist 's ja gut. Ihre Zimmer sind noch so, wie Sie sie verlassen haben.“
'Er hat nach Galleonen gesucht', vermutete Fogg, sagte jedoch nichts.
„Danke, wir sind oben. Wir müssen uns ausruhen.“

Im Zimmer warfen sie eine Münze, wer als Erster das Badezimmer benutzen durfte. Fogg gewann.

Etwas später legte Stringer sich auf das Bett. Die ganze Nacht hatte er nicht ein Auge zugemacht, was er jetzt nachholen wollte. Sein Freund hingegen war fahrig, lief im Zimmer hin und her. An Schlaf war für Fogg nicht zu denken. Die Geräusche der Schritte störten Stringer beim Einschlafen.

„Kannst du dich bitte setzen? Oder dich hinlegen. Ich würde gern eine Mütze voll Schlaf ...“
„Ich geh hin!“, sagte Fogg völlig unerwartet, aber mit entschlossener Stimme.
Mit zusammengezogenen Augenbrauen starrte Stringer ihn an. „Wohin soll es denn gehen?“
„Hopkins.“
Aufgeschreckt fuhr Stringer hoch. „Bist du übergeschnappt?“
„Nein“, Fogg fuhr sich mit einer zittrigen Hand durchs nasse Haar. „Nein“, wiederholte er noch viel kräftiger. „Ich werde es wiedergutmachen!“
„Was?“ Neugierig setzte sich Stringer auf die Bettkante und wartete darauf, bis sein Freund sich ihm mitteilte.
„Ich werde die Kleine da rausholen und ...“
„Merlin, wirf Hirn vom Himmel!“ Aufgebracht stand Stringer auf und packte seinen Freund an den Schultern, um ihn kurz zu schütteln. Vielleicht, so hoffte er, würde auf diese Weise die Schnapsidee von Fogg abfallen. „Was ist es nur, das dich plötzlich so seltsam macht? Du solltest deinen neuen Retterkomplex wirklich behandeln lassen, bevor das noch ansteckend wird!“
„Verstehst du denn nicht, was wir getan haben?“
„Wir“, sagte Stringer langsam, als würde er mit einem Kleinkind sprechen, „haben gar nichts getan! Was wir tun wollten, hat nicht funktioniert. Uns trifft keine Schuld. Alex und Arnold – die beiden waren es!“
„Aber wir sind ein Teil des Ganzen! Hätten wir uns da nicht eingemischt, wäre alles anders gelaufen. Die Squibs wären nicht herkommen, hätten nicht nach uns geschaut und wären nie auf sie aufmerksam gewor...“
Stringer schüttelte den Kopf. „Unfug! Wer sagt denn, dass die nicht auch ohne uns das Gleiche getan hätten?“
„Wir haben Miss Granger verärgert!“
„Ah“, machte Stringer erleuchtet und auch ein wenig missgestimmt, „haben wir uns etwa verguckt?“
„Wie bitte?“ Fogg klang echauffiert. „Ich mach mich doch nicht an die Braut von einem Todesser ran! Für wie selbstmordgefährdet hältst du mich eigentlich?“ Fogg schüttelte den Kopf. „Ich möchte lediglich die nächsten Tränke auch gern dort einnehmen, du blöder ...“
„Keine Beleidigungen!“, mahnte Stringer. „Und vergiss Hopkins. Der Mann ist nicht gut für uns.“
„Ach, aber für eine junge Frau Mitte zwanzig schon?“, rieb Fogg ihm unter die Nase.
„Und was willst du tun? Einfach da einreiten und den wilden Mann spielen?“
Fogg zuckte mit den Schultern. „Warum denn nicht?“
„Vergiss nicht, dass zwei poplige Squibs und in die Schranken gewiesen haben! Ich will gar nicht wissen, was die Muggel noch alles in petto haben.“
„Mir ist völlig egal was du tust, ich gehe!“
Stringer hob die Hände. „Halt! Halt! Halt!“
„Du musst nicht mit.“
„Natürlich muss ich!“ Wütend riss Stringer seinen Umhang vom Haken und zog ihn sich über. „Sonst hältst du mich noch für einen Feigling.“ Weitere zornig gemurmelte Worte konnte Fogg hören und sie amüsierten ihn.
„Wir können aber nicht einfach im Innenhof erscheinen.“
Stringer schüttelte den Kopf. „Habe ich auch nicht vor. Da ist ein Wald in der Nähe. Wir werden uns langsam anschleichen.“
„Kennst du einen wirksamen Desillusionierungszauber?“
„Bedaure“, gestand Stringer, „habe ich nie gelernt. Und ehrlich gesagt auch nie gebraucht.“ Plötzlich grinste er. „Mann, was könnte man damit für Sachen anstellen! Stehlen, ohne von irgendjemandem gesehen zu werden.“
„Soll ich nochmal aus meinem Notizbuch zitieren?“
„Reiz mich nicht“, drohte Stringer scherzhaft, „ich hab nämlich einen wunderbaren Incendio drauf, den dein blödes Notizbuch nicht überleben würde.“
„Dann lass uns gehen. Apparieren wir zusammen?“

Ohne zu Zögern griff Stringer an Foggs Schulter und apparierte mit einem an einen Donner erinnerndem Getöse.

Ein Donner war auch in anderen Teilen des Landes zu hören. Die dicke Wolkendecke setzte wieder ihre Blitze frei. Durch das begleitende Grollen wurde Harry langsam wach, weil er geträumt hatte, sein Magen wäre für diesen Krach verantwortlich. Er blinzelte einige Male. Die hohe Decke des Krankenzimmers, die er als Kind schon so häufig nach dem erwachen gesehen hatte, beantwortete seine noch nicht gestellt Frage, wo er sich aufhielt. Er war in Hogwarts. Neben ihm schnarchte jemand. Vorsichtig drehte Harry seinen Kopf. Molly war auf dem Stuhl neben seinem Bett eingeschlafen.

Mit einem Schlag wurde er sich der Situation bewusst. Er erinnerte sich vage an das, was im Raum der Wünsche geschehen war.

Ohne Lärm zu machen, sprang er vom Bett, nur um eine kühle Brise an seinem Gesäß zu spüren. Beide Hände führte er an sein Hinterteil. Er trug offenbar eines der Nachthemden von Poppy, die hinten offen waren. Seine Kleidung lag auf dem freien Stuhl neben Molly. Still machte er sich daran, seine Unterhose anzuziehen. Als er auf einem Fuß herumhüpfte, drehte er sich leicht. In dem Moment, als er die Hose unter dem Nachthemd hochgezogen hatte und aufschaute, blickte er in die Augen von Susan und Draco, die ihn die ganze Zeit über gesehen haben mussten – auch von der Kehrseite. Die kurze Unannehmlichkeit überbrückte er, indem er seinen Zeigefinger vor den Mund hielt. Sie sollten ihn ignorieren. Susan blickte weg, Draco ebenfalls, so dass sich Harry weiter ankleiden konnte. Molly schlief noch immer. Die Strapazen der Nacht waren zu viel für sie gewesen.

Vollständig angekleidet schlich er zum Nebenbett, um sich nach Dracos Wohlbefinden zu erkundigen, aber auch um zu erfahren, was überhaupt geschehen war. Eine Erinnerung hatte Harry kaum noch daran.

Draco flüsterte, um Molly nicht zu wecken. „Ich weiß auch nicht, was mit dir passiert ist.“ Bedrückt blickte er zu seinem Arm, womit er Harrys Neugierde weckte. „Ich weiß nur, was mir passiert ist. Man hat mich hergetragen. Ich weiß nicht mal, wer es war. Es tut höllisch weh.“
„Darf ich mal?“ Harry wollte unter dem Tuch nachschauen, das magisch über dem linken Arm schwebte. Mit einem Nicken gab Draco sein Einverständnis. Behutsam lüftete Harry das Tuch. Vor lauter Schrecken sog er Luft ein und trat einen Schritt zurück, weshalb das Tuch hinunterfiel und die gesamte Wunde freilegte. „Das war ich“, flüsterte Harry schuldbewusst. „Das tut mir so leid.“
Draco verneinte wortlos. Genauso leise wie Harry äußerte er sich. „Ich dachte eigentlich, ich hab das ausgelöst. Mach dir keine Gedanken, Harry. Das Schlimmste ist überstanden. Es muss jetzt nur noch heilen.“
„Es sieht schmerzhaft aus.“
In Dracos blassem verschwitztem Gesicht, aus dem man herauslesen konnte, welche Qualen er durchlitt, zeichnete sich ein mildes Lächeln ab. „Fühlt sich so an wie es aussieht, würde ich sagen. Ich hab aber noch Glück gehabt.“ Er blickte auf die offene Wunde, in der die Phönixtränen Millimeter für Millimeter das Loch von außen nach innen mit frisch gewachsenem Gewebe füllten. „Severus hat es viel übler erwischt. Seine Wunde soll wesentlich größer sein, das habe ich jedenfalls gehört.“
Die grünen Augen hinter der runden Brille wurden ganz groß. „Wieso Severus? Was ist mit ihm passiert? Wo ist er?“ Susan deutete auf auf das Bett gegenüber, das komplett durch Paravane abgeschirmt war. „Schläft er?“, wollte Harry wissen.
„Wir können nicht schlafen. Keine Ahnung, warum. Es helfen auch keine Tränke gegen die Schmerzen.“
„Harry?“ Das erste Mal meldete sich Susan zu Wort. Sie sah genauso mitgenommen aus wie ihr Mann. „Ich hätte ihn nicht an meiner Stelle schicken sollen, dann wäre es gar nicht erst dazu gekommen.“
„Susan, du hast es gut gemeint, und ich hätte seine Hilfe wirklich gern angenommen.“ Um seine Aussage zu bestätigen, blickte er Draco einmal in die Augen und dort verweilten sie, als er anfügte: „Nach Trelawneys Prophezeiung hat das passieren müssen. Nur wusste niemand, wann die Zeit gekommen war.“

Harry erinnerte sich an den Moment, als er vorhin zusammen mit Hermine den Raum der Wünsche betreten hatte. Beide fanden sich in Severus' Traum wieder, den sie als solchen sofort erkannt hatten. Aus einem Bauchgefühl heraus wusste er, dass der Augenblick der Erfüllung gekommen sein musste. Da nur noch Ron und Hermine von diesem Thronsaal wussten, hatte er es nicht vor versammelter Mannschaft angesprochen. Einzig wichtig war gewesen, dass Severus in diesem Moment nicht allein sein durfte. Weil es Ginny war, die bei Trelawneys Prophezeiung anwesend war, hatte er die Worte auswendig gelernt. Er wollte vorbereitet sein.

'Ein jettschwarzes Symbol auf schneeweißem Grund kann nicht allein durch die Geheimnisse des Willens und seiner Gewalt schwinden', wiederholte Harry in Gedanken. Es reichte nicht, wenn man sich wie Severus das dunkle Mal fort wünschte oder davon träumte, von ihm befreit zu sein. 'Feuer verzehrt, ein Brand erneuert.' Sein Stab auf Dracos Unterarm hatte diesen Teil erfüllt. Um den Rest der Prophezeiung würde sich sicherlich Hermine kümmern, mutmaßte Harry.

Warum der kleine Unfall im Raum der Wünsche sich auch auf Severus ausgewirkt hatte, konnte Harry nur erahnen und seine Erklärung gefiel ihm gar nicht. Das schwarze Zeichen Voldemorts', die magische Verbindung zu den Todessern. Für Harry war es grauenvoll zu wissen, wieder etwas gefunden zu haben, das er mit Voldemort gemeinsam hatte, denn ursprünglich war nur der in der Lage gewesen, seine Anhänger über das dunkle Mal zu rufen. Harry wollte sich von Voldemort unterscheiden und ihm nicht ähneln und doch fand er immer wieder Übereinstimmungen.

Um sich abzulenken, schaute er zu den Wandschirmen hinüber. Er spielte mit dem Gedanken, kurz bei Severus nach dem Rechten zu sehen, bevor er Hopkins die Leviten lesen wollte.

Gerade wollte er hinübergehen, da sah er Hermine aus Poppys Büro kommen. Sie sah aus wie ein wandelnder Leichnam. Dunkle Ringe unter den Augen zeugten von Schlafmangel. Als sie Harry an Dracos Bett bemerkte, schossen ihre Augenbrauen in die Höhe, genauso wie ihre Mundwinkel. Ihn wach und wohlauf zu sehen bedeutete eine Sorge weniger. Wegen der schlafenden Molly flüsterte sie nur, als sie bei ihm angekommen war.

„Sag mal, darfst du denn schon aufstehen?“ Ihr Blick fiel auf das Pflaster über seiner Narbe. „Tut sie weh?“
„Nein, juckt nur ein bisschen, sonst nichts.“
„Ich habe Fellini und Harry in die Obhut deines Elfs gegeben. Ich hoffe, das ist in Ordnung?“ Harry nickte, was sie unbewusst imitierte. „Ihr zieht jetzt los?“
Wieder nickte er. „Ja, die anderen sind bestimmt noch oben und planen ohne mich, wie ich sie kenne.“ Ein Blick in ihre müden Augen bestärkte ihn darin, ihr eine bestimmte Frage zu stellen. „Kommst du mit?“
Hermine zögerte, war hin- und hergerissen. Im ersten Moment wollte sie sofort bejahen, wollte sich mit Harry und Ron wie früher ins Getümmel stürzen, um Ginny zu befreien, doch dann ging sie mit sich zurate und fällte eine Entscheidung.
„Nein, mein Platz ist diesmal nicht an eurer Seite.“
Sie schien etwas wehmütig, weshalb Harry ihre Hand nahm. In seinen Augen hatte sie die richtige Wahl getroffen. „Du brauchst Schlaf“, legte er ihr nahe. „Wenn du aufwachst, ist alles wieder gut.“

Sie hatte kaum geschlafen. Die ganze Nacht über gab es schon die Aufregung wegen der beiden Ganoven, die Severus aufgesucht und am Ende verhört hatte. Durch seine Hilfe wusste man überhaupt erst, wo sich Ginny aufhalten würde. Der Schlafmangel allein war nicht so schlimm, aber die Sorge zerrte an Hermines Nerven. Sie war seelisch völlig verausgabt.

Harry blickte erneut auf das durch Paravents abgeschirmte Bett. Susan und Draco verabschiedete er, bevor er sich dem Schlafplatz von Severus näherte. Eine Hand auf seiner Schulter hielt ihn auf. Es war Hermine.

„Es geht ihm schlechter als Draco“, wisperte Hermine, so dass weder Severus sie hören konnte noch einer der anderen in diesem Raum. „Sehnen, Bänder, Muskeln, Nerven – alles wurde durch den Brand komplett vernichtet. Er kann die Hand nicht einmal mehr bewegen.“
„Wie kann man ihm helfen?“ Medizinisch oder heiltechnisch war Harry völlig unbewandert.
„Da war etwas Schwarzes im Arm. Ich glaube“, sie wurde noch leiser und lehnte sich an sein Ohr, „das war das dunkle Mal, das nicht weichen wollte. Ein Stück lebendige Magie von Voldemort. Wir haben es am Ende doch rausgespült und das Loch im Arm mit Phönixtränen gefüllt.“ Man hörte, wie ein Tropfen in eine Schale fiel. Das Geräusch ähnelte einem leckenden Wasserhahn. Hermine erklärte: „Die Tränen füllen die Wunde. Von außen nach innen wächst das Gewebe neu. Von Stunde zu Stunde wird das Loch minimal kleiner, deswegen laufen die Tränen über.“

Als er nochmals zu Draco blickte, bemerkte er die Schale unter dem Arm, die die überschüssige Flüssigkeit aufgrund der Verdrängung auffing.

„Sag Severus alles Gute von mir“, bat Harry.
„Das werde ich auf gar keinen Fall tun!“ Einen Augenblick später fand sich Harry mit einem Arm voll Hermine wieder. „Du kommst von deinem Besuch bei Hopkins gefälligst wieder und besuchst ihn selbst!“
Harry musste lächeln und umarmte sie kräftig. „Ich werde dann gehen und ...“

Hinter den Wandschirmen hörte man plötzlich eine leise, raue Stimme nach Harry verlangen. Vorsichtig näherte er sich dem Bett, schob einen der Schirme beiseite und betrachtete Severus.

„Harry, ich empfehle“, seine Atmung war zittrig, „dass kein Expelliarmus angewandt wird. Die Waffen ...“ Noch immer strengte ihn ein Gespräch an. „Die Waffen der Muggel sind sehr gefährlich.“ Severus sprach aus Erfahrung. Mit einem Expelliarmus hatte er den Ganoven entwaffnet, der die Schülerin Meredith in den Oberschenkel geschossen hatte. Als die Pistole an einen Baum prallte, löste sich eine Kugel, die seinen Oberarm streifte. „Keine Entwaffnungszauber!“, legte er seinem jungen Freund daher ans Herz. „Verwandlungszauber sind weniger risikoreich.“
Harry nickte. „Ich glaube, dass hatte vorhin jemand aus der DA angesprochen.“ Mitfühlend legte er eine Hand an Severus' Schulter. „Danke für den Tipp. Wenn ich mit Ginny zurückkomme, dann gebe ich dir einen aus.“
Severus atmete einmal tief durch. „Aber keinen billigen Fusel, wenn es recht ist.“ Zu anstrengend war es, die Augen offen zu halten, also schloss Severus sie, wünschte dennoch viel Erfolg.

Für einen kurzen Moment nahm Harry Hermine zur Seite.

„Schlaf etwas, Mine. Ich werde mich sofort melden, wenn wir zurück sind. Kümmere dich um ihn.“ Gerade fragte sich Hermine, ob Nicholas oder Severus gemeint war, da fasste er sich plötzlich ans Herz. Einen Moment lang konzentrieren er sich auf etwas, das nur er wahrnehmen konnte, bevor er sich erneut an Hermine wandte – diesmal mit Hektik in der Stimme. „Ginny! Sie hat Angst. Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren! Ich gehe jetzt zu den anderen.“

Als Hermine ihm nachblickte, bemerkte sie, dass keiner von den anderen ihm hinterhersah. Niemand schien Notiz von ihm zu nehmen, fast als wäre er ein Geist, ein Windhauch – für alle Augen unsichtbar.

Im siebten Stock, als er auf dem Weg zum Raum der Wünsche an ein paar Schülern vorbeikam, wunderte es ihn, dass sie ihn nicht grüßten. Unhöflich waren die Kinder normalerweise nicht. Er kümmerte sich jedoch nicht darum, sondern setzten seinen Weg fort. Bei der DA angelangt blickten alle auf, als die Tür sich wie von Geisterhand öffnete und einen Augenblick später Harry sichtbar wurde – aus dem Nichts einfach auftauchte.

„Cool!“, hörte man irgendjemanden sagen.
Auch Ron zollte seinen Respekt: „Wow, Harry!“
Auf das seltsame Verhalten seiner Freunde ging er gar nicht ein. Taten mussten folgen. „Also, Leute: Ich habe mir vorgestellt, dass wir ...“
„Harry“, unterbrach Ron entschuldigend, „wir haben schon geplant und wollten dir nur noch unser Konzept vorlegen. Wenn das okay ist, meine ich.“
„Schon fertig geplant?“, fragte er nach, obwohl Harry heimlich damit gerechnet hatte. Ron nickte. „Dann lasst hören, aber schnell. Ginny wartet.“

Harry lag richtig. Ginny wartete.

Vorhin waren Männer in den Turm gekommen, die Tyler geweckt hatten. Der Mann hatte eine große Platzwunde an der Stirn, was ihm nur recht geschah.

„Was denn, hat dich etwa ein Mädchen überrumpelt?“, hatte eine gesichtslose Stimme vorhin gefragt, als sie sich mucksmäuschenstill in die Schießscharte gepresst hatte.
„Sie hat … mit Feuerbällen um sich geschossen.“ Der Lügner war von seinen Kameraden nach draußen gebracht worden. Irgendjemand hatte laut vermutet, sie wäre appariert.

Es war Ginnys Glück, dass keiner der Männer auf die Idee gekommen war, oben im Turm nachzusehen. Für Hopkins' Leute stand fest, dass sie nicht mehr hier war. So gab es auch keinen Grund mehr, die Tür zum Turm zu verschließen, doch so sehr sie auch wollte, das war nicht ihr Ausgang. Der ganze Innenhof, das konnte Ginny von einer der Öffnungen beobachten, war voll mit bewaffneten Leuten. Einige versteckten sich, um im entscheidenden Moment aus dem Hinterhalt angreifen zu können. Da die Tür als Fluchtweg wegfiel, blieben ihr nur zwei Möglichkeiten. Sie konnte warten, bis sie wieder voll bei Sinnen war, um eine Apparation zu wagen. Allerdings war sie sehr schwach. Man hatte ihr weder zu essen noch zu trinken gegeben und der Daumen schmerzte. Ziel und Wille waren nicht das Problem, aber am Bedacht haperte es. In diesem geschwächten Zustand würde sie weder weit kommen noch unzersplintert bleiben. Die zweite Möglichkeit rückte für Ginny immer mehr in den Vordergrund. Die schlüsselförmige Öffnung der Nische, in der sie sich versteckt hatte, war bröckelig. Ginny hatte bereits einige der Steine entfernen können, um die Lücke größer zu machen. Damit niemand auf sie aufmerksam werden würde, hatte sie alle Steine nach innen geholt und nicht einfach nach unten fallen lassen. Ihre linke Hand war kaum eine Hilfe, denn sie konnte die Finger nur unter Schmerzen bewegen.

Mit Hilfe eines kleineren Steines lockerte sie den krümeligen Mörtel mehr und mehr, um den größten Stein zu entfernen. Als sie ihn endlich nach innen gezogen hatte, war das Loch groß genug für ihren schlanken Körper. Vorsichtig steckte sie ihren Kopf hindurch. Es regnete in Strömen. Trotzdem atmete sie erleichtert auf, denn auf dieser Seite des Turmes wurde sie von der Freiheit begrüßt. Der Blick auf den wunderschönen Birkenwald war eine wahre Augenweide. Wenn es nicht so steil wäre, könnte sie den Turm und somit die Festung auf der Stelle hinter sich lassen. Vielleicht, hoffte sie, würde sie etwas finden, um sich langsam abzuseilen.

Vorsichtig ging Ginny wieder nach unten und wühlte in dem verwanzten Wäscheberg, in dem noch immer die Waffe lag. Sie ließ sie dort, weil sie für sie wertlos war. Ginny fand alte Hosen, Laken und Decken.

Eine Decke fand auch Hermine in dem Wäscheschrank in Harrys Schlafzimmer. Damit ließ sie sich auf der Couch nieder, um etwas Schlaf zu finden. Der Hund und der Kater hatten damit keine Probleme. Beide dösten bereits zusammengekuschelt auf einem der Sessel. Wobbel verhielt sich so leise wie möglich, obwohl Hermine ihm versichert hatte, er müsste auf sie keine Rücksicht nehmen. Ihre eignen Gedanken wüteten so laut in ihrem Kopf, dass sie das Kinderlachen aus dem Schlafzimmer kaum wahrnahm.

Hermine schloss die Augen, doch das verschlechterte ihre Situation. Kaum war sie durch die Lider von allen visuellen Reizen geschützt, wurden die Bilder in ihrem Kopf noch viel klarer. Ein Gemisch aus imaginären Kampfszenen zwischen Harry und Hopkins hielt sich die Waage mit der Erinnerung an wirklich stattgefundene Situationen wie die mit Fogg und Stringer. Immerzu drängte sich ein Bild von Severus in den Vordergrund, wie er sich mit aller Kraft anstrengte, am Leben festzuhalten. Wäre es möglich, dann würde sie im Krankenflügel schlafen, aber Poppy duldete so etwas nicht.

Aus dem Schlafzimmer drang das fröhliche Gegacker von Nicholas – gleich darauf auch die „Shht“-Geräusche von Wobbel. Ihr überanstrengter Geist malte sich aus, was die Zukunft bringen würde, sollte sie ihre Pflichten als Patentante erfüllen müssen. An einen frühen Tod von Harry und Ginny zu denken trieb ihr die Tränen in die Augen. In ihrem durch Erschöpfung ganz duseligen Kopf formten sich Illusionen von ihr, mit einem fünfjährigen Nicholas an der Hand, wie sie gemeinsam einen Zoo besuchten. Irgendwann würde er Fragen stellen. Fragen nach Vater und Mutter und nach deren Schicksal.

Heftig atmend schreckte Hermine auf. Sie konnte nicht schlafen, obwohl sie es so dringend brauchte. Einzig ihre überdrehte Fantasie wollte die Ruhe des Körpers nutzen, um sich ungezügelt auszutoben. Gerade ihrem Geist, der sich unzählige Möglichkeiten ausmalen konnte, wollte sie sich nicht ergeben. Hermine stand auf und ging ins Schlafzimmer, wo Wobbel und Nicholas mit Stofftieren spielten, die durch Magie über den Boden laufen konnten.

„Miss Granger, haben wir Sie geweckt? Das bedaure ich außerorden...“
„Nein, ich kann nur nicht schlafen. Ich gehe etwas spazieren.“
„Es regnet draußen ganz fürchterlich.“
„Das bisschen Wasser werde ich schon überleben.“

Völlig übermüdet, weshalb sie kein Auge zumachen konnte, wanderte Hermine ziellos durch Hogwarts. Sie betrachtete die Bilder bei den Treppen, die verzierten hohen Fenster, die Wandteppiche und die steinernen Figuren. Immer mehr Schüler liefen ihr über den Weg, so dass sie vor ihnen nach draußen auf den Innenhof floh, der sich in der Nähe des Schulräume für Verwandlung befand. Hier war sie allein. Niemand wollte nass werden.

Alles, was sie hier sah, betrachtete sie nicht mehr mit den Augen eines Kindes, sondern mit denen einer erwachsenen Frau, die ihre ehemalige Schule besuchte. Die Erinnerungen brachten schöne und weniger schöne Momente hervor. Im Moment klammerte sie sich an die schönen.

An alles Schöne im Leben dachte auch Ginny, als sie den Entschluss fasste, trotz der verletzten Hand die unebenen Steine an der Außenseite des Turmes hinabzuklettern. Ihren gebrochenen Daumen hatte sie mit einem Stück Stoff fest umwickelt, so dass er in die Handinnenfläche gedrückt wurde. Dort würde er nicht stören, denn ihre Finger benötigte sie. Mit der gesunden Hand stützte sie sich am Boden ab, als sie sich vorsichtig nach vorn beugte, um ihren Weg nach unten zu betrachten. Zehn Meter? Zwölf? Von oben konnte sie die Höhe schlecht schätzen. Was sie jedoch trotz des schlechten Wetters gut ausmachen konnte, waren einige Steine, die leicht hervorstanden. Entweder hatten die damaligen Maurer den Turm schlecht erbaut oder die Steine hatten sich mit der Zeit verschoben. Manchmal ragte einer der Brocken nur ein Zentimeter heraus, manchmal zwei. Genügend Platz für ein paar Zehen und Fingerkuppen, um Halt zu finden. Hoffentlich!

Ginny schloss die Augen und holte tief Luft, bevor sie sich auf den Bauch legte und rückwärts aus dem Loch kroch. Ihre Angst, in die Tiefe zu stürzen und auf die Felsen aufzuschlagen, verdrängte sie, doch jemand spürte es. Harry. Immer wieder fühlte er Adrenalin durch seine Adern fließen, das nicht das seine zu sein schien. Was Ginny tat oder wo sie sich im Moment befand, das wusste er nicht. Er verspürte aber Angst und die gehörte nicht ihm selbst.

„Also“, Ron stellte sich vor Fred, „Gruppe 1 nimmt die Besen.“ Man hatte die besten Flieger ausgewählt, die von der Luft aus die Festung umkreisen sollten. Mit einem Plan in der Hand wandte er sich an George, hinter dem nicht so viele DA-Mitglieder standen wie hinter Fred. „Gruppe 2 – die Thestrale. Ihr fliegt zwischen uns. Wir“, er sprach zu seinen Leuten, „nehmen auch die Besen.“
Seamus meldete sich zu Wort. „Wie lange werden wir ungefähr brauchen, Harry? Mit dem Auto sind es bei der kürzesten Strecke um die 150 Kilometer.“
„Ja, sind es. Wir nehmen aber die Fluglinie, die direkte Verbindung von hier nach Clova. Wir sind nicht gerade langsam. Ich schätze, wir werden nicht mal eine halbe Stunde brauchen.“ Angelina nahm diese Information zur Kenntnis, aber es sah so aus, als würde ihr eine Frage auf der Zunge brennen. Harry bemerkte das und fragte geradeheraus: „Ja?“
„Ich ... Lacht mich bitte nicht aus, aber warum apparieren wir nicht einfach, anstatt mit Besen und Thestralen dort aufzuschlagen?“

Die Frage war berechtigt. Einige von den DA-Mitgliedern schienen sich während der Planung, die die Weasleys übernommen hatten, nicht getraut zu haben, diesen Punkt anzusprechen.

„Das ist einfach“, erklärte Fred, der das Wort an alle richtete. „Wir wollen nicht nur Ginny dort rausholen, sondern diesen Leuten zeigen, dass sie sich nicht mit der Zaubererwelt anlegen sollten!“
„Aber warum?“, wollte Hannah wissen. Nicht nur sie, das konnte man an einigen Gesichtern ablesen, wollte eine Antwort auf diese Frage.
Ron richtete das Wort an alle, um etwas Licht ins Dunkel zu bringen. „Das detailliert zu erklären dauert zu lange. Lasst euch nur gesagt sein, dass Ginny nicht die Erste ist. Ich weiß, dass man Hopkins verdächtigt, einige Zauberer und Hexen getötet zu haben.“ Vorsichtshalber hielt er seine Hände hoch, damit niemand ihn unterbrechen würde. „Man konnte ihm noch nichts anhaben. Der Muggelminister wollte sich drum kümmern. Offensichtlich hat er versagt. Deswegen wollen wir ihm ein für allemal zeigen, dass er sich die falschen Leute ausgesucht hat. Wir lassen so was nicht mit uns machen!“

Alle waren schockiert darüber zu erfahren, dass dieser Mann, der nun eine aus ihrem Kreis in seiner Gewalt hatte, für seine Taten bereits bekannt sein sollte.

„Es geht los!“

Stille trat ein. Ein Schlachtruf blieb aus. Die DA-Mitglieder hielten einmal kurz ihre Stäbe gen Decke, genau wie damals, wenn sie wortlos zeigen wollten, dass sie bereit dazu waren, das Weiß im Auge des Feindes zu sehen. Die Stäbe blieben in den Händen. Die Mitglieder waren mit sich selbst beschäftigt und stählten sich für das, was kommen würde. Jeder kannte die Stärken und Schwächen des anderen. Sie waren ein Team.

Der Raum der Wünsche öffnete ganz von allein seine Türen. Harry war der Erste, der mit entschlossenem Gang den Flur betrat. An Schülern und Lehrern vorbei verströmte die DA eine gewaltige Kraft, die jeder zu spüren vermochte. Alle traten beiseite, als Harry mit seinen Anhängern die Stufen hinabstieg. Einzig die Schritte der wortlosen Gruppe waren laut hallend zu vernehmen. Sie erinnerten an ein furchtloses Heer aus antiker Zeit, das sich mit Schild und Lanze furchtlos einer Schlacht näherte.

Aus den Augenwinkeln bemerkte Harry, wie sich Gordian schützend vor Meredith stellte, als sie an ihnen vorbeischritten. Von diesem Anblick wurden seine Gedanken an das bevorstehende Gefecht abgelenkt. Die beiden Schüler zeigten Angst vor ihm. Wegen dieser Erkenntnis geriet Harry für einen Augenblick ins Straucheln, denn er war sich darüber bewusst geworden, welchen Eindruck er mit der DA hinter sich machte. Sie wirkten bedrohlich! Harry wagte einen Blick über seine Schulter. Die Gesichter seiner Freunde waren todernst, selbst die von den sonst so lustigen Zwillingen. Eine Gruppe wie diese konnte Angst einjagen, selbst ihm, wenn er nicht wüsste, dass es durchweg gute Menschen waren.

Die kleine, dennoch effektive Streitmacht war mit Zauberstäben bewaffnet, die sie allen Außenstehenden demonstrativ zur Schau stellten. Wie eine dichtgeschlossene, lineare Kampfformation schritten seine Freunde durch die Gänge – folgten treu demjenigen, der Voldemort getötet hatte.

Sie folgten ihm. Folgten ihm.

Abermals verfehlte einer von Harrys Füßen den sicheren Schritt. Eine Hand auf seiner Schulter gab ihm sein Gleichgewicht wieder.

„Harry?“ Es war Ron. „Alles okay?“

Ein Nicken sollten seinen besten Freund davon überzeugen, dass alles Bestens war, aber das war es nicht. Das war es absolut nicht. Wo war der Unterschied zwischen Voldemorts Anhängern und der DA, wo doch beide einem mächtigen Magier folgten?

Im Innenhof angelangt war der erste Zauber, den jeder sprach, ein unspektakulärer Regenschutzzauber. Harry nutzte diesen Moment, um auf den Rand des Brunnens zu steigen und zur DA zu sprechen.

„Wir gehen dort nicht hin, um zu töten.“ Jeder horchte auf. „Ich möchte nicht, dass es Tote gi...“
Bill fiel ihm ins Wort. „Harry, die haben Ginny!“
„Das ist mir nicht entgangen!“, fauchte er zurück, hatte sich aber schnell wieder unter Kontrolle. „Ich wünsche trotzdem keinen Mord und Totschlag! Ich will das nicht, verstanden? Keine Rache, keine bösen Späßchen. Wir haben genügend Zaubersprüche auf Lager, mit denen wir der Lage Herr werden können. Das sind keine Todesser, Leute. Das sind Muggel.“
„Die Knarren haben“, erinnerte Dean murmelnd.
„Waffen, die aus Metall sind und die wir leicht verwandeln können.“ Harry blickte seine Truppe an und rang sich ein Lächeln ab. „Macht unsere gute Professor McGonagall stolz und seid besonders kreativ bei den Verwandlungszaubern.“

Sein Blick fiel auf Luna, die noch keinen Impervius gesprochen hatte und sich mit geschlossenen Augen und einem seligen Lächeln den Regen aufs Gesicht fallen ließ.

„Gehen wir!“
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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Lily Luna
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Re: Harry Potter und die Schatten der Vergangenheit (203)

Beitrag von Lily Luna »

Hallo Muggelchen!
Ich bins mal wieder, die schnelle Leserin ;)
Wie du vielleicht bei Facebook mitbekommen hast, habe ich wieder mit deiner Schatten FF angefangen. Allerdings habe ich doch etwas später angefangen, nämlich am 11.1.12 :)
Ganz ehrlich? Beim zweiten Lesen wird die noch besser, besonders weil man weiß was kommt und welche "Schrecken" eventuell noch lauern. *seufz*
Was ich gerade äußerst lustig finde, ist ja, dass ich heute bei exakt dem Kapitel bin, das du hier als letztes hochgeladen hast :D Trotz Schule, Arbeit und sonstigen Kram schaffe ich es wahrscheinlich bis Freitag oder Samstag die Geschichte durchzulesen, also nur ein bis zwei Tage länger als letztes Mal, wo ich Ferien hatte und nicht arbeiten musste. Allerdings leidet mein Schlaf ein wenig darunter, aber mir ist das vollkommen egal, weil ich die spannenden Stellen einfach weiter lesen muss, egal ob es schon 12 oder ein Uhr ist :D
Also eigentlich wollte ich ja nur nochmal sagen, wie Toll deine Fanfiktion ist, und das sie mich auch im Leben irgendwie inspiriert. Ich finde "deinen" Severus einfach super und die Erklärung für sein Verhalten toll, weil das auch irgendwie dazu anregt nicht immer das Schlechte im Menschen zu sehen!
Liebe Grüße
Lily Luna
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Muggelchen
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Beitrag von Muggelchen »

Hallo Lily Luna,

wenn ich jetzt nur wüsste, wer du bei Facebook bist. Es gibt so viele, die immer wieder von vorn beginnen. ;) Ich finde das aber richtig schön zu wissen, dass es nicht langweilig wird und dass man immer wieder eine Kleinigkeit entdeckt. Mir tut es nur leid, dass die Geschichte dich vom Schlafen abhält.

Vielen lieben Dank für deine Review! Das bedeutet mir wirklich viel :)

Ich werde hier auf jeden Fall zu Ende hochladen.

Liebe Grüße
Muggelchen


204 Das Weiß im Auge des Feindes




Vom Brunnen im Innenhof marschierte die DA über die Brücke in Richtung Verbotenen Wald, wo die Thestrale weideten. Der Himmel wurde immer dunkler. Vor dem erneut eintretenden Regen waren sie durch einen Zauber geschützt. Allen voran lief Harry. Aus unerfindlichen Gründen ging Charlie dicht an seiner Seite und schien etwas abzuwarten. Je näher Harry dem Wald kam, desto weniger traute er seinen Augen. Eine massige Gestalt wartete friedlich vor den Bäumen. Es wunderte ihn etwas, dass seine Freunde hinter ihm wegen des riesigen Tieres nicht die Flucht ergriffen, nicht einmal miteinander tuschelten oder Fragen stellten.

„Charlie!“ Harry wandte den Kopf und blickte in ein breit grinsendes Gesicht, das von roten langen Haaren umrandet wurde. „Ich hätte es wissen müssen!“ Harry grinste zurück, bevor er den wuchtigen Körper des Tieres aus sicherer Entfernung musterte.
„In Anbetracht der Ereignisse der letzten Tage verwundert es mich nicht wirklich, dass du etwas sehen kannst, das ich durch einen Desillusionierungszauber geschützt habe.“ Charlie packte Harry an der Schulter und schob ihn nach vorn, immer näher an das beeindruckende magische Tier heran. „Möchtest du einem alten Freund nicht 'Hallo!' sagen?“

Als Charlie mit Hilfe seines Stabes den Zauber entfernte, erschien für die anderen DA-Mitglieder ein ausgewachsener Norwegischer Stachelbuckel aus dem Nichts. Alle machten einen Satz nach hinten, auch Harry, doch Charlies Hand hielt ihn in Position.

„Das ist doch nur Norbert“, erklärte Charlie mit unschuldiger Miene.
„Norbert?“, wiederholte Dean ungläubig. „Das ist ein blutrünstiger Drache!“
„Ist er nicht! Er ist handzahm, zumindest bei mir“, beteuerte Charlie und hob daraufhin demonstrativ seinen Arm. Der lange Hals bewegte sich schlangenartig, bis der klobige Kopf freundlich an die grüßende Hand stupste. Aus der Nähe konnte Harry die lebhaften Augen des Drachen sehen. Sie zeugten von Intelligenz.
„Habt ihr Hagrid schon Bescheid gegeben?“
Auf Harrys Frage hin nickte Charlie. „Natürlich! Gleich nachdem ich hier angekommen bin. Er hat ihn schon begrüßt. Wir wollten eigentlich heute wieder zurück nach Rumänien.“
„Warum ist Norbert hier?“ Voller Unverständnis schüttelte Harry den Kopf, bis ihm eine wilde Idee kam. „Du willst ihn doch nicht etwa fliegen?“
„Willst du?“, bot Charlie sofort an.

Das war ganz sicher ein verlockendes Angebot, doch er vertraute bei dieser Mission lieber auf seinen Twister, den superschnellen Rennbesen.

„Dankeschön, aber ich habe heute lieber etwas unter dem Hintern, das ich in- und auswendig kenne. Vielleicht kennt er mich ja nicht mehr? Ist immerhin schon eine ganze Weile her, dass wir uns gesehen haben“, meinte er und wartete ab, was Charlie dazu sagen würde. Dennoch näherte Harry sich dem Geschöpf, welches seine Freunde und er damals beim Schlüpfen aus dem Ei beobachteten durften. Der Kopf des Drachen kam dichter an Harry heran. Die Nüstern bebten, als Norbert an ihm schnupperte. Es roch ein wenig nach Schwefel, aber auch nach Äpfeln, als der Atem des Drachen sein Gesicht streifte.
„Siehst du, Harry?“ Charlie lächelte breit. „Kein Problem, er erinnert sich an dich.“
Vorsichtig befühlte Harry die schuppige Haut am Kopf, direkt an den großen Nasenlöchern. Hinter ihm fragte Colin: „Sagt mal, woher habt ihr bitteschön einen Drachen?“
Auch die anderen wollten eine Antwort darauf, die Charlie ihnen geben wollte, aber nicht sofort. „Das ist eine lange Geschichte, die erzähl' ich euch später.“

Die Truppe war vollständig. Harry drehte sich zu seinen Freunden um. Da standen sie alle und warteten, bis er sein Okay geben würde. „Dann sind wir alle flugbereit? Gruppe 2 kann zu den Thestralen gehen.“ Harry nickte zum Wald hinüber, wo sich Luna bereits zu den geflügelten Wesen gestellt hatte und wartete.

Ein Drittel der DA machte sich auf den Weg zu den geflügelten Wesen, während die anderen sich um Harry und den Drachen scharte. Ein Drache – dazu noch ein zahmer – war ein seltener Anblick. Ein paar überwanden ihren Respekt und befühlten vorsichtig das Gesicht des Drachen, der sich die Streicheleinheiten mit einem tiefen, gurgelnden Geräusch gefallen ließ.

Als sich die Thestrale erhoben, bestiegen die anderen beiden Gruppen ihre Besen. Auch Harry stieß sich vom Boden ab und erhob sich in die Lüfte. Unbemerkt von ihm selbst setzte er sich an die Spitze des Trupps. Mit Hilfe von Desillusionierungszaubern unsichtbar gemacht flogen sie in Formation dicht über die Bäume hinweg.

Niemand bemerkte die Gestalt am Boden, die immer kleiner wurde. Es war Hermine, die denen hinterherschaute, die sie so gern begleiten wollte. Für einen Moment glaubte sie, einen Drachen gesehen zu haben, doch es konnten auch nur die dunklen Wolken gewesen sein, die die Form von großen Schwingen angenommen hatten.

„Viel Glück!“, flüsterte sie ihren Freunden hinterher, die sich nach und nach mit einem Zauber unsichtbar machten und in den sich aufblähenden Cumulonimbuswolken verschwanden. Schwermütig seufzte sie und setzte ihren Weg fort. Obwohl es mittlerweile wieder stark regnete, schlenderte sie über die Wiesen und ließ ihre Gedanken schweifen. Vielleicht, dachte sie, hätte sie einen Felix Felicis einnehmen sollen. Jetzt, nachdem sie laut der Prophezeiung das tränende Herz finden sollte, würde sie mit einem Glückstrank wahrscheinlich bei ihrem Spaziergang stolpern und mit dem Gesicht in der gesuchten Zutat landen. Im Moment wollte sie jedoch einfach nur ihren Kopf beruhigen. Albus hatte ihr gesagt, sie würde ihren Verstand benötigen.

„Hermine?“
Aufgeschreckt drehte sie sich um und stolperte, landete dabei mit der Hand auf einer Diestel, anstatt auf der letzten gesuchten Zutat. „Autsch!“
„Hast du dir was getan?“ Eine einzige große Hand half ihr mit Leichtigkeit auf.
„Hagrid!“
„Ich wollt dich wirklich nich' erschreck'n.“
„Schon gut.“ Mit einer Hand befreite sie ihre Hose von Grashalmen und kleinen Ästen.
„Was tust du hier drauß'n? Es regnet in Strömen.“ Ohne ihr die Zeit für eine Antwort zu gewähren fragte er: „Willst du auf einen heißen Tee reinkommen? Hab' gerade das Wasser aufgesetzt und wollte noch Fang reinrufen.“ Schon kam der schwarze Sauhund angerannt. Der Hund war völlig durchnässt, freute sich aber trotz des hohen Alters des Lebens. „Da bist du ja, alter Junge.“ Obwohl Hermine ihm nicht geantwortet hatte, legte Hagrid eine seiner warmen Hände, die so groß wie ein Mülltonnendeckel war, auf ihren Rücken und schob sie in Richtung Hütte.

Hermine ließ sich bedienen. Der Halbriese schien zu wissen, dass sie nicht in Höchstform war.

„'s war 'ne schreckliche Nacht, hab ich gehört.“ Hagrid hatte seine Ohren immer überall.
„Ja“, stimmte sie halbherzig zu. Nach Reden war ihr nicht zumute, aber nach Gesellschaft und Ablenkung.
„Mach dir mal keine Sorgen, Ginny wird schon nichts passier'n.“ Er reichte ihr eine seiner kleineren Tassen mit nur einem halben Liter Fassungsvermögen. Der Tee duftete nach Himbeeren. Severus. Seit wann hatte sie solche Assoziationen?
„Rubus idaeus“, murmelte sie, bevor sie einen Schluck nahm.
„Was?“
„Die Himbeere, das Aspirin der Natur.“
Hagrid machte ein besorgtes Gesicht. „Hast du Kopfschmerzen?“
„Ein bisschen schon.“
„Ja“, der Halbriese nickte, blickte betreten drein. „Ja, das glaub ich gern.“ Plötzlich stand er auf und holte etwas. Als er sich wieder setzte, hielt er ihr eine Büchse mit Keksen entgegen.
„Nein, vielen Dank.“
„Die sind nich' von mir. Hab ich von Professor McGonagall geschenkt bekommen.“
„Oh.“ Verlegen griff Hermine zu und knabberte an ihrem Walkers Shortbread. Wären es selbst gebackene Kekse von Hagrid gewesen, würden die erst schmecken, wenn man sie zuvor eine halbe Stunde im Tee eingeweicht hätte.
„Ich hab auch gehört“, begann Hagrid vorsichtig, „was Professor Snape passiert ist. Und auch dem jungen Mr. Malfoy.“
Woher 'hörte' Hagrid so etwas nur immer, fragte sich Hermine? „Im Krankenflügel hat eine Heilerin gesagt, dass es im Mungos ähnlich aussehen soll.“ Hagrid horchte auf und lauschte. „Es hat alle Todesser getroffen.“
„Tatsächlich? Wie ist das nur passiert?“

So begann Hermine zu erzählen, was sie wusste. Hagrid hing ihr an den Lippen. Offenbar hatte er von Albus nur Bruchteile von dem erfahren, was sich im Krankenflügel abgespielt hatte. Der Halbriese fühlte wegen seines großen Herzens bei jedem ihrer Worte mit den Patienten mit. Durch die Nacherzählung der Geschehnisse erlebte Hermine alles noch einmal ganz bewusst, aber mit einem notwendigen, emotionalen Abstand. Auf diese Weise konnte sie die Ereignisse viel besser verkraften, überdenken und analysieren. Als sie mit der Geschichte fertig war, war auch der halbe Liter Tee aus ihrer Tasse verschwunden.

„Möchtest du noch ...?“
Hermine winkte ab. „Nein danke, ich werde noch etwas spazieren gehen. Ich suche etwas. Vielleicht finde ich es durch Zufall.“
„Was suchst du denn? Vielleicht kann ich dir helfen.“
„Das ist lieb, Hagrid, aber ich weiß nicht genau, was es ist oder wie es aussehen soll. Es kann eine Blume sein, eine Grassorte, eine Holzart oder eine Frucht, sogar ein Mineral. Du weißt ja, dass man selbst Mondstein für Zaubertränke benutzt.“ Ihr Kopf war nun wieder klar, nur ihr Körper blieb weiterhin müde.
Hermine stand bereits auf, als Hagrid sagte: „'s ist schade, dass du nicht früher hergekommen bist. Dann hätte ich dir ein ganz prächtiges Tier zeigen können.“
Eines seiner Monster, dachte sie. „Was für ein Tier?“
„Charlie war vorhin hier. Weiß du, wen er mitgebracht hat?“ Weil sie den Kopf schüttelte, rückte er mit der Sprache heraus, während sich ein Lausbubenlächeln auf seinem Gesicht niedergeschlagen hatte. „Norbert!“
„Nein, wirklich?“
„Wenn ich es dir doch sage. Ein wundervolles Wesen, ganz wundervoll und so sanft“, begann er zu schwärmen. „Er hat mich sofort wiedererkannt!“ Auf den Drachen war Hagrid besonders stolz. Immerzu hatte Charlie ihm Fotos aus Rumänien geschickt, damit der Halbriese nicht zu sehr unter der Trennung leiden würde.

„Ich habe Neville vorhin gesehen“, sagte Hagrid verabschiedend, als er sie bereits zur Tür begleitet hatte. „Sah sehr blass aus, der Arme. Ist wohl jetzt im Gewächshaus und ruht sich aus. Vielleicht braucht er Gesellschaft?“
„Vielleicht besuche ich ihn. Bis dann, Hagrid. Und vielen Dank für den Tee.“

Mit einem aufgefrischten Impervius wanderte Hermine erst ziellos umher. Dabei hielt sie die Augen nach ihr unbekannten Pflanzen offen und die, die sie nicht kannte, pflückte sie.

Auch die Mitglieder der DA erneuerten ihren Zauber, um während des Fluges vor dem Regen geschützt zu bleiben. Wie vorhergesagt dauerte es nicht mal eine halbe Stunde. Sie konnten die Festung von Hopkins am Horizont ausmachen konnten. Direkt darüber hatten sich schwarze Wolken zusammengebraut, die den Tag zur Nacht machten.

Ein Schauer lief Harry über den Rücken, als er das alte Gebäude und den hohen Turm sah.

Keine Toten.

Der Plan stand fest. Es gab kein zurück. Man wurde erwartet, das wusste man von den Aufzeichnungen von Rons Patronus'. Sie erwarteten Harry Potter und den sollten sie bekommen. Ein Überraschungsangriff war unter diesen Umständen kaum möglich, also sollten die Muggel eine Show bekommen, die es in sich haben würde. Wenn für die Muggel eine Überraschung vorhanden war, dann hieß die klipp und klar Norbert. Den Muggeln einen Drachen zu präsentieren würde ihnen einen mächtigen Schrecken einjagen. Charlie beteuerte, dass die Haut von Norbert so schwer gepanzert war, dass selbst eine kleine Rakete dem Tier nichts anhaben könnte. Trotz seiner Ideale gefiel Harry die Idee mit dem Drachen besonders.

Wie ein bedrohliches Gebilde kam die Festung immer näher. Die Gruppen 1 und 3 flogen – noch immer getarnt – ihre Bögen, um sich in einiger Entfernung um das Gebäude herum zu positionieren. Harry blieb in der Luft stehen, die Thestrale hinter ihm ebenfalls. Nur Charlie flog mit dem Drachen über ihre Köpfen hinweg, was man nur an den heftigen Windstößen durch die kräftigen Flügel spüren könnte.

'Jeden Moment', dachte Harry, 'würde Charlie als Erster den Desillusionierungszauber aufheben und für alle Muggel sichtbar werden.'

Neugierig blickte Harry nach oben und sah, wie sich erst die Umrisse des gewaltigen Drachen vom finsteren Himmel abzeichneten, bis er im Landeanflug komplett sichtbar war. Keine Sekunde später schlug Norbert seine stählernen Klauen in die Mauern der Festung. Unter dem ungeheuren Gewicht des Feuerspeiers barsten die Steine auseinander, als wäre eine Bombe eingeschlagen. Im gleichen Augenblick entfernten auch alle anderen ihre Desillusionierungszauber.

Die paar Figuren auf dem Innenhof, die verschreckt hin und her liefen, blieben plötzlich stehen und schauten nach oben. Für Hopkins' Leute breitete sich am Himmel eine Schar magischer Feinde aus, als die Gruppen nach und nach sichtbar wurden – auf Besen und dämonisch aussehenden Thestralen. Irgendjemand schrie beim Anblick des Drachen. Für Charlie ein Stichwort.

Auf ein Zeichen seines Herrn holte Norbert tief Luft und erhellte den tiefschwarzen Wolkenhimmel mit einem laut rauschenden Feuerball und dem wahrnehmbaren Geruch von Schwefel. Der Feuerschweif berührte nicht einen einzigen Stein der Festung, sondern driftete nach oben – eine Warnung für die Muggel. Bei diesem angsteinflössenden Anblick brach in der Burg die Hölle los. Hopkins' Männer rannten wild durcheinander, brüllten sich gegenseitig Befehle zu. Am lautesten schrie Hopkins selbst, der eine Handfeuerwaffe auf den Drachen richtete. Erste Schüsse fielen. Durch Norberts langen und dicken Hals war Charlie vor den Kugeln geschützt. Man konnte erkennen, wie einige Männer zu einer Kiste rannten und sich die Taschen mit schwarzen, eiförmigen Gebilden voll stopften, um sich danach in das Getümmel des Kampfes zu stürzen, der im Moment noch sehr ungerecht schien, denn der Feind schwebte unerreichbar am Himmel.

„Die Zauberer, sie greifen an!“, rief eine der Gestalten im Innenhof der Festung. Eine Lüge, denn bisher hatte keiner von der DA seinen Finger krumm gemacht.

Ein Muggel warf eines der eiförmigen Gegenstände nach oben. Der Wurfarm war schwach, das Ei flog von der Anziehungskraft getrieben einen Bogen und explodierte an einem Nebengebäude der Festung, dessen Fenster durch den Druck zersplitterten.

„Bist du übergeschnappt?“, rügte eine gesichtslose Stimme. „Willst du uns umbringen?“

Für Granaten waren sie also zu hoch, nahm Harry erleichtert zur Kenntnis. Über Granatenwerfer, von denen Dean erzählt hatte, verfügten die Muggel offenbar nicht.

Trotzdem warfen in ihrer Panik noch andere Personen mit diesen Sprengkörpern. Jedes Mal, wenn eine der Granaten flog, landete es nach gebogener Flugbahn wieder auf dem Boden im Innenhof und explodierte mit einem ohrenbetäubenden Knall, gefolgt von umherfliegendem Sand und Geröll.

„KEINE GRANATEN MEHR!“, befahl Hopkins, der noch immer mit seiner Waffe wahllos ein Ziel am Himmel anvisierte und feuerte, doch er traf niemanden. Starker Wind und der in die Augen fallende Regen erschwerten einen Treffer. Hopkins' Stimme hallte über den ganzen Platz. „Greift euch die Maschinenpistolen, lasst niemanden am Leben! Wir machen keine Gefangenen!“ Einen Moment später ließen seine Männer die Rhapsodie in Blei erklingen.

Die Formation der Besenflieger löste sich auf. Einige machten sich unsichtbar, andere flogen in einem Affenzahn um die Festung herum. Verwirrungstaktik. Bei unter Imperius stehenden Feinden hatte das damals stets wunderbar gefruchtet.

Es war ein ungleicher Kampf. Einerseits warteten die Muggel mit schwerem Geschütz auf, doch die Zauberer machten keine Anstalten, sich zur Wehr zu setzen. Stattdessen trieben sie ihre Spielchen mit den Muggeln, zeigten ihre Schnelligkeit auf Besen und Thestralen und machten sich unsichtbar, bevor sie aus dem Nichts wieder auftauchten. Bisher hatte kein einziger von der DA auch nur einen Zauberspruch gegen Hopkins' Männer abgefeuert. Lediglich sich selbst hatten sie magisch gegen Kugeln geschützt.

Um die Muggel abzulenken, flogen Angelina und Alicia dicht nebeneinander einmal komplett um die Festung herum. Als sie den Turm erreichten, sah Angelina etwas aus dem Augenwinkel.

„Alicia!“, schrie sie der ehemaligen Mitschülerin hinterher, so dass die eine Wende machte.
„Was ist? Wir haben keine Zeit zum Ausruh...“

Mit ausgestrecktem Zeigefinger deutete Angelina auf den Turm und da sah Alicia es auch. Jemand klammerte sich an der Außenseite fest, kletterte bei dem Regen und dem starken Wind Stein für Stein hinunter. Wenn einer der Muggel so sehr in Panik geraten war, dass er sogar einen so gefährlichen Ausweg wie diesen in Betracht zog, mussten sie eingreifen. Niemand durfte ums Leben kommen. Gemeinsam näherten sich die beiden langsam der Person.

„Ist das etwa …?“
Angelina erkannte die Frau, die sich im ungesicherten Freiklettern übte. „Ja, es ist Ginny!“
„Worauf warten wir dann?“
„Wir müssen vorsichtig sein“, mahnte Angelina, „damit sie nicht erschrickt und fällt.“

Beide flogen auf Ginny zu, die sich einige Meter über der Erde mit ihren Fingerspitzen an den Steinen festkrallte. Die Kraft hatte sie verlassen. Die Hälfte des Weges war sie bereits hinuntergeklettert, doch jetzt konnte sie weder weiter nach unten noch zurück nach oben. Die Muskeln waren so angespannt, dass ihre Gliedmaßen vollkommen steif waren. Sie konnte nicht mehr.

Alicia nahm die Position an Ginnys Beinen ein und war bereit zuzugreifen. Angelina flog in Höhe des Oberkörpers. Leise, damit sie nicht zusammenfahren und den Halt verlieren würde, flüsterte Angelina ihren Namen: „Ginny?“ Ginny hatte die Augen geschlossen und flüsterte unentwegt „Ich muss weiter! Ich muss weiter!“ zu sich selbst. „Ginny?“, wiederholte Angelina und erst da öffnete die gesuchte Freundin die Augen.
„Träum' ich?“ Die Stimme war beängstigend schwach. Der geisterhafte Hauch eines Lächelns war zu erkennen.
„Nein Ginny, du träumst nicht.“
Mit einer ausgestreckten Hand umfasst Angelina Ginny vorsichtig am Oberkörper, von einer Achselhöhle zur anderen. „Unter dir ist Alicia mit dem Besen. Ich hab dich, aber du musst auf den Besen aufsteigen.“
„Ich kann nicht loslassen!“, wimmerte Ginny. Ihre Hände waren durch Regen und Wind steif und gefühllos geworden. Die Hände waren blau, die Finger weiß sie Kreide. Angelina bemerkte den Stoff an der linken Hand, mit dem der unnütze Daumen zurückgebunden war.
„Ich halte dich, Ginny. Alicia hat deine Beine. Lass los“, bat Angelina erneut.

Vorsichtig blickte Ginny nach unten, was alles andere als leicht war. So dicht wie nur möglich war sie an der Wand geblieben. Nur so hatte sie die Strecke zurücklegen können. Mit den nackten Füßen hatte sie vorsichtig nach dem nächsten Stein gefühlt, der ein wenig aus dem Mauerwerk herausragte, hatte sich immer weiter hinuntergelassen, bis sie nicht mehr konnte.

Ginny erblickte den Besen zu ihren Füßen und nahm all ihren Mut zusammen, ihren linken Fuß mit seinen zersplitterten und blutenden Nägeln von dem minimalen Vorsprung zu lösen. Sie fühlte mit den Zehen nach dem Besen, spürte plötzlich eine Hand an ihrem Fußgelenk. Alicia leitete sie, gab ihr von unten Halt und umfasste sie sogar am Oberschenkel, während Angelina sie weiterhin am Oberkörper festhielt. Die beiden hatten sie fest im Griff. Selbst wenn sie zusammensacken würde, dachte Ginny, würde sie nicht fallen.

„Ich lass jetzt los“, warnte Ginny vor, doch erst als Angelina bestätigte, entkrampfte sie ihren Hände und warf ihre steifen Arme um Angelina.
„Keine Angst, wir haben dich!“

Zitternd und völlig durchnässt atmete Ginny heftig, als sie von den beiden Freundinnen mitten in der Luft gehandhabt wurde. Eine große Hilfe war sie wegen ihrer kaum noch beweglichen Gliedmaßen nicht. Jeder einzelne Muskel schmerzte, manche hatten durch die Anstrengung mit schweren Krämpfen zu kämpfen. Nach einem kurzen Augenblick nahm sie mit Erleichterung das Gefühl des Polsterungszaubers wahr. Sie saß, wurde von hinten von Alicia umarmt. Endlich, dachte Ginny, konnte sie ihre Arme und Beine entspannen. Locker baumelten ihre Gliedmaßen an der Seite ihres Körpers herab.

„Bring sie weg“, Angelina sah sich am Himmel um. „Ich werde Harry Bescheid geben!“
„Wohin soll ich sie …?“
„Erst einmal auf den Boden und etwas weg von der Festung. Kümmer dich um ihre Wunden und halte sie warm.“
„Okay“, Alicia nickte Angelina zu, bevor sie Ginny noch fester umarmte und in ihr Ohr sprach. „Wir bringen uns erstmal in Sicherheit.“

Geschwächt nickte Ginny, bevor Alicia den Besen zum Rande des Verbotenen Birkenwaldes steuerte.

Ganz in der Nähe von der Stelle, wo die beiden Frauen landeten, materialisierten sich Fogg und Stringer. Beide gingen erst einmal in die Hocke, um nicht gesehen zu werden. Die Lage wollte geprüft werden. Durch die Bäume hindurch konnte man ein steinernes Gebäude erkennen.

„Da“, Fogg zeigte mit ausgestrecktem Arm in die Richtung, „da ist die Festung.“
„Und da“, erwiderte Stringer um einiges leiser, als er in die entgegengesetzte Richtung deutete, „ist irgendjemand.“

Fogg wandte sich um und musterte die Gegend. Bäume, Sträucher, ein fliehendes Reh und – tatsächlich – eine Gestalt, die sich hinter einem Busch versteckte und etwas beobachtete. Aufmerksam suchten Fogg und Stringer mit den Augen die Gegend ab, die die Gestalt zu beobachten schien. Sie sahen zwei Frauen.

„Verdammt!“, flüsterte Fogg. „Wer sind die beiden? Und was will die Gestalt hinter den Büschen?“
„Wir müssen still sein!“, mahnte sein Freund. „Der Typ ist mir nicht geheuer.“ Stringers Augenmerk war weiterhin auf den Fremden gerichtet. „Jemand, der in einem Wald hinter einem Busch hockt und zwei Frauen beobachtet, kann nichts Gutes im Sinn haben.“ Er sprach da aus Erfahrung. „Wir sind noch nicht bemerkt worden, weder von den Frauen noch von ...“ Er verzog das Gesicht. „Was ist das?“ Stringer kniff die Augen zusammen, um die Figur besser erkennen zu können. „Ist das sein Tier?“
Nervös fuhr sich Fogg mit einer Hand über das Gesicht. „Scheiße Mann, wir sind im Verbotenen Birkenwald! Hier sind eine Menge Viecher unterwegs, denen man normalerweise aus dem Weg geht!“
„Wer sind die Frauen?“

Auf die Frage hin sprach Fogg leise einen Zauber, der eine durchsichtige Blase an seiner Stabspitze hervorbrachte, durch die man die Gegend wie durch ein Fernglas vergrößert wahrnehmen konnte. Er blickte zu den beiden Damen hinüber.

„Das ist die Tochter des Ministers!“ Der Zustand der jungen Frau war nicht der beste, was in Fogg ein Schuldgefühl aufkommen ließ. „Sie ist verletzt, aber die andere sorgt sich um sie.“
„Und der Typ hinter dem Busch?“

Mit seinem Stab drehte sich Fogg, damit er die Gestalt besser erkennen konnte. Das Gesicht der Person konnte er nicht sehen.

„Ich bin mir nicht sicher ...“ Er schaute genauer hin, bemerkte den bulligen Körper, der durch den schlammigen Waldboden vollkommen verschmutzt war. „Kein Tier, nein, aber für einen Menschen viel zu ...“ Plötzlich bewegte sich die Gestalt, um an einer anderen Seite des Busches hervorzulugen, die Augen weiterhin starr auf die Frauen fixiert. Spitze Zähne, verfilzte Haare und ein gieriger Blick auf die beiden Ahnungslosen. „Oh, Merlin! Das ist ...“

Der Anblick verschlug Fogg die Sprache. Er kannte den Mann. Ganz allein suchte sein Gehirn die entsprechende Erinnerung von vor elf Jahren heraus. Eine schmerzhafte Rückblende, die er all die Jahre verdrängt hatte. Die Unheil bringenden Worte aus kratziger Kehle echoten in seinem Geist, als dieser Kerl ihn auf dem Weg zur Kirmes ans Schlaffitchen genommen hatte und ihm ins Ohr flüsterte: 'Pass heute Nacht auf deinen Hals auf!' Ein wahnsinniges Grinsen hatte die Worte begleitet. Den ganzen Abend lang hatte er nur an diesen Mann und die Drohung denken müssen, die sich in der Nacht auf dem Weg nachhause erfüllte. Kurze Zeit später hatte sein Freund Stringer ihn schwer verwundet im Wald gefunden.

„Das ist ...“ Fogg war zu geschockt.
„Wer ist das? Kennst du den?“ Erst jetzt bemerkte Stringer, wie sein Freund zitterte. Mit einer Hand auf dessen Schulter wollte er ihn beruhigen. Leise und eindringlich fragte er wiederholt: „Wer ist das?“
„Der Typ ...“ Wut kam auf. Die Lust auf Rache zeichnete sich mit tiefen Furchen in seinem Gesicht ab. Fogg biss die Zähne zusammen und zischelte: „Der Typ hat mich gebissen!“
„WAS? Wie willst du das wissen? Du kannst ihn doch gar nicht erkennen!“ Kein Vollmond.
„Er hat mich auf dem Kieker gehabt, den ganzen Abend lang. Er hat mir gedroht, mich sogar vorgewarnt, was passieren wird.“ Fogg ballte seine Fäuste. „Ich sollte auf meinen Hals aufpassen, hat er gesagt. Dieser Mistkerl ...“

Fogg wollte bereits losstürmen und den Mann zur Strecke bringen, doch Stringer hielt ihn am Arm fest. Als er sich wehrte, brachte Stringer ihn zu Fall. Er presste Fogg mit dem Gewicht seines eigenen Körpers auf den Boden, bis der Aufgebrachte sich beruhigt hatte.

„Keine Selbstmordmission, mein Freund!“, befahl Stringer. „Wenn er das wirklich sein sollte, dann nehmen wir ihn uns gemeinsam vor, aber im Moment“, er blickte auf, um den Mann zu beobachten, „hat er ganz offensichtlich Interesse an den Frauen.“
„Fein!“, herrschte Fogg in an. „Gehst du jetzt wieder runter von mir?“
„Ich weiß nicht, du bist trockener als der Boden“, scherzte Stringer, ließ aber gleichzeitig von seinem Freund ab. „Also“, er überblickte die Lage, „Miss Weasley hat es offensichtlich geschafft zu fliehen und ist mit ihrer Bekannten vom Regen in die Traufe gekommen. Sie wissen nichts von dem Kerl, der sie beobachtet.“
„Und der Kerl weiß nicht“, fügte Fogg mit bebender Stimme hinzu, „dass wir ihn beobachten.“
„Richtig! Ich würde sagen, der Vorteil liegt ganz klar bei uns.“

Mit einem Male hörte man ein lautes Krachen in der Nähe. Fogg und Stringer sowie die Frauen und auch Greyback schaute gemeinsam in die gleiche Richtung. Das Geräusch kam von der Festung. Durch die Bäume hindurch konnte man einen Drachen erkennen, der eine der Wände auseinander nahm, weil er an ihr Halt suchte.

„Himmel, ist das ein Drache?“, fragte Ginny leise.
Alicia nickte, betrachtete sich dabei die verletzten Finger ihrer Freundin. „Charlie hat ihn 'Norbert' genannt.“
„Ah!“ Ihr Bruder hatte ihr oft geschrieben, dass ein Tier, um das er sich in Rumänien kümmerte, sehr zahm war, weil er es schon als Baby unter Obhut hatte. Natürlich wusste sie von Erzählungen auch von der Geschichte um Hagrid und das Drachenei.
„Deine Finger sehen scheußlich aus“, murmelte Alicia mit verzogenem Gesicht. Der Nagel des linken Mittelfingers war in der Mitte gespalten und bis hinauf zum Nagelbett eingerissen. Die kleine Wunde blutete unaufhörlich.
Ginny betrachtete den Finger. „Es tut nicht halb so weh wie es aussieht. Ich bin nur froh, dass ich die Nägel immer so kurz schneide, sonst wären alle gebrochen.“
„Was haben die dir nur angetan?“
„Mich ruhiggestellt.“ In Ginnys Stimme konnte Alicia all die Verachtung für die Muggel heraushören. „Ich glaube, sie wollten Harry herlocken.“
„Was auch funktioniert hat“, bestätigte Alicia. „Allerdings anders, als sie es sich vorgestellt haben dürften.“ Mit einem Episkey, einem praktischen Heilzauber für kleinere Wunden, stoppte Alicia die Blutung am Finger. „Tut mir leid, mehr Heilzauber habe ich nicht drauf. Was ist mit dem Daumen?“ Vorsichtig strich sie über den Stofffetzen, der mittlerweile nass und dreckig war.
„Ich musste ihn mir brechen, damit ich mich befreien konnte.“
Alicias Augen wurden ganz groß, als sie versuchte, sich diese Situation vorzustellen. „Bei Merlin, das muss wehgetan haben.“
„Durch die ganzen Beruhigungsmittel ging es eigentlich.“
„Beruhigungs... Herrje, die Muggel verdienen wirklich eine Abreibung. Einen Ferula zum Schienen würde ich noch hinbekommen.“
„Ist nicht nötig.“ Neugierig blickte Ginny in Richtung Festung. „Wer von uns ist alles hier?“ Ginny blickte hinüber zum Turm, in dem sie vor kurzem noch gefangen gehalten wurde.
Alicia schmunzelte. „Frag mich lieber, wer nicht hier ist, das ist schneller zu beantworten.“

Endlich fand Ginny ihr Lächeln wieder. Alle waren gekommen, fast alle, nur um sie zu befreien. Es war ein wunderschönes Gefühl, so viele Freunde zu haben. Sie würde das Gleiche für die anderen tun.

„Neville ist nicht hier. Er musste Blut spenden und war danach nicht mehr zu gebrauchen.“
Ginny runzelte die Stirn. „Blut spenden? Wem?“
„Snape. Bei dem Treffen im Raum der Wünsche ist etwas ganz Seltsames geschehen. Ich weiß nicht, ob es gut oder schlecht ist.“
„Erzähl schon!“, forderte Ginny.

Alicia kam der Bitte nach, auch wenn sie nicht viel erzählen konnte, weil sie die ganzen Hintergründe nicht kannte. Sie konnte nur schildern, wie Draco mit Harrys Hand und Stab sein dunkles Mal berührte und daraufhin zusammengebrochen war. Im Krankenflügel lag ihr ehemaliger Professor für Zaubertränke mit einer ähnlichen Wunde im Bett. Ginny, die zusammen mit Draco die Prophezeiung von Trelawney gehört hatte, wusste mit den Ereignissen etwas mehr anzufangen.

„Und Harry geht es wieder gut?“, wollte Ginny wissen.
„Seine Narbe hat geblutet. Danach ist er vom Schlaf übermannt worden, hat sich eine Stunde erholt und ist pünktlich zu uns gestoßen. Gleich danach sind wir gemeinsam los.“ Alicia stoppte nach und nach die vielen kleinen Blutungen an Händen und Füßen. „Hermine ist auch nicht mitgekommen. Warum, das weiß ich nicht.“

Für Ginny war klar, dass Hermine wegen Snape und der Prophezeiung zurückgeblieben war. Immerhin war sie auch Heilerin und würde Poppy im Krankenflügel sicherlich zur Hand gehen. Und außerdem, das wusste Ginny, sorgte sich ihre Freundin um den Tränkelehrer. Hermines Anwesenheit war auch gar nicht notwendig, dachte sie, als sie erneut zur Festung blickte. Norbert hatte den Turm erklommen und spie sein Feuer gen Himmel. Auch ohne Hermine hätten die Muggel es schwer, gegen die DA anzukommen.

Ginny behielt Recht. Die Muggel hatten es wahrlich schwer. Sie schossen auf die fliegenden Feinde, warfen vereinzelt mit Granaten oder aus Verzweiflung auch mit Steinen der Mauer, die von dem Drachen zerstört worden war.

„Was können wir schon dagegen“, Alejandro deutete auf das Feuer speiende Ungeheuer, „ausrichten? Wir sind erledigt, Robert! Wir müssen uns ergeben, wenn uns unser Leben lieb ...“
Hopkins ergriff Alejandro am Hals und drückte zu. „Ist uns unser Leben so lieb?“, murmelte er bedrohlich leise. Der Wahnsinn schimmerte in Hopkins' Augen, in denen sich das Feuer des Drachen spiegelte. Er drückte noch viel stärker zu, so dass Alejandro es mit der Angst zu tun kam. „Was nützt uns das Leben, wenn es mit Qualen begleitet wird, die von diesem Abschaum hervorgerufen werden?“
„Lass meinen Vater los!“ Mit einer Handfeuerwaffe zielte Pablo aus einigen Metern Entfernung unsicher auf Hopkins.
„Du wagst es, eine Waffe auf mich zu richten? Bist du auch Manns genug, um abzudrücken?“

Von oben aus wurde das Szenario aufmerksam verfolgt. Ron flog zu Harry hinüber, bis er direkt neben ihm in der Luft schwebte.

„Siehst du das?“ Ron nickte in den Innenhof.
„Ja, sie lehnen sich gegeneinander auf. Gut!“
„Gut?“, fragte Ron irritiert nach, zog dabei die Augenbrauen zusammen.
Harry nickte. „Ihre Gruppe hat keinen Zusammenhalt, Ron, hatten sie wahrscheinlich nie. Sie splittern auf. Das ist gut für uns. Nicht mehr alle werden sich uns in den Weg stellen!“
„Schön und gut“, stöhnte Ron, „doch wie sehen wir, wer uns gefährlich werden kann und wer nicht?“
„Vielleicht werde ich es sehen können?“ Mit schräg gelegtem Kopf betrachtete Harry den Innenhof. Einige Muggel waren längst ins Gebäude geflüchtet. In etwa fünfzig waren es noch, die sich mit Waffen in dem großen Innenhof verschanzt hatten. „Es ist Zeit. Wir gehen runter!“

Der zweite Teil des Plans war, mit einigen Mitgliedern der DA in den Innenhof zu treten. Die meisten sollten von oben Rückendeckung geben, denn es könnte gefährlich werden. Handgranaten würden viel Schaden anrichten, auch bei Zauberern.

„Soll ich das Zeichen geben?“, fragte Ron, den Stab bereits zum Himmel gerichtet, um sein 'signo dato' zu sprechen. Harry nickte und gleich darauf stieben roten Funken aus Rons Zauberstab, die sich hoch oben am Himmel sammelten, bevor sie wie eines der Feuerwerke der Zwillinge auseinander brachen. Das Signal für die zehn im Vorfeld bestimmten Mitglieder der DA, den Innenhof anzusteuern.

Als Erste landeten Colin, Dennis, Fred und George, die sofort unter Beschuss genommen wurden, doch ihre Freunde in der Luft vereitelten die Angriffe der Muggel.

„So“, Ron stieß Harry mit seinem Ellenbogen an, „dann lass und die Muggel mal etwas aufmischen. Schade, dass Ginny das nicht sehen kann.“
„Ich bin froh, dass Angelina und Alicia sie gefunden und in Sicherheit gebracht haben.“ Harrys Miene war ernst. „Aber wir werden ihr davon erzählen.“
„Nach dir, Harry.“

Als würde Ron höflich eine Tür aufhalten machte er eine einladende Handbewegung in Richtung Innenhof. Sofort sauste Harry nach unten, dicht gefolgt von Ron. Beide waren für die Muggel noch unsichtbar.

Colin und Dennis waren bereits kräftig dabei, sich gegen zwei Muggel zu wehren, die auf sie schossen. Mit ihren Zauberstäben verwandelten sie die Kugeln in Murmeln, die kraftlos aus dem Lauf der Waffen rollten, doch als Dennis auf einer ausrutschte und auf den Allerwertesten fiel, änderte Colin die Taktik.

„Abwarten und Tee trinken“, rief er den Männern mit den Waffen zu, bevor er seinen Stab schwang. Im Nu hielt einer der Muggel eine Tasse in der Hand, der andere eine gläserne Kanne mit heißem Tee, die er vor Schreck fallen ließ. „Mag wohl kein Hagebutte“, murmelte Colin, als er seinem Bruder vom Boden aufhalf. Die Tasse ließ der andere auch fallen, bevor die beiden entwaffneten Männer das Weite suchten und ins Hauptgebäude rannten.

Zur gleichen Zeit hatte sich Luna einem Mann genähert, der hinter ein paar prall gefüllten Säcken saß und sein Gewehr zu laden versuchte. Die nassen Haare hingen ihm ins Gesicht. Er hatte die Hexe längst bemerkt und bekam es mit der Angst zu tun. Eine Patrone fiel ihm aus der zitternden Hand und rollte auf Luna zu, die dem Projektil mit verträumten Blick nachschaute. Der Muggel nahm eine neue Patrone und stopfte sie in die Vorrichtung seines Mehrladergewehrs. Er lud durch und zielte auf die lächelnde junge Frau, die gemächlich darauf wartete, bis er abdrücken würde. Der Mann zögerte, gab sich jedoch einen Ruck und zielte auf ihren Oberschenkel. Kaum hatte er den Finger gekrümmt, wedelte Luna mit ihrem Stab und man hörte ein leises Klick. Keine Kugel kam geflogen. Stattdessen kroch aus dem langen Lauf ein kleiner blauer Schmetterling heraus, der seine Flügel langsam ausbreitete. Fasziniert und geschockt zugleich beobachtete der Muggel den Schmetterling, bevor er den Schrecken überwandte und seine Hand erneut nach der Kiste mit Munition ausstreckte. Luna nahm das als Anlass, erneut mit dem Stab zu wutschen. Einen Augenaufschlag später war die Kiste nicht mit goldfarbenen Patronen gefüllt, sondern mit unzähligen blauen Schmetterlingen. Manche flatterten verträumt von dannen, andere ließen sich auf dem Arm des Muggels nieder, der sich nun darüber bewusst wurde, keine Chance gegen die Blonde zu haben.

„Sie sind schön, oder?“, fragte Luna mit verzücktem Lächeln. Einen der blauen Falter, den sie mit Bewunderung betrachtete, ließ sie auf ihrer Hand landen. „Beim Teeblätter-Lesen bedeuten Schmetterlinge Glück!“

Der Muggel nickte. Wie in Zeitlupe hob er beide Hände und ergab sich wortlos.

Ähnlich lief es bei den Zwillingen ab. Drei Männer waren es, die sich in einem der Nebengebäude verschanzt hatten und aus den Fenstern im Erdgeschoss mit Granaten warfen. Jede einzelne von den Pineapples verzauberten Fred und George in ein harmloses Feuerwerk, das Funken sprühte und mit knatternden und zischenden Geräuschen im Innenhof umhersauste.

„Langsam wird es langweilig.“ Mit frech funkelnden Augen blickte Fred zu George hinüber. „Wir sollten nicht immer warten, bis sie so ein Ding rauswerfen.“
„Hast recht!“ Beide hoben ihre Stäbe. „Auf drei!“

Ein, zwei, ...

In dem Nebengebäude war mit einem Male die Hölle los. Alle Handgranaten waren in Windeseile in Feuerwerkskörper verwandelt, die zeitgleich explodierten. Davon aufgescheucht verließen die drei Muggel das Gebäude, um draußen nach frischer Luft zu schnappen. Als sie die Zwillinge sahen, machte einer der Männer ganz große Augen.

„Verdammte Scheiße, die können ihre Körper verdoppeln!“ Seine beiden Kumpane blickten ebenfalls zu Fred und George hinüber. „Das ist unser Ende!“

Alle drei hoben ihre Hände. Fred und George grinsten sich siegessicher an, bevor sie die Männer mit einem Incarcerus fesselten und an Ort und Stelle zurückließen.

Beide näherten sich Angelina. Sie wurde von einem Mann, der sich hinter steinernen Blumenkübeln versteckte, mit etwas beworfen, das wie metallene Klingen aussah. Als sie sich ihr näherten, hörten sie, wie Angelina den Mann zähneknirschend fragte: „Wie viele von diesen Dingern hast du denn noch?“ Kaum hatte sie die Frage gestellt, kam bereits der nächste Wurfstern geflogen, den sie mit einem Wutsch in eine Haubenmeise verwandelte, die fröhlich zwitschernd direkt an ihrem Kopf vorbeisflatterte. Die nächste Wurfwaffe verwandelte Angelina in einen blaugrauen Kronwaldsänger mit gelben Flanken.
„Du magst Vögel, oder?“, scherzte Fred.
„Ah“, machte sie erleichtert. „Gut, dass ihr da seid. Ich verliere hier langsam die Geduld.“
„Versuch es einfach mit 'Metall in Pflanzen'“, empfahl George.
Angelina schüttelte den Kopf. „Bedaure, so einen Spruch kenne ich nicht.“
„Aber ich!“

Schon erhob George seinen Stab. Sein gesprochener Zauber wanderte hinter die steinernen Blumenkübel, genau dorthin, wo sich die Waffen des Mannes befinden mussten. Man hörte einen Aufschrei. Der Muggel verließ aufgeschreckt sein Versteck und rannte Fred in die Arme. Der Grund für seine Flucht waren die vielen bis zu ein Meter hohen, Fleisch fressenden Pflanzen, die ein sehr aktives Eigenleben hatten, denn sie rissen ihre Klappfallen wie hungrige Mäuler auf. Die Wurfsterne waren Vergangenheit.

„Genug?“, fragte Fred den Muggel, der daraufhin betreten zu Boden blickte und nickte. Anscheinend rechnete er mit seinem Tod, doch er wurde nur magisch gefesselt.

Mit ihrem Desillusionierungszauber standen Harry und Ron auf dem großen Innenhof und verschafften sich einen Überblick. Sie standen keine drei Meter von Hopkins entfernt, der wie von Sinnen in den Himmel schoss. All seine Kugeln wurden von den Freunden im Himmel in Vögel, Federn oder Motten verwandelt, was ihn nur noch rasender machte. Die anderen Mitglieder der DA hatten bereits einige Muggel im Innenhof außer Gefecht gesetzt, doch je näher man dem Hauptgebäude kam, desto mehr bereitwillige Muggel fand man hinter Schubkarren, Blumenkübeln und drall gefüllten Sandsäcken.

Als Harry seinen Blick schweifen ließ, verblassten einige der Muggel. Erschrocken ergriff er Rons Arm.

„Ron“, flüsterte Harry, „ich sehe einige von ihnen nicht mehr. Sie sind verschwunden!“
„Echt? Ich sehe noch alle.“
„Aber warum ...?“ Er hielt inne, denn noch mehr von den bewaffneten Muggeln verschwanden. „Es sind wieder welche weg. Ron, was passiert hier?“
„Frag doch nicht mich. Du bist derjenige, der Leute manchmal nicht sehen kann.“
„Wie soll ich denn kämpfen, wenn ich niemanden mehr sehe?“ Unsicher ging Harry ein paar Schritte zurück, zog Ron dabei hinter sich her.
„Sind denn alle weg?“, wollte sein Freund wissen.
Harry schüttelte den Kopf. „Nein, nur ...“ Er betrachtete diejenigen, die er klar und deutlich wahrnahm. Es waren durchweg Männer, die sehr aggressiv wirkten und ständig auf etwas feuerten. „Ich sehe nur welche, die wie irre schießen.“
„Aha“, machte Ron, dem das Ganze etwas zu lapidar erklärt war. „Alle schießen wie irre. Wäre nett, wenn du mir die zeigen würdest, die du siehst.“
Harry zeigte nach vorn. „Die dort ganz links am Eingang hinter dem Karren. Die sehe ich alle und auch“, sein Zeigefinger wanderte, „Hopkins und den Mann schräg dahinter. Dann noch“, er zeigte nach rechts, „die an den Säulen da drüben.“
„Das ist nur ein Bruchteil von den Leuten, die hier unterwegs sind, Harry! Die anderen siehst du wirklich nicht?“ Nochmals verneinte er mit einem Kopfschütteln. „Das ist nicht gut, das gefällt mir nicht“, zeterte Ron leise. „Was, wenn du dich auf die konzentrierst, die du sehen kannst und dann greift dich einer von den anderen an?“ Mit einer Hand fuhr sich Ron aufgebracht durchs Haar. „Mir wäre am liebsten, wenn du wieder auf den Besen steigst.“
„Nein, es muss ja einen Grund haben! Vielleicht konzentriere ich mich nur auf die, die tatsächlich eine Gefahr darstellen?“
Rons Stirn schlug Falten. „Machst du das mit Absicht?“
„Nein! Ich schwöre, ich mache gar nichts. Es ist einfach so.“
Gleichgültig zuckte Ron mit den Schultern. „Wenn du es nicht ändern kannst, dann halten wir dir die anderen vom Leib. Ich sag unseren Freunden Bescheid, wen du sehen kannst. Vielleicht ist der Spuk schneller zu Ende, wenn wir die erst dingfest gemacht haben.“
„Ja, tu das. Und wenn du schon bei Fred und George bist ...“

Von oben hörte man plötzlich eine wohl bekannte Stimme rufen, gefolgt von einem krächzenden Laut, der an einen Adler erinnerte. Neugierig blickten Harry und Ron nach oben. Sie erkannten Seidenschnabel und auf dessen Rücken saß ...

„Was zum Teufel hat Sirius hier verloren?“
Ron war genauso überrascht. „Ich habe keine Ahnung, Harry!“
„Sorg' dafür, dass er verschwindet!“
„Warum? Hast du Angst, ihm könnte was passieren? Das glaub ich ehrlich gesagt nicht.“
„Ich habe keine Angst um ihn, aber um die Muggel! Er weiß nicht, dass wir niemanden verletzten wollen. Ich will siegen, ohne dass auch nur ein Mensch dabei draufgeht, Ron. Los, geh schon und sag ihm das!“
„Aye, Aye, Sir!“, spaßte Ron, bevor er auf seinen Besen stieg und abhob.

Harry blieb am Boden zurück. Sein Blick fiel auf Hopkins, dessen lichter Verstand im Kernschatten seiner Verblendung stand. Hopkins beobachtete nervös die Feinde am Himmel und schoss ziellos nach oben. Für einen Bruchteil einer Sekunde fragte sich Harry, ob er mit dem Mann einfach heimlich wegapparieren sollte, um mit ihm allein zu reden. Wild funkelnde Augen hielten ihn von der Idee ab, denn sie zeugten von einem Geist, der von einem eigentümlichen Hass gequält und von ungestümer Heftigkeit angetrieben wurde. Harry wusste, dass man mit diesem Mann kein vernünftiges Wort wechseln könnte.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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Rest von Kapitel 204

Plötzlich verlor Harrys Umfeld an Farbe. Ein paar Male blinzelte er, doch die Farbe kam nicht zurück, jedenfalls nicht so, wie er es kannte. Alles verschwamm miteinander. Für einen kurzen Augenblick befürchtete er, ohnmächtig zu werden, doch sein Verstand verließ ihn nicht. Die Festung, die Gegenstände, die Menschen – alles und jeder – ging grau in grau ineinander über und dann, völlig unerwartet, zeichneten sich Schatten ab. Harry konnte die Festung wieder sehen, aber nur als nebelhaften Umriss. Jeder Gegenstand, ob ein Blumenkübel, eine Bank oder eine Wand, war nur noch eine Silhouette. Einige der Schatten bewegten sich, nur wenige von ihnen zeigten Farbe. Es waren Menschen.

Neugierig schaute Harry nach oben. Auch am Himmel konnte er Umrisse erkennen. Gestalten, die in einen hellen Strahlenkranz aufwiesen und umherflogen – seine Freunde. Wenige Silhouetten am Boden waren von einer bunten Korona umgeben, doch die, die seine Aufmerksamkeit erlangten, waren die dunklen Figuren, die wie lebendige Scherenschnitte wirkten – Feinde, die bereit waren zu töten.

Auf den Ländereien von Hogwarts sah auch jemand anderes die Umrisse einer Gestalt.

Hermine lugte durch das Glas eines der Gewächshäuser und sah die Gestalt eines Mannes. Mit den ganzen Pflanzen und Blumen, deren Namen sie nicht kannte und die sie während ihrer kleinen Tour gesammelt hatte, ging sie zum Eingang des Gewächshauses. Sie klopfte, doch ein „Herein“, wenn dazu aufgefordert wurde, war zu leise. Vorsichtig öffnete sie die Tür. An einem Tisch bemerkte sie Neville, der durch die glasige Wand hinaus zum Regen schaute. Er war blass.

„Neville?“
Er drehte seinen Kopf. Aus seinem blutarmen Gesicht zeichnete sich die Freude über ihr Erscheinen ab. „Hermine, komm doch rein.“ Der Stuhl ihm gegenüber war noch frei. „Setz dich doch.“ Die ganzen Gräser und Blumen fächerte sie auf dem Tisch auf, bevor sie Platz nahm. „Sind sie schon weg?“
„Die DA?“, fragte sie nach, woraufhin er nickte. „Ja, die sind schon weg. Ich drücke die Daumen, das alles gut geht.“
„Hoffentlich finden sie Ginny. Ich weiß nicht, was Harry tun würde, sollte man ihr etwas angetan haben. Als ich ihn aufgehalten habe, da ...“
„Du warst das?“ Voller Bewunderung schenkte sie ihm ein respektvolles Nicken. „Ich habe mir solche Sorgen gemacht, Harry würde allein losziehen.“
„Das wollte er auch und ich kann ihn verstehen. Wenn es Luna wäre ...“ Er schüttelte langsam den Kopf, um die bösen Bilder loszuwerden, die sich seine Fantasie ausmalen wollte. „Wie geht es Severus und Draco?“
„Das Gröbste haben sie offenbar überstanden. Seltsam ist, dass weder Schlaf- noch Schmerzmittel helfen. Man könnte meinen, sie sind dazu verdammt, die Qualen zu ertragen“, erwiderte sie gewissenhaft.
„Voldemort hat bestimmt nie in Betracht gezogen, dass einer seiner Leute das Zeichen jemals wieder loswerden könnte. Das war auch gar nicht so gedacht. Vielleicht ist es die schwarze Magie, die solche Schmerzen bereitet, während sie den Körper verlässt?“ Nevilles Worte klangen logisch. Nur zu gut erinnerte sich Hermine an Ollivanders Worte. Das dunkle Mal hätte den Zauberstab verdorben, weil Severus ihn immer am linken Unterarm getragen hatte. „Was mit dem dunklen Mal passiert ist, war weder vorhersehbar noch gibt es etwas Ähnliches in der Geschichte.“
Sie stimmte ihm zu. „Hoffentlich wird so etwas auch nie wieder geschehen.“
„Ich ...“ Ihr Gegenüber zögerte, blickte verloren aus dem Fenster. „Ich wünschte, ich wäre jetzt bei Luna. Andererseits bin ich froh, dass du hier bist“, gestand er. „Irgendwie fühle ich mich schlecht, weil ich hier sitze und Däumchen drehe, während ...“
Eine Hand auf der seinen unterbrach ihn. Sie blickte ihm in die Augen. „Niemand macht dir Vorwürfe, nur weil du nicht mitgegangen bist. Dein Wohlbefinden ist genauso wichtig wie das der anderen. Du hast eine Menge Blut gespendet, Neville. Deine gute Tat hast du heute schon hinter dir.“

Einen Moment lang saßen sie einfach nur da, still und gedankenverloren. Als Hermines Worte bei ihm für inneren Frieden sorgten, musste er lächeln. Die DA würde es auch ohne ihn und Hermine fertigbringen, den Muggeln zuzusetzen. Neville schmunzelte und deutete mit einem Kopfnicken auf die Pflanzen, die sie vorhin auf dem Tisch ausgebreitet hatte.

„Brauchst du meine Hilfe?“
„Ja, ich weiß nicht, was das für welche sind und wollte die Namen hören.“
„Warum willst du das wissen?“
„Ich suche etwas Bestimmtes.“ Als sie aufblickte, fiel ihr erneut sein kreideweißes Gesicht auf. „Dir geht es noch immer nicht besonders gut?“
„Nein.“ Ein tiefer Seufzer untermalte sein Unwohlsein. „Ich habe mein Blut gesehen.“ Er verzog das Gesicht. Allein bei der Erinnerung an den roten Lebenssaft, der aus seiner Vene lief, wurde ihm ganz schlecht.
„Ich verstehe dich“, sie nickte, „geht mir genauso. Ich kann mein eigenes Blut nicht sehen und ...“ Ein grabendes Geräusch erschreckte sie. Es kam von einem der großen Pflanzenbehälter, in denen verschiedene Gewächse gezogen wurden. „Was war das?“
„Das ist mein 'Hausgnom'.“
„Hausgnom?“, fragte sie irritiert nach.
„War ihm wohl zu regnerisch draußen. Pomona wollte ihn schon rauswerfen, aber ich habe ihm gesagt, er kann hier bleiben, wenn er unsere Pflanzen in Ruhe lässt und stattdessen den Horklump vertilgt.“ Neville deutete auf das Unkraut – einen rosafarbenen Pilz, der unter den Orchideen wucherte.
„Und er hat dich verstanden?“
Neville hob und senkte die Schultern. „Ich denke schon. Er hat nur den Pilz gefressen und der hätte mir fast meine Zucht zerstört.“
Hermine konnte es kaum glauben. „Du hat einen Gnom als Unkrautvernichter?“
„Wenn man es so sehen will, ja. Er ist hier, seit es so schlimm regnet.“ Um das Thema wieder zu wechseln, nahm er eine von Hermines gesammelten Pflanzen in die Hand und betrachtete sie. „Weidelgras oder auch Lolium.“ Den Grashalm, an dessen Verzweigungen Ähren wuchsen, die an Roggen erinnerten – nur in grün – drehte er langsam in der Hand. „Kommt weltweit vor und ist nicht Besonderes. Zählt zu den Süßgräsern, genau wie das“, er nahm nach und nach die anderen Halme und legte sie übereinander, „das und das.“
„Nur stinknormales Gras?“, fragte sie enttäuscht.
„Ja leider, das hier auch.“ Er nahm den längsten Halm zwischen die Finger, der oben wie eine zerrupfte Feder wirkte. „Das ist Fioringras, kommt in ganz Europa bis hin nach West-Asien vor.“ Er legte den Halm wieder weg und nahm einen anderen, der feine Blüten aufwies, deren längere Härchen an der Hand kitzelten. „Ebenfalls Süßgras, Echter Schaf-Schwingel und hier“, der nächste Halm, „der Wiesenfuchsschwanz, gleiche Familie.“
„Für mich ist das alles nur“, sie zuckte beschämt mit den Schultern, „Gras.“
Sein Lächeln zeugte von Verständnis. „So geht es mir bei Zaubertänken, Hermine. Tränke sind Tränke.“ Neville spielte mit etwas, das wie ein rosafarbener Tannenzapfen aussah. „Ein schon verblühter Zapfen der Rotföhre mit“, er betrachtete sich den Zapfen genauer, „Bissspuren von einem Hund, würde ich sagen.“ Hermine grinste, weil sie an Harry und Fang denken musste. Als Neville zu der einzigen Blüte griff, die sie gesammelt hatte, hielt sie den Atem an. Sie hatte so eine Gefühl, das könnte die gesuchte Pflanze sein. Sie war rosa und bestand aus fünf Blütenblättern, die zum Stempel hin weiß wurden. „Die Hundsrose.“
„Hundsrose? Was es nicht alles gibt.“ Nun konnte sie ihre Enttäuschung nicht mehr zurückhalten, denn sie seufzte und presste die Lippen zusammen.
„Hermine?“ Als sie aufblickte, noch immer mit der Rose in der Hand, fragte er geradeheraus: „Warum läufst du bei strömendem Regen umher und sammelst Pflanzen?“
„Ich suche ...“
„Ja, du suchst etwas Bestimmtes, das hast du schon gesagt.“ Sein Blick hielt den ihren. Er forderte wortlos eine Erklärung.
„Eine Zutat“, entwich es ihr leise. „Ich suche eine Zutat und ich habe keine Ahnung, was das sein kann.“
„Aber wie willst du denn wissen, was du suchst, wenn du nicht weißt, um was es sich handeln könnte?“
„Das ist es ja eben!“ Aufgebracht schlug sie mit der flachen Hand auf den Tisch. „Ich bin völlig überfordert. Es könnte alles sein! Irgendein Stein oder eine Pflanze. Sogar eine Pflanze, die eigentlich keine magische Wirkung hat, denn dank Takeda wissen wir ja nun, dass das nicht so bleiben muss. Man kann Pflanzen magisch machen.“
„Und was für Anhaltspunkte hast du für das, was du suchst?“, wollte er wissen.
Sie stöhnte. „Es hört sich albern an“, winkte sie ab, weil sie sich vor einer Erklärung drücken wollte. „Weil das auch noch aus einer Prophezeiung stammt, kann es unter Umständen nur symbolisch gemeint sein.“
„Und?“ Langsam aber sicher wurde er ungeduldig.
„Lach aber nicht, ja?“
Er schüttelte den Kopf und behielt eine ernste Miene bei. „Würde ich nie.“
„Ich muss etwas finden, dass sich 'Tränendes Herz' nennt.“
Neville blinzelte einmal, dann noch einmal, bevor er verdattert wiederholte: „Das Tränende Herz?“
„Ich sagte ja, es hört sich albern an. Mittlerweile glaube ich, dass es sich um eine Metapher handelt oder ...“
„Nein“, widersprach er, „das ist keine Metapher, sondern eine Blume. Zählt zu der Familie der Mohngewächse.“
„Es müssen Ranunculales sein. So viel habe ich bereits herausgefunden.“
„Die Blumen gehören zur Gattung Ranunculales“, bestätigte Neville mit einem Nicken. „Es ist eine krautige Pflanze, die zu den Herzblumen gehört. Eine einfache Zierpflanze. Ich denke, du hast sie gefunden.“
Sie traute ihren Ohren nicht, fragte daher vorsichtig nach: „Hab ich?“ Neville nickte und strahlte bis über beide Ohren.

Die Hundsrose legte er beiseite. Ein überlegener Ausdruck hatte sich im Gesicht des häufig unsicher wirkenden jungen Mannes ausgebreitet. Er hielt ihr seine Hand entgegen, die sie zögernd und zugleich neugierig ergriff. Von ihm ließ sie sich an eine Ecke des Gewächshauses führen, in der auch die Blumen wuchsen, die er auf Lunas Wunsch hin gezüchtet hatte.

„Da!“ Mit einem Nicken deutete er auf die Pflanzen vor sich, doch Hermine sah nur die ihr bereits bekannten rosafarben Blüten, die an ihrem Stängel nach unten hingen.
„Wo?“
Schnaufend fragte er: „Siehst wohl den Wald vor lauter Bäumen nicht?“

Mit einem Finger strich er über eine Blüte und erst da fiel ihr die Form auf. Alle hatten eine rosafarbene Herzform, aus deren spitzen Enden ein weißes Blütenblatt kroch, das im geschlossenen Zustand wie ein Tropfen aussah.

„Die habe ich dir schon vor einiger Zeit vorgestellt: Lamprocapnos spectabilis.“
Ihre Stirn schlug Falten. „Lampro... Was?“
„Lamprocapnos spectabilis oder auch einfach Tränendes Herz genannt.“

In diesem erleuchtenden Moment weinte Hermines Herz nicht, sondern es schrie und zwar noch bevor ihre Stimme unkontrolliert die Kehle hinaufgeschossen kam.

Draußen, um das Gewächshaus herum, flatterten wegen des lauten Geräusches zwei Eulen aufgeschreckt davon. Ein paar Doxys hielten sich die Ohren zu und flüchteten, und auch der Gnom, der das trockene Gewächshaus der verregneten Erde vorgezogen hatte, wieselte wie von der Tarantel gestochen nach draußen, denn der schrille Freudenschrei von Hermine drohte, alles Glas zum Bersten zu bringen.

Von den Winden wurde der Schrei bis hinauf in den ersten Stock getragen, wo die Fenster im Krankenflügel wegen der übel riechenden Wunden noch immer geöffnet waren. Aus seinem dösigen Zustand schreckte Severus auf, als er den ohrenbetäubenden Lärm hörte.

Von der unangenehmen Lautstärke, vor allem aber wegen des hohen Tonfalls, der sehr an die unerträglichen Gesangeskünste der Fetten Dame erinnerte, fühlte sich Severus mehr als nur gestört. Er fühlte sich belästigt. Mürrisch rief er in das Zimmer, das er nur noch mit Draco teilte: „Kann nicht jemand das Fenster schließen? Das ist ja grauenvoll!“
„Da hat doch nur jemand geschrien“, spielte Draco die Sache hinunter. „Ist doch schon vorbei.“

Susan, die an der Seite ihre Mannes saß, äußerte sich nicht dazu. Wortlos stand sie auf und ging zu Severus hinüber, um das Fenster auf seinen Wunsch hin zuzumachen. In diesem Augenblick betrat Madam Pomfrey das Zimmer.

„Was ist hier los? Wer schreit hier so?“, wollte die Heilerin wissen.
Sofort giftete Severus sie an: „Das würde ich auch gern wissen! Da draußen hat jemand ...“
„Unfug, ich habe dich rufen hören. Was ist?“ Poppy stemmte beide Fäuste auf die Hüfte. „Ein Geschäft?“

Damit, das wusste sie, konnte sie ihn auf der Stelle mundtot machen. Vor Draco war es ihm nicht peinlich, dafür hatte er mit seinem Patensohn über fünf Jahre lang viel zu eng zusammengelebt, aber mit dessen Gattin im Zimmer wollte er seine normalen Körperfunktionen auf keinen Fall bereden. Severus blieb stumm, was Poppy mit Wohlwollen zur Kenntnis nahm.

„Albus wollte dich heute noch besuchen“, sagte die Heilerin an Severus gewandt.
„Ich möchte meine Ruhe haben!“
„Na wie wunderbar. Wie ich sehe, bist du wieder ganz der Alte.“

Poppy trat an sein Bett heran und zog das Tuch vom Arm, das die Wunde vor Schmutz, aber auch vor neugierigen Blicken schützte. Kaum sah Severus das Loch in seinem Arm, das sich bisher nur wenig verkleinert hatte, schossen die brennenden Schmerzen wie frisch erweckt durch seinen Körper. Er sog Luft durch die Zähne ein.

„Ich bedaure, dass keine Mittel helfen, um den Schmerz zu lindern, Severus.“ Nach dieser Mitleidsbekundung wechselte Poppy die metallene Schale unter seinem Arm, die überschüssige Flüssigkeit auffing. „Weißt du“, sagte sie leise, so dass Draco und Susan nichts hören konnten, „was mir besonders gut an der Wunde gefällt?“
„Wie kann daran etwas gefallen?“, zischte er gereizt durch die Zähne. Hätte er nur nicht den Arm gesehen, dessen Anblick das Schmerzzentrum in seinem Gehirn zu stimulieren schien.
„Diese Flüssigkeit“, mit wachem Blick musterte sie den Sud in der Schale, „deutet nicht auf eine Entzündung hin. Kein bisschen Eiter ist vorhanden, obwohl du eine nicht gerade kleine Gewebsverletzung erlitten hast.“
„Wie aufregend“, fauchte er missgelaunt.
Poppy wurde genauso schnippisch wie er. „Ich will damit nur sagen, dass diese durchsichtige Flüssigkeit, die aus der Wunde tritt, einen positiv verlaufenden Heilprozess verspricht. Es hätte immerhin sein können, dass du Interesse daran hast zu wissen, ob man den Arm amputieren muss oder nicht.“
Erschrocken blickte er ihr in die Augen. „Ampu...?“ Er wollte dieses Wort nicht einmal aussprechen.
„Es wäre möglich gewesen. Ich habe sogar damit gerechnet, aber glücklicherweise helfen die Phönixtränen. Also keine Sorge, Severus. Eine Amputation kommt gar nicht mehr in Frage.“

Ein Leben mit nur einem Arm? Nachdem Poppy gegangen war, zeigte ihm sein lebendiges Vorstellungsvermögen ungewollt einen zukünftigen Werdegang – einen Einblick, wie sein Leben verlaufen würde, hätte er nur noch einen Arm, nur eine Hand. Die Gedanken formten sich ganz von allein, auch wenn Poppy gerade eben versichert hatte, er würde die Gliedmaße nicht verlieren. Mit einem Arm ließ sich kaum noch ein Trank brauen, geschweige denn, die Zutaten dafür schneiden. Rühren und gleichzeitig Zutaten unterzumischen wäre unter diesen Umständen undenkbar. Im Kopf ging Severus sämtliche Tränke durch, die ihm einfielen, und er kam zu dem Schluss, dass er für alle zwingend beide Hände benötigte. Ohne linke Hand wäre er kein Tränkemeister mehr, nicht einmal ein halber. Darüber erschrocken, mit wieviel Glück er diesem Schicksalsschlag entgangen war, schloss er die Augen und stellte sich seine rosige Zukunft in der Apotheke vor. Er sah sich im Labor stehen und – mit beiden Händen – einen Wolfsbanntrank brauen. Vor seinem inneren Auge sah er auch Hermine, wie sie ihm gegenüber an einem Euphorie-Elixier arbeitete und immer wieder aufblickte, um ihm ein Lächeln zu schenken. Er konnte sie sogar riechen. Hermine duftete immer nach Blumen oder Früchten. Diesmal vernahm er einen frischen Duft. Unbewusst nahm er einen tiefen Atemzug, doch er wurde stutzig, als der Duft, den er sich nur vorstellte, mit einem Male sehr intensiv war. Zu intensiv, um nur seinem Geist zu entspringen. Um dieses Mysterium zu lüften, öffnete er die Augen.

Das Erste, was er verschwommen sehen konnte, war etwas Rosafarbenes. Sein Blick wurde erst schärfer, als der Gegenstand sich einige Zentimeter von seinem Gesicht entfernte. Jemand, der laut schnaufte, als wäre er einen weiten Weg gerannt, hielt ihm eine Blume unter die Nase und dieser jemand war niemand anderes als Hermine. Mit einer Hand stützte sie sich auf seiner Matratze ab, so dass er durch die kleine Kuhle leicht in ihre Richtung rollte.

„Ein etwas mickriger Strauß für eine Patienten, meinst du nicht?“, scherzte er mit einem Schmunzeln. Gleich darauf betrachtete er ihr Gesicht. Von den Wangen war die Blässe verschwunden und durch eine ebenso zarte Farbe ersetzt wie die Blüten sie trugen.
„Das ist nicht nur irgendeine Blume“, noch immer atmete sie heftig. „Es ist 'die' Blume, Severus!“
„Sei so freundlich und erleuchte mich. Ich möchte nicht dumm sterben.“
„Wie sehen die Blüten aus?“
Ein Seufzer entwich ihm. „Ich habe keine Lust auf Rätselraten“, wollte er ihr weismachen, betrachtete jedoch längst die herzförmigen Blütenblätter. Die Form, kombiniert mit dem in Hermines Gesicht gemeißelten Lächeln, ließ sein Herz höher schlagen.
„Ist das etwa ...?“

Plötzlich konnte er nichts mehr sehen, weil seine Augen durch ihre Haare bedeckt waren, denn sie war ihm – obwohl er im Bett lag – um den Hals gefallen und presste ihre Wange an seine. Diese Nähe war vertraut und willkommen, vor allem aber lenkte sie von dem Schmerz im linken Arm ab. Er genoss den Moment. Severus nahm einen tiefen Atemzug und bemerkte, dass sie nach Himbeeren duftete. Hermine blieb still und lag weiterhin halb auf ihm. Ihre Atmung normalisierte sich langsam. Seine Nase wurde die ganze Zeit von ihren Haaren gekitzelt und es machte ihm nichts aus.

Ganz nahe an seinem Ohr hörte er ihre Stimme. Es war jedoch ihr Atem in der Ohrmuschel, der ihm ein wohlig Gefühl im Nackenbereich bescherte, als sie versprach: „Ich werde sofort mit dem Blumenkasten weitermachen. Neville will mir helfen. Und ich gehe nochmal die Anleitung für den Gegentrank durch und lerne sie am besten gleich auswendig, damit mir kein Fehl...“
„Du solltest dich schlafen legen und Kraft sammeln“, riet er ihr gelassen.
Auf der Stelle war er von ihren Haaren befreit, denn sie richtete sich auf und blickte ihn scharf an. „Ich soll schlafen gehen? Ich kann nicht schlafen! Ich ...“
„Du hast eine Menge Aufregung durchlebt und bist nicht bei Kräften.“ Mit aufgesetzt arrogantem Blick musterte er sie. „Das sehe ich doch von hier aus.“
„Mir geht es gut, im Gegensatz zu dir. Dein Arm ...“
Wieder der Schmerz, weil er daran erinnert wurde. Es war ihm ein Rätsel, warum er kaum leiden musste, wenn er abgelenkt war. „Poppy hat mir versichert, dass die Wundflüssigkeit auf einen positiven Heilprozess deutet.“
„In der Prophezeiung heißt es aber ...“
Er unterbrach. „Ich kenne den Wortlaut! Es wurde nirgends erwähnt, dass du auf der Stelle handeln musst, Hermine. Lass dir Zeit. Ich werde hier sowieso ein paar Tage verbringen müssen, bis der Arm geheilt ist.“

Beleidigt machte sie einen Schmollmund und Severus wünschte sich, sie wäre dichter bei ihm, um die Himbeeren zu kosten. Der Gedanke erschrak ihn im ersten Moment, weil er solche Wünsche seit langer Zeit nicht mehr gehabt hatte.

„Na gut.“ Sie gab nach und setzte sich auf den Stuhl an seinem Bett. „Und wenn der Arm geheilt ist, dann heilen wir“, sie legte eine Hand auf seine Brust, „das hier.“ Den Thymus, den Sitz der Seele.

Über die Seele – vor allem aber über ihr Seelenheil – machten sich gerade einige Menschen Gedanken, die ins Innere von Hopkins' Festung geflüchtet waren. Die Hexen und Zauberer jagten ihnen Angst ein.

Die über sechzig Jahre alte Eleanor versteckte sich in ihrem Zimmer, lugte ab und zu aus dem Fenster hinaus. Jedes Mal lief ihr ein Schauer über den Rücken, wenn sie die vielen Menschen auf den Besen in der Luft sah. Nicht nur sie war der festen Überzeugung, dass heute ihr letztes Stündlein geschlagen hätte. Die Hexen hatten mit wenig Aufwand deutlich gemacht, wer der Stärkere war. Mit zittrigen Händen griff Eleanor nach der kleinen Dose, die ihre Herztabletten beinhalteten. Obwohl sie morgens schon eine genommen hatte, nahm sie vorsichtshalber eine zweite. Die Aufregung war zu viel für sie. Sie war Hopkins nur aus dem Grund gefolgt, etwas über den Verbleib ihres Sohnes zu erfahren, den ihr ehemaliger Lebensgefährte ohne Ankündigung in die Zaubererwelt mitgenommen hatte, als er sie verließ. Als eine Hexe dicht an ihrem Fenster vorbeiflog, ging Eleanor heftig atmend in die Knie, fasste sich dabei ans Herz. Das Zittern der Hände hatte sich auf den gesamten Körper ausgebreitet. Nervös zog sie die Pistole aus ihrer Jackentasche. Vorhin auf dem Flur hatte ein Mann ihr die Waffe mit den Worten in die Hand gedrückt „Einfach zielen und schießen!“. Eleanor kannte sich mit solchen Dingen überhaupt nicht aus, fühlte sich mit der Handfeuerwaffe nicht einmal sicherer.

Eleanor wusste nicht, dass sich ein paar Zimmer weiter zwei andere Menschen genauso fürchteten wie sie. Jakob und Claudine.

Mit verweintem Gesicht schluchzte Claudine: „Warum tun sie das?“ Jakob verstand seine Frau. Die Hexen könnten kurzen Prozess machen, fanden stattdessen offenbar Gefallen daran, die Menschen zu quälen – jedenfalls wirkte es so auf sie. Sie trieben ihre Spielchen mit ihnen, verletzten aber niemanden. Seine Frau war mit den Nerven völlig am Ende und saß heulend auf dem Bett, wimmerte dabei: „Sollen sie doch endlich mit uns Schluss machen, dann sehen wir wenigstens unsere Kinder wieder!“
Auf der Stelle war Jakob bei ihr und ergriff ihre Hände. „Sag so etwas nicht! Ich will nicht sterben und du auch nicht! Wir bleiben hier, verhalten uns ruhig. Wenn alles vorbei ist, werden wir vielleicht mit ihnen reden können.“
Durch die Tränen hatte seine Frau ganz verklebte Wimpern. Sie blinzelte mehrmals, als sie ihn schockiert anblickte. „Dann rechnest du damit, dass wir verlieren?“
„Die haben Kräfte, gegen die wir nicht ankommen.“
Der Körper seiner Frau begann heftig zu beben. „Ich will nicht in deren Hände fallen.“ Die Erinnerungen an die in schwarze Kutten gekleideten Männer, die ihre drei Kinder gefoltert hatten, waren wieder sehr präsent. „Ich will nicht ... Wer weiß, was die mit uns anstellen? Jakob“, sie drückte seine Hände, „ich hab Angst!“
„Ich bin bei dir. Wenn sie dich haben wollen, müssen sie erst an mir vorbei.“
Claudine schloss ihre Augen, presste damit die Tränen heraus, die sich gesammelt hatten. „Wir wissen, dass das für die keine Hürde ist.“ Die Resignation, die in ihrer Stimme zu vernehmen war, ließ Jakob aufhorchen. Sie war kurz davor, mit ihrem Leben abschließen zu wollen.
„Lass mich mit ihnen reden, wenn sie herkommen.“
„Sie werden uns nicht anhören!“
Jakob schüttelte den Kopf. „Das weißt du nicht. Vielleicht wollen sie nur zeigen, dass sie könnten – dass sie uns töten könnten, wenn sie wollten, aber sie tun es nicht. Bisher ist niemand gestorben. Hoffen wir, dass es so bleibt.“ Eine seiner Hände wanderte zu seiner Innentasche. Er zog eine Waffe heraus. „Und zur Not haben wir noch die hier.“

Den Gegenstand, der dazu imstande war, einen Menschen zu töten, legte er vorsichtig auf dem altmodischen Nachttisch ab. Jakob strich seiner aufgewühlten Frau übers Haar, bevor er sich zum Fenster begab und vom zweiten Stock hinunterblickte. Mit einem Male kam ihm eine Idee. Zum Erstaunen seiner Frau eilte er euphorisch zum Bett hinüber und zog dem Kissen das weiße Bettzeug ab.

„Wir brauchen etwas langes, eine Holzlatte oder ...“ Jakob hielt inne und blickte sich im Raum um. Das einzige, was seiner Vorstellung entsprach, war ein Besenstiel.
„Was hast du vor?“ Skeptisch beobachtete Claudine, wie ihr Mann das Kopfkissen am Ende des Stiels verknotete. „Was wird das?“
„Wir wissen ja aus dem Tagespropheten und von Alex, dass einige Zauberer und Hexen in unserer Welt aufgewachsen sind.“ Er ging zum Fenster hinüber und öffnete es. Es regnete so stark, dass sofort einige Tropfen das Fensterbrett bedeckten. „Ich denke, ein paar werden wissen, was eine weiße Fahne zu bedeuten hat.“
„Wir ergeben uns“, sagte Claudine trübsinnig. „Das macht es ihnen nur noch einfacher.“
Jakob hatte den Besen mit dem weißen Kopfkissen so weit hinaus in den Regen gehängt, wie es möglich war. „Wir ergeben uns, das ist richtig. Ich hoffe, sie sind gut genug erzogen worden, um uns entsprechend zu behandeln.“

Die weiße Fahne, ein Zeichen der Bereitschaft zur Unterhandlung oder der Kapitulation, wurde sofort vom Regen durchnässt. Dennoch schwang der schwere Stoff gut sichtbar am offenen Fenster hin und her und wurde auch von den Menschen gesehen, für die sie bestimmt waren.

Ron, der wieder zurück zu Harry gegangen war, flüsterte ihm ins Ohr: „Sieh nur!“ Er deutete zu einem Fenster im zweiten Stock. „Was hat das zu bedeuten?“
Hören konnte Harry seinen Freund bestens, aber er sah ihn nur als bunte Gestalt. „Ein paar ergeben sich bereits. Das ist gut!“
„Aha“, machte Ron verwirrt, „wenn du es sagst.“ Ihm war die Bedeutung einer weißen Flagge nicht geläufig. „Die anderen habe ich informiert. Sie kämpfen sich langsam nach vorn zum Eingang. Die meisten Muggel sind in die Festung geflohen.“
Harry nickte. Er hatte die schwarzen Gestalten rennen sehen. „Wir werden ihnen folgen und gehen rein, aber erst kümmern wir uns um die Schützen.“
„Fred, George und Angelina nehmen sich schon die ganz links vor.“

Harry folgte dem bunten Finger, der ihm die Richtung wies. Ganz hinten sah er die leuchtenden Gestalten seiner Freunde. Sie näherten sich den Scherenschnitten, die sich hinter einem großen hölzernen Karren versteckten, mit dem man früher Stroh transportiert hatte.

„Fred“, George zog seinen Bruder am Arm, „warte. Das sind zu viele. Luna, Colin und Dennis kommen gleich.“
„Das sind zwar viele, aber wozu warten? Wir haben sie doch im Nu entwaffn...“

Ein Schuss fiel. Gleich darauf hielt sich Fred den Hals und ging in die Knie. Angelina war an seiner Seite, riss ihm die Hand vom Hals.

„Ein Streifschuss!“, stellte sie erschrocken fest. Sofort schwang George seinen Stab und machte sie unsichtbar, schwor auch eine magische Wand herauf, die von keiner Kugel durchbrochen werden konnte. „Ist nicht schlimm“, beruhigte sie und sprach einen Heilzauber.
„Die Mistkerle!“ Am liebsten wäre George zu den Männern hinübergestürmt und hätte sie nach und nach mit einem Petrificus Totalus verhext, aber das richtete sich gegen Harrys Auflagen. Lediglich ein Fesselungszauber war erlaubt und jede Menge Verwandlungszauber, um die Waffen unnütz zu machen.

Vom Schuss aufgeschreckt kamen von der anderen Seite des Hofes Luna, Dennis und Colin angerannt. Sofort sahen sie das Blut an Freds Hals, doch die Wunde war längst verheilt.

„Alles okay hier?“, wollte Colin wissen, griff Fred dabei besorgt an die Schulter.
„Ja, aber ich schlage vor, wir umzingeln uns ihnen zu sechst.“

Aus der Ferne hatten Ron und Harry, die noch immer dicht bei Hopkins standen, die Lage ihrer Freunde beobachtet. Ron schlug seinem Freund auf die Schulter.

„Da drüben scheint alles in Ordnung zu sein.“
Harry nickte. „Was machen wir mit ihm?“ Beide blickten zu Hopkins, der irritiert ein paar Schritte nach links ging, dann wieder nach rechts. Er torkelte, schoss trotzdem mit seiner Waffe um sich.
Mit den Schultern zuckend erwiderte Ron: „Er gehört dir, mein Freund. Mach mit ihm was du willst.“
„Wenn ich ihn nur sehen könnte, dann ...“

Harry hielt inne, weil Hopkins plötzlich in seine Richtung blickte. Sie hatten Augenkontakt, was nicht sein konnte, denn Ron und Harry waren noch unsichtbar.

„Ich kann euch hören“, murmelte Hopkins mit schiefem Grinsen. Die Waffe hielt er so locker in der Hand, als würde er mit einer Zigarre spielen. Seine Stimme erhob er, als er beteuerte: „Ich höre euch, Höllenbrut!“ Hopkins richtete seine Waffe ins Leere, denn sehen konnte er niemanden. Er bemerkte auch nicht, dass Ron mit seinem Stab wutschte und somit einen magischen Schutzwall herbeirief. Der Hexenjäger schoss. Die Kugel prallte an der unsichtbaren Wand ab und fiel zu Boden, was Hopkins durchaus sehen konnte. „Feiglinge!“ Überheblich lachte Hopkins. „Zeigt euch, ihr Missgeburten!“
Harry beugte sich zu Ron und flüsterte: „Geh, das ist meine Angelegenheit.“
„Ich kann dich mit dem Irren doch nicht alleine lass...“
„Geh!“
Man hörte Ron wütend schnaufen, was Hopkins ebenfalls wahrnehmen konnte. „Was denn?“ Seine unsichtbaren Gegner aus lachte er aus. „Ist eure Angst so groß?“ Übermütig streckte Hopkins beide Arme seitlich vom Körper weg, womit er sich für einen Moment verwundbar machte. Auf diese Weise wollte er seine Gegner dazu ermutigen, sich zu zeigen. Als er damit keine Reaktionen erhielt, schnaufte diesmal Hopkins. „Ihr seid eben doch nur Feiglinge!“

Von dem, was in der Burg vor sich ging, bekamen die Menschen im Verbotenen Birkenwald nichts mit. Die Festung war nur ein graues Objekt, das man gerade so durch die Bäume hindurch sehen konnte.

Alicia hatte Ginnys kleinen Wunden geheilt, hatte ihr mit einem Aguamenti Wasser gegeben und mit ihrem Stab für eine wohlige Wärme gesorgt.

„Ich bringe dich jetzt besser ins Mungos.“
Ginny schüttelte den Kopf. „Was ist mit Harry?“
„Dem wird schon nichts passieren“, beruhigte Alicia. „Dein Daumen sieht nicht gut aus. Der sollte schnell behandelt werden.“
„Das kann Madam Pomfrey machen.“ Nachdem sie sich den Knochen absichtlich gebrochen hatte, waren ihr ständig Bilder von der Heilerin von Hogwarts durch den Kopf gegangen, wie die sich die Wunde betrachtete, ihr einen Trank gab und am nächsten Tag war alles wieder in Ordnung. „Ich will nicht ins Mungos. Ich will gar nicht ohne Harry weg.“
„Ginny“, Alicia setzte sich direkt neben sie, „du hast eine schlimme Zeit durchgemacht und bist verletzt. Harry würde wollen, dass ich dich in Sicherheit bringe.“
„Hier ist es doch sicher.“
„Wie kann man nur so dickköpfig sein?“ Einen Arm legte Alicia über Ginnys Schultern, zog ihre Freundin an sich heran. „Es regnet, wir sitzen in einem Wald, du hast einen gebrochenen Daumen. Was würde jeder normale Mensch jetzt tun?“
Seufzend gab Ginny nach. „Hast ja Recht.“

Die beiden standen auf, was Fogg und Stringer genau beobachteten. Sie bemerkten auch, wie der Werwolf, der Fogg vor elf Jahren angefallen hatte, die Frauen nicht gehen lassen wollte, denn er pirschte sich langsam an.

„Was tun wir jetzt?“, wollte Fogg wissen. „Er darf den beiden nicht zu nahe kommen!“
„Wir schleichen uns auch an!“ Grob packte Stringer seinen Freund am Umhang und riss ihn hoch. „Aber sei leise!“

Parallel näherten sich die beiden Gauner den Frauen, behielten dabei immer den Werwolf im Auge, der sich geräuschlos anschlich und dabei die Zähne fletschte. Plötzlich hörte man es laut knacken. Der Werwolf ging in die Knie und suchte Schutz. Fogg und Stringer taten es ihm gleich.

„Was war das?“, flüsterte Fogg.
Stringer suchte die Gegend mit den Augen ab und bemerkte vier andere Personen, auf die er mit dem Finger deutete. „Dort drüben! Zwei Männer und zwei Frauen. Sind wie Auroren gekleidet.“

Tonks und Kingsley waren mit Kevin und Tracey zu tief in den Wald appariert, aber Hopkins' Festung war nicht mehr weit entfernt. Den restlichen Weg hatten sie zu Fuß zurückgelegt. Ihren inoffiziellen Auftrag, die Tochter des Ministers zu finden, hatten sie gerade eben erfüllt, als sie Ginny und Alicia am Boden sitzen sahen. Kevin und Tracey hielten mit Kingsley zusammen die Gegend im Auge. Nur Tonks rannte überglücklich zu Ginny hinüber und erkundigte sich nach ihrem Wohlbefinden.

„Ginny, oh Ginny! Wie gut, dass dir nichts Schlimmes passiert ist. Alle haben sich furchtbare Sorgen gemacht.“ Tonks' Wortschwall wollte gar nicht mehr abbrechen. Kingsley nutzte den Moment, um Kevin und Tracey dazu anzuhalten, weiter vorn in der Nähe der Festung nach dem Rechten zu sehen. Die zwei jungen Auroren gingen an Ginny vorbei und lächelten ihr erleichtert zu, bevor sie hinter den dicht wachsenden Bäumen verschwanden. Tonks hingegen widmete ihre ganze Aufmerksamkeit Ginny. „Dein Daumen!“ Sie machte ein mitleidiges Gesicht. „Wir bringen dich besser nach Hogwarts. Das Mungos ist zur Zeit überfüllt.“
Endlich hatte sich auch Kingsley den dreien genähert. Die Umgebung musterte er weiterhin mit wachem Blick, falls Zentauren oder andere Kreaturen sich in der Nähe aufhalten würden. „Ginny!“ Der kräftige Auror half ihr hoch. „Alles okay?“
„Ja, ich hab nur Hunger, bin müde und der Daumen tut mir weg, sonst ist alles in Ordnung.“
„Gut, dann lasst uns ...“

Ein paar Meter weiter schlug Foggs Herz höher. Erschrocken packte er seinen Freund am Oberarm. „Er greift an!“

Blitzschnell kam der Werwolf aus seinem Versteck gesprungen. Der kräftige Dunkelhäutige bekam einen Schlag in den Magen. Kingsley wurde umgerannt, landete unsanft auf dem Boden. Sein Stab flog durch die Luft. Man hörte die Frauen schreien. Die mit den pinkfarbenen Haaren zielte auf den Angreifer. Der Werwolf griff nach dem Stab und zerbrach ihn mit einer seiner Pranken.

Das alles hatten die beiden Gauner aus sicherer Entfernung beobachtet. Nach einer Schrecksekunde sprach Stringer einen Impedimenta, der den Werwolf lähmen sollte. Der Zauber traf nicht genau, erwischte nur einen Unterschenkel. Die Bewegungen des klobigen Angreifers wurden schwerfällig, hielten ihn aber nicht auf. Fogg schleuderte ihm einen Beinklammerfluch hinterher, traf in mit voller Wucht. Der gewichtige Mann fiel vorüber – direkt auf eine der jungen Frauen.

Alicia schrie auf, als der massige Körper auf ihr landete. Spitze Zähne konnte sie aus nächster Nähe sehen. Der faulige Gestank aus dem aufgerissenen Mund war kaum zu ertragen. Fauliges Fleisch. Tonks hatte sich vor Ginny gestellt. Auch ohne Zauberstab wollte sie sie schützen. Auf dem Boden hatte Kingsley seinen Zauberstab wiedergefunden. Die beiden Flüche, die aus dem Nichts gekommen waren, hatten ihnen das Leben gerettet. Wer die Flüche gesprochen hatte war Nebensache. Vorrangig war, Greyback von Alicia herunterzuzaubern.

Ein weiter Schrei entwich Alicia. Greyback hatte mit beiden Händen ihren Kopf gepackt. Sein Mund kam dem ihren immer näher. Eine Karikatur von zwei Liebenden, die sich küssen wollten. Er fletschte die Zähne, wollte sie beißen. Was der Mann mit Bills Gesicht getan hatte, war kein Geheimnis. Ihre vollen Lippen waren sein Ziel.

„Mobilicorpus!“ Kingsley musste Acht geben, nicht Alicia zu treffen, wählte daher einen harmlosen Transportzauber. Der Zauberspruch traf Greybacks Rücken. Das Gewicht des kolossalen Mannes war mit einem Male von Alicia abgefallen, als er magisch zur Seite geworfen wurde. Der Spruch wirkte nicht lange, denn Greyback war kein bewegungsloser Körper. Er war quicklebendig und wandte sich. Wenigen Sekunden später befreite er sich aus dem Wirkungsbereich des Mobilcorpus. Bevor Alicias Stupor ihn treffen konnte, suchte er sein Heil in der Flucht und schlug sich ins dichte Unterholz.

„Das war Greyback!“, stellte Alicia mit bebender Stimme fest. In Windeseile erhob sie sich vom Boden, hielt ihren Stab schützend vor sich. Sie zitterte am ganzen Leib, besonders ihre Lippen, aber wenigstens hatte sie die noch.
Kingsley war von allen der ruhigste. „Ja, das war er! Fragt sich nur, wer unsere unsichtbaren Helfer waren.“ Er drehte sich langsam im Kreis. Ein Stupor lag ihm allzeit bereit auf den Lippen, doch Greyback schien verschwunden. „Ich traue der Stille nicht. Er ist noch hier!“
Tonks stimmte ihm mit einem Kopfnicken zu. „Er hat meinen Stab zerbrochen, King.“
Der Schrecken trieb Ginny ebenfalls in die aufrechte Position. Sie war sehr wackelig auf den Beinen. „Ich habe auch keinen Zauberstab. Die Muggel haben ihn mir abgenommen.“
„Du solltest nach Hogwarts gehen.“ Er wandte sich der anderen jungen Frau zu. „Alicia?“ Man kannte sich noch aus der Zeit, als DA und Phönixorden eins waren. „Gibt Tonks deinen Stab und bring Ginny hier weg!“

Unerwartet krachte es in der Ferne. Kingsley ging einige Schritte in Richtung Waldesrand, um durch die Bäume hindurch einen Blick auf die Festung zu werfen. Er sah ganz vorn Kevin und Tracey, die sich hinter einem Baum in Sicherheit brachten, denn ein Drache spie sein Feuer versehentlich in ihre Richtung. Irritiert zog Kingsley die Augenbrauen in die Höhe.

„Was ist denn da los?“ Von dem geplanten Angriff der gesamten DA wussten Tonks und er nichts, Kingsley hatte jedoch geahnt, dass Harry – mit oder ohne Arthurs Segen – die Sache selbst in die Hand nehmen würde, aber ein Drache?
„Harry kümmert sich um den Muggel, der Ginny entführt hat“, erklärte Alicia.
„Ihr solltet trotzdem ...“
„King“, unterbrach Tonks, „da hinten hab ich jemanden gesehen!“

Einige Meter weiter drückte sich Stringer gegen einen Baumstamm.

„Verdammt, sie haben uns gesehen“, murmelte er zu Fogg.
„Warum zeigen wir uns dann nicht?“
„Weil ...“ Stringer stutzte. „Ja, warum eigentlich nicht? Wir haben ihnen immerhin geholfen!“
Bestätigend nickte Fogg. „Eben! Wir sollte nur unsere Stäbe auf den Boden richten, damit wir ihnen zeigen, dass wir nichts Böses im Sinn ...“

Ein Knurren und Fauchen war zu vernehmen. Einen Augenaufschlag später stürzte sich Greyback auf Stringer und Fogg. Beide riefen um Hilfe. Sie wehrten sich mit aller Macht gegen den Werwolf, der auch in seiner normalen Gestalt das Fleisch von Menschen nicht verschmähte. Stringers Zauberstab flog in hohem Boden davon und landete ungesehen im Laub der Bäume. Fogg zielte mit seinem Stab, wurde aber mit einem kräftigen Schlag umgehauen. Greyback fiel Fogg an und biss ihm in die Schulter. Fogg schrie auf, schlug wie von Sinnen auf den massigen Oberkörper ein. Sein Zauberstab war längst vom Waldboden verschluckt. Stringer hatte seinen wiedergefunden. Aus einem Meter Entfernung zielte er auf Greyback. Zu einem Schockzauber kam es nicht, denn eine Sekunde später wurde er unter einem bulligen Körper begraben. Stringer konnte seinen Stab nicht mehr halten. Greybacks lange Fingernägel schlitzten die empfindliche Stelle am Puls auf. Schockiert musste Stringer mit ansehen, wie der Werwolf sein Handgelenk zum tierähnlichen Maul führte. Als die heiße Zunge sich Appetit an seinem Blut holte, schrie Stringer aus voller Kehle. Greyback schenkte ihm ein fieses Lächeln, zeigte damit die scharfen Zähne, die er ihm ins Fleisch hauen wollte.

„Expelliarmus!“, schrie eine junge weibliche Stimme. Greyback wurde von Traceys Zauberspruch getroffen und mit voller Wucht von Stringer weggeschleudert.
„Stupor!“ Kevin hatte dem gesuchten Anhänger Voldemorts gleich noch einen Schockzauber hinterhergeschickt, doch der verfehlte sein Opfer. Greyback war trotz seiner Fülle flink wie ein Wiesel. „Scheiße!“ Kein Zauberspruch, nur ein unkontrollierter Ausruf der Frustration. Auf der Stelle waren Kingsley und Tonks bei den jungen Auroren angelangt. Kevin zeterte: „Er ist mir entwischt!“
Mit erhobenem Stab bereitete sich Kingsley auf einen weiteren Angriff vor. „Er ist gewieft, nicht zu unterschätzen.“ Als er Alicia und Ginny sah, die sich dem Szenario näherten, wurde er wütend. „Ihr seid ja immer noch hier!“
„Harry ...“
Ginny wurde von dem sonst so ausgeglichenen Auror barsch unterbrochen. „Alicia, bring sie auf der Stelle nach Hogwarts!“ Ginny öffnete bereits ihren Mund, doch Kingsley fuhr ihr über denselben. „Jede Widerrede ist eine Missachtung von Befugten des Ministeriums und wird mit acht Wochen Askaban bestraft!“
Die Tochter des Ministers riss ihre Augen weit auf, die Augenbrauen wanderten zum Haaransatz. „Das würdest du nicht tun!“
Die Situation wollte Tonks entschärfen, während sie sich Alicias Zauberstab schnappte. „Ich würde ihn nicht reizen, Ginny. Geht jetzt beide. Ihr habt hier nichts verloren. Greyback ist eine Angelegenheit des Ministeriums.“

Das erste Mal warf Ginny einen Blick auf die beiden Männer. Der eine, der noch am Boden lag und stark an der Schulter blutete, löste ein Déjà-vu-Erlebnis bei ihr aus, aber es war keine Täuschung – sie hatte diesen Mann tatsächlich schon einmal verletzt auf dem Boden liegen sehen und zwar in der Gasse, in der man sie entführt hatte. Plötzlich spürte sie eine Hand an ihrem Oberarm. Bevor sie ihre Erkenntnis über die beiden Männer mitteilen konnte, wandte Alicia eine Seit-an-Seit-Apparation an. Sie verschwanden beide mit dem krachenden Geräusch, das das Apparieren in der Regel mit sich brachten.

Erleichtert darüber, dass Ginny endlich den Verbotenen Birkenwald verlassen hatte, kümmerte sich Kingsley erst einmal um die beiden Männer. Als er ihre Gesichter musterte, kamen sie ihm bekannt vor.

„Habe ich Sie nicht neulich erst in der Winkelgasse in Begleitung von Mr. Snape gesehen?“ Nach Kingsleys Worten blickte auch Tonks zu den beiden hinunter. Innerlich stimmte sie Kingsley zu. Die beiden Männer waren von Severus als Diebe betitelt worden. Tracey begutachtete derweil die Bisswunde an der Schulter von Fogg und heilte sie mit einem der Sprüche, die sie während ihrer Ausbildung zur Aurorin gelernt hatte. Kevin tat das Gleiche mit dem Handgelenk von Stringer.
„Sie können von Glück sagen“, begann Tracey, „dass heute nicht Vollmond ist, sonst hätte er sie zu einem Werwolf gemacht.“
„Das hat der Kerl vor elf Jahren bereits getan“, erwiderte Fogg betreten. Zur Bestätigung zeigte er ihr die alte Narbe am Hals.
„Oh“, machte sie betroffen. „Ist das der Grund, warum Sie ihm aufgelauert haben?“
„Was für ein Grund? Rache?“ Fogg schnaufte. „Wir wussten nicht einmal, dass er sich hier tummelt!“
Kingsleys tiefe Stimme war zu vernehmen, als er fragte: „Warum halten Sie sich dann in einem Wald auf, der den Zentauren als Reservat dient und auch von anderen dunklen Wesen bewohnt wird?“ Der dunkelhäutige Auror blickte Fogg nicht an, sondern suchte weiter nach Greyback, der sicherlich noch in der Nähe war. „Zum Pilze sammeln sind Sie etwas zu spät dran.“
„Wir ...“ Stringer fiel keine passende Ausrede ein, was an dem Schrecken lag, von einem verrückten Anhänger Voldemorts angefallen worden zu sein. Der Name Greyback war jedem Zauberer und jeder Hexe ein Begriff. Die Zeitungen waren voll mit Warnungen, dass dieser Mann noch immer auf freiem Fuß war.
Mit zusammengekniffenen Augen fixierte Kingsley Stringer. „Haben Sie irgendwas mit den Muggeln zu tun, die dort in der Festung hausen?“
„Ich ... Wir ...“
„Wie ist Ihr Name?“
Die Autorität, die Kingsley ausstrahlte, brachte Stringer zum Stottern. „Str- Stringer, Sir.“ Das angefügte „Sir“ sollte den Auror milde stimmen.
„Und Ihr Freund?“
„Das ist Mr. Fogg.“ Damit man ihnen nichts anhängen konnte, versicherte Stringer. „Er ist als Werwolf registriert, hat seinen Pass bei sich, wenn Sie das prüfen möchten.“
„Glauben Sie, das interessiert mich im Moment? Wir haben es hier mit Greyback zu tun!“, zischte Kingsley angespannt. „Der wird uns diesmal nicht entwischen. Sie beide sind mir allerdings suspekt, deswegen möchte ich Sie ungern laufen lassen.“
„Wir könnten außerhalb des Waldes warten, bis Sie ...“
Kingsley fuhr Stringer über den Mund. „Für wie dumm halten Sie mich?“
„Dann ...“ Mit gesenktem Haupt blickte Stringer zu seinem Freund, dem es mittlerweile wieder besser ging. „Es wäre nett, wenn Sie uns nicht fesseln und zurücklassen würden. Wir wären diesem Monster hilflos ausgeliefert.“
„Das werden wir schon nicht. Sie dürfen sich verteidigen, aber Sie bleiben im Hintergrund.“ Mit seinem Zeigefinger drohte Kingsley. „Und funken Sie uns bloß nicht dazwischen, haben Sie verstanden?“

Eingeschüchtert nickten Fogg und Stringer. Unter dem Laub hatte Fogg seinen Stab wiedergefunden, der ihm etwas Sicherheit vorgaukelte. Beide blieben zurück, immer auf der Hut vor Greyback, während die vier Auroren sich vornahmen, das Gebiet abzusuchen. Langsam entfernten sich die Auroren von den beiden Männern, die sich ängstlich gegen den Baum drückten und um ihr Leben bangten.

Auch der unsichtbare Ron hatte sich wie befohlen von Harry entfernt, jedoch nur ein paar Schritte. Seinen besten Freund wollte er nicht aus den Augen lassen. Harry wiederum ließ Hopkins nicht aus den Augen, auch wenn er ihn nur als schwarze Gestalt wahrnehmen konnte. Einige Personen waren lediglich grau gewesen, hoben sich nicht von der Umgebung ab. Es waren die dunklen Silhouetten, die wichtig waren. Das waren die Menschen, die töten wollten. Allen voran Hopkins, dessen tiefschwarze Gestalt Harry sehr gut erkennen konnte.

Völlig unerwartet – vielleicht weil er es sich wünschte – wandelte sich Harrys Wahrnehmung wieder in die natürliche. Nun, nachdem er alle tatsächlichen Feinde einmal als pechschwarze Schattengestalten gesehen hatte, konnte er die Umgebung wieder so in sich aufnehmen wie sie war.

Der Stab in Harrys Hand wedelte fast von selbst, als er sich für jedermann sichtbar machte. Von dem plötzlichen Auftauchen war Hopkins erschrocken, ging daher einen Schritt zurück. Schwäche wollte der Rothaarige keinesfalls zeigen, weshalb er sofort wieder seine ursprüngliche Position einnahm. Seinen Stab hatte Harry nicht erhoben. Sein Arm hing locker an der Seite herab, genau wie der von Hopkins, dessen Hand die Pistole hielt. Die beiden Männer blickten sich in die Augen. Harry war der Erste, der die Stille unterbrach.

„Guten Tag, Sir“, sagte er mit wenig Respekt. „Ich glaube, Sie erwarten mich.“
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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205 Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe




Im Krankenflügel von Hogwarts hatte sich Hermine heiß geredet. Es hatte sie vollkommen berauscht, das Tränenden Herz gefunden zu haben. Als stünde sie unter einer Droge – oder unter der Wirkung von Plappersaft – redete und redete sie wie ein Wasserfall. Das Lächeln hatte sich in ihrem Gesicht eingebrannt und wäre nicht mal mehr mit einem Zauber zu entfernen. All das machte Severus nichts aus. Verzückt beobachtete er, wie sich manchmal ihre Nase beim Sprechen kräuselte oder wie ihr das buschige Haar ins Gesicht flog, weil ein Windstoß durchs offene Fenster kam. Man könnte sagen, dachte er amüsiert, dass sie ihm ein Ohr abkaute, was er ihr jedoch nicht übel nahm. Solange nämlich sein Ohr von ihrer beruhigenden Stimme eingenommen war, verspürte er keinen Schmerz am Arm. Er hörte sogar genau zu, was sie sagte, denn er vernahm so häufig das Wort „wir“, was ihm sehr gefiel.

„Wenn dein Arm besser ist, dann können wir den Trank doch zusammen brauen! Natürlich nur, wenn du möchtest. Um die Apotheke müssen wir uns vorerst nicht groß kümmern. Wir könnten kurzfristig jemanden einstellen, der beim Verkauf hilft, damit wir nach dem Brauen Zeit für uns haben. Draco hat uns schon so etwas angeboten.“

Das Wort „uns“ mochte er ebenfalls. Mit ihrem Stuhl war sie immer dichter an sein Bett gerückt. Eine angenehme Wärme breitete sich auf seinem linken Unterarm. Ihre Hand war dort gelandet, vermeintlich zufällig.

„Wie könnten später mit Professor Panagiotis zusammenarbeiten. Vielleicht können wir den Menschen helfen, die Opfer von einem Dementor geworden sind. Das würde ich zu gern!“ Sie strahlte ihn an. „Und mit Takeda sollten wir beide unbedingt in Kontakt bleiben. Wenn du wieder auf der Höhe bist, dann müssen wir mit unserem Farbtrank weiterexperimentieren.“ Ihre Hand drückte seinen Unterarm. „Ich würde auch gern mehr über deinen Bluttrank erfahren. Arbeiten wir doch gemeinsam dran! Zwei schlaue Köpfe schaffen mehr als einer.“ Im Hintergrund sah Severus, wie sich die Flügeltür zum Krankenzimmer öffnete, doch Hermine bemerkte davon nichts. „Was ich aber verlange, Severus: Ich will dabei sein, wenn du das Gegenmittel einnimmst!“ Gerade wollte er ihr sagen, wer eingetreten war, da unterbrach sie: „Keine Widerrede! Ich lasse dich nicht allein. Wer weiß, was da alles passieren könnte?“
„Hermine ...“
„Nein, Severus. Das wirst du mir nicht ausreden können. Ich bleibe an deiner Seite, wenn nicht als Freundin, dann als Heilerin. Denk daran, dass noch nie ein Mensch so etwas gewagt hat. Wenn deine Seele ...“
„Hermine!“ Er kam nicht gegen sie an, jedenfalls nicht verbal.
„Ich will nicht, dass du dich in deinem stillen Kämmerlein einschließt und leidest! Du bleibst nicht allein, wenn du den Trank ...“
Die Finger seiner gesunden Hand legte Severus auf ihre Lippen, die auf diese Weise endlich ihre Bewegungen einstellten. „Bei Merlin, wo ist bei dir der Aus-Knopf?“ Hätte er die Augen geschlossen, würde er ihr Lächeln sogar mit seinen Fingerspitzen spüren können, aber er fühlte nicht nur ihre Freude, sondern auch ein Gefühl tiefer Zuneigung, das sich in seiner Brust gesammelt hatte. Mit Daumen und Zeigefinger an ihrem Kinn hatte er ihre ganze Aufmerksamkeit erlangt. „Ich wollte dir nur nahelegen, dich mal umzudrehen. Schau mal, wer hier ist.“

Mit ihren beiden Händen umfasste Hermine seine, bevor sie seiner Empfehlung nachkam und sich umdrehte. Ihr Herz rutschte ihr in die Hose, dann wieder hinauf in den Hals, wo es ihre Sprachorgane daran hinderte, in Jubelgeschrei auszubrechen. Der Anblick von Alicia, die eine unversehrte Ginny stützte, sorgte für Erleichterung.

„Sie braucht eine Heilerin“, suggerierte Severus, der seine Hand befreite, damit Hermine zu Ginny gehen konnte. Mit erleichtertem Gesichtsausdruck versprach sie Severus, so schnell wie möglich wieder zu ihm zu kommen. Gleich darauf stürmte sie auf Ginny zu.

Ihre Freundin war blass, die Kleidung schmutzig und zerrissen, mit Blut besudelt. An den Füßen trug sie gar nichts.

„Ginny“, hauchte Hermine und erst da wurde sie von den beiden bemerkt. „Wie ...“

Die Frage nach dem Wohlbefinden wurde von einem Schluchzer unterbrochen. Der lang anhaltende, an den Nerven zehrende Stress, die große Sorge, die Ungewissheit um Ginny – als all das mit einem Male wie eine große Last von Hermine abfiel, konnte sie die Wiedersehensfreude kaum noch verarbeiten. Einzig ihrer vermissten Freundin um den Hals zu fallen brachte sie noch zustande. Und das tat sie auch. Mit beiden Armen drückte sie Ginny an sich und vergrub ihr Gesicht in der Halsbeuge ihrer Freundin. Die warme Haut und der Puls, den Hermine an der Wange fühlte, bedeuteten ihr so unbeschreiblich viel. Das Licht der Freundschaft strahlte gleißender und war wärmer als alles, was Hermine bisher fühlen durfte. Ginny war am Leben. Sie zu herzen war wie die Einnahme eines Euphorieelixiers und wirkte als sofortige Bekämpfung allen Übels. Hermine weinte, fühlte plötzlich einen Arm um sich, der ihr tröstend über den Rücken strich.

Hermine vernahm Ginnys Stimme an ihrem Ohr. „Ist ja gut, Hermine. Ich bin okay.“
Eine andere Stimme war zu hören; die von Poppy. „Gehört das zur Ersten Hilfe, Miss Granger?“ Eiligen Schrittes hatte sich die Heilerin von Hogwarts den beiden genähert. „Die Wiedersehensfreude muss ein wenig warten.“ Poppy löste Hermines Umarmung, um Ginny zu einem Bett zu führen. Hermine war noch im Taumel der Seligkeit gefangen, der sie zum Schwanken brachte. Ihre Beine gehorchten nicht, gingen ganz von allein ein paar Schritte zurück. Mit rudernden Armen suchte sie Halt und fand ihn am Bettgestell von Severus' Fußende. Ihr drehte sich alles vor Augen. Nur als Widerhall hörte Hermine Mollys Stimme „Mein Kind, mein Kind!“ rufen. Auch Albus war zu hören. Irgendjemand rief sogar ihren Namen, doch Hermines Bewusstsein gaukelte ihr längst vor, Zuhause im Bett zu liegen und zu träumen. Die belastende Situation, für die ihr Körper, besonders aber ihr Geist die ganze Zeit über keine Bewältigungsstrategie parat hatte, war ein zu starker Druck auf ihrer Seele gewesen. Jetzt, mit einem Male von diesem Kummer befreit, forderte ihr Körper seinen Tribut.

Von seinem Bett aus hatte Severus gesehen, dass Hermines Kreislauf Karussell fuhr. Sie torkelte wie angetrunken, ihr Blick ging ins Leere. Auf sein Rufen reagierte sie nicht. Die anderen im Raum waren durch Ginny abgelenkt und bemerkten nicht, dass Hermine in die Knie ging, weil ihre Beine sie nicht mehr halten wollten.

Nachdem Alicia die verletzte Freundin in sicheren Händen wusste, der Heilerin und der besorgten Mutter das Vorrecht für die Umsorgung gab, suchte sie einen Stuhl. Dabei fiel ihr Blick auf Hermine. Sofort eilte sie zu ihr hinüber. Alicia kniete sich neben sie, fühlte den Puls. Eine weitere Person war unerwartet zur Stelle. Susan.

„Hilf mir, sie auf ein Bett zu legen“, bat Alicia. „Ich habe keinen Stab.“ Susan nickte und zog ihren eigenen Stab, um Hermine – unter den wachen Augen von Severus – per Zauber in das Nebenbett zu transportieren. Nochmals fühlte Alicia den Puls. „Ihr Herz rast.“
„Die Aufregung war wohl zu viel für sie.“

Während Alicia der nicht ansprechbaren Hermine die Schuhe auszog, damit sie es bequemer haben würde, füllte Susan eine Schale mit Wasser, in welches sie ein Tuch eintauchte. Sie kühlte Hermines Stirn, die hitzigen Wangen und den Hals. Hermine öffnete die Augen, blinzelte. Anstatt zu fragen, wo sie sich befinden würde, wartete sie einen Moment ab, bis das Bewusstsein zurückkam. Alicia und Susan waren bei ihr. Hohe Fenster, Steinverzierungen an den Wänden. Sie war im Krankenflügel.

„Du bist umgekippt“, flüsterte Alicia.
„Ginny ...“
„Ihr Daumen wird gerade gerichtet.“
„Dann hab ich es doch nicht geträumt.“ Es war nicht ihrer Fantasie entsprungen. Ginny war tatsächlich hier, in Sicherheit. Endlich Ruhe. Müde schloss Hermine die Augen. Mit der Erleichterung im Herzen konnte sie ihren verdienten Schlaf finden.

Weniger Glück hatten andere. Der dringend benötigte Schlaf wollte nicht kommen, weder zu Severus noch zu Draco oder Lucius.

Narzissa hielt die Hand ihres Gemahls. Flüsternd tauschten sie verliebte Worte, sprachen von der Zukunft, die nur Gutes bringen sollte. Durch ihre Anwesenheit war sein Zustand gestärkt worden. Der Schmerz war geblieben, war aber erträglich.

Die Tür wurde nach einem kurzen Klopfen aufgerissen. Eine Schwester sprach hektisch: „Mrs. Malfoy?“
„Ja?“
„Die Heiler würden gern eine Visite durchführen. Besucher sind während dieser Zeit nicht erlaubt.“ Schwester Ellen trat ins Zimmer hinein. „Professor Puddle empfiehlt auch, dass Sie morgen wiederkommen sollen. Mr. Malfoy braucht Ruhe.“
Bissig fragte Lucius: „Und ich habe dabei gar nichts zu sagen?“
„Tut mir leid, Mr. Malfoy. Ich kann nur ausrichten, was der Heiler sagt. Sie können alles andere gern mit ihm klären.“
Lucius schnaufte missgestimmt. „Dann lassen Sie uns noch einen Moment zum Verabschieden.“
„Natürlich.“ Schon verließ Schwester Ellen den Raum.
Narzissa drückte seine Hand. „ Vielleicht sollte ich wirklich gehen. Ich werde dich morgen besuchen, Schatz.“
Nur widerwillig nickte Lucius. Seine Frau bedeutete ihm alles. „Wenn du zu Draco gehst, dann wünsche ihm auch von mir eine gute Besserung. Ohne meine Schuld würde er nicht das gleiche Schicksal erleid...“
„Shht“, machte Narzissa, bevor sie ihm einen Kuss auf den Mund gab. „Morgen werde ich dir von Draco berichten. Vielleicht bringe ich auch Charles mit?“ Sie zwinkerte ihm zu, denn Narzissa wusste, wie sehr ihr Gatte den Enkel lieb gewonnen hatte.
„Das wäre schön.“

Als Narzissa gehen wollte, warf sie einen flüchtigen Blick zu Gregory Goyle. Seine verloren wirkende Gestalt sprach ihr Herz an, weshalb sie zu ihm ans Bett ging. Verschüchtert schaute er auf. Natürlich kannte er sie.

„Mrs. Malfoy?“ Er schien die Situation nicht richtig einschätzen zu können, dachte womöglich, sie hätte etwas Schlechtes im Sinn.
„Guten Tag, Mr. Goyle. Wie geht es Ihnen?“
Ihre Worte klangen freundlich, so dass er antworten wollte, auch wenn seine eigene Stimme ihm sehr fremd vorkam. „Mir geht es den Umständen entsprechend, danke der Nachfrage.“
„Gibt es jemanden, der über Ihre Situation benachrichtigt werden könnte?“

Skeptisch legte Gregory den Kopf schräg und dachte nach. Seinen Vater wollte er nicht sehen, seine Mutter war verschwunden. Er wusste nicht einmal, was alles geschehen war, während er das Leben verschlafen hatte. Vage erinnerte er sich an die Strafe, weil er keinen Avada Kedavra anwenden konnte. Sein Vater hatte ihn verprügelt, ihn eine Schande für die Familie genannt. Die Flucht aus der Residenz des Dunklen Lords war gelungen. Todesser waren hinter ihm her, jagten ihn. Immer auf der Hut, immer auf der Flucht. Gedankenfetzen fluteten seinen Geist. Blaise und Pansy, die er auf seiner ziellosen Reise getroffen hatte und die von dem Gutshof in Peninver erzählten, wo sie sicher wären. In der Nähe von Minard Castle plötzlich ein Kriegsschauplatz. Die Todesser, die ihm gefolgt waren, wurden von mutigen Muggeln überwältigt. Auch er selbst fiel ihnen in die Hände. Von Blaise und Pansy keine Spur. Sie waren sicher. Die Erinnerung von Schmerz kam auf. Ein Turm. Handfesseln. Schläge und Tritte. Metallene Instrumente, die jeden Nerv zum Brennen brachten. Nadeln, Daumenschrauben. Dem Tode nahe. Ein Scheiterhaufen, den er durch geschwollene Augenlider sehen konnte. Jemand zündete das Reisig unter ihm an. Nichts mehr zu verlieren. Apparation mit letzter Kraft. Dunkelheit.

An mehr erinnerte sich Gregory nicht, denn die Dunkelheit wurde von dem Feuer auf seinem Arm durchbrochen, erweckte ihn.

„Der Krieg?“, hauchte er unsicher.
Narzissa legte den Kopf schräg. Ihre Worte sprach sie mit Bedacht, um dem jungen Mann nicht zu schockieren. „Der Krieg, Mr. Goyle, ist seit über zwei Jahren vorbei.“
„Wer ...“ Gregory musste kräftig schlucken. Ein falsches Wort und man würde ihm zum Feind erklären. „Wer hat gewonnen?“
Ein zuversichtliches Lächeln begleitete ihre Worte, als sie erwiderte: „Mr. Potter war so frei, die Angelegenheit für uns zu entscheiden.“

Ein Paradoxon, dachte Gregory. Harry Potter entschied den Sieg für die Todesser?

„Ich habe mich wohl missverständlich ausgedrückt“, lenkte Narzissa ein, der Gregorys Verwirrung nicht entgangen war. „Harry Potter hat den Sieg für die gute Seite gebracht. Voldemort ist tot.“ Gregory atmete auf und lauschte, als Narzissa erklärte: „Es hat sich einiges zum Positiven gewandelt, Mr. Goyle, aber das werden Sie nach und nach selbst erfahren. Also“, sie wiederholte ihre Frage, „gibt es jemanden, den man benachrichtigen könnte? Ich würde Ihnen diesen Gefallen gern erweisen.“
Der geschwächte Patient nickte. „Mr. Zabini und Miss Parkinson vielleicht? Ich habe die beiden lange nicht gesehen.“
„Oh, ich habe sie gesehen. Auf der Hochzeit meines Sohnes und während des Quidditch-Spiels in Hogwarts“, erzählte sie gut gelaunt.
Gregorys Stirn schlug Falten. „Draco hat geheiratet? Wen?“
„Sie kennen die junge Dame bestimmt noch, war mit Ihnen in einem Jahrgang. Susan Bones.“

Würden Gregorys Augen nicht fest im Griff der Sehnerven sein, wären sie ihm nach dieser Erkenntnis herausgefallen.

Das Leben war voller Überraschungen.

Das dachten auch Fogg und Stringer, als sie Schutz an dem dicken Baum suchten und zitternd warteten, was die nächste Minute bringen würde. Weiter hinten sahen sie die vier Auroren, die immer wieder einen Ortungs-Zauberspruch in eine Richtung abfeuerten. Von Greyback keine Spur. Der Angreifer hatte keinen Stab bei sich, hatte ihn womöglich schon vor Jahren verloren. Trotzdem war der gefürchtete Werwolf schnell und geschickt.

„Sieh nur!“ Stringer zeigte mit einem Finger zu den vieren hinüber. Greyback kam aus einem Gebüsch geschossen und schlug der jüngsten Frau den Zauberstab aus der Hand, doch bevor er der Aurorin oder dem Stab etwas tun konnte, griffen die anderen drei an.

Kingsley fluchte. „Wir brauchen Verstärkung! Der ist zu schnell.“ Er wollte nicht erwähnen, dass er Tracey und Kevin stets im Auge behielt, was ihn an seiner Arbeit hinderte. Die beiden waren jung, unerfahren. Gegen Greyback, mit dem man nicht gerechnet hatte, wären sie ohne Stab machtlos und genau das war es, was der Kriminelle im Auge hatte: Die Feinde entwaffnen, um sie dann mit seiner Körperkraft zu überwältigen. Die schnelle Auroren-Ausbildung bei Tonks hatte kaum die körperliche Verfassung gestählt. Kevin und Tracey waren schmächtig und im Nahkampf nicht geübt. Greyback hatte vorhin sogar die beiden ausgewachsenen Männer entwaffnet und angefallen. Was der Wilde mit den beiden Auroren anfangen würde, daran wollte Kingsley nicht einmal denken. Es war bekannt, dass Greyback das Fleisch junger Menschen vorzog.

Ein Krächzen war zu hören. Erschrocken drehten sich alle um. Nicht Greyback war zu sehen, sondern ein Hippogreif – ein Hippogreif mit einem Mann auf dem Rücken.

„Sirius!“ Tonks rannte auf ihn zu, vergaß dabei all ihre Höflichkeit und wurde deswegen beinahe von dem Greif getreten. Schnell gewann sie wieder Abstand.
Kingsley näherte sich ein paar Schritte, damit er Sirius warnen konnte. „Greyback ist hier. Du solltest gehen, aber schleunigst!“
„Greyback?“ Sirius' Augen funkelten freudig. Er zog seinen Stab. „Ich kann euch helfen! Brauche sowieso noch ein Weihnachtsgeschenk für Remus.“
Tonks musste für einen Moment lächeln, bis die ernste Lage wieder ihre Muskeln anspannte. „Nein, mein lieber Cousin. Du machst eine Fliege!“
„Hör auf sie!“, stimmte Kingsley zu. „Aber tu uns den Gefallen und gib Arthur Bescheid, dass wir ihn tatsächlich gefunden haben. Wir brauchen mehr Leute!“
„Ich könnte doch ...“
„Sirius!“, fuhr Tonks ihn böse an. „Du verschwindest sofort! Ich könnte mir nie verzeihen, sollte dir etwas pass...“

Die Ablenkung hatte Greyback genutzt. Mit Wucht sprang er Kevin auf den Rücken. Aus den Augenwinkeln sah der junge Mann die scharfen Zähne. Sie waren gefährlich nahe an seinem Nacken. Der massige Körper drückte ihn zu Boden. Die Angst um ihren Liebsten ließ Tracey unvorsichtig werden. Sie sprach einen Fluch. Die roten Funken trafen nicht Greyback, sondern Kevin. Ohnmächtig sackte er durch den Stupor in sich zusammen, den Werwolf noch immer auf dem Rücken. In Sekundenschnelle hatten Tonks und Kingsley ihre Stäbe erhoben, um Greyback von dem bewusstlosen Auror fernzuhalten. Die Bestie wich dem Impedimenta und dem Expelliarmus behände aus. Mit gefletschten Zähnen sprang er erneut auf den regungslosen Mann. Er biss jedoch nicht zu, denn ein raschelndes Geräusch ließ ihn irritiert aufblicken. Was er noch sehen konnte, war ein aufgebrachter Hippogreif mit aufgestellten Nackenfedern. Die kräftigen Krallen trafen Greyback im Gesicht. Blut floss. Um sich zu schützen, hob er seine Arme – sie waren vom nächsten Schlag zerschunden. Der dritte traf am Oberschenkel, hinterließ tiefe Schnitte. Der Kampf schien aussichtslos. Der Werwolf wollte erneut fliehen, wandte sich um. Den Weg versperrte ihm ein großer schwarzer Hund. Tatze.

„Warum kann der Hitzkopf keine Anweisungen befolgen?“, murmelte Kingsley missgelaunt, bevor er einen Zauberspruch sprach, der Greyback fesseln sollte. Der Werwolf duckte sich, der Zauber ging daneben und wirbelte das Laub am Boden auf. Die fliegenden Blätter nutzte Greyback zur Tarnung. Er wich seitlich aus. Der Hund folgte und schnitt ihm den Weg ab, knurrend und zähnefletschend. Das Beißwerk des schwarzen Ungetüms war gefährlicher als das eigene in Menschengestalt. Greyback huschte nach rechts, konnte einen Baum zwischen sich und die Auroren bringen. Der schwarze Vierbeiner hielt vor ihm Stellung, hielt ihn in Schach. Zur Ablenkung der Auroren flüchtete Greyback wieder nach links. Damit lief er dem Hippogreif direkt in die Arme – oder besser gesagt in die riesigen Adlerklauen, die sofort zuschlugen. Ein kehliger Laut entwich Greyback, als er zur Beute des Mischwesens wurde. Der Hippogreif trat auf den Mann ein, wollte ihn tottreten wie ein Sekretär es mit einer Schlange tun würde.

„Seidenschnabel!“ Das Tier zögerte, schüttelte den Kopf und plusterte die Federn auf, bevor es nochmals zutrat. „Seidenschnabel, hör auf!“ Die Stimme des Herrn, des Freundes. Seidenschnabel gehorchte.

Der Hippogreif krächzte unbefriedigt, machte dennoch ein paar Schritte zurück. Die Adleraugen waren starr auf den Mann am Boden gerichtet, beobachteten ihn wachsam. Rechts und links neben dem Baum kamen Tonks und Kingsley hervor. Letzterer fesselte Greyback magisch, auch wenn der schwer verletzt war und kaum noch fliehen konnte. Sicher war sicher.

Kingsley ging auf den Gefesselten zu. Das Schnaufen des Mischwesens ließ ihn inne halten. „Bring den Hippogreif weg, Sirius.“ Im Umgang mit Greifen war Kingsley nicht geübt.
Sirius schnalzte mit der Zunge. Das Geräusch, auf das auch Pferde und Thestrale reagierten, wirkte bei Seidenschnabel genauso. Das riesige Tier hob den Kopf und stapfte neugierig seinem Freund entgegen. „Eine Belohnung gibt es Zuhause.“ Damit musste sich Seidenschnabel zufriedengeben.

Kingsley begutachtete seinen Fesselungszauber. Er hielt. Sein nächster Gedanke war Kevin. Tracey hockte bereits neben ihm. Mit einem Enervate hatte sie den Schockzauber aufgehoben. Der junge Mann blinzelte.

Kevin rieb sich den Nacken. „Tut mir leid, ich habe nicht aufgepasst. Ist er ...?“
„Wir haben ihn. Sirius' Freund war so nett.“
„Was für ein Freund?“ Kevin ließ sich von Tracey aufhelfen. Gleich darauf sah er das gefederte Tier, das mit Sirius schmuste, dabei immer wieder mit dem Schnabel an die Schulter des Mannes stieß und nach Futter bettelte. „Ein Hippogreif?“
Kingsley klopfte Kevin auf die Schulter. „Bei der Ausbildung haben wir euch eingetrichtert, immer mit allem rechnen zu müssen.“
„Ja schon, aber ein Hippogreif?“
„Mit allem, Kevin.“ Kingsley versuchte, ein Grinsen zu unterdrücken, weshalb er schief lächelte.
Während die beiden älteren Auroren sich um Greyback kümmerten, entschuldigte sich Tracey bei Kevin. „Verzeih mir bitte, dass ich dich getroffen habe.“
„Da kannst du nichts für. Wäre ich nicht zusammengesackt, hätte er mich bestimmt gebissen. Ich würde dir lieber danken, dass du mich erwischt hast. Damit hast du ihn kurzfristig von mir abgelenkt.“ Kevin legte einen Arm um Traceys Schulter. „Wie wäre es, wenn du mir heute bei einem Abendessen erzählst, was danach passiert ist?“
„Mach ich doch gern.“ Sie strahlte breit. „Wir müssen sowieso unseren Bericht fertigmachen. Das können wir auch zusammen tun.“
„Bei dir oder bei ...“
„In Tonks' Büro.“ Weil er das Gesicht verzog, fügte sie schelmisch hinzu: „Und nach der Arbeit gehen wir essen.“

Mit dieser Aussicht war auch Kevin wieder milde gestimmt. Bis dahin sollte der Muskelkrampf in den Schultern Vergangenheit sein.

Auf Seidenschnabels Rücken verließ Sirius den Schauplatz im Wald, um Remus die gute Neuigkeit zu übermitteln. Seinen Freund würde es sicher mächtig freuen, dass derjenige, von dem er als Kind gebissen wurde, nun gefasst war. Die großen Schwingen des Hippogreif zeichneten einen Schatten im Innenhof der Festung ab, weswegen Harry und Hopkins gleichermaßen neugierig nach oben blickten. Durch den Regen blinzelten sie schnell.

„Monster“, murmelte Hopkins, als er dem Greif nachschaute.
„Ein mythologisches Wesen“, verbesserte Harry zähneknirschend, womit er wieder Hopkins' Aufmerksamkeit erhielt. Der blickte ihn durch zusammengekniffene Augen an, tat und sagte jedoch nichts. Die Waffe hatte er noch immer nicht auf Harry gerichtet, also sah Harry keinen Grund, den Stab zu erheben. Er war in friedlicher Absicht hier, aber ein wenig piesacken wollte er doch. „Es ist nicht die feine englische Art, eine junge Frau zu entführen.“
Feuer flammte in Hopkins Augen auf, bevor diesmal er korrigierte: „Eine Hexe!“
„Eine junge Frau! Und wie das Leben so spielt, zufällig auch mein Zukünftige. Darf ich wissen, was wir verbrochen haben?“
Mit gepflegter Konversation schien Hopkins nicht gerechnet zu haben. In Gedanken schien er Harrys Frage zu wiederholen, um die Situation zu begreifen. „Eine ganze Menge“, war seine unzureichende Antwort.
„Beispiele wären nett“, forderte Harry furchtlos. „Mich würde auch sehr interessieren, warum Sie offensichtlich mich herlocken wollten. Was hatten Sie mit mir vor?“

Als würde die Phrenesie sich für einen Moment zur Seite schieben sah Harry in den Augen Hopkins' Verwirrung und die nicht gestellte Frage „Was mach ich eigentlich hier?“. So schnell dieser lichte Moment gekommen war, so geschwind war er auch schon vorübergezogen. Der Unverstand war zurückgekehrt. Wie von einem Gott verflucht hatte sich der Wahnsinn wie ein unsichtbarer Nebel über den wachen Geist gelegt, der gegen das Irrereden der inneren Stimmen nicht anzukommen vermochte. Hopkins wollte sich von dem teuflischen Fluch befreien, der seit Studientagen auf ihm zu lasten schien. Er wollte sich von den Schmerzen lösen, die er ertragen musste und die Stimmen in seinem Kopf zum Schweigen bringen. Harry Potter sollte sein ganz persönlicher Nemëischer Löwe werden; die erste zu bewältigende Aufgabe, die ihn seinem klaren Verstand näher bringen sollte.

Der innere Zwist seines Gegenübers war für Harry deutlich zu erkennen. In all den Jahren, die er mit Feind und Freund verbringen musste, waren ihm Feinheiten der Körpersprache nicht fremd. So sahen Lügner gern nach links oder kratzten sich im Gesicht, während ihre rechte, kreativen Gehirnhälfte die Ausflüchte erdachte. Die Aufrichtigen blickten hingegen nach rechts, scheuten auch nicht den direkten Augenkontakt. Eine Abneigung gegen Menschen und Situationen oder, wie Harry es früher oft bei Severus erleben musste, die totale Verschwiegenheit wurde unbewusst mit verschränkten Armen oder übergeschlagenen Beinen unterstrichen. Bei Hopkins konnte er wenig erkennen. Die Nervosität fiel ihm als Erstes auf, denn Hopkins spielte mit der Waffe, schüttelte sie leicht, um ihr Gewicht zu fühlen und sich in Sicherheit zu wiegen. Die freie Hand öffnete und schloss sich im Takt, was bedeutete, dass Hopkins unsicher war. Unsichere Menschen, die sich zusätzlich bedroht fühlten, waren gefährlich. Harry wollte Hopkins keinen Grund geben, sich angegriffen zu fühlen.

„Mr. Hopkins, was haben wir Ihnen getan?“, versuchte er es nochmals, die Stimme dabei ruhig und einfühlsam gehalten.
Hopkins war nicht mehr zu halten. Er regte sich so sehr beim Sprechen auf, dass er sogar spuckte. „Ihr raubt Kinder! Ihr tötet Menschen! Ihr lasst Körperteile mutieren. Leute wie ihr fügen aus Spaß Schmerzen zu!“
„Das ist nicht wahr!“, rechtfertigte sich Harry, der sich persönlich angegriffen fühlte.
„Es ist wahr! Hier“, er deutete mit seiner Waffe hinter sich auf die Festung, „leben eine Menge Menschen, die von euresgleichen drangsaliert wurden. Mich nicht ausgeschlossen! Wir können ja hineingehen, Mr. Potter.“ Hopkins wandte sich bereits um und ging völlig unverhofft zum Eingang hinüber. „Dann werden Sie sehen“, brüllte er aus einiger Entfernung, „was Sie angerichtet haben!“
„Mr. Hopkins ...“ Harry wurde nicht mehr gehört. Der Regen wurde immer stärker. „War das eine Einladung?“, sprach Harry zu sich selbst.
„Harry“, Ron erschien hinter ihm, „du willst da doch nicht allein rein?“
„Was tust du hier? Habe ich nicht gesagt, du sollst verschwinden?“
„Ähm ...“ Sein Freund blickte betreten zu Boden. „Ich habe nur ein Auge auf dich geworfen.“ Weil Harry zum Eingang der Festung blickte, wiederholte Ron: „Du willst da nicht rein, oder?“
„Ich muss! Irgendwas ist mit dem Mann los. Hast du gehört, was er gesagt hat? Über das, was 'wir' getan haben sollen?“
„Das ist bestimmt eine Falle, Harry. Ich an deiner Stelle würde ihm nicht in die Höhle des Löwen folgen. Du kennst doch die Fabel?“ Harry blickte ihn irritiert an, woraufhin Ron erklärte: „Der alte Löwe fragt den Fuchs, warum er denn nicht in seine Höhle kommen will und der Fuchs antwortet, weil zu viele Spuren hinein, aber keine hinausführen.“
„Du vergisst aber, Ron, dass ich hier der Löwe bin.“
„Haarryyy ...“ Rons nörgelnde Tonfall erinnerte sehr an Mrs. Weasley. „Es ist gefährlich! Machen wir es doch so wie es geplant war. Du kannst da nicht alleine rein.“
Harry schnaufte. „Ich kann! Habt ihr die Männer im Griff?“ Sein Blick richtete sich auf die Stellen hinten am Eingang, wo die aggressiven Anhänger gekämpft hatten.
„Sind alle gefesselt. Das waren die, die du noch sehen konntest. Die anderen haben eine Fliege gemacht, sind alle hineingerannt.“
„Das passt doch bestens!“, wollte Harry seinem Freund weismachen. „Dann gehe ich als Erster rein und der Bodentrupp folgt mir in einigem Abstand – unsichtbar!“
„Und du willst sichtbar bleiben? So war das aber nicht gedacht! Soll ich dir vielleicht gleich eine Zielscheibe auf den Rücken malen?“ Ron zuckte mit den Schultern. „Nur damit die Muggel es noch einfacher haben.“
„Ron!“, mahnte Harry mit fester Stimme. „Sieh dir mal die Fenster an.“

Ron folgte dem Deut von Harry und schaute zur Festung. Nicht nur ein weißes Kopfkissen war an einem der Fenster zu sehen, sondern noch zwei weitere. Die Muggel gaben nach und nach auf.

„Toll, Harry. Drei Muggel geben auf und du glaubst dich schon als Sieger? Was ist mit dem Harry geschehen, der sich erst nach dem dritten Rundgang sichtbar machte, wenn wirklich alle Feinde in die Knie gezwungen wurden?“
„Das hier sind doch keine Feinde. Wenn ein paar von den Dingen stimmen, die Hopkins uns anlastet, dann kann ich verstehen, warum manche Muggel was gegen Zauberer haben.“
„Die haben Ginny entführt!“, rief Ron ihm aufgebracht ins Gedächtnis zurück.
„Aber doch nicht alle auf einmal! Und jetzt ist sie frei. Was nun, Ron?“ Harry legte seinen Kopf schräg. „Rache? Das ist das, was sie von uns erwarten und auch das, was Voldemort getan hätte. Sollen wir einfach alle überrennen?“
Ron verzog das Gesicht. Harry hatte Recht. Man konnte den Muggeln auch auf andere Art zeigen, dass sie überlegen waren, aber auch, dass sie Güte großschrieben. Er hob seinen Stab und richtete ihn auf Harry: „Metallissulto.“
Harry tastete seinen Körper ab, spürte jedoch keine Veränderung. „Was war das?“
„Metall prallt jetzt an dir ab. Pass aber auf, wenn sie mit Steinen nach dir werfen sollten, dagegen hilft der Spruch nämlich nicht. Wir folgen dir und halten Abstand.“ Mit einem freundschaftlichen Schlag auf den Rücken verließ Ron seinen Freund, bevor er den Bodentrupp, bestehend aus den Zwillingen, Luna, Angelina, Colin und Dennis, Bescheid gab. Später, so war es geplant, würden die anderen vom Himmel kommen und den Innenhof einnehmen.

Nur kurz blickte Harry seinem besten Freund nach. Der Zauberspruch, der Metall abprallen lassen sollte, hatte offensichtlich den Schutzzauber gegen den Regen aufgehoben, denn Harry wurde nass. Er setzte sich in Bewegung, das dunkle Gemäuer behielt er immer im Auge. Er kam an Muggeln vorbei, die von seinen Freunden gefesselt wurden. Höflich, wie die DA-Mitglieder waren, hatten sie auch einen Regenschutzzauber auf die Überwältigten gelegt, damit sie sich keine Lungenentzündung holen würden. Der Eingang mit seiner dunkelbraunen Flügeltür kam immer näher. Bis auf die Gefesselten war niemand zu sehen. Rechts von den Stufen, die zur Eingangstür führten, sah er ein Fenster am Boden. Nachdem Harry die paar Stufen hinaufgegangen war und er an der nur angelehnten Tür stand, blickte er sich um. Seine Freunde sammelten sich langsam hinter ihm, um ihm zu folgen. Durch diesen Gedanken gestärkt legte er eine Hand an das feuchte Holz und stieß eine Seite der Tür auf. Ächzend gab sie den Weg zur Halle frei.

Im Eingangsbereich hielt sich niemand auf. Seine Schritte waren dank seiner einfachen Turnschuhe dumpf. Von hier aus führte eine Treppe nach oben in den ersten Stock. Rechts, links und vor ihm – vorbei an der Treppe – lagen Türen. Die rechte war geöffnet, der Raum dahinter dunkel. Harry wollte dort einen Blick hineinwerfen, um einen möglichen Hinterhalt zu zerschlagen. Immer wieder huschten seine Augen zur Treppe, falls man ihn von oben aus angreifen wollte, aber jeder schien sich ängstlich verkrochen zu haben. Man hörte keinen Mucks. Die offene Tür führte ein paar Stufen hinunter. Harry fand sich in einer riesigen Küche wieder, einem halbrunden Anbau der östlichen Wehrmauer. Ein Blick nach links zeigte das Fenster, das er schon vor dem Betreten der Festung gesehen hatte. Von hier aus führten Stufen zum Doppelfenster hinauf. Wahrscheinlich, dachte Harry, nutzte man dieses große Fenster, wenn Lebensmittellieferungen kamen. Die Küche war offenbar nie restauriert worden, schien aber voll funktionstüchtig. Der Boden, die Wände, die Säulen – alles war grau. In der Mitte gab es eine viereckige Erhöhung, die als Feuerstelle diente. Ein Rost hing noch über der Asche. An den Wänden waren Leisten angebracht, von denen Kellen, Löffel und Töpfe herabhingen. Harry kam an einem hüfthohen, hölzernen Gegenstand vorbei, auf dem eine breite Axt eingeschlagen war. Wahrscheinlich hatten eine Menge Hühner hier ihr Haupt verloren. Langsam ging Harry einige Schritte weiter. Hinten war ein Kamin angezündet. Es wurde heller und wärmer. Zwischen zwei Säulen war ein langer Tisch platziert und dort – Harry erschrak – saß jemand. Dieser Jemand blickte ihn durch schwere Lider an. In einer Hand hielt der Mann mit dem grau melierten Schläfen einen metallenen Becher, auf dem Tisch vor ihm stand ein Krug. Der Becher war auf dem halben Weg zu Mund in der Luft eingefroren – wahrscheinlich seit dem Zeitpunkt, als der Mann Harry bemerkt hatte.

„Guten Tag, Sir“, grüßte Harry höflich, „mein Name ist ...“
„Harry Potter“, säuselte der Herr, der einige Becher zu viel intus hatte. „Ich kenne Ihren Namen.“
„Und Sie, Sir? Mit wem habe ich die Ehre?“
„Mein Name ist Mr. Andersen, ich bin Arzt.“
„Was tun Sie hier?“
Mr. Andersen stieß mit dem Fuß seines Bechers an den Krug. „Mich betrinken. Der Wein in diesen Kellern ist fast genauso alt wie das Gebäude. Unbezahlbar ...“
Langsamen Schrittes näherte sich Harry dem Mann, bis er ihm gegenüber stand. Nur der Tisch war zwischen ihnen. „Und was genau haben Sie mit Mr. Hopkins zu tun?“
„Nicht viel, Mr. Potter. Eigentlich sehr wenig.“
„Warum unterstützen Sie ihn dann?“
Mr. Andersen schüttelte den Kopf. „Das mache ich gar nicht.“
„Aber er muss Ihnen irgendwas versprochen haben. Warum sonst ...?“
„Hören Sie“, unterbrach Mr. Andersen, „ich bin nur hier, um jemanden auf Schmerzensgeld zu verklagen.“
Harry stutzte. „Verklagen? Warum?“
Mr. Andersen nahm einen letzten Schluck und stellte den leeren Becher auf dem Tisch ab, winkte Harry danach zu sich heran. „Kommen Sie her, ich zeig es Ihnen.“

Seinen Stab immer in der rechten Hand haltend ging Harry langsam um eine der Säulen herum, die beide Tischenden abschlossen. Er stand nun direkt bei Mr. Andersen, der noch immer auf seinem Stuhl saß und sich nun bückte, um seinen rechten, schwarzen Slipper auszuziehen. Die Socke folgte. Harry blickte auf einen Fuß, dessen Zehen keine Zwischenräume mehr hatten – sie waren zusammengewachsen. Die Zehennägel waren noch vorhanden.

„Wer hat das getan?“ Es musste ein Zauberer gewesen sein, das war logisch, dachte Harry.
„Ein Zauberer“, erwiderte Mr. Andersen, als hätte er Harrys Gedanken gelesen. „Er war betrunken und hat seine Späßchen mit mir getrieben.“
„Wann war das?“
„Vor etwas über drei Jahren.“
Seit so langer Zeit lief dieser Muggel schon mit einem Scherzzauber herum, der mit einem einfachen Spruch, den jedes Kind kannte, beendet werden konnte. Als Nevilles Beine damals durch einen Tarantallegra zum unkontrollierten Tanzen gezwungen wurden, hatte Remus den Scherzzauber mit einer leichteren Variante dieses Gegenzaubers aufgehoben. „Das tut mir sehr leid, Mr. Andersen.“ Ohne zu fragen wutschte Harry mit seinen Stab und sprach: „Finite Incantatem.“

Völlig aufgebracht, weil Mr. Andersen mit einer Verschlimmerung zu rechnen schien, fuchtelte er wild mit seinen Händen umher. Er zog auch noch den zweiten Schuh und die Socke aus, um mit anzusehen, wie die Zehen sich langsam schmerzfrei teilten und wieder ihre ursprüngliche Form annahmen. Mr. Andersen hatte sich beruhigt, als er bewusst registrierte, dass Harry lediglich den Fluch aufgehoben hatte. Außerdem hatte ihn diese Aufregung auf einen Schlag wieder nüchtern gemacht. Vorsichtig wackelte er mit dem großen Zeh des rechten Fußes. Er hatte keine Bewegungseinschränkung zurückbehalten, wie er es befürchtet hatte. Ein zufriedenes Lächeln ergriff Besitz von seinem Gesicht. Mr. Andersen blickte auf.

„Vielen Dank, Mr. Potter! Hätte ich gewusst, dass das so schnell und ohne Komplikationen vonstatten geht, hätte ich mich nicht unters Messer gelegt, sondern mir einen Zauberer gesucht.“
Harry blinzelte. „Wieso mussten Sie sich operieren lassen?“
„Der 'Herr' hat meine Nase ums dreifache wachsen lassen. Die Schönheitschirurgie ist in der heutigen Zeit glücklicherweise zu einigem fähig.“ Mit einem Finger strich sich Mr. Andersen über die kleine, formschöne Nase. „Bei den Ohrläppchen gab es auch keine Probleme. Das überschüssige Gewebe wurde einfach entfernt. Probleme machte nur der Ringelschwanz, den mir der Mann angehext hat. Der war mit der Wirbelsäule verbunden und konnte nur teilweise entfernt werden.“
„Das ist grauenvoll“, flüsterte Harry, doch Mr. Andersen hatte ihn gehört.
„Sie“, er zeigte einmal auf Harry, „sind auch zu solchen Dingen in der Lage.“
„Aber warum sollte ich so etwas tun? Das ist Körperverletzung!“
„Genau deshalb hätte ich den Zauberer, der mir das angetan hat, gern verklagt. Sie können sich aber denken, wie überaus schwierig es war, meinen Zustand den entsprechenden Behörden glaubhaft zu schildern. Ich habe meine Aussagen zurückgezogen, weil ich bemerkte, dass ich so kurz davor war“, er zeigte eine kleinen Abstand mit Daumen und Zeigefinger, „in eine Nervenklinik eingewiesen zu werden. Also war es kein Zauberer, der mit das angetan hat, sondern eine unerklärliche Generkrankung, die gewisse Körperstellen mutieren ließ. Ich hab fast selbst schon dran geglaubt, unter psychischen Störungen zu leiden, bis ich eines Tages Mr. Hopkins kennen lernte. Bei ihm fand ich Gehör und auch Verständnis, Mr. Potter. Das ist der Grund, warum einige von uns seinen Worten Glauben schenken, denn er war für uns da.“

Harry nickte verständnisvoll. Die Geschichte von Mr. Andersen konnte er nachvollziehen, den Grund für die Abneigung der Magischen Welt verstehen. Für einen Augenblick fragte er sich, was man eigentlich mit Dudleys Ringelschwanz getan hatte. Er würde beizeiten Hagrid fragen, ob der Zauber damals zeitlich beschränkt gewesen war, denn über diesen Vorfall hatten seine Verwandten nie wieder ein Wort verloren.

„Ist allen Leuten, die hier sind, etwas Ähnliches passiert wie Ihnen?“, fragte Harry, befürchtete aber gleichzeitig, die Antwort würde positiv ausfallen.
„Vielen, keinesfalls allen. Hier laufen leider eine Menge Spinner rum. Wünschelrutengänger, selbsternannte Wahrsager und andere Menschen, die man höchstens auf dem Rummel erwartet. Aber die, Mr. Potter, die tatsächlich mit Zauberern und Hexen in Berührung kamen ...“ Mr. Andersen atmete tief durch, als er an Claudine und Jakob dachte, die noch immer um ihre Söhne trauerten. Sein Blick fiel auf die beweglichen Zehen. Seine Stimme drückte Bedauern aus, als er sagte: „Einige Dinge lassen sich nicht rückgängig machen.“

Hopkins' Worte hallten in Harrys Gedächtnis wider. 'Ihr raubt Kinder! Ihr tötet Menschen! Ihr lasst Körperteile mutieren. Leute wie ihr fügen aus Spaß Schmerzen zu!' In dieser Hinsicht hatte Hopkins wohl die Wahrheit gesagt und das machte Harry Angst. Kinder rauben und Menschen töten? Unmöglich war die Vorstellung nicht, wenn er an Todesser dachte.

„Wir ...“ Harry wusste gar nicht, was er sagen sollte. Sollte er fragen, ob es tatsächlich Tote gegeben hat? „Wir haben nichts Böses vor, Mr. Andersen. Wir möchten nur in Ruhe gelassen werden.“
Mr. Andersen wurde kurz laut. „Dann sollen die Zauberer uns in Ruhe lassen! Es passiert doch offensichtlich immer wieder, dass wir nur als Belustigung herhalten. Das muss man unterbinden! Haben Sie denn keine Gesetze gegen solche“, er zeigte auf seine Füße, „Späße?“
„Das ist ... Nicht jeder ist so! Sie können nicht alle verurteilen, weil ein paar von uns gegen die Gesetze zum Schutz der Muggel verstoßen.“
„Ich verurteile gar nicht alle, Mr. Potter. Die junge Frau zum Beispiel, die Hopkins' Handlanger hier angeschleppt haben, die war sehr nett.“
„Ginny? Sie haben sie gesehen?“
„Und mit ihr geredet. Man wollte sie ruhigstellen. Als Arzt sollte ich das übernehmen.“ Mr. Andersen setzte sich wieder und schenkte sich von dem Wein ein. „Sie wird es Ihnen selbst erzählen können, denn sie ist ja geflohen.“
„Mr. Andersen?“ Der Mann blickte auf. Seine Augen wirkten müde. „Was kann ich tun, damit die Menschen verstehen, dass es auch in unserer Welt Verbrecher gibt?“
„Was meinen Sie?“
„Unter den Muggeln gibt es auch Mörder, aber niemand würde auf die Idee kommen, alle Muggel mit diesen Kriminellen gleichzusetzen. Die magische Bevölkerung ist der der Muggel sehr ähnlich. Wir gehen einkaufen, jäten den Garten, kochen und putzen, gehen zur Schule oder haben Berufe. Viele von uns mögen Muggel, haben sogar welche als Eltern.“
Mr. Andersen nickte. „Ja, das stand auch im Tagespropheten.“ Wieder war Harry erstaunt. Diese Muggel lasen die Zeitungen der Zaubererwelt. Da war es kein Wunder, dass Hopkins ihn kannte. „Den meisten hier ist klar“, fuhr Andersen fort, „dass nicht alle so sind. Wir wissen von Todessern und dass die auch euch schwer zu schaffen machten. Aber was sollen wir denn tun?“ Mr. Andersen hob beide Hände in fragender Geste, bevor er sie auf seine Schenkel legte. „Wir haben keine Anlaufstelle, kein Amt, wo man sich beschweren könnte, wo man gerechte Strafen erzielen könnte. Wir sind den Zauberern hilflos ausgeliefert.“
„Ich verstehe, was Sie meinen. Bei uns werden gerade die Gesetze geändert. Ich kenne die Leute, die daran arbeiten. Ich werde dafür sorgen, dass das Gesetz zum Schutz der Muggel ausgeweitet wird. Es muss möglich sein, die Opfer von magischen Übergriffen als solche zu erkennen und deren Aussagen ernst zu nehmen. Da muss der Muggel-Premier noch enger mit uns zusammenarbeiten.“
„Das ist auch so eine Sache.“ Mr. Andersen kam ins Grübeln. „Unser lieber Premierminister weiß über alles Bescheid. Warum weiß die Bevölkerung nichts über die Magische Welt?“
Die Antwort wägte Harry überlegt ab. „Es könnte Panik ausbrechen. Bei Hexen denken doch alle sofort an hässliche, Menschen fressende Weiber mit einer schwarzen Katze auf dem Buckel.“
„Wie dem auch sei ...“ Mr. Andersen betrachtete seinen Becher. Er war offenbar gewillt, sich weiterhin zu betrinken. „Es geht einfach nicht, dass man uns so behandelt.“
„Da stimme ich Ihnen zu. Ich möchte einige Dinge mit Mr. Hopkins klären. Wissen Sie, wo er hin ist?“
Der Arzt schüttelte den Kopf. „Sein Zimmer hat er im ersten Stock ganz hinten. Ich habe ihn seit vorhin nicht mehr gesehen.“
„Dann werde ich ihn mal suchen.“
Harry war schon ein paar Schritte, da stand Mr. Andersen auf und ging ihm nach, hielt ihn am Oberarm fest. „Mr. Potter, Sie müssen Obacht geben. Hier laufen ein paar gefährliche Typen rum, besonders dieser Tyler.“ Der Arzt drosselte seine Stimme, damit nur Harry ihn hören würde. „Ich bin mir sicher, der Mann hat schon ein paar Leichen im Keller.“
„Tyler? Wie sieht der aus?“
„Sie erkennen ihn bestimmt sofort. Die Pistole ist ihm an der Hand festgewachsen. Ohne werden Sie ihn keinesfalls antreffen. Er hat eine fliehende Stirn, kurze, braune Haare und einen fiesen Blick; ist so groß wie Sie.“
„Ich werde aufpassen.“
Andersen nickte und hob seinen Becher, mit dem er ihm zuprostete. „Bereiten Sie dem Wahnsinn ein Ende.“

Während Harry zur Tür ging, fragte er sich, ob er Hopkins ein Ende bereiten sollte oder der Tatsache, dass manche Zauberer sich an Muggeln vergriffen. Beides wird der Fall sein, dachte er. Zurück im Eingangsbereich traf er auf seine Freunde, die artig warteten, wie er es verlangt hatte. Sie waren für andere unsichtbar, nur untereinander konnten die Mitglieder der DA sich sehen.

„Wir dachten schon“, flüsterte Ron, „wir müssen dir nachkommen.“
„Bisher alles im grünen Bereich“, versicherte Harry. „Hopkins' Zimmer ist im ersten Stock ganz hinten. Ich gehe hoch. Ihr folgt mit etwas Abstand. Und immer die Nerven behalten! Achtet auf einen bestimmten Typen, meine Größe. Er hat eine fliehende Stirn und kurze, braune Haaren. Er heißt Tyler. Soll besonders gefährlich sein.“

Die Stufen der Treppe waren ein Hindernis, das die DA-Mitglieder nur mit einem Zauberspruch, der die Schritte lautlos machen sollte, geräuschlos überwinden konnten. Oben angekommen blickte Harry sich zunächst um. Zwei Gänge führten von hier aus weiter. Der eine nach links, einer gerade aus. Ganz hinten bemerkte er eine große Doppeltür: Hopkins' Zimmer. Rechts und links in dem Gang befanden sich mehrere Türen. Harry schritt voran. Vorbei an der ersten Tür, an der zweiten und der dritten. Hinter der vierten hörte er ein Geräusch und hielt inne, um zu lauschen. Jemand weinte. Mutig klopfte Harry an. Das Weinen hörte abrupt auf. Da keine Aufforderung zum Eintreten kam, öffnete er die Tür sehr vorsichtig. Kugeln konnten ihm wegen Rons Schutzzauber gegen Metall nichts anhaben, aber sollte jemand auf andere Weise handgreiflich werden, könnte er sich verletzten. Die Tür ließ sich leicht öffnen. Sofort bemerkte Harry die ältere Dame, die auf dem Boden hockte und schwer atmete. Ihre Augen waren weit aufgerissen, als er eintrat. Nach dem ersten Schritt machte er Halt, weil er ihre Angst erkannte.

„Guten Tag, Madam. Mein Name ist Harry Potter.“ Die Dame atmete nun noch heftiger. Der Name war ihr bekannt. „Ich wollte ...“ Als Harry einen Schritt machte, fuhren ihre zitternden Hände in die Jackentasche. Sie zog eine Waffe, mit der sie ungenau auf ihn zielte. „Ich werde Ihnen nichts tun.“ Die Frau sprach einfach nicht, war völlig verängstigt. Harry machte noch einen Schritt auf sie zu, da erhob sie sich vom Boden und drückte sich an die Wand. Den Griff der Pistole umfasste sie nun mit beiden Händen. Trotzdem schlackerte die Waffe so stark, dass irgendein Teil klappernde Geräusche machte. Weil er Kugel nicht fürchten musste, machte er einen weiteren Schritt. Jetzt streckte sie beide Arme, um die Waffe ruhig zu halten, was ihr jedoch nicht gelang. Bei seinem nächsten Schritt schloss sie die Augen, wandte den Kopf zur Seite. Sie wollte schießen, doch man hörte nur ein klickendes Geräusch. Erschrocken über ihre eigene Hilflosigkeit drückte sie nochmal und nochmal, doch kein Schuss löste sich. Harry behielt die Ruhe, als er sich ihr näherte. Sie musste die Arme einziehen, sonst hätte sie ihn berührt. Sie wirkte auf ihn wie ein in die Ecke gedrängtes Tier, das keinen Fluchtweg mehr sah. Harry führte eine Hand an ihre, die noch immer die Waffe hielt.

„Hier“, er zeigte auf einen kleinen Schieber, „das ist die Sicherung.“ Er betätigte den Regler. Rote Farbe kam unter der freigewordenen Stelle zum Vorschein. „Habe ich im Fernsehen gesehen. Jetzt ist sie entsichert. Sie können schießen.“

Seine Stimme war so ruhig gewesen, sein Wesen so bedächtig und harmlos, dass die arme Frau ganz verwirrt war. Scheu blickte sie ihm in die Augen und sah dort all das Gute, dass er verkörperte. Eleanor kam sich schlecht vor, einen so freundlichen, jungen Mann bedroht zu haben. Die Waffe legte sie vorsichtig neben sich auf dem Nachttisch ab, legte danach beide Hände ineinander, als würde sie beten.

„Warum sind Sie hier?“, fragte er in einem Tonfall, der erahnen ließ, dass er diese Frage schon jemand anderem gestellt hatte.
„Mein ...“ Sie schluckte kräftig und begann von vorn. „Mein damaliger Freund hat die Verlobung gelöst.“ Sie hob und senkte die Schultern. „Das hätte ich überwunden, aber er hat“, ihre Stimme brach, „unseren kleinen Sohn ...“ Eleanor legte eine Hand über den Mund, um den Schmerz zu verdecken.
„Er hat ihn mitgenommen?“ Sie nickte nur, brachte kein Wort mehr heraus. „Ihr Verlobter war ein Zauberer.“ Es war eine Tatsache, sonst wäre sie gar nicht hier, wusste er. Wieder nickte sie, holte zittrig Luft. Harry nahm sie am Arm und führte sie die zwei Schritte zum Bett. „Setzen Sie sich.“ Direkt neben ihr nahm er Platz. „Und Sie wissen nichts über seinen Verbleib?“
„Nein, nur ...“ Eleanor langte zum Nachttisch.

Im ersten Moment glaubte Harry, sie würde sich die Pistole nehmen. Sie öffnete jedoch eine Schublade und holte eine Mappe heraus, die sie auf ihren Schoß legte. Harry beobachtete interessiert, was die Mappe offenbaren würde. Alte Bilder kamen zum Vorschein, pfleglich behandelt und in Schutzfolien verpackt. Ihr ganz persönlicher Schatz. Schwarz-weiß-Bilder aus alten Tagen. Sie suchte ein bestimmtes Foto und hielt es ihm entgegen. Harry nahm es in die Hand und betrachtete in Ruhe die drei Personen darauf. Eine hübsche Frau Anfang zwanzig in einem in den 50er Jahre wieder in Mode gekommenen, hellen Prinzesskleid stand in einem blühenden Park vor einer Picknickdecke und hielt freudestrahlend ein Baby im Arm. Ein ebenso junger Mann hatte seine Arme seitlich um die Frau gelegt, drückte sie und das Baby zufrieden lächelnd an sich. Irgendwas an dem Strahlemann auf dem Bild erinnerte Harry an jemanden. Die Gesichtszüge des Vaters waren ihm bekannt.

„Das war Flavius.“ Eleanor deutete auf den Mann im Bild. „Es bedeutet ...“
„Der Blonde“, vervollständige Harry. Der Name stammte von Flavio ab; so viel verstand er auch noch von Latein. Die Haarfarbe auf dem Foto war hell, aber wegen fehlender Farbe nicht genau zu deuten. „Und das Kind?“
„Wir haben ihn nach einem heftigen Streit Brian genannt. Ich bin mir sicher, er hat ihn umbenannt, nachdem er mich verlassen hat. Flavius hatte ganz seltsame Namen vorgeschlagen – altmodische. Ich habe ihm gesagt, das Kind würde später Probleme mit einem so alten Namen haben, würde gehänselt werden und erst da erzählte er mir, dass das in 'seiner Welt' vollkommen normale Vornamen wären, wie der seine auch.“
„Er hat Ihnen so spät erst gesagt, dass er ein Zauberer ist?“
Die ältere Dame nickte. „Wir haben uns seitdem nur noch gestritten. Ich war wütend, weil er mich von Anfang an belogen hat. Er stammte gar nicht aus Italien, war kein Werftarbeiter und seine Eltern waren auch nicht verstorben. Die Basis unserer Beziehung bestand aus einem wackeligen Gerüst aus Lügenmärchen.“ Eleanor stoppte sich. Ihr Blick fiel auf das Baby auf dem Foto. Von ihrem damals noch so fröhlichen Lächeln war heute nichts mehr bei ihr übrig. Die letzten vierzig Jahre hatte der Gram ihr Gesicht gezeichnet.
„Und dann?“, fragte Harry vorsichtig nach.
„Wir haben uns dazu entschlossen, uns zu trennen. Was ich nicht wusste, war ...“
„Dass er das Kind mitnimmt.“
Die Frau nickte, presste dabei fest die Lippen zusammen, weil die vor lauter Trauer bereits bebten. Einem Seufzer gleich atmete sie aus und wieder ein. „All die Zeit ... Ich habe mich jeden Tag, jede Stunde gefragt, was der Junge wohl gerade macht. Ob er lacht oder weint, ob er krank im Bett liegt, ob er Freunde hat, ob er“, sie wischte eine Träne weg, „glücklich ist.“ Sie atmete tief durch. „Die Ungewissheit ist das Allerschlimmste, wissen Sie? Bis jetzt. Ich weiß nicht einmal, ob er noch am Leben ist.“

Als Harry das Schicksal der Frau auf sich projizierte und sich vorstellte, jemand hätte Nicholas entführt, da konnte er mit ihr mitfühlen. Auch Ginny und er würden ihr Leben lang keine Ruhe finden. Das, was in wenigen Sekunden in seiner reinen Vorstellung schon unermesslich Schmerz bereitete, hatte diese Frau über vierzig Jahre ertragen müssen.

„Mrs. ...?“
„Eleanor Monaghan. Aber immer noch Miss.“

Die Frau hatte seit der aufgelösten Verlobung niemals geheiratet. Jetzt erst verstand Harry, wie sehr ihr Leben durch den Verlust des Sohnes zerrüttet worden war. Sie konnte nicht vergessen, konnte mit einem anderen Mann keine Familie gründen, weil sie glaubte, ihren verlorenen Sohn auf diese Weise noch in den Rücken zu fallen.

„Es wird eine Weile dauern, Miss Monaghan, aber ich bin der festen Überzeugung, dass wir Ihren Sohn finden können. Man müsste nur in unserem Ministerium die Geburtsurkunden durchgehen.“
Eleanor machte große Augen, schien seinen Worten nicht zu glauben. „Das ist möglich?“
„Bestimmt! Sie als Mutter haben ein Recht zu erfahren, was mit Ihrem Sohn geschehen ist. Ich bin mir auch sicher, dass der Vater eine Strafe erwarten kann.“
Sie schnaufte, zeigte damit ihre ganze Gleichgültigkeit. „Was mit dem Vater passiert, ist mir egal.“ Sie betrachtete das Baby auf dem Bild. „Hätte ich nur gewusst, wie ich das anstellen könnte, wie ich nach ihm hätte suchen können. Unsere Behörden konnten mir nicht helfen, haben ihn in den Akten einfach als vermisst geführt.“
„Das tut mir sehr leid, dass Ihnen so viel Unglück wiederfahren ist, Miss Monaghan. Ich werde mich später dafür einsetzen, dass Ihre Suche schnell vonstatten geht.“
Überglücklich nickte Eleanor, rang sich ein Lächeln ab. „Danke, Mr. Potter.“
„Ich werde mich später noch mit Ihnen unterhalten. Ich habe jetzt einiges mit Hopkins zu klären.“
„Mr. Potter“, sie machte eine Handbewegung, so dass er wartete, was sie zu sagen hatte. „Geben Sie acht. Mit Mr. Hopkins ist etwas nicht in Ordnung. Er ist nicht richtig im Kopf.“
„Das habe ich schon bemerkt“, winkte er ab.
„Ich meine es ernst!“, sie stand vom Bett auf. „Er ist gemeingefährlich. Manchmal nimmt ihn ein Wahnsinn ein, der selbst uns unheimlich ist. Ich weiß nicht, ob es ein Fluch ist, wie er immer behauptet.“
„Was für ein Fluch?“
„Einmal war es ganz schlimm. Er bekam Nasenbluten und es hörte einfach nicht mehr auf. Er wurde ganz jähzornig, war völlig außer sich und sagte immer wieder, dass die Hexen ihn quälen, weil er von ihnen weiß.“
Das hörte sich mehr als nur seltsam an, dachte Harry. „Danke für die Information. Ich werde jetzt Mr. Hopkins aufsuchen, hatte vorhin schon kurz das Vergnügen.“

Zurück auf dem Flur war es Harry ein Rätsel, warum Hopkins ihn einfach so hatte stehenlassen. Wollte der Mann, dass Harry selbst in Erfahrung brachte, was den Menschen widerfahren war? Im Flur schluchzte jemand und Harry drehte sich um. Nacheinander blickte er seinen Freunden ins Gesicht. Das von Luna zeugte von Tränen, die sie verloren haben musste, als sie Eleanors Geschichte lauschte.

„Alles okay?“ Alle nickten, auch Luna. „Dann weiter.“
„Harry?“ Er drehte sich um, so dass Ron empfehlen konnte: „Du musst nicht jede Tür hier öffnen. Wir wissen doch, wo Hopkins' Zimmer ist.“
„Aber ist es nicht einer der Gründe, weshalb wir hier sind? Um zu erfahren, warum diese Menschen uns so hassen?“
Ron zuckte mit den Schultern. „Eigentlich wollten wir Ginny befreien und das ist erledigt. Mach kurzen Prozess mit Hopkins und ...“
„Und was? Wieder gehen und die Leute sich selbst überlassen?“ Harry schüttelte den Kopf. „Nein, Ron. Du hast es doch eben gehört. Zwischen Muggeln und Zauberern läuft hier etwas mächtig schief und es liegt an uns, das wieder geradezubiegen.“
„Wie du meinst.“ Ron gab sich mit Harrys Aussage zufrieden.
Harry blickte in die Runde. „Oder ist jemand dafür, dass wir jetzt gehen sollten?“ Niemand rührte sich, nicht einmal sein bester Freund. „Habt ihr alle gehört, was die Frau da drinnen erzählt hat?“ Diesmal nickten sie im Einklang. „Sollen wir gehen und sie bis zu ihrem Tode in Ungewissheit lassen?“
„Harry macht es schon richtig“, hörte man unerwartet Lunas sanfte Stimme sagen. „Wir können denen helfen, denen man Unrecht getan hat.“
„Das kann das Ministerium auch“, warf Ron ein. „Wir können sie abholen lassen, dann machen sie eine Aussage.“
„Ron, Ron“, mit einer Hand machte Harry eine beschwichtigende Geste, „es liegt aber mir daran, etwas über diese Missstände zu erfahren, weil ich glaube, etwas ändern zu können. Das Ministerium wird sich später mit ihnen befassen müssen, aber erst ... Wie kann man besser die Gründe erfahren, als von den Leuten selbst?“
„Und Hopkins?“
„Der kommt auch noch dran, keine Sorge!“

Plötzlich hörte Harry Schritte hinter der Tür, die gegenüber von Eleanors Zimmer lag. Vorsichtig ging er näher heran und lauschte. Er hörte ein paar Personen tuscheln, konnte aber nicht einschätzen, wieviele es waren. Höflich klopfte er. Das Gemurmel verstummte. Unerwartet hörte er ein „Herein“ und öffnete daher die Tür.

Auf dem Boden saßen drei junge Damen, jünger als er selbst. Ihre Kleidung und die vielen Halsketten erinnerte sehr an die Aufmachung von Trelawney, ebenso die Utensilien, die bei den Damen auf dem Boden lagen: weiße Kerzen, Kräuter, Pendel und dergleichen. Eine der Frauen stand auf. Der viele Schmuck an Handgelenken und Hals klimperte wie kleine Glöckchen und erinnerten mit diesem Klang an Weihnachten.

„Hexer!“, fauchte die Dame, deren eigentlich hübsches Gesicht durch ihren Hass zu einer widerlichen Fratze verzerrt war. „Deine dunkle Magie wird hier keinen Schaden anrichten! Siehst du das?“ Mit einem Finger deutete sie auf die kreisrunde Zeichnung am Boden, in denen die drei sich aufhielten. „Das ist ein Kreis aus Salz. Nichts Böses wird den überwinden können!“ Sie war sich ihrer Sache sicher.

'Nichts Böses?', dachte Harry. Das sollte ihm recht sein, denn wenn diese Frauen so fest daran glaubten, würde er schnell ihr Vertrauen gewinnen können. Also machte Harry einen Schritt nach vorn – überwand den Kreis aus Salz. Er stand der Frau nun so nahe, dass ihre Zehen sich beinahe berührten. Die anderen beiden am Boden atmeten erschrocken ein. Die Dame vor ihm blinzelte einige Male verwundert.

„Nichts Böses wird den überwinden können“, wiederholte Harry die Frau, lächelte im Anschluss mit geschlossenem Mund.

Die Mimik der Frau änderte sich, sie wurde wieder hübsch. Beide Hände führte sie ehrfürchtig vor den Mund, doch nur ihre Fingerspitzen berührten die Lippen. Durch die Finger hindurch sah Harry sie lächeln. Unerwartet fiel sie ihm um den Hals, murmelte dabei etwas davon, dass ihre Zaubersprüche gewirkt haben mussten, denn das Gute hätte gesiegt. Sehr wahrscheinlich waren das welche von den Personen, die Mr. Andersen kurzerhand als Spinner tituliert hatte. Harmlose Anhänger der Esoterik und des Okkultismus. „Weiße Hexen“ der Muggelwelt, die nichts Böses im Sinn hatten. Langsam löste sie die Umarmung wieder, strich ihm einmal über den Oberarm.

„Wir werden unseren Schwestern sofort die Nachricht überbringen, dass keine Gefahr mehr besteht.“ Nach ihren Worten betätigten die beiden am Boden bereits ihre Handys.
Harry nickte. „Danke, das ist sehr freundlich.“ Er fühlte, wie er noch immer lächelte. „Ich muss weiter, gute Frau.“
„Ich verstehe, aber Vorsicht ist geboten, wenn Sie denen über den Weg laufen, die von einer schwarzen Aura umgeben sind! Deren Herz ist genauso schwarz wie ihre Seele.“
Ungefähr konnte sich Harry vorstellen, was sie damit meinte. Vorhin im Innenhof hatte er die schwarzen Silhouetten der Feinde gesehen. „Keine Sorge, Madam. Und vielen Dank für die Warnung.“

Die Damen ließ Harry schnell wieder allein. Dass die Auffassung der Frauen ein wenig weltfremd schien, bedeutete nicht, dass sie verrückt waren. Sie waren nur anders, lebten anders. Nichts Verwerfliches.

Auf dem Flur verkniff sich jeder seiner Freunde einen Kommentar. Die Zwillingen grinsten amüsiert, während Luna – wie immer – verträumt in die Gegend starrte.

Die letzte Tür vor Hopkins' Zimmer wollte Harry nicht auslassen, denn er hörte gedämpfte Stimmen. Da diskutierten welche darüber – Harry drückte sein Ohr an das Holz –, wie sie die Situation überleben könnten. Diese Angst wollte Harry nehmen. Er klopfte. Gleich darauf hörte er Schritte und die Tür wurde aufgerissen. Ein Mann stand ihm gegenüber, dessen Gesichtsausdruck von „erwartungsvoll“ zu „angsterfüllt“ wechselte.

„Wir werden Ihnen nichts tun, Mr. ...“
Der Mann brachte kein Wort heraus, sondern stand wie versteinert an der Tür. Die zweite Person im Hintergrund nannte den Mann beim Namen. „Jakob, wer ist da?“
„Jakob?“, wiederholte Harry die persönliche Anrede. „Mein Name ist Harry.“
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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Rest von Kapitel 205

Es schien, als würde Jakob vor dem Namen weichen, denn er ging rücklings ins Zimmer zurück. Harry nahm das als Aufforderung und folgte ihm. Die Frau auf dem Bett blickte ihren Mann an, dann Harry.

„Oh Gott! Oh mein Gott! Sie sind hier! Jakob, tu doch etwas!“ Die Panik in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
„Madam, regen Sie sich bitte nicht auf. Wir haben nicht vor, jemandem wehzutun“, wollte Harry sie beruhigen, doch die Frau schien außer sich. Ihr ganzer Körper zitterte, als sie sich ans Kopfende des Bettes presste. In Harrys Kopf formte sich die Frage, was geschehen war, dass sie so eine Angst vor einem einzigen Zauberer hatte?
„Wir ...“, der Mann zeigte zum offenen Fenster, aus dem ein Besenstiel hing, an dessen Ende ein weißes Kopfkissen angeknüpft war.
„Ja, ich weiß, was das bedeutet“, versicherte Harry.
Der Mann hielt beide Hände nach oben. „Wir machen keinen Ärger!“
„Sir, Sie brauchen wirklich nichts von mir zu befürchten. Ich frage mich nur, warum Sie sich Hopkins angeschlossen haben – einem Mann, der eine junge Frau entführt hat.“ Harry musterte Jakob. „Sie wirken sehr vernünftig auf mich.“
„Er ... Hopkins hat gesagt, wir könnten die Männer finden, die ...“

Seine Frau begann zu wimmern, hielt sich die Ohren zu. Offenbar hatten dieser angefangene Satz gereicht, um quälende Erinnerung in ihr zu wecken.

„Was haben diese Männer getan?“, hakte Harry dennoch nach. Er wollte verstehen. Er wollte die Gründe wissen.
„Meine Frau erträgt es nicht, wenn ich darüber rede.“ Harry blickte zu der Frau hinüber, die sich die Ohren zuhielt und nun auch fest die Augen zusammenkniff. Sie weinte unentwegt. Bevor er etwas sagen konnte, fragte Jakob: „Was haben Sie jetzt mit uns vor?“
Die Frage brachte Harry aus dem Gleichgewicht. „Was sollten wir mit Ihnen vorhaben?“
„Wir haben uns ergeben, ergo sind wir Ihre Gefangenen.“ Für den Mann schien das festzustehen.
Harry machte eine abwinkende Handbewegung. „Unfug, wir machen keine Gefangenen.“ Weil Jakobs Haltung sich versteifte, korrigierte Harry seine Aussage, die missverstanden werden konnte. „Ich meine, das steht uns gar nicht zu.“ Nochmals blickte er zu der Frau hinüber, die nicht mehr ganz bei Sinnen schien. Ihr Oberkörper wippte vor und zurück. „Was ist nur mit Ihnen geschehen?“, murmelte Harry. Was konnte so eine Reaktion auslösen, nur weil ein einziger Zauberer im Zimmer war?
„Man hat unsere Kinder ermordet“, flüsterte Jakob resignierend. „Todesser ...“

Mehr brachte er nicht heraus. Seine Kehle schnürte sich zusammen. Die Erklärung war Harry genug. Was Todesser mit Muggeln gemacht hatten, das konnte man damals in jeder Zeitung lesen. Nicht alle Fälle waren ans Tageslicht gekommen, nur die, bei denen Squibs oder Zauberer Zeuge waren. Wie sollten Muggel auch dazu in der Lage sein, ihr Schicksal der magischen Welt anzuvertrauen?

Ein bisschen Hoffnung wollte Harry geben. „Es gibt Möglichkeiten, die Verbrecher zu fassen.“
Jakob horchte auf. „Genau das wollten wir erreichen. Hopkins hat uns gesagt, man könnte diese Männer finden. Wir wollten, dass sie ihre gerechte Strafe bekommen.“
„Wie haben Sie Hopkins kennen gelernt?“
„Durch Zufall. Wir waren in einem Hotel, in dem eine Veranstaltung von ihm geplant war.“ Jakobs Stimme bebte so aufgeregt, als wäre er bei einem Verhör. „Am Nebentisch haben zwei andere über Zauberer und ihre Taten gesprochen. Wir haben das für Blödsinn gehalten, bis wir eine Zeitung gesehen haben, in der sich die Bilder bewegten. Dort stand etwas von Todessern, von Überfällen. Diese schwarzen Umhänge, diese Masken ...“ Das Bild von dem ersten Tagespropheten, den er je gesehen hatte, war in sein Gedächtnis eingebrannt. Jakob schüttelte den Kopf, als würde er wie damals von der gleichen Erkenntnis eingenommen werden. „Es war alles echt! Es gab sie wirklich und es waren Todesser, die unsere Söhne ...“
„Sie werden uns umbringen!“, schrie Claudine plötzlich, bevor sie zur Waffe griff, die neben dem Bett lag. „Sie wiegen uns in Sicherheit und dann werden sie uns genauso töten wie Michael, Jeffrey und David!“
„Claudine, leg die Waffe weg!“ Jakob stellte sich vor Harry. „Du willst niemandem etwas antun“, redete er ihr ein.
Sie wurde noch lauter. „Die spielen doch nur mit uns! Mit einem Fingerschnippen brechen sie uns das Genick, wenn sie genug von uns haben!“
„Leg die Waffe weg“, wiederholte ihr Mann.
„Sir“, Harry drückte Jakob von sich weg. Den Schutz benötigte er nicht. Harry sorgte sich, dass die Frau versehentlich ihren eigenen Mann treffen könnte. „Sir, gehen Sie weg von mir!“
„Unser Leben“, Claudine sackte kurz in sich zusammen, Tränen rannen an ihren Wangen herab. „Unser Leben ist für die nicht von Wert.“ Die Waffe legte sie in den Schoß, doch als ihr Mann sie nehmen wollte, richtete sie sie wieder auf Harry. „Wollen Sie uns auch foltern wie David?“ Harry hielt seinen Stab fest umschlossen, doch er zielte nicht auf sie oder die Waffe, weil die Situation dann eskalieren würde. „Er hat sich vor Schmerzen gekrümmt, hat immerzu gerufen, sie sollen aufhören. Hört auf! Hört auf!“ Die Erinnerungen waren wieder frisch. Sie hörte die Stimme ihres Sohnes, der nach Hilfe rief. „Als seine Mutter hätte ihn davor bewahren müssen. Ich hätte helfen müssen!“
„Das war nicht möglich!“, warf ihr Mann ein, doch er blieb ungehört.
Claudine hob erneut die Waffe und blickte Harry an. „Er war erst fünfzehn! Fünfzehn! Ich hätte ihm helfen müssen!“

Die Frau zitterte wie Espenlaub. Die Worte ihres Gatten nahm sie nicht wahr. Völlig unerwartet richtete sie die Waffe gegen sich selbst. In dem Moment, als Claudine abdrückte und Jakob „Nein!“ rief, sprach Harry einen Zauberspruch. Claudines Hand war mit einem Male voller weißer Schmetterlinge, die sie staunend betrachtete. Harrys Herz raste wie verrückt. Gerade noch rechtzeitig hatte er den Zauber gesprochen, sonst hätte die Frau sich in den Kopf geschossen. Besorgt rannte der Mann zum Bett hinüber, scheuchte damit die Schmetterlinge auf, die friedlich durchs Zimmer flatterten und nach und nach verschwanden, als sie das offene Fenster fanden.

„Gehen Sie“, sagte Jakob, der Harry nicht anblickte, sondern seine aufgelöste Frau an sich drückte.
„Kann ich irgendwas für Sie ...?“
„Verschwinden Sie!“

Harry verließ die beiden und schloss die Tür leise hinter sich. Mit einer Hand bedeckte er seinen Mund, führte dann Daumen und Zeigefinger unter die runde Brille, um seine Augen zu reiben. Nachdem er sich die Brille wieder gerichtet hatte, drehte er sich zu seinen Freunden um. Mit dem Rücken lehnte er sich an die Wand neben der Tür und atmete einmal tief durch.

„Ich will nur noch Hopkins' Geschichte hören. Mehr ertrage ich heute nicht.“ Harry stieß sich von der Wand ab. „Behaltet den Flur im Auge, nicht dass sich jemand anschleicht.“
„Machen wir die ganze Zeit schon, Harry“, scherzte Ron mit einem Zwinkern.
„Also auf zu Hopkins. Ich hoffe, er ist in seinem Zimmer, sonst müssen wir das ganze Schloss durchkämmen.“

Hinter der großen Doppeltür, wo man Hopkins vermutete, war es totenstill. Diesmal klopfte Harry nicht, sondern öffnete leise die Tür. Ein Zimmer mit altmodischer, aber stilvoll aufeinander abgestimmter Möblierung in warmen Braun- und Rottönen eröffnete ihm sich. Kleine Beistelltische, ein Sideboard und Vitrinen. Da standen Stühle mit kunstvoller Verzierung, die mit Sicherheit ein höheres Alter besaßen als der Hausherr. Als Harry eingetreten war und sich umblickte, bemerkte er viele Bilder an den Wänden. Einige der abgebildeten Personen trugen die Gesichtszüge von Hopkins, mussten also Vorfahren sein. Unter den Frauen, dachte Harry, waren einige arrogant wirkende Schreckschrauben mit dabei, aber auch ein paar nett anzusehende Augenweiden. Links hinten stand ein uralter Papageienkäfig auf einem reichlich mit Mustern verzierten Untersatz. Genutzt wurde er nicht. Ein imposanter Kronleuchter mit unzähligen brennenden Kerzen war das absolute Prachtstück in diesem Raum, gefolgt von dem roten Perserteppich, der jeden von Harrys Schritten dämpfte. Den bronzenen Büsten auf dem Kaminsims schenkte Harry wenig Aufmerksamkeit, dafür war die Sitzecke mit den rot gepolsterten Möbeln ein Blickfang. Leider konnte Harry nicht einordnen, was für ein Stil das war. Rokoko oder Biedermeier. Hermine war nicht hier, um es ihm zu erklären, aber er war auch nicht hier, um eine Schlossbesichtigung zu unternehmen.

Harrys Blick fiel auf einen Durchgang, vor dem ein roter Vorhang hing. Leise schritt er hinüber und zog den Vorhang beiseite. Dahinter befand sich eine weitere Tür. Er betätigte die alte Klinke und stieß die Tür auf. Kaum war sie geöffnet, wurden drei Schüsse abgefeuert. Aus lauter Schreck ging Harry einige Schritte zurück, stolperte dabei über einen Fußschemel und landete auf dem Gesäß. Ein Mann, zu der die Beschreibung passte, die Mr. Andersen ihm gegeben hatte, kam aus dem Zimmer gesprintet. Als er Harry am Boden liegen sah, feuerte er nochmal drei Schüsse ab, die allesamt – wie schon die ersten – an ihm abprallten. Trotzdem ihm nicht passieren konnte, hämmerte Harrys Herz bis in seinen Hals hinauf. Dieser Muggel hatte ihm einen richtigen Schrecken eingejagt.

Im Flur, in dem die Mitglieder der DA das Geschehen mit Anspannung verfolgten, wurde plötzlich eine Tür aufgerissen. „Was ist geschehen?“ Die drei jungen Damen wollten sehen, woher die Schüsse kamen, rannten dabei direkt in die Unsichtbaren hinein. Erschrocken befühlte die älteste der drei die nächst beste Person, die sie zu greifen bekam – Colin. „Herrje, ihr seid unsichtbar!“
„Gehen Sie zurück auf Ihr Zimmer, Madam“, sagte George ganz leise, damit niemand in Hopkins' Zimmer hören könnte, dass Harry im Flur Verstärkung hatte.
„Seid ihr Schutzgeister?“, wollte die Frau wissen, wuschelte derweil Colin in den Haaren herum, der sich heftig gegen den unerwünschten Körperkontakt zur Wehr setzte.
„Ja“, erwiderte Fred leise, „so etwas Ähnliches.“
„Wieviele seid ihr?“
„Wievie... Ich habe nicht nachgezählt. Jetzt gehen Sie schon, sonst passiert noch was.“
„Ja“, die drei gingen rückwärts, „Friede euch allen.“
„Friede Ihnen dreien“, grüßte Colin zurück, wurde deshalb von George seltsam angeblickt. „Was ist?“, flüsterte Colin unschuldig. „Seid ihr in Rom, macht 's wie die Römer!“ Fred und George grinsten sich gegenseitig an, behielten jedoch weitere Kommentare für sich.

Beschwichtigt gingen die drei Frauen, die ganz aus dem Häuschen darüber waren, Kontakt mit Schutzgeistern gehabt zu haben, zurück in ihr Zimmer.

Im Wohnzimmer bei Harry war viel mehr los. Tyler lud seine Waffe nach, während Harry ihn davon abbringen wollte, doch der Mann hörte einfach nicht.

„Wir können doch in Ruhe darüber ...“ Harrys friedlicher Versuch, ein Gespräch zu beginnen, wurde von den knallenden Geräuschen der Handfeuerwaffe unterbrochen, die Tyler in weniger als 30 Sekunden leer schoss. „Sir, bitte ...!“ Harry fasste sich an die Stirn, fühlte das Pflaster unter seinen Fingern. „Davon bekomme ich Kopfschmerzen.“

Tyler sprach nicht mit ihm, sondern stand furchtlos im Zimmer und lud seine Waffe ein weiteres Mal nach. Er suchte nicht einmal Schutz hinter einem der Sessel. Mit einem Wutsch könnte Harry den Mann in null Komma nichts überwältigen und er war sich sicher, dass Tyler das auch wusste. Wie zu erwarten richtete Tyler die Waffe nochmals auf Harry und schoss, hatte dabei ein wildes Funkeln in den Augen.

„Ihnen muss doch irgendwann die Munition ausgehen.“
Tyler schnaufte amüsiert, während er ein weiteres Mal die Patronen in die Trommel stopfte. „Ich hab genug!“, versicherte er.
„Ich auch“, erwiderte Harry trocken, als Tyler die Waffe hob. Harry wedelte mit seinem Stab. Prompt verwandelte sich die Waffe. An Tylers Hand schlängelte sich ein langes Reptil mit glänzenden Schuppen. Aufgeschreckt schüttelte Tyler es von sich und beobachtete, wie das lange Tier sich Schutz unter einem der antiken Schränke suchte.
„Nur der Teufel pflegt den Umgang mit Schlangen“, zischte Tyler, als wäre er selbst eine.
„Ach ja? Zählen die ganzen Tierpfleger in Zoos auch dazu?“ Harry sah noch den Schwanz des Tiers, wie es unter dem Schrank verschwand. „Außerdem ist das eine Blindschleiche und keine Schlange.“ Von der sichtbaren Mordlust in Tylers Augen ließ sich Harry nicht einschüchtern. „Ich möchte gern mit Mr. Hopkins sprechen.“
„Aber er nicht mit Ihnen!“
„Ich denke schon. Er hat mich dazu ermutigt, ins Schloss zu kommen. Ich habe mit einigen geredet und jetzt möchte ich mit Mr. Hopkins ...“

Unerwartet griff Tyler zu einem schweren Aschenbecher und schleuderte ihn in Harrys Richtung. Harry duckte sich. Der Aschenbecher flog durch die offene Tür in den Flur hinaus. Man hörte ein Geräusch, dass sich „Umpf“ schreiben könnte. Ron war getroffen. Er hielt sich eine Hand über den Mund, eine an den Schritt. Die Zwillinge blickten von ihrem Bruder herab auf den Aschenbecher.

An den DA-Mitgliedern drängte sich Ron vorbei, um weiter hinten Luft holen zu können. „Meine Güte“, japste er, „genau in die Weichteile. Dabei wollte ich später noch Kinder haben.“
„Wirklich?“ Angelina war an seiner Seite und stützte ihn, grinste ihn wegen seiner vorangegangenen Worte breit an. „Das wird schon wieder, Ron.“

Im Zimmer war Tyler dabei, sämtliche Gegenstände – ob sie von Wert waren oder nicht – auf Harry zu werfen, der davon langsam genug hatte.

„Hören Sie auf, Mister, sonst sehe ich mich gezwungen ...“ Harry duckte sich, weil eine Vase geflogen kam, die laut scheppernd hinter ihm an der Wand zersprang. „Sie haben es nicht anders gewollt.“ Mit einem Incarcerus fesselte Harry den wütenden Mann. „Was haben Sie nur gegen uns?“, fragte er Tyler, der sich mit aller Kraft aus den unsichtbaren Fesseln befreien wollte, was ein aussichtsloses Unterfangen darstellte. „Was haben wir Ihnen getan?“
„Ihr seid abartig!“
„Das ist natürlich stichhaltiges Argument“, spottete Harry. Er hatte das Gefühl, dieser Mann war einfach nur bösartig und von Grund auf gewaltbereit. „Ist Hopkins da drin?“ Mit seinem Stab zeigte Harry auf den roten Vorhand, hinter dem die Tür geöffnet sein musste. Wer sich auch immer in diesem Zimmer aufhalten würde, hätte alles zwischen ihm und Tyler beobachten können. „Ich habe gefragt, ob er da drin ...?“

Harry bekam einen Schlag auf den Kopf und ging zu Boden. Seine Freunde hatten schnell reagiert und waren vom Flur ins Zimmer gestürmt, um zwei Männer dingfest zu machen.

„Scheiße!“, rief einer von den beiden jungen Männern. „Ich habe geahnt, dass hier noch mehr von denen sind!“

Die Stimme kam ihm bekannt vor. Harry rieb sich den Kopf, versuchte sich dabei zu erinnern, wo er den jungen Mann schon einmal gehört hatte und dann fiel es ihm ein. Es war die Stimme, die Rons Patronus aufgezeichnet hatte. Die Stimme von demjenigen, der über einen magischen Schutzherrn Bescheid wusste. Ein Zauberer? Neben Harry auf dem Boden lag ein Hockeyschläger. Da der aus Holz war, hatte Rons Schutzzauber ihn nicht abgewehrt. Langsam stand er auf, wurde dabei von einer für die Muggel noch immer unsichtbaren Luna gestützt. Er blickte die beiden jungen Männer an, die abwechselnd zu ihm und zum gefesselten Tyler blickten, der auf eines der roten Sofas gefallen war und sich dort räkelte.

„Wer seid ihr?“, wollte Harry wissen, fasste sich derweil nochmals an den Hinterkopf und befühlte ihn vorsichtig. Eine dicke Beule war ihm sicher. „Ich habe gefragt, wer ihr seid! Zauberer?“
„Was geht dich das an?“, erwiderte der ältere von beiden geringschätzig.
Harry zuckte gelassen mit den Schultern. „Ihr habt Recht, mir seid ihr keine Erklärung schuldig, dafür aber dem Ministerium.“
„Und wir wissen ja alle“, giftete der ältere von den beiden, „wie das Ministerium mit unsereins umgeht.“
„Wenn ich wüsste, was 'unsereins' einschließt, dann ...“

Harry wurde arg unterbrochen, als noch ein Schuss in seine Richtung abgefeuert wurde. Der Schütze stand hinter dem roten Vorhang. Nur einen Teil des Unterarms und natürlich die Waffe konnte man sehen. Harry blieb gelassen und wartete den nächsten Schuss ab, der prompt kam.

„Wie lange braucht ihr wohl, um zu merken, dass ihr mir nichts anhaben könnt?“ Mit seinem Stab teilte er den roten Vorhang. Zum Vorschein kam ein junger Mann, den er einmal auf einem der Urlaubsbilder von Ginny gesehen hatte. „Pablo?“ Gegen das teuflische Grinsen, das sein Gesicht mit Sicherheit zierte, wollte er gar nicht ankämpfen. „Was für eine 'Freude', Pablo! Komm doch her, dann 'spielen' wir ein wenig zusammen.“

Pablo verschwand so schnell, dass die Vermutung nahe lag, eine weitere Person hätte ihn ins Innere des Raumes gezogen. Sein Blick fiel nochmals auf die beiden Männer, die ihn mit einem Hockeyschläger angegriffen hatten.

„Aus euch machen wir am besten ein paar handliche Pakete, die die Auroren nur noch einsammeln müssen.“ Er zielte auf den älteren von beiden. „Incarcerus!“ Gleich darauf fesselte er den jüngeren mit demselben Spruch. Drei von den gewalttätigen Burschen hatte Harry jetzt schon in diesem Wohnzimmer dingfest gemacht und er war sehr von der Idee angetan, Pablo auf die gleiche Weise zu behandeln. „Komm raus, Pablo. Ich tu dir auch nicht weh.“ Es war nicht einmal gelogen, trotzdem bekam er keine Antwort. Harry drehte sich zu seinen Freunden um. „Okay, macht euch sichtbar, sobald noch einer Ärger macht. Dann zeigen wir ihnen mal, wieviele von uns schon in der Festung sind.“
„Harry?“ Ron blickte auf seine Uhr. „Die anderen müssten jetzt schon alle im Innenhof sein.“ Es war so geplant. Man wollte die letzten von Hopkins' Männern aus der Burg scheuchen und sie entsprechend in Empfang nehmen, indem die gesamte DA sich im Innenhof mit einem Male sichtbar machen sollte.
„Hier wird es nicht mehr lange dauern. Nur noch Pablo und Hopkins.“
„Überlässt du Pablo mir?“, fragte Ron mit einem bösartigen Knurren in der Stimme.
„Ich will, dass alle überleben, Ron! Du glaubst doch nicht, dass ich dich auf ihn loslasse?“ Ron verzog das Gesicht, verhielt sich aber ruhig und horchte, als Harry anwies: „So, einer von uns sollte jetzt Minister Weasley aufsuchen. Fred? Lust auf einen Besuch bei deinem Vater?“
Fred und George schüttelten gemeinsam den Kopf. „Du glaubst doch nicht, dass wir uns das entgehen lassen? Schick Dennis!“
„Warum immer ich?“, nörgelte Colins Bruder.
„Weil ...“ Auf die schnelle dachte sich Fred einen belanglosen Grund aus. „Weil du der Jüngste von uns bist.“
„Was?“ Dennis war völlig perplex. „Das hat euch früher doch auch nicht gestört, als wir gegen Todesser gekämpft haben. Da hieß es doch immer 'Dennis, geh vor!'.“
Harry hielt eine Hand nach oben. „Ich will keinen Patronus schicken, der kann nämlich keine Fragen beantworten. Einer von uns muss persönlich gehen! Ich möchte, dass in spätestens einer Viertelstunde Auroren hier sind.“ Er wandte sich direkt an Dennis. „Von mir aus geh nach Hogwarts und sag Dumbledore, dass er soll Alarm schlagen soll.“

Ein Seufzer entwich Dennis, doch er opferte sich für seine Freunde und apparierte in zwei Etappen vor die Tore Hogwarts', um von dort aus Professor Dumbledore Bescheid zu geben.

Als er über das feuchte Gras lief und sich das Schloss betrachtete, fühlte er sich wie Zuhause. Der Anblick des Sees ließ ihn schmunzeln, denn er dachte an seinen ersten Tag in Hogwarts und wie er vor lauter Aufregung ins Wasser gefallen war. Der Riesenkrake hatte ihn zurück ins Boot befördert. Schon seit seinem zweiten Schuljahr war er Mitglied der DA gewesen. Das war besser als eine Studentenverbindung, von denen sein Vater immer erzählt hatte. Man musste keine komischen Mützen tragen und auch keinen traditionellen Bräuchen folgen, keine Regeln auswendig lernen und keine Probezeit überstehen. Einzig seine Unterschrift verpflichtete. Die Galleone war das Zeichen der DA und wenn die brannte, sollte man zur Stelle sein. Dennis hatte seine Verpflichtung immer sehr ernst genommen und die Galleone stets bei sich getragen. Außerdem war die DA kein reiner Männerbund. Es waren eine Menge Mädels mit dabei, dachte Dennis grinsend, und einige von denen waren noch immer solo.

Weil er so in Gedanken versunken war, hatte er die Schule schnell erreicht. Im Eingangsbereich wurde er von den sich dort aufhaltenden Schülern kaum beachtet. Das mochte an seiner Körpergröße liegen und auch an seiner schmächtigen Statur. Dennis war nie besonders groß oder kräftig gebaut gewesen, doch um eine Kamera zu halten bedarf es keiner Muskelpakete. Das Fotogeschäft mit seinem Bruder lief auch so wunderbar. Als Dennis an den Schülern vorbeiging, schnappte er einige Sätze auf.

„Ich habe gehört“, sagte eine Erstklässlerin, „dass Professor Snape der Arm abgefallen wäre!“
„Nein, er soll gebrannt haben! Das hab ich gehört.“
„Es soll ein Fluch gewesen sein!“
„Ein Streich von einem Schüler, der den Arm verletzt hat.“
„Kein Streich, ein Unfall beim Brauen war es!“

Dennis suchte sich seinen Weg durch die Menge. Jeder tuschelte, denn alle hatten erfahren, was mit Snape und Draco geschehen war, doch der Wahrheitsgehalt der Aussagen ließ zu wünschen übrig. Ein junger Schüler behauptete sogar, Voldemort wäre zurückgekehrt. Dennis mischte sich sofort in das Gespräch ein und dementierte diese Aussage vehement. Der Schüler blickte betreten zu Boden. Offenbar hatte er diese Lüge nur erfunden, um seinen Mitschülerinnen Angst einzujagen.

„Wisst ihr, wo Professor Dumbledore ist?“, fragte er eine Gruppe Siebtklässler.
„Habe ihn in Richtung Krankenflügel gehen sehen, vor nicht mal zehn Minuten.“
„Okay, danke.“

Im ersten Stock erreichte Dennis den Krankenflügel, doch bevor er den betreten konnte, musste er an Madam Pomfrey vorbei.

„Mr. Creevey, was kann ich für Sie tun?“ Die Heilerin baute sich vor ihrem Büro auf, das direkt am Eingang zum Krankenflügel lag.
„Ich muss dringend zu Professor Dumbledore, Madam. Harry schickt mich.“
„Oh, einen Moment bitte. Kommen Sie erst einmal herein, aber warten Sie hier vorne.“

Dennis trat ins Büro, von welchem aus er einen Blick ins Krankenzimmer werfen konnte, aber auch nach draußen auf den Flur. In einem der Betten musste einmal sein Bruder gelegen haben, nachdem er von dem Basilisk versteinert wurde, aber zu dieser Zeit war Dennis noch nicht in Hogwarts gewesen. Mit den Augen folgte er der Heilerin, die nach links ging. Professor Snape lag in einem der Betten. An dessen Seite – auf dem Bett – saß der Direktor. Dennis musste schmunzeln, als die Heilerin den Direktor ermahnte, den Stuhl als Sitzgelegenheit zu nutzen und nicht das Krankenbett. Der Krankenflügel war ihr Reich und Albus kam der Aufforderung nach und erhob sich. Dennis beobachtete, wie Madam Pomfrey mit dem Direktor sprach, dabei in seine Richtung zeigte, so dass Albus Dennis sehen konnte. Er winkte den jungen Mann herein. Leise öffnete Dennis die Tür. Drinnen nickte er Draco und Susan grüßend zu. Weiter hinten lag Ginny, die sehr mitgenommen aussah. Eine Schwester begutachtete den Daumen. Auf der anderen Seite des Bettes sah er Mrs. Weasley, wie sie sich wieder und wieder die Nase schnäuzte.

Unbeirrt näherte sich Dennis dem Bett von Professor Snape, an dem noch immer der Direktor stand. Mit Snape hatte er nach der Schule fast keinen Kontakt mehr gehabt, hatte ihn nur auf verschiedenen Feierlichkeiten in Begleitung von Hermine gesehen. Worte hatte er nie mit ihm gewechselt. Nur für einen kurzen Moment kam das beängstigende Gefühl zurück, gleich zum Zaubertränkeunterricht gehen zu müssen, aber es verflog so schnell wie es gekommen war. Am Bett angekommen kam ihm die Begrüßung des ehemaligen Lehrers mit Leichtigkeit über die Lippen.

„Guten Tag, Sir.“
Severus nickte dem jungen Mann zu. „Guten Tag, Mr. Creevey.“
„Mr. Creevey“, Albus ergriff seine Hand und schüttelte sie, während die andere seine Schulter drückte. Würde der alte Zauberer über eine dritte Hand verfügten, würde er dem ehemaligen Schüler sicherlich eine Süßigkeit anbieten. Der Mann war noch immer von beeindruckender Körpergröße, bemerkte Dennis ehrfürchtig.
„Professor Dumbledore, Harry schickt mich.“ Dennis bemerkte, wie Snape aufhorchte. „Wir müssen Minister Weasley Bescheid geben. Harry fordert ein paar Auroren an.“
„Tatsächlich? Wo ist der Gute denn jetzt?“ Die Hand an der Schulter des jungen Mannes blieb.
„Ein paar von uns sind in die Festung reingegangen. Sind ein paar seltsame Dinge dort geschehen. Einige der Muggel benötigen Hilfe, Sir. Andere müssen festgenommen werden.“ Dennis blickte sich um, sah er jetzt im Nachbarbett Hermine schlafen, die sich die Decke bis unter die Nase hochgezogen hatte.
„Mr. Creevey?“
Aufgeschreckt fuhr Dennis herum, denn die Stimme von Snape hatte noch immer die gleiche Wirkung wie damals in der Schule. Der Tonfall verlangte absolute und sofortige Aufmerksamkeit. „Ja, Professor Snape?“ Dennis rechnete bereits damit, alle Zutaten für eine Schwell-Lösung aufzählen zu müssen und rief sie sich vorsichtshalber ins Gedächtnis.
„Was hat Harry bisher angestellt?“
Die Frage kam für Dennis unerwartet, aber er wollte gewissenhaft antworten. „Die übelsten der Burschen haben wir gefesselt. Viele der Muggel sind einfach nur verzweifelt und benötigen die Hilfe unseres Ministeriums. Als ich gegangen bin, sind wir gerade in Hopkins' Hauptquartier vorgedrungen.“
Severus runzelte die Stirn. „Hauptquartier?“
„Na ja, wir waren in seinem Wohnzimmer, aber das klingt so nach Kaffeekränzchen, war es aber ganz und gar nicht. Da war jede Menge los!“
Albus nickte. „Das glaube ich gern. Miss Spinnet erzählte uns, dass sie von Mr. Greyback angefallen wurde.“ Dennis riss die Augen auf, so dass er den jungen Mann beruhigen wollte. „Aber er konnte überwältigt werden.“
„Greyback ist gefasst? Das wird aber auch langsam Zeit! Ich hoffe, es ist niemand verletzt worden?“ Als der Direktor den Kopf schüttelte, atmete Dennis erleichtert aus. „Die Muggel haben 's aber auch faustdick hinter den Ohren, sagen ich Ihnen! Die haben auf uns geschossen und ...“
„Geschossen?“ Wie auf Bestellung kribbelte die kleine Narbe an Severus' Oberarm, an der ihn damals eine Kugel gestreift hatte. „Wurde jemand verletzt?“
„Nein, Sir. Ron hat einen Zauber entwickelt, der heißt ...“ Das war wie Prüfungsangst, dachte Dennis. Die Antwort lag ihm auf der Zunge, aber sie wollte ihm einfach nicht über die Lippen kommen. Ein Blackout. Dann plötzlich die Eingebung. „Der heißt Metallissulto.“
„Ah“, staunte der Direktor. „Und den hat Mr. Ron Weasley entwickelt? Wie erfindungsreich! Und sicherlich sehr wirksam. Aber genug geplaudert. Es wird Zeit, dass wir den Minister unterrichten. Mr. Creevey?“ Dennis blickte dem Direktor in die strahlend blauen Augen. „Wenn Sie mir folgen würden? Ich bin mir sicher, die Auroren möchten vor ihrem Einsatz gern ein Wort mit Ihnen wechseln.“

Ein paar Wörter wollte auch gerade Harry wechseln, aber Pablo weigerte sich, das Zimmer hinter dem roten Vorhang zu verlassen.

Voller Verachtung schüttelte Fred den Kopf. „Der ziert sich aber ganz schön!“
„Der weiß eben“, stimmte Ron ein, „dass die Brüder seiner Ex-Verlobten hier draußen auf ihn warten – und zwar alle sechs!“
Harry nahm das Ganze gelassen. „Wäre ich an seiner Stelle, würde ich auch nicht rauskommen, was bedeutet, einer muss rein.“
„Richtig!“ Mit einer Hand an Harrys Schulter schob George ihn in Richtung Vorhang. „Und weil Dennis nicht hier ist, sag ich nur: 'Harry, geh vor!'“

Mit erhobenem Stab schlich sich Harry zum Durchgang hinüber. Seine linke Hand schob den Vorhang beiseite, damit er einen Blick ins Innere werfen konnte. Die Fenster waren verdunkelt. Ein Lumos schaffte Abhilfe. Harry konnte zwei Männer sehen. Pablo saß an der linken Wand bewegungslos auf dem Boden, starrte ins Leere. In einigem Abstand befand sich eine offene Kiste, die vor den Füßen des anderen stand. Der Mann, größer und älter als Pablo, hatte die Muße zu lächeln. Beide Arme hatte er locker hinter dem Rücken verschränkt.

„Mr. Potter.“
Zumindest wusste der Mann, mit wem er es zu tun hatte, dachte Harry. „Guten Tag, Mister ...?“
„Abello ist mein Name, Alejandro Abello.“
Den leichten, spanischen Akzent hatte Harry registriert. „Wo ist Mr. Hopkins?“
„In seinem Schlafzimmer, vermute ich.“
Das musste die andere Tür im Wohnzimmer sein, vermutete er. Harry blickte zu Pablo hinunter, dann wie der zu dem älteren Mann. „Ihr Sohn?“ Alejandro nickte, während er beide Hände hinter den Rücken hielt. „Was ist mit ihm?“ Gleichzeitig schauten sie zu Pablo hinunter, der mit angezogenen Beinen an die Wand gelehnt einfach nur dasaß und sich keinen Millimeter rührte.
„Mein Sohn ist bereit.“
„Bereit wofür?“, fragte Harry nach, denn die Worte machten keinen Sinn.
„Bereit zu hören, warum Ihre Welt die Demütigung von Menschen durch ihresgleichen duldet.“
„So etwas wird nicht geduldet“, widersprach Harry.
„Ach“, Alejandro kam ein paar Schritte auf Harry zu, so dass er direkt neben der Kiste stand. „Weshalb gibt es denn so viele, die Rache an euch üben wollen? Jakob und Claudine haben sich ihre Geschichte bestimmt nicht ausgedacht. Ich habe Bilder von ihren Söhnen gesehen.“
„Dafür sind Todesser verantwortlich. Die sind auch in unserer Welt unzähliger Verbrechen angeklagt. Mord wird nicht geduldet!“
Alejandro nickte langsam, ließ sich die Worte durch den Kopf gehen. „Und wie sieht es mit Notzucht aus?“
Im ersten Moment wusste Harry gar nicht, was er antworten sollte. Er musste auf jeden Fall die Ruhe bewahren. „Die Taten, die in Ihrer Welt strafbar sind, sind es auch in unserer.“
Ein Schnaufen war zu hören. „Es interessiert nur niemanden“, warf Alejandro ihm vor. „Vielleicht kommen Zauberer mit bösen Absichten extra in unsere Welt, um ihre sadistische Ader auszuleben, weil sie genau wissen, dass sie freie Hand haben. Sie werden doch nicht belangt, für gar nichts!“

Harry war in einer verzwickten Lage, denn er musste eingestehen, dass der Mann Recht hatte. Die Zaubererwelt konnte nichts unternehmen, wenn die Straftaten nicht zur Anzeige gebracht wurden und genau da war das Problem. Muggel konnten keine Anzeige gegen Zauberer erstatten. Harry näherte sich einige Schritte, so dass er zu Pablos Füßen stand.

„Ich verstehe Ihre Situation, Mr. Abello. Sie werden, wenn auch spät, bald die Möglichkeit haben, Ihr Anliegen den Angestellten des Ministeriums zu schildern, damit der Täter ...“
„Oh nein, Mr. Potter. Mittlerweile habe ich selbst schon viel zu viel auf dem Kerbholz, als dass ich mich in die Hände der Justiz begeben kann – egal in welcher Welt. Woran mir nur noch liegt ist Vergeltung, denn Gerechtigkeit“, Alejandro schnaufte verachtend, „ist nur ein Wort ohne Bedeutung. Ich habe geschworen, so viele von euch mitzunehmen, wie es mir nur möglich ist. Es reicht mir aber auch, das bekannteste Gesicht der magischen Welt zu töten. Das wird Ihre Welt endlich wachrütteln.“

Sofort begriff Harry, dass er selbst gemeint war. Zeitgleich hörte er Pablo flüstern „Vater, nicht!“. Pablos Augen waren auf die hinter dem Rücken verschränkten Hände seines Vaters gerichtet. Alejandro führte seine Arme nach vorn. Erst jetzt sah Harry, dass der Mann die ganze Zeit über eine scharfe Granate gehalten hatte. Eine mit einem aufschlagsabhängigen Zündmechanismus. Alejandro ließ sie direkt über der Kiste los.

Wie in Zeitlupe sah Harry die Granate von der Schwerkraft angezogen in die Kiste fallen, in der – davon ging Harry aus – noch mehr Sprengkörper lagerten. Keine zwei Sekunden blieben ihm. Ein Augenaufschlag bis zur Katastrophe. Harry hob seinen Stab. Pablo griff nach seinen Arm, hinderte ihn am Zaubern. Die Handgranate war fast am Ziel.

Umdenken. Apparieren!

Mit Pablo am Arm war er plötzlich im Wohnzimmer. Pablo ließ los. Harry zielte auf den Vorhang.

„Prote...“ Die letzte Silbe war nicht mehr zu hören. Ein Donnern und Grollen ertönte, als wäre der zweite der Apokalyptischen Reiter gerufen worden, der den Krieg bringen sollte. Harry hielt sich schützend den linken Unterarm vors Gesicht. Die Reste des zerfetzen, roten Vorhangs fingen Feuer. Der verdunkelte Raum dahinter erhellte mit einem Male. Die Außenwand stürzte ein. Tageslicht. Seine Freunde hatten zeitgleich weitere Schutzzauber gesprochen. Nur mit dieser Einigkeit konnten sie die züngelnden Flammen, die herumfliegenden Splitter und das Geröll der auseinander berstenden Wände von sich fernhalten. Draußen hörte man Menschen rufen, einen Drachen fauchen. Das Balkenwerk des alten Gemäuers hielt dem Druck der Explosion nicht stand. Steine fielen von der Decke, brachen durch den morschen Boden und sorgten für noch mehr Instabilität. Laut knarrend gab das Gebälk dort nach, wo die Steine fehlten und je mehr sich die Balken bogen, desto mehr Steine lösten sich aus dem Mauerwerk. Man konnte den Himmel sehen.

„Es bricht gleich alles zusammen! Bringt die Leute raus! Alle!“

Seinen kräftigen Protego hielt Harry solange aufrecht, bis seine Freunde die drei gefesselten Männer in Sicherheit brachten. Mit Furcht nahm Pablo das Chaos in sich auf. Dort, wo sein Vater gestanden hatte, gab es keinen Boden mehr, gab es kein Zimmer mehr.

„Vater?“ Pablo machte ein paar Schritte, blieb aber vor dem hellen Schein des Protego stehen, hinter dem die Zerstörung wie hinter einer Panzerglasscheibe für ihn ungefährlich wütete. Das Wohnzimmer war durch den Zauber noch sicher. Noch.
„Raus hier!“, schrie Harry, aber Pablo hörte nicht. „Ron?“ Ein Blick über die Schulter brachte die Erkenntnis, dass niemand mehr bei ihm war, der helfen könnte. Seine Freunde rissen die Türen auf dem Flur auf, nahmen alle Menschen mit nach draußen, die sie finden konnten. „Geh da weg!“ Harry stürmte auf Pablo zu und riss ihm am Oberarm herum. „Geh nach draußen!“

Der junge Mann, der eben seinen Vater verloren hatte, stieß Harry von sich weg. Der fiel rücklings auf den Boden, verlor dabei seinen Stab. Der Schutzzauber war gebrochen. Harry erstarrte. Überall im Wohnzimmer war mit einem Male ein unheilvolles Knarren und Krachen zu hören. Die Wände platzten auf. Risse züngelten an den altmodischen Tapeten entlang, als hätte der Gespenstische Steinregen hier einen Ort gefunden, an dem er gedeihen wollte. Die ersten Regale fielen zu Boden, gefolgt von kostbaren Gemälden. Fensterscheiben zersplitterten, weil die Rahmen sich verzogen. Mit Schrecken musste Harry ansehen, wie Pablo – getrieben von der Hoffnung, seinen Vater zu finden – an den Rand des Abgrunds ging. Die Wände fehlten an einer Seite vollständig. Wo einst ein roter Vorhang wehte, der ein Zimmer verbarg, tat sich ihm ein prächtiges Panorama auf. Harry konnte seine Freunde am Himmel sehen, konnte die Thestrale erkennen und den Verbotenen Birkenwald. Pablo ging in die Knie und blickte hinunter auf ein Haufen Schutt. Die Wucht der Explosion unzähliger Handgranaten hatte Teile der Festung als Steinlawine bis hinunter ins Tal befördert.

„Komm da weg!“ Harry nahm seinen Stab und wollte Pablo gerade eben mit einem Mobilicorpus aus der Gefahrenzone holen, da tat sich der Boden unter ihm auf – oder war es die Hölle? Mit einem Bein sackte Harry ein, doch der Perserteppich verhinderte einen Sturz durch das Loch. Pablo, der den knarrenden Lärm endlich als Drohung erkannte, presste sich auf den Boden, blickte sich verängstigt um. Vorsichtig robbte er auf Harry zu. Als Harry sein Bein befreit hatte, brach die nächste Stelle ein – genau unter Pablos Beinen. Mit einem Schrei hielt sich Pablo am Teppich fest. Seine Beine baumelten ab der Hüfte im Freien. Der Wind peitschte ihm ins Gesicht. Zarter Nieselregen machte den Teppich feucht, schwer zu greifen. Harry hob seinen Stab, doch wieder vereitelte das sterbende Gebäude einen Zauber. Eine Erschütterung fuhr spürbar durch den Boden. Irgendwo im Erdgeschoss gab ein Stützpfeiler nach. Die westliche Wand stürzte ein, riss einen Teil der Decke mit hinunter. Der Dachboden neigte sich küsste das Wohnzimmer. Der Anblick dieser Gewalten war Respekt einflößend. Bei der nächsten Erschütterung verlor Harry seinen Stab, der seelenruhig am abschüssigen Teppich entlangrollte. „Halt ihn fest! Halt meinen Stab fest!“ Zu spät. Der Stab fiel in den Abgrund und verschwand im Geröll. „Verdammt!“ Harry ging in die Knie, tastete sich vorsichtig nach vorn. Er hörte Pablo heftig atmen. Beiden klebte weißer Staub im Gesicht und an den Händen, vermischt mit Schweiß und Regen. Mit den Beinen versuchte Pablo immer wieder, irgendwo Halt zu finden. Da! Er fühlte einen Stein unter den Füßen. Mit seiner ganzen Kraft zog sich Pablo am Teppich hoch, verlagerte sein Gewicht auf den Stein, der ihn nicht mehr halten wollte. Ungewollt löste Pablo eine Kettenreaktion aus. Der Stein hatte den Boden gestützt, auf dem sein Oberkörper er lag. Lärmend lösten sich die Dielen aus dem Stützwerk, das noch seinen Oberkörper gehalten hatte. Einzig seine Hände, die sich am schweren Teppich festkrallten, schützen ihn vor einem Sturz. „Ich bin gleich bei dir!“ Harry tastete sich nach vorn, achtete auf die Geräusche unter sich.

Der lange Teppich aus Isfahan war von hoher Qualität. Er hielt den jungen Mann, ohne zu reißen. Dennoch merkte Harry, wie Pablos Gewicht selbst den großen Tisch, der auf dem Gewebe stand, bewegte. Zentimeter für Zentimeter wurde Pablo an dem Teppich wie an einem Seil herabgelassen. Unten wartete jedoch nicht der sichere Innenhof. Diese Seite der Festung war dem Verbotenen Birkenwald zugewandt. Sollte Pablo fallen, würde er sich entweder im Erdgeschoss das Genick brechen oder auf den freigelegten Streben wie auf einer Absprungrampe ins Tal und damit in den sicheren Tod rutschen.

Endlich war Harry am Rand angekommen und blickte hinunter, sah Pablo in die Augen. Ohne Worte hielt Harry ihm die Hand entgegen. Pablo griff nicht zu. Er hatte viel zu viel Angst, dass er stürzen würde, sollte er mit einer Hand loslassen. Das untere Teppichende, das bereits frei im Wind flatterte, schlug ihm kräftig gegen die Beine. Harry machte sich lang und tastete nach Pablos Hand. Als er die fand, umfasste er das Handgelenk mit eisernem Griff. Erst jetzt ließ Pablo mit dieser Hand los, ergriff im Gegenzug Harrys Handgelenk. Es war mühsam, Pablo heraufzuziehen, denn sobald sie sich kräftiger bewegten, bröckelte der Boden. Kleine Steine lösten sich. Mit aller Kraft zog sich Pablo an Harry hoch. Bis zur Brust war er oben, dann hielt Pablo inne und schaute an Harry vorbei. Harry folgte seinem Blick. Vor Schreck hätte er beinahe Pablo losgelassen. Hopkins stand hinter ihm. Das Gesicht war blutverschmiert, der Blick fahrig. In der Hand hielt er eine schwere Messingstatue, mit der er zuschlagen wollte.

„Mr. Hopkins, helfen Sie mir!“

Im ersten Moment war Hopkins wie versteinert. Aus den Augenwinkeln sah Harry das wunderschöne rote Sofa mit der geschwungenen Rückenlehne, das auf dem schrägen Boden immer weiter gen Abgrund rutschte, bis es über den Rand fiel und unter ihnen krachend zerbarst. Auch Hopkins hatte das Möbelstück beobachtet. Der gesunde Verstand siegte in diesem Augenblick über den Wahnsinn. Mit übertriebener Vorsicht stellte er die Figur aus Messing auf den Boden und kniete sich neben Harry. Die knarrenden Geräusche verrieten ihm, welcher Balken ihn noch tragen würde. Hopkins ergriff das andere Handgelenk von Pablo. Zusammen zogen sie den jungen Mann herauf. Kaum war er oben, sah man an der offenen Stelle des Gebäudes den massigen Körper des Drachen.

„Alles okay, Harry?“, rief Charlie, der seinen Stab bereithielt. „Wir haben uns schon Sorgen gemacht.“

Beim Anblick des fliegenden Ungetüms weitete sich Hopkins' Mund zu einem stillen Schrei. Die Furcht einflössenden Kreatur machte Hopkins unvorsichtig. Er vergaß die beiden Männer, stürzte verängstigt zur Tür. Seine unachtsamen Schritte erschütterten den einsturzgefährdeten Boden. Die Balken unter Harry und Pablo krachten. Der Boden unter dem Teppich verschwand. Beide fielen schreiend in die Tiefe, klammerte sich dabei an das handgeknüpfte Dekorationsstück.

Vom Rücken des Drachen aus hatte Charlie alles genau beobachtet. Er wollte sofort einen Zauber sprechen, das ein magisches Seil hervorrufen sollte, doch er hielt inne, traute seinen Augen kaum. Der rotbraune Perserteppich fiel nicht, er schwebte in Richtung Tal, das hinter der Festung lag – und auf ihm lagen Harry und Pablo.

Eine Teppichfalte war für Harry das Einzige, was ihm Halt gab. Wie und warum sie noch nicht tot waren, waren Fragen, die er sich später beantworten wollte, denn im Moment war er damit beschäftigt, einen Teppich zu lenken. Jetzt schon konnte er beantworten, dass sich beim Sturz gewünscht hatte, fliegen zu können. War es seine Magie? Kräftige, stablose Magie? Harry blickte hinter sich. Pablo sah aus, als würde er sich jeden Moment übergeben. Konzentriert blickte Harry wieder nach vorn. Wenn es seine Macht war, die den Teppich zum Fliegen brachte, dann sollte er ihn auch lenken können.

„Harry?“ Harry blickte nach oben. Besorgt schaute Charlie nach unten, folgte mit Norbert dem Teppich. „Harry, flieg zum Innenhof!“
„Der hat gut Reden“, murmelte Harry, der bis dato noch nie mit einem Teppich gereist war. Er konnte froh sein, dachte er, wenn Arthur ihn nicht wegen Verhexung eines Muggelartefakts zu einer Strafe verdonnerte. Wie lenkte man einen Teppich? Vielleicht, hoffte Harry, war es wie beim Apparieren. Ziel, Wille und Bedacht. Das Ziel war der Innenhof. Dort konnte er auch schon Kingsley und Tonks sehen, auch einige von der DA. Fehlte noch der Wille. Er wollte runter.

„Flieg runter, verdammt nochmal!“ Der Teppich gehorchte wie ein gut erzogenes Haustier. „Na bitte!“

Der Wind spielte mit seinen Haaren, brachte sie durcheinander. Über sich sah Harry Norberts gewaltigen Bauch und die prächtigen Flügel. Für einen winzigen Bruchteil einer Sekunde fragte sich Harry, wie es wohl aussehen würde, sollte Norbert plötzlich ein dringendes Bedürfnis verspüren. Vogeldreck wäre im Vergleich sicherlich kinderleicht wegzumachen. Nochmal ein Blick über die Schulter. Pablo befand sich noch immer auf dem Teppich, hielt die langen Fransen an den Seiten ganz fest in seinen Fäusten.

„Wir sind gleich unten. Dauert nicht mehr lange.“ Die beruhigenden Worte musste er schreien, sonst hätte Pablo ihn bei dem starken Wind nicht gehört. Damit sie auf dem Teppich nicht so kräftig schaukelten, hielt Harry ihn so gerade wie möglich. Der Wind fing sich trotzdem unter dem Perser und war wellenförmig zu spüren. Harry setzte sich vorsichtig im Schneidersitz hin, zog das vordere Ende des Teppichs zu sich hoch, um besser lenken zu können. War fast wie Schlittenfahren, verglich er in Gedanken. Er flog einen großzügigen Bogen, um sanft zu landen. Harrys Blick fiel zurück auf den zerstörten Teil der Festung und auf den wackligen Turm daneben. „Au warte, der stürzt gleich zusammen!“

Vom Innenhof aus kümmerten sich ein Dutzend Auroren bereits um die Muggel. Manche wurden wie Verbrecher gehandhabt, andere bekamen eine psychologische Betreuung. Ein Muggel mit grau meliertem Haar erkundigte sich bei einem Herrn von der Magischen Polizeibrigade, wie er vorgehen müsste, um einen Zauberer auf Schmerzensgeld zu verklagen.

Kingsley überwachte die Arbeit seiner Männer. Unterstützung hatten sie von der Magischen Polizeibrigade bekommen, die nach und nach die Muggel mitnahmen. Medimagier und Heiler waren ebenfalls anwesend. Diejenigen, die nach Aussage der DA-Mitglieder geschossen hatten, wurden in Untersuchungshaft genommen. Sie kamen vorerst in die Verhörzellen, die im Keller des Ministeriums angesiedelt waren.

„King!“ Tonks war ganz außer Atem. „Der Turm ...“ Den Rest des Satzes ersparte sie sich, denn sie zeigte mit ausgestrecktem Arm auf den langsam in sich zusammenfallenden Turm. Durch den abgesprengten Teil der Festung hatte auch er seinen Halt verloren.
„Ist da noch jemand drin?“
„Nein, aber er könnte in den Innenhof fallen.“ Und der war voller Menschen.
Zwei von der Magischen Polizeibrigade winkte Kingsley zu sich heran. „Sorgt dafür, dass der Turm in Richtung Schlucht fällt, wenn er einstürzt!“
„Ja, Sir!“
Nachdem die beiden gegangen waren, um das Gebäude im Auge zu behalten, blickte sich Kingsley in dem Getümmel um. „Ich frage mich, wo Harry steckt“, murmelte er.
Tonks stieß ihn mit dem Ellenbogen an, riss ihre Augen weit auf. „Da kommt er gerade.“

Im Flug sah Harry auf dem Teppich richtig majestätisch aus. Er flog wesentlich langsamer als ein Besen. Der Perserteppich stoppte abrupt, als er festen Boden berührte, was zur Folge hatte, dass Harry und Pablo Purzelbäume schlugen. Die Landung war unsanft und schmutzig, für das erste Mal aber nicht schlecht, lobte Harry sich in Gedanken. Kingsley und Tonks staunten mit offenen Mündern. Endlich wieder festen Boden unter den Füßen, dachte Harry erleichtert. So ganz ohne Besen oder Thestral war ihm das Fliegen nichts. Ein Teppich brachte ein ganz anderes Fluggefühl mit sich. Es war plump und viel schwerer zu lenken.

Pablo schien schneller wieder bei Sinnen als angenommen, denn er startete seinen ersten Fluchtversuch. Eine Mauer, die Norbert anfangs beschädigt hatte, war sein Ziel. Er wollte ins Freie klettern. Harry rannte ihm nach und sprang ihn an. Beide landeten auf dem Boden. Wie er es schon hundert Mal im Fernsehen gesehen hatte, wollte Harry Pablo in den Schwitzkasten nehmen, was aber nicht gelingen wollte. So drehte er ihm kurzerhand den Arm auf den Rücken und das erwies sich als äußerst wirkungsvoll. Vor lauter Schmerzen stellte Pablo jede Bewegung ein.

„Sind wir endlich ruhig, ja?“ Ohne Schwierigkeiten führte Harry seinen Gefangenen zu Kingsley.
„Und, Harry?“ Kingsley betrachtete Pablo, bevor er von Harry wissen wollte: „Askaban oder Mungos?“
„Ich würde eher für Askaban plädieren, aber das überlasse ich euch.“
Ein Zeichen von Kingsley genügte und ein junger Mann von der Polizeibrigade rückte an. Kingsley nickte zu Pablo und gab dem Mitarbeiter die Anweisung: „Ab mit ihm in eine der Verhörzellen.“ An Pablo gewandt sagte er: „Die kennst du ja schon.“
„Warten Sie!“ Bevor man mit ihm apparierte, richtete Pablo das Wort an Harry. „Darf ich eine Frage stellen?“
„Kommt drauf an.“
Mit Abscheu in den Augen blickte Pablo ihn an. „Das wollte ich schon die ganze Zeit wissen: Habe ich eigenlicht einen Jungen oder ein Mädchen?“
Diese Frage legte sich wie ein Strick um Harrys Herz. „Du“, zischte er wütend, „hast gar nichts!“

In der Nähe war ein Aufruhr zu vernehmen. Ein Raunen ging durch die Menge, dann wurde es plötzlich still. Der Grund war Hopkins. Von Schmerzen und Nasenbluten geplagt stolperte er über die Steine, die vereinzelt im Innenhof lagen. Die, die ihm einst folgten, wichen erschrocken zur Seite.

„Was habt ihr?“, fragte er seine Mitleidenden. Hopkins beobachtete, wie ein Zauberer den verletzten Arm von Eleanor mit einem Zauberstab verband. „Das lasst ihr zu? Wehrt ihr euch denn nicht dagegen?“ Mit wirrem Blick schaute er umher. Niemand wollte noch auf ihn hören. Niemand verstand ihn. Tyler war nicht zu sehen, auch nicht Alex oder Arnold. Pablo war ebenfalls fortgebracht worden. „Alejandro?“ Er rief seinen engsten Vertrauten, dessen zerrissener Körper irgendwo unter den Trümmern des Westflügels liegen musste. „Alejandro?“ Hilflos strauchelte Hopkins über den Hof, blickte sich suchend um, verstand die Welt nicht mehr. Die meisten seiner ehemaligen Anhänger wandten beschämt ihre Augen von ihm ab. Das Blut, das ihm aus der Nase schoss und seinen maßgeschneiderten Anzug tränkte, weckte die Aufmerksamkeit des Heilers, der Eleanors Arm verband. Vorsichtig näherte er sich dem verstörten Mann.

„Sir?“ Aufgrund der Stimme fuhr Hopkins' Kopf herum. „Sir, Sie benötigen Hilfe.“
Mit paranoider Vorsicht betrachtete Hopkins den Mann, bemerkte den Zauberstab in der Hand und das Zeichen auf dem Umhang. „Zauberstab und Knochen?“ Verwundert blickte der Heiler an sich herab, bevor Hopkins ihn beschimpfte. „Giftmischer! Hexer!“
„Das ist in unserer Welt das Zeichen der Heilung, Sir.“ Der Mann aus dem Mungos blieb gelassen, hatte offenbar schon öfters mit verstörten Patienten zu tun. „In Ihrer Welt ist das Zeichen der Helfer oft ein rotes Kreuz, das der Apotheken ein grünes. Letztendlich ist es alles das Gleiche.“ Der Heiler machte einen Schritt auf Hopkins zu, der erschrocken zusammenfuhr, einen Schritt zurück machte, um den sicheren Abstand wiederherzustellen. „Ich möchte Ihnen nur helfen. Haben Sie bitte keine Angst, Sir.“
„Keine Angst soll ich haben? Ihr seid es doch, die mir das antun!“ Mit der flachen Hand fuhr sich Hopkins über den Mund, um das viele Blut abzuwischen. „Ihr und eure Flüche ... Bleib ja weg von mir!“

Alle beobachteten Hopkins, der sich nun mit beiden Händen an den Kopf fasste und die Augen fest zusammenpresste. Er wimmerte. Seine Schmerzen waren so groß, dass sie ihn in die Knie zwangen. Kingsley hatte sich dem Heiler genähert.

„Ist das wirklich ein Fluch?“, erkundigte er sich bei dem Heiler.
„Ich müsste es prüfen, Sir. Ich befürchte nur, ich werde von ihm keine Zustimmung erhalten, ihn behandeln zu dürfen.“
„Die Zustimmung haben Sie von mir. Der Mann denkt nicht mehr ganz klar. Sollte er unter einem Fluch leiden, dann erlösen Sie ihn.“

Neugierig beobachteten die Muggel, wie der Heiler seinen Stab schwang, dabei kein Wort verlor. Harry hatte sich ebenfalls zu Kingsley gestellt. Der Anblick von Hopkins ließ ihm eine Gänsehaut den Rücken hinunterlaufen.

Der Heiler schüttelte den Kopf. „Kein Fluch, Sir.“
Kingsley rieb sich das breite Kinn. „Untersuchen Sie ihn. Irgendwas muss er haben. Das ist kein normales Nasenbluten.“
„Sir, ich kann nicht einfach ...“
Mit hochgehaltener Hand unterbrach Kingsley den Mann. „Mr. Hopkins ist ein Gefangener des Ministeriums, demnach ist das Ministerium und seine ausführenden Mitarbeiter dazu befugt, Anweisungen zu geben, die dem Wohl des Gefangenen dienen.“ Kingsley hob eine Augenbraue. „Untersuchen Sie ihn!“
„Gut.“

Der Heiler verstand sein Fach. Wortlos sprach er mehrere Diagnosezauber. Von alledem bekam Hopkins nicht einmal etwas mit. Er saß auf dem Boden, vergrub weiterhin sein Gesicht in den Händen.

Wenige Minuten später flatterte ein Pergament in die offene Hand des Heilers. Er studierte das Blatt gründlich. An einer Stelle biss er sich auf die Unterlippe, bevor er sich an Kingsley wandte.

„Sir, der Mann gehört ins Krankenhaus.“
„Was hat er?“
Der Heiler schüttelte den Kopf. „Das darf ich nicht ...“
Kingsley machte kurzen Prozess und riss dem Heiler das Pergament aus der Hand. Einige medizinischen Ausdrücke verstand Kingsley, andere nicht. „Was bedeutet 'intrakraniell'?“
„Das heißt 'innerhalb des Schädels', Sir.“
„Und wegen der Lage soll es zu einer Persönlichkeitsstörung gekommen sein?“
Der Heiler nickte.

Während Kingsley mit dem Heiler sprach, trat Ron an Harry heran. Er schlug seinem Freund kräftig auf die Schulter, was eine Staubwolke zur Folge hatte, die Ron wortlos mit der Hand wegwedelte.

„Harry! Oder soll ich dich besser 'Prinz Hussein' nennen? Wusste gar nicht, dass du einen Fliegenden Teppich lenken kannst.“
„Wusste ich auch nicht.“
„Es ist gut, dich wohlauf zu sehen!“
„Danke, Ron. War nicht leicht gewesen. Bei mir fließt im Moment nur noch Adrenalin durch die Adern.“
Ron nickte. „Wir haben gesehen, dass die Hälfte eingestürzt ist und ihr wart noch mittendrin. Wir haben Charlie geschickt, dass er mal nachschauen soll.“ Ron musterte seinen Freund, der bis auf das Pflaster, das er seit seiner Ohnmacht trug, unverletzt aussah. „Sag mal, wo ist eigentlich dein Stab?“
„Den habe ich verloren.“
„Ist er kaputt?“
„Ich weiß es nicht. Er ist einfach runtergefallen.“
„Dann werden wir mal sehen, was wir da machen können.“ Ron hob seinen Arm. „Accio Harry Potters Zauberstab.“

Sie brauchten nicht sehr lange warten, da kam schon Harrys Stab angeflogen und landete in Rons ausgestreckter Hand. Den Stab seines Freundes wischte Ron erst an seinem Umhang sauber, bevor er ihn an Harry weitergab. „Bitteschön, der Herr. Ist fast wie neu.“
„Dankeschön! Ohne ihn kam ich mir ziemlich nackt vor.“

Beide hörten zu, wie der Heiler zu Kingsley sprach.

„Die starken Kopfschmerzen rühren auf jeden Fall von der Gewebeveränderung her. Den Grund für das Nasenbluten konnte ich nicht zu vollster Zufriedenheit klären, dazu müsste man ihn im Mungos untersuchen, aber sein Angstzustand“, der Heiler deutete auf Hopkins, der zusammengesackt auf dem Boden saß, „und die Schmerzen ... Das rührt auf jeden Fall von dem Tumor her.“
„Was ist das hier?“ Kingsley tippte auf eine Stelle auf dem Pergament.
„Das ist der Umfang. So groß wie ein Tennisball. Er verdrängt Teile des Gehirns, was auch optische oder akustische Halluzinationen auslösen kann. Wir müssen ihn genauer untersuchen.“
Harry hatte mitgehört. Auch ihm brannte eine Frage auf der Zunge. „Seit wann hat er das?“
„Schwer zu sagen, Mr. Potter. Bei der Größe kann sich der Tumor schon in der Pubertät gebildet haben.“

Bevor man Hopkins ins Mungos brachte, wollte Kingsley noch ein paar Dinge mit dem Heiler klären. Die Zeit nutzte Harry.

„Wir hätten beinahe noch was vergessen“, erinnerte Harry seinen Freund und hob den Stab.
Ron schaute irritiert drein. „Was denn?“
„Accio Ginny Weasleys Zauberstab!“

Gespannt blickten Harry und Ron, aber auch Tonks und die DA-Mitglieder, die den Zauberspruch gehört hatten, ob Ginnys Stab in Sicht war. Was angeflogen kam, war kein Stab. Es war eine große Truhe. Ron hatte es bisher nicht geschafft, einen Gegenstand aufzurufen, der in einem Koffer oder einer Kiste verstaut war. Dass Harrys das auf einmal konnte, wunderte ihn mittlerweile nicht mehr.

Die Kiste kam ins Taumeln, rauschte vorbei an Hopkins, der ihr mit den Augen folgte. Kingsley schob den Heiler beiseite, damit die schwere, hölzerne Truhe ihm nicht die Beine wegreißen würde. Harry strengte sich an, den immer schneller werdenden Gegenstand zu lenken, aber seine Konzentrationsfähigkeit war momentan nicht mehr die beste. Einer der großen Steine von der zerstörten Mauer war im Weg. Die Kiste schlug in hoher Geschwindigkeit mit dem Schloss dagegen und drehte sich in der Luft um sich selbst. Dabei riss der Deckel ab, der vor Tonks' Füßen landete. Mit lautem Krach schlug die Truhe vor Harry auf den Boden auf und kippte um, offenbarte ihm und all den anderen ihren schaurigen Inhalt.

Ein Stab kam in Harrys linke Hand geflogen - Ginnys Stab. Unzählige andere rollten um seine Beine, als wollte sie zu einem Geschicklichkeitsspiel auffordern.

Stäbe.

Zauberstäbe aus Kirschholz, Walnuss, Weißbuche, Kastanie, Esche, Mahagoni, Eibe, gebrochen und heil, alt und neu.

Hundert Stäbe, hundert oder mehr. Sie fühlten sich wie Tausend an. Harry wagte nicht, sich zu bewegen. Ein Grauen übermannte ihn, als wäre er von Leichen umgeben.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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206 Eine Kunst für sich




Als sich die vielen Zauberstäbe zu seinen Füßen mit einem Male bewegte, zuckte Harry erschrocken zusammen, blickte nach links, um die Ursache auszumachen. Kingsely beförderte sie mit seinem Stab auf einen Haufen und ordnete sie so an, dass er sie als Beweismaterial mitnehmen konnte. Irgendetwas weckte Deans Interesse, denn er näherte sich dem Stapel und ging in die Knie, legte den Kopf schräg, um etwas zu betrachten. Seine Hand schoss nach vorn und zog einen beigefarbenen Stab heraus.

Tonks fühlte Mitleid, fragte daher vorsichtig: „Kanntest du den Besitzer?“
„Nein“, Dean betrachtete den Gegenstand, „das hier ist kein Zauberstab.“
Endlich hatte Harry fürs Erste den Schrecken überwunden. „Nicht?“
Dean schüttelte den Kopf. „Das ist ein Drumstick von Vater.“
„Vater?“
„Der Hersteller heißt so.“ Dean stand auf und zeigte Kingsley, Tonks und Harry das V-Logo am Ende des Handgriffs. „Ist zwar schon leicht abgenutzt, aber man sieht es noch. Der Mann“, Dean nickte zu Hopkins hinüber, „hat einen Schlagzeuger auf dem Gewissen.“
Kingsley musste sich Mühe geben, seine Stimme ruhig zu halten. „Wir haben über einige Jahre verteilt 95 Todesfälle von Zauberern und Hexen verzeichnet. Man hat sie sterbend oder tot gefunden, doch kein Einziger hatte noch einen Stab bei sich.“ Mit der Spitze seines Stabes deutete er auf den Haufen, der sich zu seinen Füßen gebildet hatte. „Das hier sind mehr als 95 Stäbe. Wir nehmen alle mit, auch den ...“ Ihm war das Wort entfallen und zeigte er auf den Stab, den Dean hielt.
„Drumstick.“
Kingsley nickte. „Das ist bestimmt für den anderen Minister interessant. Wer weiß, wieviele mysteriöse Mordfälle in der Muggelwelt damit aufgelöst werden können.“
Bevor Harry fragen konnte, musste er kräftig schlucken. „Wieviele Stäbe sind das?“
„Nicht jetzt, Harry“, bat Kingsley, dem der Fund sehr Nahe ging. Er wollte sie mitnehmen und später zählen.

Jedem von der DA gingen beim Anblick der Stäbe Namen durch den Kopf. Namen von Menschen, von denen sie wussten, dass sie seit dem Krieg vermisst wurden. Auch Harry. Auf der Hochzeit von Draco und Susan hatte er sich kurz mit Blaise unterhalten, hatte etwas von seiner Flucht zusammen mit Pansy erfahren, aber auch darüber, dass seine Mutter nicht auffindbar wäre und die von Pansy ebenfalls nicht.

Seinen Stab hob Harry nur unmerklich. Von Neugier getrieben flüsterte er: „Accio Mrs. Zabinis Zauberstab.“

Ein melodisches Klimpern wie von einem Xylophon war zu vernehmen, als sich der Stab von Mrs. Zabini einen Weg durch die anderen bahnte, um dem Aufrufezauber zu folgen. Er landete in Harrys Hand. Die Gewissheit, dass Blaise' Mutter mit größter Wahrscheinlichkeit nicht mehr unter den Lebenden weilte.

„Harry, bitte ...“ Kingsley wollte das nicht hier klären. „Ich nehme die Stäbe mit ins Ministerium.“ Als er sich umdrehte, bemerkte der dunkelhäutige Auror, dass die gesamte DA hinter ihm stand. Einige mit Besen in der Hand, andere ohne. Die Thestrale flogen mit sanftem Flügelschlag weit über ihnen und erwarteten den Heimflug. „Ihr solltet jetzt gehen und ...“ Er zog Harry und Dean weiter nach hinten, damit ihn niemand außer die DA hören würde. „Ich erwarte, dass die Geschichte von jedem von euch mit der des anderen übereinstimmt. Es wäre doch ärgerlich, wenn in meinem Bericht Unstimmigkeiten auftauchen und man euch vielleicht noch irgendwas vorwirft.“
„Ist doch ganz einfach“, warf Ron ein. „Wir haben alle einen Ausflug gemacht, eine Art Klassentreffen. Und als wir zufällig hier drübergeflogen sind, haben wir Hilferufe gehört. Da sind wir natürlich runter, um nachzusehen und ...“
Kingsley stoppte ihn mit hochgehaltener Hand. „Ja, das dachte ich mir.“ Er musste lächeln. „Ginny würde ab einem gewissen Punkt eure Aussagen sicherlich bestätigen können.“ Indirekt machte er ihnen klar, dass sie ihre Aussagen untereinander wasserdicht machen sollten. „Ich werde euch im Laufe des Tages verhören.“ Kingsley blickte nach oben. „Charlie muss sich etwas sehr Gutes überlegen. Es ist strafbar, ein magisches Tier den Muggeln zu zeigen.“
Besorgt erkundigte sich Harry: „Der Drache ist aber nicht in Gefahr, oder? Ich will nicht, dass ihm etwas ...“
„Es wird eine saftige Geldstrafe auf ihn warten“, winkte Kingsley ab. „Auf Charlie, versteht sich.“
Erleichtert nickte Harry. „Schick die Rechnung zu mir, okay?“ An seine Freunde gewandt forderte Harry: „Ab auf die Besen und die Thestrale. Wir treffen uns in Hogwarts.“
„In der großen Halle“, nahm Ron vorweg.
„Von mir aus auch dort. Wir haben einiges zu bereden. Geht schon vor, ich komme nach.“
Ron wurde stutzig. Während die anderen alle aufsaßen und sich schon in die Lüfte erhoben, stellte er sich neben seinen besten Freund und zupfte an dessen Umhang. „Warum kommst du nicht mit, Harry?“
„Ich möchte noch etwas mit Kingsley bereden.“
„Und da darf ich nicht dabei sein?“
Harry musterte seinen Freund, bevor er nickte. „Doch, darfst du.“ Seinen Blick ließ er über den Innenhof schweifen. Die meisten Muggel waren schon weggebracht worden, auch Hopkins. Der Heiler, der die Diagnose gestellt hatte, war nicht mehr da und Harry vermutete, dass er Hopkins direkt ins Mungos begleitet hatte. „King?“
„Was ist, Harry?“
„Gib mir bitte die Stäbe.“
Der Wunsch war außergewöhnlich. „Das kann ich nicht machen, Harry. Das ist Beweismaterial.“
„Du bekommst sie nachher alle wieder, wenn du uns verhörst. Sogar mit den Namen der Besitzer“, versicherte Harry mit ernster Miene.
„Harry, ich kann dir nicht einfach ...“
Tonks schaltete sich ein. „Ich geh mit und geb Acht.“
Kingsley war überredet. Wenn es ihm eine Menge Arbeit ersparen würde, war er bereit, Harry die vielen Zauberstäbe zu überlassen. Er hatte schon eine Ahnung, was Harry damit anstellen wollte und nur deshalb gab er nach. „Gut, aber dass ich sie ja nachher zurückbekomme!“
„Kein Problem.“

Das Bündel Zauberstäbe hatte mehr Umfang als ein Quaffel. Harry vergrößerte sein unbenutztes Taschentuch und wickelte es um das Bündel. Seinen Besen ließ er von Seamus mitnehmen, der von Ron wurde von Dean in Obhut genommen.

Nachdem die anderen abgezogen waren, wandte sich Harry an die anderen beiden. „Wir apparieren.“
Mit hochgezogener Augenbraue wollte Tonks wissen: „Und wohin geht es?“ Sie wollte nur eine Bestätigung haben, denn wie auch Kingsley wurde sie von einem bestimmten Gefühl heimgesucht.
„In die Winkelgasse.“ Harrys Antwort bestätigte ihre Vermutung.

Bis nach London war es von Clova aus eine weite Strecke. Über 800 Kilometer. Harry legte drei Zwischenstopps ein. Er selbst hätte diese Strecke wahrscheinlich am Stück geschafft, aber die anderen beiden nicht. Nach dem dritten Stopp materialisierten sie sich in der Winkelgasse. Eine ältere Dame, die mit ihrem Hund spazieren ging, erschrak sich kurz, führte ihren Weg aber unbeirrt weiter, als sie die drei einmal betrachtet hatte. Im Vorbeigehen bemerkte Harry, dass der Hund der Frau sein Geschäft auf dem Gehweg verrichtete, doch wie von Zauberei verschwand das Häufchen. Das war also das Geheimnis der immerzu sauberen Winkelgasse, dachte sich Harry. Weil es Sonntag war, hatte kein Geschäft geöffnet, bis auf die Restaurants, Bäckereien und natürlich Florean Fortescues Eissalon, von dessen Inhaber sie im Vorbeigehen persönlich gegrüßt wurden. Das Ziel war bald erreicht. Zögerlich blieb Harry an einem Geschäft stehen, das jeder Zauberer und jede Hexe im Land kannte. Ollivanders.

„Harry, der hat heute geschlossen.“ Das Schild an der Tür war kaum zu übersehen.
„Er wird da sein“, murmelte Harry und klopfte dreimal. Nach einer kurzen Pause klopfte er nochmals. Nebenbei blickte er ins Schaufenster und beäugte einen Zauberstab, der auf einem roten Kissen ausgestellt wurde. Bevor er nochmal anklopfte, sah er drinnen bereits einen Schatten. Mr. Ollivander kam zur Tür, spähte durch die Scheibe und zog erstaunt beide Augenbrauen in die Höhe.
Kaum hatte er die Tür geöffnet, sagte er: „Jeder von Ihnen kann lesen, da bin ich mir ganz sicher, also muss es etwas Dringendes sein, wenn Sie trotzdem Einlass begehren.“
Harry nickte. „Guten Tag, Sir. Da haben Sie Recht, es ist dringend. Dürfen wir eintreten?“
„Nun, bevor man mich für unhöflich hält, wünsche ich Ihnen auch erst einmal einen guten Tag.“ Er ging von der Tür weg. „Treten Sie doch bitte ein.“ Als er die Tür weiter öffnete, läutete die Ladenglocke mit hellem Klang. „Wir gehen besser nach hinten durch, dort kann ich Ihnen einen Platz anbieten.“

Mittlerweile wusste auch Ron ganz genau, was Harry vorhatte. Mr. Ollivander führte die drei in einen Raum, den keiner von ihnen bis dato betreten hatte. Im Vergleich zum Verkaufsraum war die Werkstatt nicht von beengender Atmosphäre. Hier war es hell und geräumig. Zwischen den Schränken hingen Bilder an den Wänden, Bilder von Bäumen und Sträuchern: Ulme, Robinie, Pappel. Auf dem Tisch und dem Boden lagen lauter Späne. Überall fand man fein sortiert Äste und größere Holzscheite, dazu viele Messer, Gartenscheren und Fräsgeräte, aber auch fremdartige Werkzeuge, die Harry nicht benennen konnte. Am Tisch in der Mitte waren Schraubzwingen verschiedenster Größen befestigt. In einem hatte Mr. Ollivander einen Stab eingespannt, um den Kern einzuarbeiten. Harry hatte sich schon immer gefragt, wie das vonstatten gehen würde. In diesem Raum roch es so frisch wie in einem Wald. Weiter hinten in der Werkstatt hatte Mr. Ollivander eine kleine Sitzecke eingerichtet, falls er sich während der Arbeit mal ausruhen wollte. Eine Tasse mit Tee dampfte vor sich hin.

„Setzen Sie sich doch bitte“, bot er an und deutete auf die Stühle.
Harry schüttelte den Kopf. „Ich würde lieber stehen.“ Als der Gastgeber nickte, dabei seine Tasse vom Tisch nahm, ergriff Harry die Gelegenheit, das schwere Bündel auf die freie Fläche zu legen. Das weiße Taschentuch verkleinerte er wieder. Den Zauber von Kingsley hob er auf, damit er die Stäbe in Reih und Glied präsentieren konnte. Mr. Ollivander hörte man erschrocken Luft holen.
„Was soll das werden?“, fragte der alte Zauberstabmacher. Seine Augen überflogen die Stäbe. Viele waren aus seinem Haus, auch der dunkelste, den er in die Hand nahm. „Kamerun-Ebenholz, Drachenherzfaser, 15 Zoll, unbiegsam. Mr. Priscum hat ihn vor 109 Jahren bei mir erworben.“

Der Name war Tonks ein Begriff. Mr. Priscum war Anfang des Jahres von Madam Rosmerta als vermisst gemeldet worden. Er alte Zauberer hatte die Drei Besen verlassen und war nicht mehr gesehen worden.

Mr. Ollivander nahm einen Stab anderen in die Hand. „Kastanie, Einhornhaar, 12 ¼ Zoll, sehr steif.“ Er blickte Harry in die Augen. „Das ist der Stab von der jungen Miss Bobbin! Woher haben Sie all die Stäbe?“ Wütend griff er zum nächsten Stab. „Eschenholz, Fwuuperfeder, 8 ¾ Zoll, federnd. Ein wunderschöner Stab, genauso edel wie seine Besitzerin Mrs. Zabini.“ Alle drei Stäbe legte er wieder auf den Tisch. Seine runzligen Hände zitterten, so aufgebracht war er. „Wenn Sie die Güte hätten mich aufzuklären?“ Seine Stimme deutete darauf hin, dass er mit dem Schlimmsten rechnete.
„Diese Stäbe“, begann Harry vorsichtig zu erklären, „gehören vermissten Zauberern und Hexen. Wir brauchen die Namen, Sir. Ich dachte mir, Sie könnten sich vielleicht an die Käufer erinnern, falls die Stäbe von Ihnen stammen.“
„Natürlich kann ich mich an jeden einzelnen Stab erinnern, den ich je verkauft habe!“ Mr. Ollivander schien beinahe beleidigt. „Vermisst sind diese Personen, sagen Sie? Warum glaube ich Ihnen nicht, Mr. Potter?“ Die blasssilbernen Augen des alten Mannes leuchteten nicht wie sonst.
Tonks war so frei, die Gesprächsführung zu übernehmen. „Wir vermuten, dass die Besitzer dieser Stäbe tot sind.“
„Tot?“ Nochmals blickte er auf den Tisch und erkannte das volle Ausmaß des Unglücks. Hinter jedem Stab verbarg sich ein Mensch, dessen Schicksal unbestimmt war. Das Schlimmste für Mr. Ollivander war jedoch, dass er mit jedem einzelnen Stab aus seinem Haus das strahlende Gesicht eines fröhlichen Kindes vor Augen hatte.
„Sir?“, Tonks riss ihn aus seinen Erinnerungen. „Wir benötigen die Namen, um das Schicksal derer ...“
„Tot“, unterbrach Mr. Ollivander murmelnd. Die Worte von Tonks hörte er nicht mehr, als sein Blick über sein Handwerk huschte, seine Kinder. „Alle tot?“ Seine Finger glitten liebevoll über die Hölzer, bevor er bei einem innehielt. „Der ist nicht von mir.“ Den Stab nahm er in die Hand, um die Stelle am dicken Ende zu begutachten. „Der Stabkern ist schlecht verarbeitet. Der hier stammt von 'Stock und Stab' in Ullapool.“

Tonks begann damit, sich Notizen zu machen. Den Stäben verpasste sie nach und nach ein fest anhaftendes Fähnchen aus Pergament, auf dem die Informationen zu lesen waren, die Mr. Ollivander ihnen gab. Der alte Zauberstabmacher riss sich zusammen, als er nacheinander die Stäbe in die Hand nahm. Zu jedem Stab hatte er das Gesicht eines jungen Schülers vor Augen, der sich auf seinen ersten Stab freute. Er konnte eine Menge identifizieren. So viele Namen, so viele Tote. Für Harry war es wichtig, all das zu erfahren, selbst mitzuerleben, wie Ollivander litt, auch wenn das nur schwer zu ertragen war. Am eigenen Leib spürte Harry, wie der Tod einer Person auch Menschen berühren konnte, die schon lange nicht mehr Teil des eigenen Lebens waren. Ollivander erging es so. Mit jedem Stab wurde eine schöne Erinnerung mit einer traurigen Fußnote versehen.

„Walnussholz, Abraxanerhaar, 9 ½ Zoll, biegsam, Mrs. Parkinson.“ Mr. Ollivander nahm den nächsten Stab in die Hand. „Kirschholz, Drachenherzfaser, 12 Zoll, steif, Mr. Goyle junior.“
„Moment“, sagte Tonks, „der ist am Leben. Er liegt im Mungos.“
„Und seine Mutter?“ Mr. Ollivander hielt Tonks den anderen Stab entgegen.

In diesem Moment wurde Harry klar, dass Gregory dort gewesen sein musste, bei Hopkins und dass er sich aus den Klauen der Hexenjäger befreit haben musste. Was seine ehemaliger Schulkamerad dort erlebt hatte, wollte er sich nicht einmal in Gedanken ausmalen. Es war bedrückend zu wissen, dass Gregory mit sehr großer Wahrscheinlichkeit seine Mutter verloren hatte. Und dem Vater, der in Askaban saß, könnte das Lauffeuer des dunklen Mals zum Verhängnis geworden sein.

Gregory hatte keine Eltern mehr, aber er dachte an sie, denn von ihrem Verbleib wusste er nichts.

In seinem Bett liegend starrte Gregory an die Decke, folgte mit dem Blick immer wieder dem kleinen Riss, den er dort sehen konnte, während er seine Gedanken schweifen ließ. Seine Mutter war ihm immer lieb gewesen. Sie hatte ihn nie zu etwas gezwungen, hatte ihn immer beschützt und ihm stets Leckereien zugesteckt. Sie würde er wiedersehen wollen, doch nicht seinen Vater. Für Gregory war es schwer zu ertragen, ausgerechnet Mr. Malfoy, einen guten Bekannten seines Vaters, als Zimmergenossen zu haben. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass der Mann sich geändert haben sollte. Es war auch schwer vorstellbar, dass Dracos Wesen sich so korrigiert haben sollte, dass er sogar ein Halbblut ehelichte. Aber das war es gewesen, was Mrs. Malfoy ihm gesagt hatte. Ihre freundliche Art war ähnlich wie damals. Freunden der Familie hatte sie immer eine ungeahnte Herzlichkeit an den Tag gelegt, doch wehe, ein Halbblut lief ihr über den Weg. Ob Blaise und Pansy ihn besuchen würden? Mrs. Malfoy hatte genau diese Hoffnung in ihm geweckt. Gregory wünschte sich etwas Abwechslung.

Eine gutherzige Fee schien seinen Wunsch vernommen zu haben. Es klopfte und nach einem kräftig gesprochenen „Herein!“ von Mr. Malfoy öffnete sich die Tür. Zwei große Gestalten betraten das übelriechende Zimmer. Das klackende Geräusch eines Gehstocks war zu hören. Lucius wünschte sich, es würde Draco sein, obwohl der nie einen Gehstock verwendet hatte. Vielleicht würde er diese Eigenart eines Tages von ihm übernehmen. Es war jedoch nicht Draco. Blaise und Pansy, die an Krücken lief, betraten das Zimmer. Ein kleines Mädchen mit braunen Kulleraugen kam hinterhergerannt. Demonstrativ hielt sie sich bei dem üblen Geruch im Zimmer die Nase zu. Kinder waren unempfindlich, was peinliche Situationen betraf.

Blaise schaute zu einem der Betten hinüber und nickte höflich. „Mr. Malfoy.“
„Guten Tag, Mr. Zabini, Miss Parkinson.“ Lucius nickte zurück, erblickte erst dann das kleine Mädchen, das er schon auf der Quidditch-Siegesfeier gesehen hatte, doch damals wollte sie ihren Namen nicht verraten. „Hallo, junge Dame.“
„Hallo“, kam fröhlich zurück.

Mr. Malfoy war schnell vergessen, denn Blaise und Pansy waren auf Gregory aufmerksam geworden. Die Freude war groß.

„Blaise!“ Gregory hielt ihm die rechte Hand entgegen, die der junge Mann umfasste. In der Schule waren sie nie Freunde gewesen. Der eine war zu arrogant und wählerisch, der andere zu einfältig und manipulierbar. Erst in Kriegszeiten, während des unerwarteten Wiedersehens, waren sie durch ein gemeinsames Ziel eng verbunden. „Ihr seid entkommen!“ Das Überleben war das Ziel gewesen. Gregory blickte von Blaise hinüber zu Pansy, bemerkte gleich die Krücken. „Was ist mit dir passiert?“
„Das ist eine lange Geschichte. Die heben wir uns für später auf, wenn du das Krankenhaus verlassen hast.“ Ihre sanfte Berührung an seiner guten Hand war kein normaler Gruß, es war die Erleichterung, die sie zum Ausdruck brachte.
Gerade mal so groß wie das Bett war das Mädchen, das neugierig über die Matratze blickte. Gregory musste lächeln, als er allein durch ihr hübsches Gesicht die Eltern bestimmen konnte. „Und wer bist du?“
Schüchtern blickte die Kleine zu Blaise hinüber, der ihr zunickte. Die Erlaubnis war erteilt, den eigenen Namen nennen zu dürfen. „Berenice.“
Von Gegenüber hörte man Lucius plötzlich sagen: „Das war zu laut, meine Liebe. Jetzt hat der böse Mann im Nebenbett auch deinen Namen erfahren.“ Mit weit aufgerissenen Augen schaute Berenice zu ihrem Vater, der Lucius mit einem strengen Blick zurechtweisen wollte, dann aber grinsen musste. Für seine Tochter war das eine Entwarnung. Schon früh hatte sie gelernt, dass böse Menschen mit einem Namen böse Dinge anstellen konnten.
„Berenice“, wiederholte Gregory leise. „Du machst deinem Namen alle Ehre.“ Die Siegbringerin. Gregory fühlte eine ungewohnte Erleichterung. „Der Krieg ist vorbei, habe ich gehört?“, fragte er ein wenig unsicher, denn den Worten von Mrs. Malfoy traute er nicht ganz.
„Es ist alles vorbei, keine Angst.“ Mit einer Hand tastete Pansy nach dem Stuhl an Gregorys Bett. Stehen konnte sie nicht sehr lange. Die Muskeln an einem Bein waren teilweise beschädigt, doch mit viel Übung würde sie eines Tages auf Krücken verzichten können. „Wir haben auch viel zu spät erfahren, dass der Krieg längst passé ist.“
Gregory schluckte. „Minard Castle?“

Dieser Begriff war für die drei einen Schlüsselmoment im Leben. In der Nähe des Schlosses hatten die Todesser Pansy mit Schlafes Bruder vergiftet, die Muggel hatte Gregory entführt. Die Gruppe war auseinander gerissen worden. Eines Tages, um die Angst zu verlieren, würden sie sich die Gegend bei Minard Castle bestimmt zusammen ansehen. Im Moment reichte die Erinnerung daran, um allen dreien eine Gänsehaut zu bescheren.

In Blaise' Stimme war Schuld zu hören. „Du warst plötzlich verschwunden.“
„Die Muggel.“ Das sollte vorerst als Antwort genügen. Gregory war noch nicht bereit, über die schlimme Zeit im Hexenturm zu berichten.

Die drei Freunde hatten sich eine Menge zu erzählen, was Berenice zu langweilig wurde. Sie ging hinüber zum Fenster, war aber zu klein, um hinausschauen zu können. Der Stuhl war zu schwer, um ihn ans Fenster zu schieben. Berenice seufzte. Ihr Blick fiel auf Lucius, der sie die ganze Zeit mit einem Lächeln beobachtet hatte. Vorsichtig ging sie an sein Bett heran, hielt aber einen kleinen Sicherheitsabstand.

„Bist du böse?“, fragte sie unerwartet offen.
Lucius stutzte. Er entschied sich dafür, eine Taktik anzuwenden, die sich immer bewährt hatte: die Gegenfrage. „Sehe ich denn böse aus?“ Die Kleine strahlte über das ganze Gesicht. Der Schmerz in seinem Arm war plötzlich wieder erträglich geworden.
„Nein“, erwiderte sie ehrlich. Ein Blick zu den Eltern versicherte ihr, dass man sie im Auge behielt, also gab sie sich einen Ruck und kam noch näher ans Bett heran. Ihre winzigen Hände legte sie auf die Matratze. Überraschend streckte sie ihre Hand und griff nach ein paar blonden Strähnen, die auf dem weißen Kissen lagen. „Schöne Haare!“ Eine kindliche Feststellung, für die sich Lucius revanchieren wollte. Das Schmeicheln hatte er nie verlernt.
„Vielen Dank. Und du, meine Kleine, hast schöne Augen. Sie erinnern an die Früchte einer Edelkastanie – groß, rund und braun.“
Berenice grinste, auch wenn sie nur die Hälfte des Kompliments verstand. „Besucht dich denn keiner?“
„Oh doch, meine Frau war schon hier. Morgen kommt sie vielleicht mit meinem Enkelsohn.“
„Ist der noch klein?“ Als sie fragte, betrachtete sie mit leuchtenden Augen seine langen Haare.
„Kleiner als du. Er kann noch nicht laufen.“
„Ich kann laufen!“, versicherte sie stolz.
Lucius lächelte. „Ja, das habe ich gesehen. Wie alt bist du denn schon?“
Eine kleine Hand mit gekrümmten Fingern kam in sein Sichtfeld. Der Daumen war eingeknickt, doch der kleine Finger auch. Sie zeigte drei Finger und sagte selbstbewusst: „Vier!“
„Dann fehlt aber noch der Kleine, der sie alle isst.“ Erschrocken zog sie ihre Hand weg und hielt sie schützend an die Brust, woraufhin er verspielt fragte: „Kennst du das etwa nicht?“ Weil sie den Kopf schüttelte, hob er seine rechte Hand und nahm ihre. Lucius ergriff ihre Daumen und begann: „Das ist der Daumen“, er wechselte zu ihrem Zeigefinger, „der schüttelt die Pflaumen ...“

Der Reim ließ Erinnerungen an seine Mutter aufkommen und Lucius fragte sich, ob sie noch am Leben war.

Die Frage nach Leben und Tod beschäftigte einige Zauberer und Hexen, wie beispielsweise die Heiler im Mungos, die Angehörigen der Todesser oder auch Tonks, die nun eine lange Liste mit Namen in der Hand hielt. Ein paar Namen kannte sie bereits aus den Akten des Ministeriums. Die Personen waren tot aufgefunden worden. Nun hatte man auch ihre Zauberstäbe entdeckt. Von den insgesamt 238 Stäben stammten 198 aus Ollivanders Geschäft. Sie hatten 198 Namen. Genau vierzig Stäbe konnten nicht identifiziert werden, doch dank Mr. Ollivander, der aufgrund der Verarbeitung und Qualität der Stäbe die Hersteller ermitteln konnte, hatte man zumindest eine Anlaufstelle, um weitere Nachforschungen anzustellen. Ein Geschäft lag sogar in Spanien.

Der Sonntagnachmittag war für den Zauberstabhersteller alles andere als erholsam gewesen. Harry erkannte an dem zerfurchten Gesicht, dass der alte Mann sehr litt. Ihm selbst ging es nicht anders, was sich in seiner Stimme niederschlug. „Vielen Dank, Mr. Ollivander.“

Selbstvergessen nickte Mr. Ollivander. In Gedanken sah er noch immer die jungen Hexen und Zauberer, die bei ihm noch rechtzeitig vor Schulbeginn ihre ersten Stäbe gekauft hatten. Die Gesichter würde er nie vergessen.

Tonks, Ron und Harry verließen das Geschäft. Die Aurorin nahm Harry das Bündel ab. „Ich bringe die schon ins Ministerium. Wir sehen uns nachher bestimmt nochmal.“
„Okay“, brachte Harry bedrückt heraus.
Beide schauten Tonks noch nach, bis sie apparierte. Ron legte freundschaftlich seine Hand auf die Schulter seines Freundes. Die Laune seines Freundes war ihm nicht entgangen. „Was ist los?“
„Ach ...“ Harry wusste nicht, wie er sich ausdrücken konnte. Der heutige Tag trübte seine Stimmung. Über all die Jahre war so viel zwischen Muggeln und Zauberern schiefgelaufen.
„Es hat doch alles wunderbar geklappt, Harry.“ Ron schüttelte ihn leicht, doch aus Harry war nichts herauszubekommen. „Ginny ist in Sicherheit.“ Das war das Wichtigste. „Und bei den Muggeln haben wir die Spreu vom Weizen getrennt. Es kann nur noch bergauf gehen. Außerdem habe ich vorhin von Tonks gehört, dass sie Greyback geschnappt haben!“
„Was?“ Irritiert blickte Harry seinen Freund an, der bestätigend nickte. „Sirius und Seidenschnabel sollen ihm das Leben mächtig schwer gemacht haben.“
„Wie bitte? Wann soll das gewesen sein?“
„Als wir mit Hopkins beschäftigt waren.“ Mit der Hand an der Schulter drängte er Harry dazu, in Richtung „Zum Tropfenden Kessel“ zu gehen, von dem aus sie nach Hogwarts flohen wollten. „Dein lieber Patenonkel wird uns ganz sicher brühwarm von seine Heldentaten berichten! Ich sag dir, Harry, das sind Geschichten, die werden wir noch unseren Urenkeln erzählen.“

Die Wand, die in den Hinterhof des Pubs führte, war im Nu geöffnet. Der Tropfende Kessel war gut gefüllt. Reisende, Geschäftsleute, Stammkunden. Wie immer war die Luft so dick, dass man sie schneiden konnte.

„Mr. Potter!“ Der Wirt Tom lehnte sich über den Tresen. „Alles in Ordnung?“ Toms Augen wanderten zu seiner Stirn, an der Harry eine Verletzung unter dem weißen Pflaster versteckte, die nicht einmal schmerzte.
„Danke der Nachfrage, alles okay. Dürfen wir Ihren Kamin benutzen?“
„Natürlich! Wie kann ich Ihnen etwas abschlagen?“

Mit einer Hand machte Tom eine präsentierende Bewegung zum Kamin, grinste dabei bis über beide Ohren. Viele im Pub schauten verstohlen zum berühmten Harry Potter hinüber. Harry mochte solche Blicke überhaupt nicht.

„Lass uns gehen“, bat er seinen Freund, der gerade damit liebäugelte, einen Drink oder sogar etwas zu essen zu bestellen. Zumindest studierte Ron die große Menükarte, die an die Wand hinter der Theke geschrieben war. Harry zupfte an seinem Ärmel. „Schon die Schlemmereien in Hogwarts vergessen? Komm schon!“
„Flohen wir zu dir?“
„Nein, direkt in den Krankenflügel. Ich will Ginny sehen, bevor wir in die große Halle gehen.“

Im Krankenflügel war ohne Ron und Harry bereits eine Menge los, auch wenn Alicia längst gegangen war. Andere waren zu Besuch gekommen. Arthur drückte seine Tochter schon seit Minuten an sich, wollte gar nicht mehr loslassen. Molly schluchzte wieder und wieder. Es würde eine Weile brauchen, bis die Aufregung sich gelegt haben würde. Vor einer Viertelstunde hatte auch Narzissa den Krankenflügel erreicht. Sie saß an der rechten Seite ihres Sohnes, damit sie seine Hand halten konnte, während sie ihm von seinem Vater erzählte. Susan ließ den beiden einen Moment allein und wanderte mit einem dösenden Charles im Arm langsam zu Hermine hinüber, um nach dem Rechten zu sehen. Sie ließ Severus in Ruhe, lächelte ihn höchstens freundlich an.

Nicht Harry und Ron kamen durch die Tür, sondern Wobbel, mit einem sehr agilen Nicholas an der Hand. Die andere Hand des Jungen hielt die Stoffeule, das erste Geschenk von Onkel Ron. Der Junge wollte am liebsten losrennen und diesen Raum, den er noch nie gesehen hatte, mit leuchtenden Augen inspizieren.

„Hallo, mein Süßer!“ Die Stimme seiner Mutter ließ den Jungen umhersuchen. Dann hatte er sie ausfindig gemacht. Ein glucksendes Geräusch war Ausdruck seiner Freude, und genau dieses Geräusch weckte Charles, der sich irritiert umblickte. Es sah ulkig aus, wie Nicholas versuchte, mit nach oben gerissenen Armen zu rennen. Dann die Schwerkraft. Nicholas plumpste auf den Boden, richtete sich wieder unter größten Anstrengungen auf und setzte seinen Weg unbeirrt fort – die Eule immer fest im Griff.

Severus verdrehte die Augen. Der Krankenflügel war zu einem Kindergarten mutiert. Lediglich der Anblick einer schlafenden Hermine verhinderte, dass er seiner schlechten Laune nachgab, um nach Poppy zu rufen, damit sie für Ruhe sorgen würde.

Von Mutter und Großeltern wurde Nicholas herzlich begrüßt. Als er jedoch zu quengeln begann, ließ man ihn wieder auf den Boden. Jetzt war seine Zeit gekommen, diesen Raum zu erobern. Er wanderte zu Dracos Bett hinüber, wo man ihn freundlich begrüßte. Nicholas mochte es, wenn die Großen lächelten und in hohem Tonfall zu ihm sprachen, auch wenn er nichts verstand. Plötzlich hörte Nicholas ein Geräusch, das ihm sehr bekannt war – es war seine Sprache. Ein gurgelndes Quieken. Bei ihm bedeutete das „Ich will ... !“. Nicholas schaute sich um und da, bei einer von den Großen, da war auch ein Kleiner. Einer seinesgleichen. Und der bekam etwas.

Weil Charles nörgelte, gab Susan ihm einen von den Keksen, die sie immer in ihrer Tasche mitführte. Charles wollte aber keinen Keks, er wollte runter auf den Boden. Den Keks bekam er trotzdem in die Hand gedrückt. Hier half nur noch wimmern. Warum verstand sie ihn nur nicht?

„Setzt ihn doch ab, Susan.“ Draco hatte den weinerlichen Charles beobachtet. „Der Boden hier ist bestimmt der sauberste in ganz Schottland.“

Dem Rat kam Susan nach. Sie setzte Charles ab, der sofort aufhörte zu klagen. Jetzt wollte er sich in Ruhe seinem Keks widmen. Er nahm ihn in den Mund und ließ seinen Speichel die Vorarbeit besorgen, damit das Gebäck schön weich werden würde. Plötzlich war jemand bei ihm, beinahe so groß wie er selbst.

Nicholas blickte neugierig auf Charles herab, setzte sich Sekunden später wegen der dicken Windel wenig graziös vor ihm auf den Boden. Er streckte eine Hand nach dem Keks aus, doch Charles reagiert schnell und zog die eigene Hand weg. Dabei achtete er nicht auf die Kraft seiner Finger, denn um den Keks zu schützen drückte er so stark zu, dass die Süßigkeit zerbröselte. Trostlos blickte er auf die krümeligen Stücken am Boden, nahm eines davon und hielt es dem fremden Kind entgegen. Nicholas nahm es, steckte es sich in den Mund. Die beiden Kinder, die sich zwar schon gesehen hatte, aber damals viel zu klein waren, hatten heute einen unvergesslichen Erstkontakt aufgenommen. Susan war so nett, die Kekskrümel gegen zwei neue Kekse zu tauschen.

Als Harry in den Krankenflügel trat, sah er zuerst seinen Sohn und sein Patenkind auf dem Boden sitzen. Der Anblick dieser unschuldigen Jungen machte die Ereignisse bei Hopkins und die bedrückende Stimmung bei Mr. Ollivander fast wieder wett. An den beiden vorbeigehend tätschelte er sie am Kopf, bevor er sich auf zu Ginny aufs Bett setzte. Trotz ihrer übermüdeten Augen konnte er in ihnen all das sehen, was sie als Menschen ausmachte. Alles war noch da, sie war noch dieselbe. Man hatte Ginny nicht gebrochen, ihr nicht so viel Leid angetan, dass sie daran vergehen würde. Das Gleiche sah sie in seinen Augen. Erst als diese Angst genommen war, umarmten sie sich, drückten sich eng aneinander, um den anderen zu spüren. Die Zeit blieb stehen, um ihnen einige Augenblicke für sich selbst zu schenken. Nach einer halben Ewigkeit lösten sie die Umarmung. Ihr Blick fiel auf sein Pflaster.

„Harry ...“ Mit ihren Fingerspitzen strich sie über das weiße Pflaster. „Was ist passiert?“
Die eigene Hand führte er ebenfalls an die Stirn. „Ach, das tut nicht weh. Habe ich längst vergessen.“ Mit dem Nagel von Daumen und Zeigefinger suchte er eine Stelle, an der er es abziehen konnte. Ginny half ihm dabei. Sie hatte eine Ecke gelöst. „Mit einem Ruck“, bat er, damit es nicht zu lange wehtun würde. Sie gehorchte. Ratsch! Ab war das Pflaster, das er gleich betrachtete. Das kleine Stück Wundauflage war mit Blut getränkt. Fürsorglich nahm Ginny ein Taschentuch, befeuchtete es in ihrem Wasserglas.
„Halt still, ich mach es sauber.“ Mit einer warmen Hand umfasste sie seine Wange. Er schloss verträumt die Augen, während sie sich an seiner Stirn zu schaffen machte. Es tat nicht weh. Sie wollte nur das restliche Blut abwaschen. Als sie fertig war, öffnete er die Augen und bemerkte, dass sie irritiert auf die Stelle blickte, die sie eben gesäubert hatte.
„Was ist?“ Vorsichtig befühlte Harry die zarte Haut auf der Stirn. Da, wo er schon immer eine Unebenheit gefühlt hatte, war nichts mehr zu spüren. Es war glatt. „Was ...?“ Er schaute zu seinen Schwiegereltern in spe. „Molly, hast du einen Spiegel dabei?“

Natürlich führte sie in ihrer Tasche immer einen mit sich, den sie ihm reichte. Den kleinen Kosmetikspiegel hielt er sich vor das Gesicht. Sie war nicht da, die Narbe, die ihn einst als Ebenbürtigen gekennzeichnet hatte. Ungläubig strich er mit einem Zeigefinger über die unversehrte Stelle. Sie war wirklich weg. Die Besonderheit, die ihm jeden Morgen seine Vergangenheit im Spiegel zeigte, war einfach verschwunden. Die tägliche Erinnerung an Voldemort war ausgelöscht. Hinter sich im Spiegelbild sah er Severus, der neugierig zu ihm hinübersah. Den Spiegel gab er zurück an Molly, die fasziniert seine Stirn begutachtete. Nie wieder würde dieses blitzförmige Zeichen ihn verraten, ihn nie wieder auf die Begegnung mit Voldemort reduzieren. Harry war jetzt nur noch Harry.

„Ginny“, er nahm ihre Hände in seine, „Ron und ich müssen in die große Halle. Kingsley will uns zum heutigen Vorfall befragen. Wir ...“
„Die Narbe ...“
„Sag es niemandem. Mal sehen, wem es auffällt.“ Er grinste, zwinkerte ihr zu. „Die DA muss ihre Aussage machen, Ginny.“
Ich komme mit!“
„Schatz“, Einspruch von Frau Mama, „fühlst du dich auch gut genug? Du solltest besser liegenbleiben.“
„Mum, es gab Quidditch-Spiele, die mich mehr mitgenommen haben als die Zeit im Turm.“ Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. „Ich will mich ins Leben stürzen. Mir fehlt nichts, nur eine Mütze voll Schlaf und die bekomme ich nachher.“
„Aber Liebes ...“
Arthur unterbrach seine Frau. „Das geht in Ordnung, denke ich. Ich werde sowieso mitgehen, will mir die Befragung ja nicht entgehen lassen.“
Damit war Harry einverstanden. Über seine Schulter schaute er zu Severus hinüber, der den Blickkontakt hielt. „Mach dich in Ruhe fertig“, sagte er zu Ginny, „ich will noch kurz ...“ Mit einem Nicken deutete er zu Severus.

Drüben bei Severus war Harry leise, weil im Nebenbett Hermine schlief. Auf Severus Nachttisch fiel ihm ein Glas Wasser auf, das einer rosafarbenen Blume mit ungeahnter Anmut als Vase diente.

„Und?“, begann Severus amüsiert. Die Veränderung auf der Stirn hatte er bemerkt, sprach es aber noch nicht an. „Wie war der kleine Ausflug nach Clova? Mit dem Wetter hattet ihr ja leider etwas Pech.“
„Wenn man zaubern kann, dann ist der Regen gar nicht so schlimm.“ Auf dem Stuhl, der noch immer an Severus' Bett stand, nahm Harry Platz. „Wie geht’s?“
„Es würde mir wesentlich besser gehen, dürfte ich in meine Räume zurück, aber die Heilerin hier ist ein echter Drache!“
Leise lachte Harry auf. Beide wussten, dass Poppy lieb und nett war. Sein Blick fiel auf den linken Arm, der durch ein Tuch geschützt war. „Tut es weh?“
Severus schwieg einen Moment, bevor er flüsterte: „Es ist die Hölle! Ich hätte nicht geglaubt, dass ich das überlebe. Ich finde keine Schlaf, nicht einmal Ohnmacht. Ich kann von Glück sagen, dass ich den Arm nicht verloren habe.“ Der Tränkemeister betrachtete Harrys Gesicht, dessen Stirn. „Der Grund für das Verschwinden von Narbe und Mal ist offenbar derselbe. Es ist ein wenig ungerecht, dass du kein riesiges Loch im Schädel hast.“
Wie von allein befühlte Harry die narbenfreie Stelle. „Das hätte ich kaum überlebt.“ Die Hand ließ er wieder in seinen Schoß fallen. „Das war das Letzte, das mich mit ihm verbunden hat. Ich fühle mich jetzt irgendwie ...“
Harry fehlten die Worte, aber Severus glaubte zu verstehen und schlug vor: „Frei?“
„Ja, frei! Das wird morgen früh ein komisches Gefühl sein, in den Spiegel zu schauen und mich ohne Narbe zu sehen.“
„Ähm, Harry?“ Ron war an Severus' Fußende getreten. Als Harry sich zu ihm umdrehte, zeigte Ron auf Ginny und Arthur. „Wir wären dann soweit.“ Für unhöflich wollte Ron nicht gehalten werden, grüßte daher seinen ehemaligen Tränkelehrer. „Hallo, Snape“, er verbesserte, „ähm, guten Tag“, Ron kam vollends ins Stottern, „ich meine Professor Snape, Sir.“
„Tun Sie mir einen Gefallen, Mr. Weasley.“
Ron horchte auf. „Ja, Sir?“
„Besuchen Sie mich nicht noch einmal. Ihr Gebrabbel raubt mir den letzten Nerv.“
Verlegen lachte der Rotschopf auf. „Ja, verstehe. Wie ich sehe, geht es Ihnen wieder ganz gut. Na ja“, er nickte zum verletzten Arm, „ich kann nur hoffen, dass das irgendeinen Vorteil hat.“
„Ach ja? Sie erstaunen mich, Mr. Weasley, dass Sie in so einer schwerwiegenden und vor allem schmerzhaften Verletzung auch noch einen Vorteil vermuten wollen. Was für ein Vorteil wäre das wohl?“
Ron wollte nur nett sein, fand sich aber plötzlich in einer sehr unangenehmen Situation wieder und musste sich schnell etwas einfallen lassen. „Ja, was für ein Vorteil?“, murmelte er zu sich selbst, bevor er laut erwiderte, „Sie können endlich mal was Kurzärmeliges tragen!“
Severus war sprachlos, während Harry grinste und den genannten Vorteil mit nur einem geflüsterten Wort kommentierte: „Touché!“
Ein Grummeln war von Severus zu hören. „Gehen Sie endlich – alle –, ich will meine Ruhe haben!“ Trotz der harschen Worte erkannte Harry die Dankbarkeit, dass man ihm ein wenig Zeit gewidmet hatte. „Und Harry ...“ Er drehte sich nochmals zu Severus um. „Ich möchte später alles haarklein erfahren!“
„Natürlich, das lässt sich einrichten.“

Geduldig warteten die DA-Mitglieder auf Harry und Ron, damit Kingsley mit seiner Befragung beginnen konnte.

Im Zaubereiministerium war Dawlish längst dabei, die Inhaftierten auszuhorchen. Allen vorweg diejenigen, die als gewalttätig bezeichnet wurden. Bei seiner Vernehmung von einem Mr. Tyler wurde er jedoch gestört.

„Was ist denn, Brooks?“ Der junge Auror hielt ihm zwei Formulare unter die Nase, die Dawlish überflog. „Und was ist mit denen?“
„Die beiden sind vorher schon hergebracht worden und haben nichts mit dem Hopkins-Vorfall zu tun.“
„Aha“, Dawlish las die Namen in Gedanken. Mr. Autolykos Stringer und Mr. Mercutio Fogg. Bei den Vornamen war es kein Wunder, dass die beiden Freunde sich immer nur mit dem Nachnamen ansprachen. „Und warum stören Sie mich, Brooks?“
„Weil die beiden Herren fragen, wann sie ihre Aussage machen können. Sie waren im Fall 'Greyback' beteiligt.“
„Tatsächlich?“ Dawlish spitze die Lippen und nickte einmal Respekt zollend. „Dann werden wir die beiden Gentlemen mal nicht warten lassen. Stellen Sie eine Wache vor Mr. Tylers Verhörzelle auf. Wir wollen doch nicht“, er blickte Tyler in die finsteren Augen, „dass der gute Mann entwischt.“
Auf dem Flur teilte ihm sein Kollege noch etwas anderes mit. „Der andere Minister hat sich über das magische Bild gemeldet. Er will wissen, ob er uns helfen kann.“
Abrupt blieb Dawlish stehen. „Woher weiß der andere Minister so schnell von dem Hopkins-Vorfall?“
„Nein, nicht deswegen. Er hat den Tagespropheten gelesen. Sie wissen doch, dass die Schlagzeile lautete: 'Die Seuche der Todesser'.“
„Das war keine Seuche“, murmelte Dawlish verärgert. Er stand unter Strom. Viele gute Mitarbeiter waren ausgefallen, weil sie das dunkle Mal trugen und sich jetzt im Krankenhaus aufhielten. „Lassen Sie durch das Gemälde mitteilen, dass der Zaubereiminister sich schnellst möglich bei ihm melden wird.“ Bevor Dawlish um die Ecke bog, wo sich ihre Wege trennten, fügte er noch hinzu: „Und bedanken Sie sich beim anderen Minister für die Hilfsbereitschaft, die wir gern annehmen, wenn wir erst einmal das tatsächliche Ausmaß erfasst haben. Und Brooks, tun Sie mir einen Gefallen. Verschaffen Sie sich einen Überblick über die vorhandenen Ministeriumsmitarbeiter, besonders die von der Abteilung für Informationswiederbeschaffung.“ Er stutzte wegen seiner eigenen Worte. „Blödsinn, ich meine das Amt für Desinformation, damit die einen einleuchtenden Grund für die Zerstörung der Festung ausklamüsern können, falls die Bevölkerung von Clova darauf aufmerksam geworden sein sollte. Irgendein Bericht über die Baufälligkeit sollte reichen. Schicken Sie aber keine Informationen an die Muggelpresse heraus, bevor die nicht vom Minister, von Mr. Shacklebolt oder von mir geprüft wurden!“
„Ja, Sir.“ Brooks rannte so schnell er konnte.

Im Gehen blickte Dawlish nochmals auf die Informationsbögen von Stringer und Fogg, suchte die Nummer der Verhörzelle: AA23. Die war ganz in der Nähe. Als Dawlish die Zelle erreicht hatte, öffnete er sie mit seinem Stab. Die beiden Gefangenen tranken eine Tasse Kaffee und aßen ein Hörnchen.

„Wie ich sehe, geht es Ihnen ausgezeichnet“, stichelte der Auror.
„Danke, Sir. Es ist sehr freundlich von Ihnen, dass man uns ...“
Fogg hielt inne, weil Dawlish sichtlich die Nase rümpfte und die Hörnchen im Verdacht hatte, übel zu riechen. Als er auch noch den Mund verzog, ergriff Stringer das Wort. „Tut mir leid mit dem Geruch. Das bin ich.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ein Fluch.“
„Bei Merlin“, mit einem Wutsch war eines der Fenster geöffnet, das an einen Lüftungskanal angeschlossen war, denn das Ministerium lag unter der Erde. „Haben Sie es schon einmal im Mungos versucht? Die haben ein paar tolle Spezialisten für Fluchschäden.“
„Die konnte mir damals nicht helfen.“
„Damals? Wie lange ist das her?“
Stringer dachte einen Moment lang nach. „In etwa vierzehn Jahre.“
„An Ihrer Stelle würde ich es dort nochmals versuchen. Da sind mittlerweile andere Heiler beschäftigt.“ Dawlish rümpfte die Nase, setzte sich dennoch an den Tisch. Die beiden schienen friedliche Gesellen zu sein. Gemächlich versuchte er das zu entziffern, was Kingsley mehr flüchtig als leserlich in die verschiedenen Spalten eingetragen hatte. „Also, weswegen sind Sie hier?“ Er konnte kaum ein Wort lesen, was er aber nicht zugeben wollte.
„Wir ...“ Foggs ehrliche Haut hinderte ihn daran, eine Lüge zu erdenken, was herzlich gern sein Freund übernahm.
„Mr. Fogg wollte sagen, dass wir durch Zufall am richtigen Ort waren. Wir konnten die Tochter des Ministers und ihre Freundin vor dem gesuchten Greyback retten.“
„Ach ja?“ Angestrengt versuchte Dawlish in der unleserlichen Handschrift zu erahnen, ob Kingsley etwas Ähnliches geschrieben haben könnte. Warum sollten die beiden Männer festgenommen worden sein, wenn sie eine Heldentat vollbracht hatten?
„Es waren auch keine verbotenen Flüche, die wir benutzten.“
„Nicht, Mr. Stringer? Welche Sprüche haben Sie angewandt?“ Dawlish packte seine Feder und ein Formular aus. „Ich warte.“
„Lassen Sie mich nachdenken“, bat Stringer. „Ja, ich habe zuerst einen Impedimenta gesprochen und Mr. Fogg gleich darauf einen Beinklammerfluch.“
„Mmmh“, summte Dawlish, um zu vertuschen, dass er über den Vorfall keinerlei Kenntnis hatte. „Dann sehen wir uns mal Ihre Stäbe an.“

Die beiden Stäbe der Inhaftierten zeigten nach einer Prüfung durch den erfahrenen Auror genau die Sprüche, die von Stringer genannt wurden. Sie hatten die Wahrheit gesagt.

„Warum hat Auror Shacklebolt Sie hergebracht?“
Spätestens jetzt war Stringer ein Licht aufgegangen. Sein Gegenüber hatte keine Ahnung. „Ich glaube, er wollte uns nur in Sicherheit bringen. Nebenan in der Festung war ja auch ganz schön was los.“ Ohne Mühe gab Stringer ein falsches Lachen als ein echtes aus und lockerte damit die Stimmung. „Ein Drache! Junge, Junge“, grinsend schüttelte Stringer den Kopf. „So ein Tier habe ich das letzte Mal gesehen, als meine Mutter mit mir ein Reservat besucht hat. Und dann noch Greyback! Ich glaube, Mr. Shacklebolt war in dem Moment nur etwas überfordert. Erst findet er die Tochter des Ministers, dann dieser widerliche Werwolf und zusätzlich das Durcheinander auf der Festung.“
Das klang einleuchtend, dachte Dawlish. Kingsley und Tonks hatten die ganze Nacht durchgearbeitet. „Haben Sie sonst noch eine Aussage zu machen?“ Dawlish kniff die Augen zusammen, um Kingsleys Gekrakel in der Zeile erkennen zu können. „Wer von Ihnen wurde von einem Werwolf gebissen?“
„Das war er“, Stringer buffte Fogg mit dem Ellenbogen an, „ist aber nicht so schlimm. Er ist schon ein Werwolf.“
„Tatsächlich?“ Das stand nirgends auf dem Formular und Dawlish ärgerte sich darüber, behielt nach außen hin aber die selbstsichere Miene bei. „Darf ich Ihren Tränkepass sehen?“

Bis hierher hatte Fogg nichts tun müssen, doch jetzt wurde er nervös, als er in seinem Umhang nach dem Pass suchte. Er wusste, dass er ihn immer bei sich trug. Dawlish bemerkte die Nervosität von Fogg und Stringer wiederum bemerkte, dass der Auror skeptisch wurde.

„Lass gut sein.“ Seelenruhig griff Stringer in Foggs Innentasche, wo der Tränkepasse immer aufbewahrt wurde. Während er ihn hinauszog, erklärte er dem Auror: „Der heutige Tag hat meinen Freund sehr mitgenommen, müssen Sie wissen. Greyback war derjenige, der ihn vor elf Jahren zum Werwolf machte. Ihn zu sehen war“, er legte die andere Hand mitfühlend auf Foggs Schulter, „ein Schock.“ Der Tränkepass war gefunden. Seine Hand zitterte nicht ein bisschen, als er den Pass an den Auror reichte. Mit wachem Blick studierte Dawlish die roten Stempel des Ministeriums.
„Verstehe ich richtig?“ Der Auror blickte Fogg in die Augen. „Sie sind seit über elf Jahren ein Werwolf und haben erst seit Anfang des Jahres einen Pass?“
„Ja, wissen Sie“, Stringer sprang rettend ein, „aus Angst, die Todesser – allen voran Greyback – könnten ihn aufsuchen, hat Mr. Fogg es vermieden, sich zu registrieren.“ Von den Wachen hatte Stringer vorhin einige interessante Dinge erfahren, die er gleich zur Verteidigung einbringen wollte. „Die Vermutung lag nahe, dass auch das Ministerium von Voldemorts Männern infiltriert war. Mein Freund hatte einfach nur Angst. Ich kann Ihnen aber versichern, denn ich habe ihn immer begleitet, dass er monatlich seine Tränke eingenommen hat, auch ohne Pass.“
„Gut!“ Dawlish klang erleichtert. Er hatte schon befürchtet, es würde eine Debatte über die Missstände im Ministerium folgen, was er tunlichst vermeiden wollte. Dass das Ministerium von Todessern unterwandert war, war schlimm genug. Dass diese Männer davon wussten, war noch viel schlimmer. „Ich bin beeindruckt, Mr. Fogg, dass Sie all die Jahre so umsichtig und gewissenhaft gehandelt haben.“
„Das ist doch selbstverständlich.“ Peinlich berührt fummelte Fogg an seinem Ärmel. „Ich will niemandem etwas Böses.“
„Verstehe, verstehe“, murmelte Dawlish, blätterte derweil in den Formularen. „Sagen Sie mir bitte noch, warum Sie sich beide im Verbotenen Birkenwald aufgehalten haben.“
Bei Fogg setzte Stille ein. Er war nicht gut im Erfinden von Ausflüchten, aber Stringer umso mehr. Außerdem war Mr. Shacklebolt so nett gewesen, die Vorlage für seine Lüge zu liefern. „Wir waren seit der frühen Morgenstunde im Wald gewesen, um Pilze zu sammeln.“
„Pilze?“ Mit der Feder strich sich Dawlish über die Nase. „Werden die nicht erst später gesammelt? Zu Herbstbeginn?“
„Das stimmt schon“, stimmte Stringer nickend zu, „aber der Verbotene Birkenwald ist in dieser Hinsicht unberührt. Da geht niemand hinein. Und manche Pilzarten kann man jetzt schon finden.“
Dawlish belehrte die beiden mit autoritärer Stimme. „Der Verbotene Birkenwald ist ein Reservat für Zentauren und andere magische Wesen. Es ist gefährlich, dort ...“
„Wir hielten uns nur am Rande des Waldes auf, Sir. Die magischen Wesen meiden die Behausungen der Menschen und die Festung, die man von unserem Standpunkt aus sehen konnte, war definitiv bewohnt. Wir haben nicht einmal die Spuren von Zentauren gefunden. Dass wir auf Greyback treffen würden, war für uns genauso überraschend wie für Auror Shacklebolt.“

Irgendetwas an den beiden kam Dawlish seltsam vor. Andererseits hatten sie bisher nicht gelogen, was die verwendeten Zaubersprüche betraf, die sie zuletzt angewendet hatten oder den Tränkepass. Er konnte nicht mit dem Finger drauf deuten, aber etwas schien nicht richtig. Leider war einzig ein warnendes Bauchgefühl kein handfester Grund, um jemanden festhalten zu dürfen.

„Mr. Fogg?“ Verängstigt blickte Fogg dem Auror in die Augen, als der fragte: „Müssen Sie ins Krankenhaus?“ Mit einem Finger tippte sich Dawlish ungenau ans Schlüsselbein. „Ich meine, wegen der Bisswunde an der Schulter.“
„Oh nein, Sir. Die Auroren haben sie an Ort und Stelle geheilt.“
Stringer war der Meinung, ein lobendes Wort anbringen zu müssen. „Ihre jungen Auroren sind wirklich sehr kompetent, Sir.“
„Ja, das war nach dem Krieg nicht so einfach, solche Leute zu finden. Wir durften ja nicht zulassen, dass ohne ausgebildete Auroren die magische Welt im Chaos untergeht und Diebe und Gauner die Gelegenheit für sich nutzen.“ Dawlish lachte kräftig drauf los, was die beiden im ersten Augenblick schockierte, denn sie glaubten sich entlarvt. Als Stringer ebenfalls zu lachen begann, war die Situation gerettet. Am Ende seufzte Dawlish amüsiert, warf nochmals einen Blick auf die Formulare, bevor er todernst fragte: „Was hatten Sie mit den Muggeln zu schaffen?“
Sie durften nicht zögern, dachte Stringer. Es war nur eine Fangfrage. Der Auror wusste absolut nichts. „Muggel, Sir?“
„Mr. Hopkins zum Beispiel“, half Dawlish ihm auf die Sprünge.
„Ich weiß, dass Leute in der Festung waren. Ich habe welche gesehen, aber wir hatten keinen Kontakt zu ihnen. Wir wussten nicht einmal, ob es Muggel oder Zauberer waren. Ich dachte eigentlich letzteres, weil doch ein Drache dort war.“ Stringer drehte den Spieß um. „Ist es nicht verboten, den Muggeln ein magisches Wesen vorzuführen?“
In dieser Angelegenheit wäre es für Dawlish besser, nicht mehr nachzuhaken, denn der Drache war von einem der Söhne des Ministers gelenkt worden. Außenstehende sollten davon keine Kenntnis erlangen. „Das wird noch geklärt, Mr. Stringer. Sie sagen also, Sie kannten keinen der Muggel und haben sich nur durch Zufall im Wald aufgehalten.“
„Das ist korrekt!“
Mit der Feder schrieb Dawlish die Aussage gut leserlich, in Schönschrift, auf sein Pergament. „Sie wohnen weiterhin im ...“ Der Auror las Kingsleys Notiz und stutzte. „Den Laden gibt es noch? Sie wohnen im Gehängten?“
„Ja, Sir.“
„Gut, ich denke, das war es schon. Falls Sie noch Fragen haben?“ Die beiden schüttelten den Kopf. „Dann dürfen Sie jetzt gehen.“
Fogg schien der Sache nicht zu trauen. „Gehen?“
„Du hast den Herrn doch gehört“, sagte er an Fogg gerichtet. Stringer stand auf und reichte Dawlish die Hand, die der wegen des strengen Geruchs nur widerstrebend ergriff und schüttelte. „Danke, Sir. Ich werde mich jetzt besser um meinen Freund kümmern. Die Begegnung mit Greyback hat ihn sehr mitgenommen.“
„Das verstehe ich.“ Dawlish reichte auch Fogg die Hand. „Mr. Fogg, möchten Sie Anzeige erstatten?“
Völlig verunsichert erhob sich Fogg ebenfalls. „Ich weiß nicht.“ Hilfe suchend schaute er zu Stringer. „Soll ich?“
Dawlish schritt erklärend ein und versicherte: „Greyback wird sowieso nicht mehr aus Askaban herauskommen. Es wäre nur ein weiterer Punkt auf der langen Anklageliste. Auf Schmerzensgeld wird man nicht hoffen können. Der Mann lebte immerhin jahrelang in einem Wald.“
Fogg schüttelte den Kopf. „Dann lieber nicht, Sir. Ich möchte nur noch meine Ruhe haben.“
„Das kann ich gut nachvollziehen. Folgen Sie mir bitte, ich bringen Sie bis zur Eingangshalle. Von dort aus können sie die Kamine nutzen oder die Telefonzellen.“
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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Rest von Kapitel 206

Die beiden gingen dem Auror nach, vorbei an Zellen mit schreienden Muggeln, die an den Türen rüttelten und jedem Zauberer den Tod wünschten. Fogg und Stringer hofften innig, dass sie nicht an den Zellen von Arnold und Alex vorbeikommen würden, denn dann würden sie auffliegen. Das Glück meinte es jedoch gut mit ihnen. Im Eingangsbereich angekommen verabschiedete sich der Auror. Sie waren frei.

Als Stringer die Telefonzellen ansteuerte, wollte Fogg wissen: „Flohen wir denn nicht nachhause?“
„Nein“, er winkte seinen Freund heran, „wir gehen erst einmal nach Muggel-London. Ich brauche eine Verschnaufpause.“ In kürzester Zeit standen die beiden in einer unbelebten Seitenstraße Londons.
„Wie machst du das nur immer?“, murmelte Fogg, erwartete aber keine Antwort.
„Ach, das mit dem Auror war leicht.“ Er strahlte übers ganze Gesicht, atmete einmal tief durch, bevor er Fogg auf die Schulter schlug. „Der Donut hat Appetit auf mehr gemacht. Ich fühle mich jetzt irgendwie spendabel.“ Stringer blickte sich um und erspähte am Ende der Straße eine Konditorei, zeigte mit dem Finger in die Richtung. „Komm, ich klau dir was vom Bäcker.“
„Nein!“, fauchte Fogg seinen Freund an. „Ich habe genug davon! Keine Diebstähle mehr!“
„Das ist doch nicht der Rede wert. Es lohnt doch kaum, für ein bisschen Gebäck den Geldbeutel zu zücken und ...“
„Keine Diebstähle mehr, egal wie klein die sein mögen!“, wiederholte Fogg. „Sonst gibt’s für dich am Ende nichts vom 'großen Kuchen' ab.“
„Du ziehst die Sache knallhart durch, oder?“ Weil Fogg nickte, seufzte Stringer resignierend. „Von mir aus, aber wenn unser Geld knapp wird und wir den Wirt nicht mehr bezahlen können, dann ...“
„Dann werden wir arbeiten gehen müssen, bis die Gesetzesänderungen durch sind und ich mein Vermögen zurückverlangen kann.“
Wütend schnaufte Stringer. „Du weißt ganz genau, dass mich niemand nimmt. Die können mich nicht riechen. Und du als Werwolf? Das haben wir doch alles schon hinter uns. Wer würde dich schon nehmen? Die Leute sind alle voller Vorurteile.“
„Alle? Da muss ich wohl widersprechen. Was ist mit unserem Wirt? Der hat uns beide aufgenommen.“
„Weil er dafür Geld bekommt! Schon bemerkt, dass wir seine einzigen Gäste sind?“
Fogg winkte den Kommentar mit einer Hand ab. „Miss Granger hatte anfangs auch keine Vorurteile.“
„Wir haben Hausverbot bei ihr! Setzt du einen Fuß in ihren Laden, dann wanderst du doch noch nach Askaban.“
„Mr. Black!“
Stringers Stirn schlug Falten. „Was ist mit dem?“
„Er hat gesagt, er könnte mir zu einem Job verhelfen. Ich werde ihn aufsuchen und ...“
„Moment, Moment! Mr. Black ist mit Miss Granger bekannt, außerdem ist er der Patenonkel von demjenigen, den wir entführen sollten. Glaubst du nicht, du steckst mächtig in der Klemme, sollte Miss Granger ein Wort über uns verlieren?“
„Ich werde später sowieso Mr. Black aufsuchen müssen, wegen meiner Vermögensangelegenheiten. Vielleicht sollten wir uns bei Miss Granger einfach entschuldigen?“
Skeptisch musterte Stringer das Gesicht seines Freundes und stutzte. „Du meinst das ernst! Bist du denn von allen guten Geistern verlassen?“
„Ich lege mir nur neue Steine für den ehrlichen Weg, den ich in Zukunft gehen werde.“
„Du spinnst!“ Aufgebracht ging Stringer ein paar Schritte, drehte sich dann abrupt um. „Wenn man lügt, dann sollte man das auch konsequent durchziehen. Lass es sein! Lass alles, wie es ist, inklusive Lügengebäude. Fängst du nämlich jetzt an, einige der Lügenknoten zu lösen, dann verhedderst du dich nur und dein ganzes Leben bricht in sich zusammen wie ein wackliges Kartenhaus.“
„Aber ...“
Stringer ließ seinen Freund nicht zu Wort kommen. „Du willst ehrlich sein? Okay, nachdem du dein Vermögen wiederbekommen hast, brauchst du nie wieder lügen und betrügen. Nie wieder! Aber lass die Vergangenheit um Himmels Willen Vergangenheit sein. Lass sie hinter dir und fang einfach neu an, verdammt nochmal! Es gibt keinen Grund, sich für vergangene Handlungen zu rechtfertigen.“
„Mein Gewissen ist ein Grund“, flüsterte Fogg vorsichtig.
Mit einem Male war Stringer bei ihm, packte ihm am Schlafittchen und zischte: „Dann stopf ihm das Maul! So viel hast du doch gar nicht auf dem Kerbholz, mein Guter. Ich war bei all deinen Missetaten mit dabei, schon vergessen?“
Fogg verstand, auf was sein Freund hinaus wollte. „Ich aber nicht bei deinen.“ Stringer war schon ein Gauner gewesen, als sie sich kennen lernten. Ertappt schaute er zu Boden. Seine Augen huschten ziellos über die Steine des Gehwegs. „Autolykos ...?“
„Nenn mich nicht so!“ Stringer schäumte vor Wut. „Ich hasse diesen Namen.“
Vorsichtig betrat Fogg mit seinen Fragen Neuland. „Gibt es etwas aus deiner Vergangenheit, das du mir nie erzählt hast?“ Nervös fuhr sich Stringer durchs Haar, antwortete jedoch nicht. „Warst du nur ein Dieb, bevor wir uns getroffen haben oder warst du etwas Schlimmeres. Vielleicht ein ...?“, Stringer warf ihm einen warnenden Blick zu, aber Fogg ließ sich nicht beirren. „Ein Mörder?“
„Ich fasse es einfach nicht!“
„Was?“, hakte Fogg nach. „Dass ich frage oder dass ich dahinter gekommen bin?“
„Hinter gar nichts bist du gekommen!“, schrie Stringer, womit er die Aufmerksamkeit eines Muggels auf sich zog, der in der Nähe mit einer Dame spazieren ging. Stringer sah den Mann und drosselte seine Lautstärke, bis nur noch ein wütendes Flüstern übrig war. „Wenn du in deiner Vergangenheit stochern willst, dann ist das dein Ding, aber lass meine aus dem Spiel! Ich habe alles getan, um diese Scheiße zu vergessen.“ Fogg wagte es nicht, Stringer wegen seiner derben Ausdrucksweise zu rügen. Es blieb nichts anderes übrig, als ihn weiterreden zu lassen. „Es war ein verdammter Unfall! Mein Bruder musste ja unbedingt am Treppenabsatz über das Schoßhündchen meiner Frau stolpern.“ Die Erinnerung wühlte Stringer auf. Er atmete heftig, fuhr sich mit zitternden Händen immer wieder durchs Haar. „Als ich meine Hände ausgestreckt habe ...“ Er schüttelte den Kopf, blickte auf die erhobenen Hände. „Ich weiß bis heute nicht, ob ich ihn festhalten wollte oder ihm einen Stoß gegeben habe. Ich weiß es nicht mehr!“ Durch zusammengebissene Zähne stellte er klar: „Ich weiß nur, dass er einen Stoß verdient hätte!“
Nach außen hin blieb Fogg die Ruhe in Person, doch innerlich bekam er für einen kurzen Moment Angst vor dem Mann, den er seit elf Jahren seinen Freund nannte. „Hat er das? Warum?“
„Ach, lass mich doch in Ruhe!“
Als Stringer kurz davor war zu apparieren, hielt Fogg ihn auf. „Wenn du jetzt gehst, dann weißt du, was für einen Eindruck du damit bei mir hinterlässt.“
Stringer platzte der Kragen. „Selbst wenn ich dir die Wahrheit sagen sollte, würdest du es nicht glauben. Es war von Anfang an so eingefädelt, dass ich als der Dumme dastehen würde!“
„Eingefädelt von wem?“
„Von meiner Frau, der Schlampe!“
„Ich verstehe nicht ... Du hast mir erzählt, du hast sie mit deiner Schwägerin betrogen und dafür hat sie dich verhext und rausgeworfen.“
Ein hysterisches Lachen konnte Stringer nicht verkneifen. „Klingt auch einleuchtend, oder? Ihre Version hätte für die Polizeibrigade auch einleuchtender geklungen als meine. Der Anfang stimmt sogar.“
„Das mit deiner Schwägerin ...“
„Ja, der Teil stimmt. Meine liebe Gattin“, er spuckte das Wort wie einen verdorbenen Happen aus, „hat ihre eigene Schwester manipuliert. Ich weiß nicht wie. Ein Trank oder Zauber. Du hättest meine Schwägerin auch nicht von der Bettkante gestoßen, das kannst du mir glauben. Leider stand in meinem Ehevertrag, dass bei Untreue das gesamte Vermögen an den anderen Ehepartner fällt. Zufällig kam meine Frau viel früher von ihrer 'Reise'“, Stringer zeichnete mit den Fingern unsichtbare Anführungszeichen in die Luft, „nachhause und hat uns in flagranti erwischt.“
„Und was spielte dein Bruder für eine Rolle?“
„Das ist eine gute Frage. Manchmal ist das Einzige, was gefährlicher als eine Frage ist, eine Antwort. Als ich hinter die Antwort gekommen bin, habe ich meinen Bruder zur Rede gestellt. Er schien nämlich meinen Platz einnehmen zu wollen.“
„Dein Bruder hat mit deiner Frau gemauschelt?“
„Nicht nur gemauschelt. Ihre Beziehung war wesentlich fester, wie er es mir im Streit an den Kopf warf. Er war nämlich ihr Geliebter!“
Für einen Augenblick war Fogg sprachlos, fand seine Stimme aber schnell wieder. „Das ist unglaublich!“
„Eben! Es klingt unglaublich“, gab Stringer mit gequältem Lächeln zu. „Als Handlung für einen Kriminalroman vielleicht höchst interessant, aber es taugte leider nicht als Aussage bei der Magischen Polizeibrigade. Meinen Bruder gab es nicht mehr, meine Schwägerin hat geglaubt, ich hätte sie verführt und meine Frau war sowieso gegen mich. Glaubst du wirklich, ich würde dieses beschissene Leben führen, nur weil ich Untreu war und sie mich verhext hat? Nein, ich hätte mich gewehrt, aber leider hat sie mir eine Karte in die Hand gedrückt, auf der nicht 'Joker', sondern 'Schwarzer Peter' stand.“
„Mannomann“, Fogg machte Pausbacken und atmete hörbar aus. „Da kann ich ja froh sein, dass meine Familie mich 'nur' verstoßen hat, weil ich ein Werwolf bin.“
„Ja, da hast du wirklich Schwein gehabt“, scherzte Stringer, der wieder ausgeglichen schien, nachdem er sich ausgesprochen hatte.
„Gibt es außer dem Unfall sonst noch etwas, das du mir vielleicht sagen möchtest?“
„Nein, da ist nichts anderes. Das reicht auch. Mann, wir sind schon zwei arme Gestalten. Es kann nur noch bergauf gehen oder? Ich meine“, er hob fragend seine Hände, „wie tief kann jemand sinken?“
Eine junge Stimme hinter den beiden befahl unerwartet: „Keine Bewegung.“ Trotzdem drehten sich Fogg und Stringer um. Ein junger Mann, nicht mal volljährig, hielt ihnen ein Messer unter die Nase. Nervös verlagerte er das Körpergewicht von einem Bein aufs andere. Es sah fast aus, als müsste er dringend auf die Toilette. Zwei seiner Begleiter zückten ebenfalls ein Messer, während der dritte sich eine Tüte an die Nase hielt und an einer undefinierbaren Substanz schnüffelte. „Her mit dem Geld! Und die Handys auch.“
Fogg war sich nicht sicher, worauf die Jungen aus waren. „Was bitte?“
Der junge Mann wurde nervös, fuchtelte mit seinem Messer herum. „Schnauze! Her damit oder ...“
„Ach halt's Maul, Rotznase!“ Verächtlich spucke Stringer den Jugendlichen vor die Füße.

Bevor die Bande reagieren konnten, packte Stringer seinen Freund an der Schulter und apparierte in die Winkelgasse. Als sie dort ankamen, sahen sie als Erstes zwei Kinder, die ihre Nasen am Schaufenster von Weasleys zauberhafte Zauberscherze platt drückten. Stringer hielt es für besser, sofort ins Wirtshaus zu gehen, bevor sie noch einem Weasley über den Weg liefen. Die Angst war jedoch unbegründet, denn die gesamte Familie befand sich in Hogwarts.

In der großen Halle saßen die DA-Mitglieder bereits an einem Tisch der Gryffindors. Tonks war kurz nach Kingsley eingetroffen und nahm sich eine Süßigkeit aus der dreistöckigen Schale. Die Hauselfen waren so freundlich gewesen, die überraschenden Gäste zu bewirten. Kingsley blickte sich um. Sie warteten noch auf Ron und Harry. Als sich die Flügeltür öffnete, wanderten alle Augenpaare hinüber. Als Erster trat Arthur ein, gefolgt von Ron und Harry. Die beiden hatten Ginny in ihre Mitte genommen. Sie war blass, aber unversehrt. Jeder war froh, sie wohlauf zu sehen, was sie lauthals mitteilten. Am Ende konnte man gar nicht mehr sagen, wer damit angefangen hatte, denn Jubelschreie, Pfiffe und Applaus dröhnten durch den Saal. Einige standen sogar auf. Seamus klatschte, pausierte nur kurz, um mit den Fingern zu pfeifen. Plötzlich sah sich Harry von einer Meute Rothaariger abgedrängt. Ginny wurde von ihren Brüdern gedrückt. Man wuschelte ihr durchs Haar, gab ihr Küsse und drückte ihre Hände. Eine große Familie war schon was Schönes, dachte Harry mit einem Lächeln.

„Jungs!“ Der Vater sprach ein Machtwort. „Jungs, lasst eure Schwester Platz nehmen. Sie ist noch nicht ganz auf dem Damm.“

Im Moment fühlte sich Harry ein wenig abgemeldet, doch er überließ Charlie und Percy die Aufgabe, Ginny zum Tisch zu führen. Sie setzten sich neben sie und es machte ihm nichts aus, sich selbst zwischen Ron und Dean zu platzieren. Noch hatte niemand die Änderung an Harry bemerkt, was kein Wunder war. Jeder blickte zu Ginny hinüber.

„Was haben die nur mit dir gemacht?“, wollte Colin wissen.
„Moment“, Kingsley stand auf, „dafür ist später noch Zeit. Wir sind hier, um eure Aussagen aufzunehmen. Habt ihr einen Sprecher bestimmt oder muss ich jeden einzeln vernehmen?“
Seamus erhob sich. „Die Wahl fiel auf mich. Immerhin habe ich vor etwa einem Jahr Dolores Umbridge heldenhaft zur Strecke gebracht.“
Einspruch von Fred, der mit einem neckischen Grinsen im Gesicht erklärte: „Du hast vom Besen gepinkelt und sie getroffen, woraufhin sie die aus lauter Dummheit Polizeibrigade gerufen hat!“
Dean schnaufte vor Lachen. „Für Seamus ist das heldenhaft!“ Die Gruppe grölte, klatschte. Sie waren in guter Stimmung. Der heutige Siegestaumel war viel angenehmer als früher, weil die Opferzahl so niedrig war. Keine Verluste in den eigenen Reihen. Die Menge verstummte wieder, als Kingsley mit seiner Hand zur Ruhe aufforderte. Plötzlich öffnete sich die Tür. Herein kam Neville, der von seinen euphorischen Freunden mit unerwartetem Applaus begrüßt wurde. Verschüchtert blickte Neville hinter sich, sah dort aber niemanden. Aus lauter Verlegenheit fasste er sich ans Herz.
„Neville!“ Luna winkte ihn zu sich heran, damit er neben ihr Platz nehmen konnte.

Es dauerte nicht lang, da begann Kingsley mit seinen Fragen, die Seamus zur Befriedigung aller beantwortete. Sie hatten sich bereits ohne Ron und Harry eine wasserdichte Geschichte von einem gemeinsamen Ausflug ausgedacht, bei dem sie Hilferufe vernahmen. Kingsley notierte sich alles. Seine Hand war um einiges ruhiger als nach dem Angriff von Greyback.

„Dann gehe ich recht in der Annahme“, Kingsley blickte in die Runde, „dass die Hilferufe von Ginny stammten?“
„Ähm ...“ Einen kurzen Augenblick schauten sich alle gegenseitig an. Einige nickten sich zu.
Es war jedoch Ginny, die das Wort ergriff. „Es kann sein, dass ich nach Hilfe gerufen habe. Zu der Zeit befand ich mich an der Außenwand des Turms. Ich wollte runterklettern, aber mittendrin ging mir die Puste aus.“
„Das war der Moment“, warf Seamus ein, „als wir Halt machten. Wir waren uns klar darüber, dass wir die Entführer gefunden haben.“
Mit seiner Gänsefeder nahm Kingsley die Aussage auf, blickte kurz darauf zu Seamus hinüber. „Und da habt ihr euch entschlossen was zu tun?“
Diesen Punkt hatte die DA schon für sich geklärt, so dass Seamus selbstsicher sagen konnte: „Wir wollten Hilfe holen, einen Patronus schicken, aber das war nicht möglich. Die Muggel hatten bereits das Feuer eröffnet. Wir mussten höllisch aufpassen!“ Mit einer Handbewegung forderte Kingsley dazu auf fortzufahren, was Seamus auch tat. „Wir wollten mit den Muggeln reden. Ein paar von uns sind deswegen im Innenhof gelandet. Harry hat Kontakt zu einem Mr. Hopkins aufgebaut, der ihn ins Innere der Festung eingeladen hat.“
Arthurs Stirn schlug Falten. „Eingeladen?“
„Ja, Sir. Wenn nicht eingeladen, dann auf zumindest dazu aufgefordert.“
„Stimmt das, Harry?“, fragte Kingsley nach und bekam daraufhin von Harry ein Kopfnicken. „Gut, damit ist der Vorwurf des Hausfriedensbruchs schon mal erledigt. Wie ihr euch nämlich denken könnt, wird dieser Fall auch mit dem anderen Minister geklärt werden müssen. So eine große Auseinandersetzung zwischen Muggeln und Zauberern gab es meines Wissens noch nie. Was mir nur Sorgen macht“, Kingsley schaute zu Charlie hinüber, „ist der Drache. Charlie, du darfst so ein magisches Wesen keinem Muggel zeigen. Das ist mit Knieseln schon strafbar, aber ein Drache ...!“
Einen Augenblick wartete Harry ab, ob Charlie oder Seamus dafür eine Erklärung abgaben, aber diesen Punkt hatten sie nicht überdacht. Rettend griff Harry ein und beteuerte: „Der Drache war anfangs unsichtbar.“
„Ah“, machte Kingsley erleichtert. „Und danach?“
„Ich weiß nicht mehr, wann er sichtbar wurde. Vielleicht als die ersten Schüsse fielen?“, schlug Harry indirekt den anderen DA-Mitgliedern vor.
„Möglich“, stimmte Alicia zu.
„Aha“, Kingsley fixierte nochmals Charlie. „Warum warst du überhaupt mit dem Drachen unterwegs?“
„Im Forest of Atholl fand eine Versammlung für die Mitarbeiter der Drachenreservate statt. Der Wald liegt ...“
„Ich weiß, wo sich das Gebiet befindet“, beteuerte Kingsley. Es war ein großes Stück Land, bestehend aus Bergen und Wäldern. Muggel hatten kein Interesse daran, denn es war nicht zu kultivieren. „Es liegt in etwa zwischen Hogwarts und Clova.“
Seamus meldete sich wieder zu Wort. „Ja, das war auch der Grund, warum wir Charlie gefragt haben, ob er uns begleiten wollte. Wir waren sowieso in seiner Nähe. In dem Gebiet lebt niemand und die A9, die wir überflogen haben, war unbefahren. Erst als wir die Festung gesehen haben, wollten wir wieder umdrehen, aber dann ... Na, das haben wir ja schon erzählt.“

Nach und nach hatte Kingsley die Situation rekonstruiert und zu Papier gebracht. Er ging davon aus, dass das meiste der Wahrheit entsprach, nur der Vorsatz, bei Hopkins einzudringen, war kreativ umgestaltet worden. Mit der Aussage war Kingsley zufrieden. Besonders die Tatsache, dass Harry mit einigen von den Muggeln gesprochen hatte, sich um ihr Wohlergehen erkundigte, würde sich positiv auf den anderen Minister auswirken. Man würde nicht mehr glauben, dass die DA absichtlich die Festung aufsuchen wollte. Es war ein Zufall gewesen.

Kingsley packte seine Sachen zusammen. „Ginny, wir reden morgen. In Ordnung? Ruh dich aus.“
„Danke.“

Die beiden Auroren und der Minister verließen Hogwarts, um ihrer Arbeit nachzugehen. Die Freunde blieben noch am Tisch sitzen und tauschten ihre persönlichen Erfahrungen aus, die sie mit den Muggeln gemacht hatten. Besonders was im Innern der Festung passiert war, wollten diejenigen wissen, die nicht dabei waren. Harry ließ Ron die meiste Zeit erzählen. Er selbst hörte lieber zu. Immer wieder traf sein Blick den von Ginny. Sie kommunizierten still, nur mit ihrer Mimik. Ein Augenzwinkern hier, ein Lächeln da. Nur nebenbei hörte er Charlies Geschichte, wie er mit ansehen musste, als der Boden unter Harrys und Pablos Füßen einfach weggebrochen war.

„Aber das Schärfste war, als Harry plötzlich mit dem Teppich geflogen ist.“ Davon schien Charlie ganz begeistert.
„Ja, Harry. Wie hast du das gemacht?“, hakte Ron nach. „Du hattest keinen Stab.“
„Keine Ahnung, es ist einfach passiert. Ich wollte nicht fallen und plötzlich schwebte der Teppich. Den zu lenken war alles andere als leicht“, erzählte er seinen Freunden.
„Verboten ist es auch noch“, warf Percy ein, der wegen seines Berufs die Gesetze auswendig kannte. „Zum Glück hat Kingsley das mit keinem Wort erwähnt.“

Die Tür zur großen Halle ging auf. Einige Schüler schauten verschüchtert hinein. Es war Zeit zum Abendessen, doch sie trauten sich nicht, die Halle zu betreten.

„Besser, wir gehen“, schlug Ron vor. „Später treffen wir uns nochmal, damit wir in Ruhe reden können.“
„Wir sehen uns spätestens auf der Hochzeit.“ Dean stieß Harry mit dem Ellenbogen an, bevor er ihm freundschaftlich auf den Rücken schlug und aufstand. „Kommt noch einer mit in die Drei Besen?“

Einige meldeten sich, andere gingen lieber nachhause, weil sie am nächsten Tag früh aufstehen mussten. Die Freunde verließen die große Halle und verschwanden nach und nach. Ron vertröstete seine Freundin und sagte, er würde später kommen, weil er noch nach Hermine schauen wollte. Nachdem die Aufbruchstimmung wieder abgeflaut war, standen lediglich Luna und Neville bei Harry und Ginny. Luna trat an Harry heran und musterte ihn mit entrücktem Blick. Wegen dieser Eigenart musste Harry lächeln. Früher war es ihm unangenehm gewesen, von jemandem auf diese Weise betrachtet zu werden, aber bei ihr war es etwas anderes.

Als Luna sprach, hörte er ganz genau zu. „Ich glaube, Harry, dass allein schon der Drang zum Guten alles Schlechte vertreiben kann.“
Neville blickte verstört drein und bat mit einem einzigen Blick, man möge das Gesagte für ihn übersetzen. Harry machte es sich leicht, denn er führte eine flache Hand an seine Stirn und hob den Pony. „Harry, deine Narbe ...“
„Ja, Neville, sie ist weg. Das muss passiert sein, als Draco meinen Stab auf sein Mal gedrückt hat.“ Durch die Narbe konnte Harry immer das Böse spüren, was er das erste Mal bei Professor Quirrell bemerkt hatte. „Wir gehen jetzt besser zu Bett. Es war ein aufregender Tag.“
„Harry, Ginny?“ Die beiden drehte sich zu Neville um, der am heutigen Tag nicht der DA beistehen konnte. „Ich bin froh, dass alles gut gegangen ist.“ Er schaute Ginny in die Augen. „Dass es dir gut geht.“
„Danke, Neville. Gute Nacht, ihr beiden!“

Der Abendgruß war ein wenig verfrüht, aber Harry war sich sicher, dass sie heute nicht lange aufbleiben würden. Er nahm Ginnys Arm und legte ihn um seinen, während sie gemächlich zu ihrem Zimmer gingen.

Endlich daheim.

Es war ein seltener Anblick, Severus' Hund und Hermines Kniesel im Wohnzimmer zu sehen. Warum die Tiere hier waren, fragte Ginny nicht. Schnurstracks steuerten die beiden die Couch an, um sich dicht aneinander gekuschelt zu setzen. Viele Worte brauchte es nicht, um zu zeigen, wie glücklich man war. Gemeinsam im Wohnzimmer zu sitzen schien das Normalste auf der Welt zu sein, doch beide wussten, dass es auch anders hätte kommen können. Sie genossen den Moment und nahmen ihn keinesfalls als selbstverständlich hin.

Ihrem Herzen wollte sie ein paar Minuten später Erleichterung verschaffen, weswegen sie zu erzählen begann: „Für einen Augenblick dachte ich, ich würde es nicht überstehen.“ Er drückte sie noch fester an sich. „Als dieser Tyler bei mir war ... Ich hatte Angst.“
„Jetzt ist alles vorbei, Ginny.“ Er nahm ihre Hand, deren Fingerspitzen jeweils in einem Pflaster endeten. „Tut es weh?“
„Nicht sehr, ich hab eine Salbe bekommen und die Pflaster. Sollte in einer Woche nichts mehr zu sehen sein. Einen Fingernagel musste mir Madam Pomfrey entfernen, aber der wird nachwachsen.“
In Erinnerung daran, wie sie diese Wunden erhalten hatte, sagte er Respekt zollend: „Ich wäre nie darauf gekommen, an einem Turm runterzuklettern.“
„Das war pure Verzweiflung. Die Muggel dachten, ich wäre weg – appariert. Sie haben den Turm nicht einmal abgesucht. Die Tür führte in den Innenhof und wer da wartete, muss ich dir ja nicht sagen. Es blieben nur noch diese Schießscharten.“
„Hättest du es geschafft? Ich meine, ohne uns?“
Stille. Ginny überlegte, führte sich vor Augen, wie die Situation gewesen war. „Ich bin mir nicht sicher.“ Der Regen, der starke Wind, die verkrampften Muskeln. „Vielleicht.“ Nein.
Niemand sprach an, dass die DA genau im richtigen Moment gekommen war. „Woher habt ihr gewusst, wo ich bin?“
„Das ...“ Harry versuchte sich, diesen Moment ins Gedächtnis zurückzurufen. „Severus hat es gesagt. Er hat das vor irgendjemandem gehört. Werde ihn morgen mal fragen.“ Er seufzte erleichtert. „Hast du Hunger? Ich habe nämlich mächtig Kohldampf!“
Man hatte ihr bei Hopkins nichts zu essen gegeben. „Ich auch. Abendessen wäre nicht schlecht.“ Bei einem Hauself der Küche bat Harry um zwei Mahlzeiten, während Ginny sich umblickte. „Wo ist Nicholas?“
Harry schaute sich flüchtig um, erblickte beiläufig die leere feuerfeste Schale des Phönix. „Der wird noch im Krankenflügel sein und mit seinem neuen Freund spielen.“ Nachdem er ihr geantwortet hatte, schaute er sich nochmals um. Etwas stimmte nicht. „Fawkes ist weg!“ In diesem Augenblick kam Hedwig durchs offene Fenster geflogen. In ihrem Schnabel trug sie etwas. „Nein, Hedwig, keine Maus. Ich habe mir eben was zu essen bestellt.“ Doch Hedwig flog gar nicht ihn an, sondern landete in der Schale. Neugierig stand Harry auf und ging hinüber. Kaum hatte Hedwig die Schale erreicht, schnappte der Schnabel eines kleinen Vogels auf, den man über den Rand der Schale hinweg nicht sehen konnte. „Nein, das gibt es nicht. Ginny, komm mal her!“
„Was ist denn?“ Langsam trottete sie zu ihm hinüber und lehnte sich an seine Seite, während sie in die Schale schaute. „Das heißt wohl, dass du von Hedwig keine Geschenke mehr bekommst.“ Fawkes war der neue Günstling. „So klein sieht der Phönix wie ein normales Vogelbaby aus.“
Harry streckte eine Hand aus und strich dem Phönix über die nackte Haut. „Wart ab, bis die ersten Federn kommen.“ Es hatte etwas Beruhigendes mit anzusehen, wie Hedwig den kleinen Vogel fütterte, auch wenn es teilweise ein unappetitlicher Anblick war, der Mitgefühl für die Maus weckte. Mit einem erleichterten Seufzer legte er einen Arm um Ginny und sagte: „Wenn das kein Zeichen für einen Neuanfang ist, dann weiß ich auch nicht. Schade, dass keiner von uns dabei war, als es passiert ist. Hermine hätte das gern gesehen.“
„Wie der Phönix brennt?“, fragte Ginny nach.
„Ja, das sieht man nicht oft. Ich weiß nicht mal, ob neben Fawkes noch andere seiner Art existieren.“
„Ob ich ihn anfassen darf?“ Der Phönix hatte häufig nach Fingern geschnappt, die nicht Harry gehörten.
„Probier es. Selbst wenn er zulangt, wird es bei dem kleinen Schnabel kaum wehtun.“
Mit nur einem Finger kraulte Ginny den kleinen Phönix behutsam am Hals und der ließ sich das gefallen, schloss dabei die Augen. „Wie niedlich!“
„Ich bin froh, dass er es endlich hinter sich hat. Das muss eine Qual für ihn gewesen sein, sich so lange an der Erneuerung zu hindern.“
Ginny wurde stutzig. „Meinst du, er hat es absichtlich hinausgezögert?“
„Das ist meine Vermutung, die ich allerdings mit nichts untermauern kann, außer mit meinem Bauchgefühl. Apropos Bauch: Du erinnerst dich, dass er etwas Hartes am Bauch hatte?“ Ginny nickte. „Ich glaube nicht, dass es ein Ei war, aber was immer es war, es ist jetzt weg und macht ihm nicht länger das Leben schwer.“

Als die Hauselfe das Abendessen brachte, setzten sich Harry und Ginny an den Tisch, den eine weibliche Elfe gerade deckte. Derweil fiel ihr Blick mehrmals auf Ginnys Hände, die sie mitfühlend beäugte.

„Danke, Shibby.“
„Nichts zu danken, Harry Potter, Sir.“ Die Elfe zögerte, ging noch nicht weg.
Höflich fragte Harry: „Kann ich etwas für dich tun?“ Sie spielte hektisch mit ihren langen Fingern, bevor sie in den Stofffetzen griff, den die Elfen normalerweise trugen, um ihr niederes Ansehen darzustellen. Sie reichte Harry eine Pergamentrolle, die mit einer edlen, roten Samtschleife zusammengehalten wurde. „Für mich?“ Er war überrascht. Sofort entrollte er das Pergament.
„Harry, was ist das?“
Er überflog das Schriftstück und antwortete seiner Verlobten irritiert: „Das ist eine Besitzurkunde.“ Mit einem Finger fuhr er über einige Sätze, die er laut vorlas: „... wird die Hauselfe namens Shibby“, der Name war mit der Hand eingetragen, „an den neuen Meister Harry Potter“, die Handschrift war ihm vertraut, „gegen einen Betrag von 'Null' übertragen.“ Die Zahl war ebenfalls in das freie Feld des vorgefertigten Ministeriumsformulars eingetragen. Ganz unten konnte man die Unterschrift entziffern. „Gezeichnet: Albus Percival Wulfric Brian Dumbledore.“
Ungläubig las Ginny die Worte selbst. „Professor Dumbledore hat dir eine Hauselfe geschenkt?“
Harry war völlig perplex. Er las das Formular nochmals, bevor er Shibby mit Fragen bombardierte: „Was soll das? Warum macht Albus das? Wozu schickt er dich? Ich brauche keinen zweiten Hauself!“
Shibby blickte ihn unsicher an. „Harry Potter hat zugestimmt, Sir.“
„Hab ich? Wann?“
Die Elfe schien nervös, als würde sie eine Strafe erwarten. „Harry Potter hat der Verbindung zugestimmt, Sir.“
„Verbindung?“
„Harry“, Ginny legte eine Hand auf seinen Unterarm, „ich glaube, ich verstehe. Du hast deinem Elf doch erlaubt, eine Frau zu nehmen.“
„Ah“, machte Harry, der trotz der einleuchtenden Erklärung noch immer ein wenig fassungslos war. „Dann bist du die, ähm, Frau von meinem Hauself?“ Die Elfe nickte verschüchtert. „Okay, schön! Gut, dass wir das geklärt haben. Ich war nur etwas überrascht.“ Begeistert hielt er ihr seine Hand entgegen. „Freut mich, dich in unserer Familie willkommen heißen zu können. Ich hoffe, wir werden gute Freunde.“
„Freunde, Sir?“ Voller Furcht streckte sie ihm die zitternde Hand entgegen. Sie war es nicht gewohnt, dass Menschen sie berühren wollten. Nur der Direktor dieser Schule schreckte davor nicht zurück.
Die ausgestreckte Hand umfasste Harry, schüttelte sie sanft. „Ja, Freunde.“ Harry bemerkte, dass ihr die Situation unangenehm war und wollte ihr etwas Ruhe gönnen. „Da hinten“, er zeigte auf das Zimmer, in welchem Sirius anfangs geschlafen hatte, „ist dein Zimmer. Du teilst es dir mit ...“ Er wollte den Namen nicht sagen, sonst würde Wobbel sofort erscheinen. „Du teilst es dir mit deinem Mann. Er ist gerade noch im Krankenflügel, glaube ich zumindest. Du kannst zu ihm gehen, wenn du möchtest.“ Shibby nickte schüchtern. „Lass dir am besten von ihm erklären, wie das Leben hier abläuft. Es wird dir hoffentlich gefallen.“ Innerlich ahnte Harry, dass es ihr nicht gefallen würde. In Zukunft würden sich beide Elfen bei ihm beschweren, dass sie zu viel Freizeit hätten, aber damit konnte er leben.
„Was soll Shibby jetzt tun?“
Er wusste, es würde schwierig werden. „Du kannst zu ihm gehen. Oder auf dein Zimmer, wenn du magst. Mach einfach, was du möchtest.“
Die Augen der Elfe weiteten sich vor lauter Unverständnis. „Was ...?“ Sie schluckte kräftig. „Was soll Shibby jetzt tun?“

Es klang wie ein Flehen, eine Bitte um Anweisung. In ihren großen Augen sammelten sich bereits Tränen. Harry mochte es gar nicht, wenn Elfen weinten. Das fand er bei Dobby schon immer anstrengend. Er seufzte leise. Einer Elfe die Entscheidung zu überlassen musste ein Horrortrip für diese Wesen sein. Wenn sie aber einen Elf liebte, der Kleidung trug, würde sie auch mit anderen ungewöhnlichen Dingen zurecht kommen. Sie brauchte nur ein wenig Zeit, um sich an den neuen Lebensstil zu gewöhnen.

„Geh zu deinem Mann und höre auf das, was er sagt, in Ordnung?“ Eine klare Aussage, die ihr gefallen müsste, dachte Harry.
„Ja, Sir. Danke, Sir.“ Sie war erleichtert. „Shibby wünscht einen guten Appetit.“

Schon war sie verschwunden und erschien wenige Sekunden später im Krankenflügel. Wobbel drehte sich um. Seine Augen leuchteten. „Shibby!“ Sie hatte ihm viel zu erzählen. Flüsternd unterrichtete sie ihn davon, dass sie Harry Potter endlich die Urkunde gegeben hatte. Nur noch mit einem Auge überwachte Wobbel das Spiel von Charles und Nicholas, was seiner Meinung nach ausreichend war, denn die Mutter des anderen Jungen war auch noch im Raum.

Wobbel bemerkte nicht, dass Nicholas sich wieder die Beine vertreten wollte. Seinen Keks, noch immer nicht ganz aufgegessen, aber an sämtlichen Stellen feucht, hielt er weiterhin in der Hand, als er sich im Zimmer umschaute. Zwei Betten bemerkte er, die er noch nicht mit seiner Anwesenheit beglückt hatte. In dem einen lag eine Frau, die er kannte. Hermine. Oder „Mimm“, wie er sie nannte. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen und steuerte Hermines Bett an. Sie bemerkte ihn nicht, was er sehr schade fand. Er mochte ihre hohe Stimme. Vielleicht würde sie ihn begrüßen, wenn er sie anfasste?

„Lass sie schlafen!“, zischte es plötzlich hinter ihm. Nicholas drehte sich erschrocken um. Ein Mann lag dort. Das Gesicht zu einer mürrischen Miene verzogen. Die meisten Großen lächelten, wenn sie ihn sahen, aber dieser Mann nicht. Das wollte Nicholas ändern. Mutig näherte er sich dem anderen Bett. „Was willst du?“ Was der Mann sagte, verstand Nicholas nicht, aber er wusste, dass die Großen nett wurden, wenn man ihnen etwas schenkte. Freudestrahlend hielt er dem Mann seinen Keks hin. „Was soll ich denn damit?“, grummelte der Mann. Entmutigt zog Nicholas seine Hand zurück und seufzte. Vielleicht hatte der Mann nicht verstanden, dass er den Keks haben konnte? Ein neuer Versuch. Nicholas streckte die Hand aus und hielt ihm den Keks vor die Nase. „Der ist ja voller Spucke, den kannst du behalten!“ Der Miesepeter war ein harter Brocken. Ein wenig geknickt legte Nicholas seinen Keks auf dem Bettzeug ab. „Nimm das weg! Ich will mein Bett nicht voller Krümel haben!“ Die Bedeutung der Worte war dem Jungen nicht klar, aber der Tonfall zeigte Nicholas sehr deutlich, dass der Mann verärgert war. Mama hatte genauso geknurrt, als er ihre Hausaufgaben mit seinen Fingerfarben verschönerte. Wenn der Mann keinen Keks wollte, dann musste etwas anderes her. Neugierig schaute sich Nicholas um. Eine metallene Schale vom Nachttisch könnte den Mann zufriedenstellen. Nicholas griff nach der Nierenschale und hievte den schweren Gegenstand auf die Matratze, um sie dem Mann zu schenken. „Kannst du nicht einer anderen Person auf den Geist gehen? Es sind doch genügend anwesend!“ Nicholas strahlte, zeigte dem Mann seine ersten Milchzähne. Ein missgelauntes Brummen war zu hören. Endlich regte sich der Mann. Er nahm den Keks von der Decke und legte ihn in die Nierenschale. Nicholas fischte den feuchten Keks sofort wieder heraus und hielt ihn dem Mann hin. „Du bist schwer von Begriff, nicht wahr? Muss an den Eltern liegen.“
„Severus?“ Narzissa hatte sich seinem Bett genähert. „Brauchst du“, sie grinste breit, „vielleicht Hilfe?“
„Ja, ich werde aufs übelste belästigt.“
„Von einem Kleinkind?“
„Das sind die Schlimmsten!“, versicherte er ihr mit ernster Miene.
Die helle Stimme ließ Nicholas aufhorchen. Er mochte die Frau auf Anhieb, denn sie lächelte. Fröhlich reichte er ihr den feuchten Keks, den die Frau tatsächlich annahm. „Oh, ich dank dir vielmals!“ Nicholas klatschte zweimal in die Hände und grinste, bevor er sich auf zu Wobbel machte. „Siehst du, Severus. Du hättest ihn nur nehmen müssen und dann hättest du deine Ruhe gehabt.“ Er schnaufte verächtlich, woraufhin sie ihm den Keks reichte. „Möchtest du?“
„Jetzt fängst du auch noch an.“
Lachend legte sie das Gebäck in die Nierenschale und stellte es auf den Nachttisch. Die Krümel fegte sie mit der flachen Hand von seiner Decke, bevor sie sich zu ihm auf den Stuhl setzte. Ihr Gesicht wurde ernst. „Ich war vorhin bei Lucius.“
„Wie geht es ihm?“ Severus ahnte – nein, er wusste, dass Lucius das Gleiche erlitten hatte.
„Den Umständen entsprechen. Es geht ihm wie dir. Die Wunde am Arm ist bei ihm viel größer als bei Draco.“
„Das ist merkwürdig“, murmelte Severus. „Vielleicht hat es damit etwas zu tun, wie lange man das Mal schon getragen hat?“
„Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ihr beide besonders viel Glück hattet. Wäre Lucius nicht wegen seiner Augenuntersuchung im Mungos gewesen ...“ Sie schüttelte den Kopf. „Eine Schwester war bei ihm, als es passierte. Sie hat sofort gehandelt, sonst wäre er ...“ Narzissa konnte keinen Satz beenden, der zum Inhalt hatte, dass ihr Gatte hätte sterben können.
„Bei mir war es ähnlich“, bestätigte Severus. „Ich war nicht allein. Wäre das der Fall gewesen, hätte ich die Kerker nicht lebend verlassen.“ Narzissa legte ihre schmalen Finger auf seinen Handrücken. „Es schmerzt“, gestand er. Ermutigend umfasste sie seine Hand und beugte sich zu ihm.
„Du wirst es ertragen, Severus, wie auch Lucius und Draco es ertragen werden. Das Leid ist das Geringste, das du geben kannst, um neu beginnen zu dürfen. Das ist der Preis, Severus. Als ich im Krankenhaus war, sah ich Menschen sterben, weil in ihnen nichts Gutes mehr war, womit sie ihre Schuld begleichen konnten. Wie sagte Merlin einst: 'Schmerz ist nicht die Wahrheit; Schmerz ist, was man durchmachen muss, um die Wahrheit zu finden.'“
Severus lächelte nicht, aber seine Augen zeigten Verständnis, bis der Schalk durch ihn sprach: „Ich hätte trotzdem gern mit Galleonen bezahlt.“ Sie schmunzelte amüsiert. „Du hast zu viel Zeit mit Albus verbracht, Narzissa. Du sprichst schon wie er.“
„Ich habe mich vorhin mit ihm unterhalten.“
„Das dachte ich mir.“
„Seine Worte haben Gewicht. Ich sehe es genauso wie er. Der Preis für den Umgang mit den Dunklen Künsten ist hoch, das weißt du selbst. Schwarze Magie teert Herz und Verstand, entzweit Freundschaften und Familien. Wer nicht bereut, das Zeichen Voldemorts angenommen zu haben, bekommt keine zweite Chance.“
„Dann muss ich für meinen jetzigen Zustand wohl dankbar sein“, flüsterte er resignierend.
Weil sie in seinen Augen eine Gefühlsregung sah, die sie nicht kannte, fragte sie nach: „Was bedrückt dich?“ Er erwiderte nichts. „Wovor hast du Angst?“
„Angst? In Hogwarts bin ich sicher. Wovor sollte ich mich fürchten? Vielleicht davor, dass ich die ganze Nacht über kein Auge zutun werde?“
Das war es, dachte Narzissa. „Das wäre der richtige Zeitpunkt, um darüber nachzudenken, warum der Schmerz dich nicht schlafen lässt.“ Zum Abschied gab sie ihm einen Kuss auf die Stirn. „Wir sehen uns, mein Lieber. Ich wünsche dir eine gute Besserung.“
„Danke. Auf Wiedersehen, Narzissa.“

Als Narzissa und Susan sich zusammen mit Charles auf den Heimweg machten und auch Wobbel und Shibby mit Nicholas den Krankenflügel verließen, kehrte endlich Ruhe ein. Ruhe, die für Severus fast nicht zu ertragen war, denn der Arm meldete sich wieder und erinnerte unentwegt an das dunkle Mal, das er nun nicht mehr trug. Poppy sah noch einmal nach dem Rechten, fragte nach dem Wohlbefinden. Sie betrachtete einen Moment lang Hermine und schien mit dem Gedanken zu spielen, sie zu wecken und nachhause zu schicken. Sie entschied sich dafür, sie ausnahmsweise schlafen zu lassen, auch wenn sie kein Patient war. Das Licht wurde gelöscht.

„Gute Nacht, Severus“, kam es von gegenüber.
„Gute Nacht, Draco.“

Dunkelheit kehrte ein und Stille, damit auch das beklemmende Gefühl, allein zu sein. Narzissas Ratschlag war nett gemeint, aber Severus kam nicht dahinter, warum sein Körper keinen Schlaf finden wollte. Er war müde, mehr als müde. Wie lange konnte man ohne Schlaf auskommen? Irgendwann hatte er gehört, dass man als gesunder Mensch maximal elf Tage durchhalten könnte. Severus wollte sich weniger Gedanken darüber machen, wieviele Tage er ohne geistige Erholung ertragen könnte. Viel mehr war ihm Narzissas Bemerkung im Kopf geblieben. Sollte er Einsicht und Reue zeigen, gute Vorsätze für die Zukunft haben? Was bereute er? In einem war sich Severus sicher. Er bereute nicht, das dunkle Mal angenommen zu haben, denn nur auf diese Weise war es möglich gewesen, den Feind auszuhorchen; als Spion zu handeln und zu agieren, wie Albus es für richtig hielt. Es war, so verwerflich es auch sein mochte, notwendig gewesen, das Zeichen des Dunklen Lords anzunehmen. Niemand würde ihm das zur Last legen. Im Gegenteil. Die Magische Gesellschaft hatte ihm mit der Verleihung des Ordens längst verziehen. In seiner Vergangenheit gab es noch andere Situationen, auf die Severus nicht stolz war. Er bereute zutiefst – damals schon und noch heute –, dass er die Potters nicht vor ihrem Schicksal bewahren konnte. Es war nicht abzuwenden, war nicht sein Fehler gewesen. Die Gräueltat, die er an seiner eigenen Seele begangen hatte, war das Einzige, was er als Fehler betrachtete. Die Flucht in die Gefühlslosigkeit aus Angst vor der Trauer. Severus blickte zu dem Bett hinüber, in welchem Hermine selig schlief. Er befürchtete, dass der Heiltrank mehr Schaden als Nutzen anrichten könnte. Die Gefühle von damals würden mit voller Wucht zurückkehren und ihn in die Knie zwingen. Die Trauer waren nie vollständig verflogen, nur aufgeschoben. Anstatt einen Weg zu finden, um den Druck von der Seele zu nehmen, hatte er die Axt an die Wurzel gelegt. Severus musste sich eingestehen, aus lauter Hilflosigkeit überreagiert zu haben. Nicht die Seele war das Übel gewesen, sondern sein Mangel an Freunden. Anstatt die Hand zu ergreifen, die Albus ihm mehrmals gereicht hatte, war er dem Wahn verfallen, das störende Empfinden auf radikale Weise zu beseitigen. Wenn Trauer nur eine Mauer zwischen zwei Gärten wäre, was würde er auf der anderen Seite finden? Wer würde ihn auffangen, sollte er springen? Wäre er auch dort allein, um welken Blumen nachzuweinen, würde er vergehen.

Severus seufzte, blickte nach vorn. Das Licht des zunehmenden Mondes umhüllte Dracos ruhende Gestalt. Er fragte sich, ob sein Patensohn ähnlich quälenden Gedanken ausgesetzt war, denn auch er fand keine Schlaf, das konnte Severus am Rhythmus der Atmung ausmachen. Im Vergleich dazu verriet die Atmung von Hermine, dass sie tief und fest schlief. Nochmals blickte er zur Seite, wo die Hoffnung auf ein geordnetes Leben lag. In der Apotheke würde er Ruhe finden. Die Arbeit bereitete ihm Freude. Er sehnte sich nach festen Brauplänen, nach geregelten Arbeitszeiten und nach den vielen kleinen Gewohnheiten, die sich von ganz allein einschleichen würden. Er sehnte sich nach all dem, aus dem die Menschen gewöhnlich ausbrechen wollten, weil ihnen ihr Leben zu langweilig war. Nach aufreibenden Abenteuern strebte er nicht. Ein normaler Alltag wäre Abenteuer genug. Eigenen Pflichten nachgehen, für sich selbst arbeiten – das war Neuland für ihn. Von großer Wichtigkeit war vor allem, diesen Weg nicht allein gehen zu müssen, sondern mit jemandem, der aus freien Stücken entschieden hat, ihn zu begleiten.

Ein leises Schnarchen war zu vernehmen. Draco hatte endlich seinen Frieden im Land der Träume gefunden, denn er hatte sich bereits das Leben geschaffen, das Severus sich wünschte. Trotz aller Bedenken nahm sich Severus vor, Stärke zu zeigen, wenn Hermine den Trank gebraut hatte. Er würde ihn nehmen und sich von denen führen lassen, die im Buch der Freunde standen.

Bald hörte man im Krankenflügel die ruhigen Atemzüge von drei Schlafenden.

Im Erdgeschoss war es nicht anders. Ginny hatte sich dicht an Harry geschmiegt und schlief mit ihrem Kopf an seiner Schulter ein, gefolgt von Harry. Ob sie sich auch im Traum so nahe waren, konnten nur die beiden beantworten.

In der Nacht erwachte Ginny mit einem schaurigen Gefühl der Hilflosigkeit, die ihr die Tränen in die Augen trieb. In ihrem Traum hatte man sie vom Turm hinaus zu einem Scheiterhaufen geführt. Beim Anblick der Fackel, die das Reisig entzündete, wachte sie auf. Harry spürte die wackelnde Matratze, als sich Ginny im Bett aufsetzte.

„Was ist denn?“, murmelte er verschlafen. „Schlecht geträumt?“ Im Dunkeln tastete er nach ihrem Arm. Als er ihn fühlte, zog er sie langsam zu sich hinunter. Mit Albträumen kannte er sich aus. Damals gab es niemanden, der ihn gehalten hatte, obwohl das das beste Heilmittel war. Harry drückte sie wortlos an sich, legte ihren Kopf in seine Halsbeuge, so dass sie gemeinsam wieder einschlafen konnten.

Am nächsten Morgen vernahm Harry ein glucksendes Geräusch. Wobbel war gerade dabei, Nicholas leise aus dem Kinderbett zu nehmen, bevor der seine Eltern wecken konnte. Mit dem Kind im Arm empfahl Wobbel: „Schlafen Sie ruhig weiter, Sir.“

Harry war aber nicht mehr müde und stand vorsichtig auf, damit er Ginny nicht störte. In Windeseile war er angekleidet und begab sich nach der Morgentoilette ins Wohnzimmer. Er traf auf Shibby, die den Tisch deckte, während Wobbel den Jungen mit püriertem Essen fütterte. Die Elfe verhielt sich in der Anwesenheit ihres Herrn unsicher und achtete penibel genau darauf, dass alles auf dem Tisch korrekt angeordnet war.

„Guten Morgen, Shibby“, er nickte ihr zu, „Wobbel.“
„Guten Morgen, Sir. Haben Sie einen besonderen Wunsch?“, wollte Wobbel wissen, während er Nicholas den Löffel an den Mund hielt, doch der verzog nur das Gesicht.
Mit wachem Auge überflog Harry das Gedeck. „Nein, ich mach das schon selbst.“ Er nahm eine der Servietten in die Hand, die er faltete und vor sich auf den Teller stellte. Als nächstes zog er seinen Stab und sprach einen Zauber. Plötzlich war das gesamte Gedeck rosarot. „Huch.“
„Ich nehme an, Sie wollten eine Rose formen?“ Das Grinsen konnte sich Wobbel nicht verkneifen.
„Richtig geraten. Warum gehen mir die leichten Zauber nur so schwer von der Hand?“ Er konnte Räume absichern, Inferi aufhalten oder Todesser zur Strecke bringen, schaffte es aber nicht einmal, eine Serviette in eine Rose zu verwandeln. Solche Sprüche hatte er während des Krieges nie gebraucht. Es hätte auch albern ausgesehen, mit Blumen nach Feinden zu werfen.
„Sie könnten endlich mal versuchen, das aus der Hand zu legen, was Sie behindert.“
Harry stutzte aufgrund der Worte, blickte dann auf seinen Stab. „Das kann ich nicht! Es ist nur bedingt möglich, ohne Stab zu zaubern.“
„Ach ja?“ Wobbel schnippte mit seinen Fingern und das Gedeck war wieder weiß.
„Ha ha, du bist ja auch ein Elf, Wobbel. Deine Magie ist anders.“
„Ist sie das?“, entgegnete der Elf. Mit großen Augen verfolgte Shibby die Unterhaltung ihres Gatten mit dem Herrn. Sie konnte nicht gutheißen, dass Wobbel sich so provozierend verhielt, doch dem Herrn schien es nichts auszumachen.
„Ihr braucht keinen Stab, genauso wenig wie Kobolde. Die zaubern auch nur mit den Händen.“
„Versuchen Sie es doch einfach mal, Sir. Möglicherweise“, Wobbel lächelte schief, „färbe ich ja auf Sie ab?“
Harry gab auf. „Ich kann mich nicht einmal an den Spruch nicht erinnern, wie man aus Stoff eine Rose formt.“
„Wie Sie schon sagten, Mr. Potter, zaubern wir anders. Haben Sie uns je einen Zauberspruch sagen hören?“ Einen Moment lang dachte Harry angestrengt an die Zeit mit Dobby und Wobbel, musste am Ende aber den Kopf schütteln. „Nein“, bestätigte Wobbel, „keine Zaubersprüche, nur der pure Wille.“
„Ich bin aber keine Elfe, auch wenn ich etwas kleiner geraten bin als meine Freunde.“
Wobbel lachte, steckte damit den Jungen auf seinem Schoß an. „Wie sagte Ihr rothaariger Freund einmal so nett? 'Versuch macht kluch.'“
„Ja, das hört sich sehr nach Ron an.“

Seufzend musterte Harry die Serviette auf dem Tisch. Er würde versagen, das wusste er. Einen Accio bekam er ohne Stab hin, manchmal auch einen Alohomora, aber mehr? Andererseits konnte er gestern einen Teppich fliegen. Da musste etwas in ihm stecken, was das veranlasst hatte. Es könnte aber auch ein Spontanzauber aus der Not heraus gewesen sein. Die Situation war ähnlich gewesen wie bei Nevilles erstem Zauber. Im Fall hatte die Angst die Magie aktiviert und verhindert, dass man sich etwas tat. Neville war als Kind wie ein Ball bis zur Straße gehüpft und Harry hatte einen Teppich geflogen. Beides passierte während eines Sturzes. Es waren Kräfte, die man nicht kontrollieren konnte, genau wie diese Wahrnehmungsveränderungen, über die Harry auch keine Kontrolle hatte.

„Ich kann es ja mal probieren.“ Harry legte den Stab beiseite und hob die Hand, atmete einmal tief durch und wünschte sich eine Rose. Es trat leider nicht der gewünschte Effekt ein. Die Stoffserviette fiel lediglich in sich zusammen. „Es funktioniert nicht.“
„Oh, Mr. Potter. Nicht gleich aufgeben. Die Serviette ist nicht von allein zusammengefallen, das waren Sie!“
„Wirklich?“ Stolz blickte Harry zu dem Stück Stoff hinüber, kam sich aber nach ein paar Sekunden reichlich dämlich vor. „Toll, ich habe eine Serviette zum Einsturz gebracht.“
„Wo eine Serviette einfallen kann, könnte auch ein ganzes Gebäude einstürzen.“
„Und dann mache ich meine eigene Abrissfirma auf!“
„Mr. Potter ...“ Wobbel schnalzte mit der Zunge, als wollte er Harry rügen. „Das Problem ist, dass Sie mich einfach nicht ernst nehmen.“
„Ich nehme dich immer ernst, Wobbel, das weißt du, aber ich weiß auch, dass die menschliche Magie ohne Zauberstab genauso beweglich ist wie ein Einbauschrank! Was du vorschlägst, ist ein wirklich interessanter Gedanke, aber ich muss dir widersprechen. Es geht nicht! Wir brauchen den Zauberstab.“ Deprimiert schob sich Harry ein Stück Toast in den Mund.
„Sie hören schon auf? Wo ist Ihr Glaube an die eigenen Fähigkeiten geblieben?“
„Warum sollte ich es versuchen, wenn die Aussicht auf Erfolg gleich null ist?“
Wobbel gab Nicholas an Shibby ab, die ihn weiter füttern sollte, so dass er sich neben seinen Herrn setzen konnte. „Mr. Potter?“
„Ja?“ Skeptisch beäugte Harry seinen Elf, der neben ihm Platz genommen hatte.
„Kann jeder Zauberer Okklumentik?“
Harry erinnerte sich an Hermines Versuche, doch sie beherrschte nur die Konzentrationsübungen, nicht aber die Abschirmung gegen Legilimentik. „Nein, nicht jeder.“
„Besitzt jeder die gleichen Fähigkeiten im Brauen von Zaubertränken?“, wollte Wobbel wissen.
„Nein, Neville ist der lebende Beweis dafür. Du fragst nicht nur aus Jux und Tollerei, Wobbel. Auf was willst du hinaus?“
„Ich will Ihnen vor Augen halten, dass nicht jeder Zauberer in allen Gebieten gleich gut ist. Wie ich einmal von Miss Granger erfahren habe, waren Sie beide mit vereinten Kräften nicht einmal dazu in der Lage, einen Kakaofleck aus ihrem Pyjama zu entfernen.“
„Na ja“, verlegen rieb sich Harry den Nacken, „Haushaltszauber sind nicht ganz mein“, er stutzte, „Gebiet.“
„Wie können Sie dann mit Sicherheit sagen, dass stablose Magie nicht Ihr Gebiet wäre, wenn Sie es gar nicht probieren?“

Mit gespitzten Lippen musterte Harry das Gesicht seines Elfs, um einen Scherz ausfindig zu machen, doch Wobbel blieb todernst. Nach einer Weile richtete Harry seinen Blick wieder auf die Serviette und hob seine Hand. Er wünschte sich, eine Rose zu zaubern. Er war ganz erstaunt, als der weiße Stoff plötzlich ein Rosenmuster aufwies, aber das war noch nicht das, was er wollte.

„Versuchen Sie es nochmal, Mr. Potter.“
„Sag mal, geht das nur, weil ich in deiner Nähe bin?“ Eine andere Erklärung hatte Harry nicht, es sei denn, Wobbel würde sich herausnehmen, ihn zu veralbern, doch dafür war der Elf viel zu ernst.
„Wer weiß?“
„Schöne Antwort. Von Albus bin ich sowas gewohnt, aber von dir?“ Harry grinste, konzentrierte sich dann wieder auf die Serviette. Vielleicht könnte er später mit Hermines Farbtrank einen Test machen, notierte er sich in Gedanken. Er hob die Hand, fixierte die Serviette. Ein roter Nebel umgab sie, obwohl Harry nichts anderes tat, als seine Hand zu heben und sich etwas zu wünschen. Als der Nebel verschwand, fiel sein Blick auf eine rote Rose, die aber unecht aussah. Neugierig beugte er sich nach vorn und roch dran. „Die ist auch Marzipan!“
„Dann noch ein Versuch?“
„Nein, Ginny mag Marzipan und ich möchte jetzt lieber Zeit damit verbringen, dich zu fragen, wie das möglich ist. Ich glaube nämlich, du nimmst mich nur auf den Arm.“
„Oh, Mr. Potter, wie können Sie so etwas von mir denken? Ich glaube aber, Sie haben für heute genug. Eine Sache noch ...“ Wobbel griff in die Innentasche seines legeren Jacketts und zog etwas hinaus. „Ich habe hier etwas, das wohl Ihnen gehören dürfte, zumindest aber für Sie bestimmt ist.“
Neugierig blickte Harry auf die noch geschlossene Faust von Wobbel und fragte: „Was ist es?“

Der Elf öffnete seine Hand. In der Handinnenfläche lag ein roter Stein. Völlig verdattert nahm er den Stein von Wobbel entgegen.

„Das ist ...“

Unfassbar. Unglaublich. Unwirklich.

„Woher hast du den?“ Harry fühlte das Gewicht des Steins, betrachtete die Unebenheiten. Den Stein der Weisen hielt er schon einmal in der Hand. Er war es. Harrys Blick fiel auf die Feuerschale des Phönix. „Das war die Verhärtung! Der Stein war in Fawkes' Körper.“ Harry stand auf, um zum Vogel hinüberzugehen. Er betrachtete den schlafenden Fawkes, als er sprach, doch er sprach zu sich selbst. „Hast du ihn für Albus verwahrt?“ Diese Frage beantwortete Harry für sich selbst. „Nein, du hast ihm den Stein genommen. Deswegen bist du auch zu mir zurückgekommen und nicht zu ihm.“

In diesem Moment hatte Harry eine Idee. Er wusste ganz genau, was er mit dem Stein anfangen wollte.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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207 Himmel voller Geigen




Die Sonne strahlte, einige Vögel trällerten fröhlich und der Sommerwind ließ die Baumwipfel rauschen. Zu den Geräuschen passte nicht das helle Geklimper, das Hermine ab und zu vernehmen konnte. Müde blinzelte sie. Das Erste, was sie erblickte, war Severus im Nebenbett – mit einer Tasse Kaffee in der Hand und einem leeren Frühstückstablett auf dem Schoß. Er nahm einen Schluck und schloss dabei genüsslich die Augen. Sie war im Krankenflügel. Hermine streckte sich und schüttelte die Müdigkeit aus ihren Gliedern.

„Ah“, kam es von nebenan, „du weilst wieder unter den Lebenden.“
Sie seufzte erleichtert. „Ich habe mich selten so ausgeschlafen gefühlt.“
„Das hast du dir auch verdient. Gestern habe ich deinen Schlaf mit meinem Leben verteidigt.“
Hermine setzte sich auf, ließ die Beine baumeln. „Mit deinem Leben?“
Severus rechter Mundwinkel zog sich nach oben. „Der Besuch war sehr, was soll ich sagen, aufdringlich und schwer von Kapee.“
„Wer war das?“
„Dein Patenkind.“
Hermine grinste. „Der ist noch klein und nicht 'schwer von Kapee', Severus.“
„Du meinst, die Begriffsstutzigkeit lässt mit dem Alter nach?“
„War doch bei Draco auch so.“
Severus zog kurz beide Augenbrauen in die Höhe. „Wenn du das sagst.“
Von gegenüber hörte man Protest. „Hey, ich bin im Zimmer!“
„War doch nur Spaß“, lachte Hermine, bevor sie die Bettdecke vollends zurückwarf und vom Bett hüpfte. Erst da bemerkte, dass sie keine Hose trug. „Huch!“ Zum Glück war sie nicht komplett ausgezogen.
„Deine Kleidung liegt auf dem Stuhl. Poppy war so frei ...“

Während Hermine sich die Hose anzog, bemerkte sie die vielen Dinge, die auf Severus' Nachttisch standen. Neugierig nahm sie eine der Karten in die Hand. Ein Genesungsgruß des Hauses Slytherin. Alle neunzehn Schüler hatten unterschrieben. Severus ließ ihr die Freiheit, auch andere Grußkarten zu lesen. Da stand eine aufgeklappte Karte von Remus. Der Schokofrosch davor gehörte dazu. Besonders staunte Hermine bei einer Karte, die von Sirius und Anne unterzeichnet war. Bei dem Spruch musste sie lachen, bevor sie ihn laut vorlas: „'Keine Sorge, alle Tränke, die man dir einflößt, hat man vorher an Wichteln getestet.'. Das ist typisch er.“
„Ich finde es frech!“
„Unsinn“, widersprach Hermine, „das soll dich aufheitern.“ Sie überflog die anderen Karten. Albus, Minerva, fast das gesamte Kollegium. Eigens gezüchtete Blumen von Pomona waren in einer Vase untergebracht. Eine Genesungskarte mit dem Sternbild des Steinbocks erweckte Hermines Aufmerksamkeit. Aurora und Septina wünschten gute Besserung. „Das ist doch nett, dass alle an dich denken.“
„Es macht den Tisch voll“, nörgelte Severus, obwohl er die freundliche Geste seiner Mitmenschen tatsächlich zu schätzen wusste.
„Vielleicht bringe ich dir nachher auch was Schickes mit.“
„Einen Gefallen kannst du mir tun. Bring Zeitungen mit, drei verschiedene. Ich möchte wissen, was die Presse schreibt. Wie ich gehört habe, sind Lucius, Draco und ich nicht die Einzigen, denen das passiert ist.“
„Mach ich doch glatt“, versicherte sie.
Eine eine von Poppys Schwestern betrat das Krankenzimmer, um die leeren Frühstückstabletts abzuholen. Es war Esther. „Guten Morgen, Miss Granger. Möchten Sie auch etwas frühstücken?“
„Wenn es keine Umstände macht? Wie spät ist es überhaupt?“ Hermine blickte sich um, erspähte aber nirgends eine Uhr.
Die Schwester zog ihre Taschenuhr. „Es ist fast neun.“
Mit weit aufgerissenen Augen wiederholte Hermine. „Fast neun? Herrje, ich muss zur Apotheke!“
Sofort griff sie nach ihren Schuhen, doch bei den Schnürsenkeln verhedderte sie sich und machte versehentlich einen Knoten rein, weshalb Severus gemächlich den Rat gab: „Eile mit Weile! Hektik ist kein guter Beginn für einen Tag.“
Danke ihres Zauberstabes hatte sie den Knoten halbwegs entfernt. „Du hast gut reden! Ich will nicht, dass uns die Kunden wegbleiben, weil die denken, wir öffnen nur, wenn wir Lust dazu haben.“ Mit einem Male wurde sie ruhig. „Moment, ich habe am Samstag ein Schild rausgehängt. 'Wegen familiären Gründen geschlossen.'“
„Müsste es nicht heißen 'Wegen familiärer Gründe geschlossen.'?“, stichelte Severus. Wegen seiner Worte fing er sich eine Grimasse ein, die Hermine extra für ihn schnitt.
„Werden wir jetzt kleinkariert, ja? Ich würde sagen, das ist ein Zeichen der Genesung. Darf ich mal nach deinem Arm sehen?“ Sie war bereits ums Bett gegangen.
„Nur zu.“

Die Schale unter seinem Arm war vor dem Frühstück gewechselt worden, vermutete Hermine, denn dort fanden sich nur wenige Tropfen Wundflüssigkeit an. Vorsichtig hob sie das Tuch. Die Wunde war nur noch halb so groß, keinesfalls mehr so tief wie gestern. Elle und Speiche lagen nicht mehr frei, sondern wurden von neuem Muskelgewebe verdeckt. Um das Loch herum hatten sich überall neue Zellen gebildet. Man konnte die fast weiße Fettschicht sehen, die bei Severus sehr dünn war. Auch Sehnen und Adern hatten sich aus dem Nichts gebildet. Die Haut um die Wunde herum war schneeweiß, weil die Melaninbildung offenbar noch nicht abgeschlossen war.

„Was sagt die Expertin?“, wollte Severus wissen.
„Ich weiß nicht. Tut es denn noch weh?“
„Nach was sieht es denn aus?“
„Nach Schmerzen.“ Vorsichtig legte sie das Tuch wieder über die Wunde. „Es sind nur noch sechs oder sieben Zentimeter. Gestern begann die Wunde knapp unter dem Ellenbogen, jetzt befindet sie sich fast in der Mitte des Unterarms. Ich würde sagen, spätestens übermorgen sollte sie verheilt sein, wenn das Tempo so bleibt.“
„Dann bin ich beruhigt.“
Mit einem Lächeln versprach Hermine: „Ich werde dich zur Mittagszeit besuchen.“
„Du hast genug zu tun.“
„Mag sein, aber meinen Zeitplan gestalte ich selber.“

Sie ging nicht gleich, wie Severus es vermutet hatte. Es war Draco, zu dem sie sich einen Moment lang gesellte. Sie flüsterten. So sehr sich Severus auch anstrengte, er konnte nicht hören, was die beiden sagten. Am Ende lächelten beide, nickten sich zu. Plötzlich kam Hermine nochmals auf ihn zu und gab ihm zum Abschied einen Kuss auf die Wange, als wäre es eine alltägliche Geste.

„Gute Besserung!“ Sie winkte und machte sich auf zum Kamin.
Irgendetwas schien mit seinem Wahrnehmungsvermögen nicht zu stimmen, dachte Severus, denn den Kuss spürte er noch immer, so als würde Hermine noch bei ihm verweilen. Seine Augen fanden die von Draco. Sein Patensohn wagte es, breit zu grinsen und die Augenbrauen auf und ab tanzen zu lassen. „Na warte“, warnte Severus vor und griff mit der gesunden Hand nach der Packung Schokofrosch, die er als rügenden Gruß mit hoher Geschwindigkeit zu ihm hinüberwarf. Aufgrund der Bewegung schmerzte sein linker Arm, doch die Genugtuung kam auf der Stelle. Als Draco die Packung im Flug fing, bewegte er auch seinen verwundeten Arm versehentlich. Beide stöhnten laut auf, sogen vor Schmerz Luft durch die Zähne ein, was Poppy bemerkte, als sie gerade das Krankenzimmer betrat.
„Meine Güte“, sie stemmte ihre Fäuste in die Hüfte, „was ist denn hier los? Ich dachte, die Schmerzen seien erträglich?“ Keiner von beiden verlor ein Wort.

Im Erdgeschoss war man weniger wortkarg. Ginny war aufgestanden und beschwerte sich, dass man sie so lange hat schlafen lassen. Für das Frühstück brauchte sie eine ganze Weile, denn wegen der verletzten Fingerkuppen konnte sie kaum Druck auf die Gabel ausüben.

„Ich kann dich ja füttern.“ Harry meinte es nur gut, aber sein Vorschlag fand keinen Anklang.
„Du kannst es auch lassen. Gib mir lieber von dem Rührei, das muss ich nicht schneiden.“ Während Harry ihr etwas auf den Teller tat, fragte sie Wobbel: „Wie spät ist es?“
„Kurz nach neun, Miss Weasley.“
„Ah, gut! Um zehn ist die theoretische Prüfung in Geschichte der Zauberei.“
Harry runzelte die Stirn. „Du willst die doch nicht machen? Du musst dich ausruhen! Albus hat Draco gestern gesagt, dass er sich wegen der Prüfungen keine Sorgen machen muss. Er kann alle nachholen. Das gilt bestimmt auch für dich.“
„Ich bin aber nicht bettlägerig wie Draco. Die Prüfung bekomme ich schon hin.“
„Ginny“, er reichte ihr den Teller mit Rührei, „du hast eine Menge durchgemacht. Man hat dir Beruhigungsmittel gegeben, hat dich ohne was zu essen eingesperrt und man hat dir gedroht. Du standest unter großem Stress und jetzt willst du dich noch in dem Prüfungsstress aussetzen? Darf ich da ein Machtwort sprechen?“
„Mir geht es gut!“, wollte sie ihm weismachen.
„Ja, das habe ich heute Nacht gesehen, als du einen Albtraum hattest.“
„Natürlich verarbeite ich diese Erlebnisse in meinen Träumen. Das ist völlig normal und darüber hinaus gesund!“
„Du bist ein verdammter Dickkopf, Ginny!“
„Ich bin eine Weasley!“, entgegnete sie mit Stolz.
Harry stöhnte. „Von mir aus, dann mach die Prüfung. Aber wenn es dir zu viel wird, dann versprich mir, dass du zu Madam Pomfrey gehst.“
„Mach dir mal keine Sorgen.“
„Und denk dran, dass Kingsley dich heute noch sprechen möchte.“
„Harry“, stöhnte sie genervt, „ich bin kurz davor, dich 'Mama' zu nennen. Geh die Sache etwas gelassener an.“

Bei dem Gedanken war Harry nicht wohl. Man wusste nicht genau, was die Muggel Ginny gespritzt hatten. Am liebsten wäre es ihm, wenn Madam Pomfrey sie ein oder zwei Tage beobachten würde, um eventuelle Folgeschäden auszuschließen. Mittel mit narkotischer Wirkung gingen oftmals aufs Herz und auf den Kreislauf. Er würde noch vor der Prüfung mit Professor Tofty sprechen, damit der ein Auge auf Ginny werfen könnte. Gedankenverloren griff er zu der Rose aus Marzipan und betrachtete das Wunderwerk seiner stablosen Magie, auch wenn er noch immer nicht wusste, ob Wobbel dahinter steckte.

„Hier, Ginny“, er reichte ihr die Rose, „für dich.“
„Danke! Oh, Marzipan. Ich liebe Marzipan!“
„Weiß ich doch.“

Plötzlich bellte der Hund auf, so dass Ginny und Harry zu ihm hinüberschauten. Nicholas war bei dem Tier und streichelte ihn grob. Der Hund wedelte wie verrückt mit dem Schwanz, bellte nochmals vor Freude. Nicholas machte ihn nach und sagte „Wau!“.

„Na, wenigstens kann er schon mit Tieren reden“, merkte Harry mit einem Schmunzeln an. „Hallo Spatz!“ Der Junge schaute zu ihm rüber. „Komm her, Dr. Doolittle.“ Nicholas kam nicht. Stattdessen erklomm er den Hund, der sich auf den Boden gelegt hatte. Kaum lag der Junge auf dem weichen Rücken, stand Severus' Haustier auf. Harry stutzte. „Ich habe noch nie jemanden auf einem Hund reiten sehen.“
„Es gibt für alles ein erstes Mal.“ Ginny schaute sich um. „Wo ist die Kamera?“

Nachdem einige Fotos geschossen wurden, war es für Ginny Zeit zu gehen. Bevor Harry ihr noch einen guten Ratschlag mit auf den Weg gab, kam sie ihm zuvor. „Ich verspreche, ich gehe zu Madam Pomfrey, wenn es mir nicht gut gehen sollte.“
„Gut, dann wünsche ich viel Glück bei der Prüfung!“
„Ich werde nicht über ein Mies hinauskommen, da mache ich mir nichts vor. Bis später.“

Ginny war weg und Harry müsste auch bald zum Unterricht, der für ihn heute zum Glück erst um zehn begann.

„Wobbel, würde es dir was ausmachen, mit Severus' Hund spazieren zu gehen?“
„Nein, Sir. Das wollte ich sowieso. Den Jungen nehme ich gleich mit an die frische Luft.“
„Perfekt! Und Wobbel ...?“ Der Elf schaute ihn aufmerksam an. „Pass ein bisschen auf Ginny auf, ja?“
„Selbstverständlich, Mr. Potter.“
Harry stand bereits auf und schwang sich seine Tasche um, in der sich die Hausaufgaben der Zweitklässler befanden. Auf dem Weg zur Tür blieb er stehen und fasste sich in die Hosentasche, in der er den Stein der Weisen verstaut hatte. Mit dem roten Gebilde ging er auf Wobbel zu. „Verwahre ihn bitte für mich und kein Wort zu irgendjemandem. Außerdem brauche ich deine Hilfe. Ich möchte ein wenig recherchieren. Könntest du, während ich arbeite, schon mal nach Büchern Ausschau halten? Shibby kann dir dabei helfen. Ich brauche alles, was mit dem Stein der Weisen, mit Nicolas Flamel und diesbezüglich mit Alchemie zu tun hat.“
„Wie Sie wünschen, Sir.“ Als Wobbel den Stein betrachtete, schien er von Unbehagen eingenommen. „Darf ich fragen, was Sie damit vorhaben?“
Harry lächelte. „Es geht um ein Geschenk, das ich so schnell wie möglich fertig haben möchte.“
„Sir? Sie spielen doch nicht mit dem Gedanken, Mr. Flamel nachzueifern?“
„In gewisser Hinsicht schon, aber es wird eine einmalige Sache sein, Wobbel. Kein Grund zur Sorge. Ich habe nicht vor, mein Leben um hunderte von Jahren zu verlängern.“
„Gut!“ Der Elf war sichtlich erleichtert. „Es wäre nämlich schade, wenn Sie nicht eines Tages zur Ruhe kämen, nur weil Sie dem Irrglauben erlegen sind, stets für das Wohl der Gemeinschaft sorgen zu müssen.“

Diese Worte wiederholte Harry mehrmals in Gedanken. Er wurde das Gefühl nicht los, dass Wobbel eine Andeutung auf Albus machte.

„Mach dir bitte keine Sorgen, Wobbel. Ich habe nicht vor, eigennützig zu handeln.“ Er schenkte seinem Freund ein Lächeln, bevor er die Tür öffnete und sich auf den Weg zur Klasse machte.

Harry traf Professor Tofty, bei dem auch er damals seine schriftliche Prüfung in Geschichte der Zauberei abgelegt hatte. Man unterhielt sich nett. Bei seinem Wunsch, Professor Tofty möge Ginny im Auge behalten, war er weniger subtil vorgegangen als er gehofft hatte. Der Prüfer wollte seiner Bitte trotzdem nachkommen. Vor der großen Halle warteten bereits die Prüflinge. Ginny wurde stürmisch von ihren Mitschülern begrüßt. Es war keine Zeit, um alles zu erzählen. Professor Tofty öffnete die Türen. Drinnen befanden sich Lehrer, die während der Prüfung darauf achten sollten, dass niemand schummelte. Jeder setzte sich still, kramte dann Feder und Tintenfass aus der Tasche.

Auch bei Harry ging die Arbeit los. Seine Schüler waren ausgeglichen und fröhlich. Er ließ sie noch einen Moment flüstern und lachen, während er die Hausaufgaben aus seiner Tasche zog und sie verteilte. Bei einem Schüler hielt er inne und blätterte das Heft auf. Mit einem Zeigefinger deutete er auf schwarze Striche, die überall auf dem Text verteilt waren und definitiv keine Buchstaben darstellten.

„Was ist das?“, wollte Harry wissen.
Der Schüler schaute ehrfürchtige zu ihm hinauf und erklärte schüchtern: „Meine Eule hatte Tinte an den Füßen und ist über meine Hausaufgaben gelaufen.“
Harry stellte sich das bildlich vor und begann zu lachen. „Danke für die Erklärung. Ich habe schon gedacht, Sie wollten mir kodierte Nachrichten übermitteln.“ An die Klasse gewandt sagte er: „Schaut euch die Fehler in den Hausaufgaben an. Wir gehen sie heute nach und nach durch.“

Die Schüler begannen zu lesen. Nicht weit entfernt von Harrys Klassenzimmer wurden den Prüflingen gerade ihre Aufgaben überreicht – mit dem Text nach unten.

„So, meine Damen und Herren“, begann Professor Tofty, „sobald ich das Zeichen gebe, drehen Sie das Pergament um und beginnen mit der Beantwortung der Fragen.“

Das Zeichen war ein lauter Gongschlag. Das Rascheln unzähliger Blätter, die gewendet wurden, ertönte durch den Saal. Es kehrte Ruhe ein. Hier und da stöhnte jemand, bis nur noch das kratzende Geräusch schreibender Federn zu hören war.

'Verdammt', dachte Ginny, 'die Koboldaufstände.' Sie wusste alle Hintergründe: die Daten, die Ursachen, die Kämpfe, die Orte. Das Problem war nur, dass man nichts von den Koboldaufständen erzählen konnte, wenn man sich die Namen der Kobolde nicht merken konnte. War jetzt Eargit der Hässliche der Abgeordnete bei der ersten Versammlung des Magischen Rats oder war das Alguff der Abstoßende? Ginny seufzte und nahm letztendlich einen Kinderabzählreim zu Hilfe. Einer von beiden war es. Die Chance von fünfzig zu fünfzig war größer als bei einem x-beliebigen Gewinnspiel. Ginny schrieb und schrieb. Wenigstens die Daten sollten alle chronologisch und korrekt sein.

Nach einer Viertelstunde kribbelten ihre Finger, nach einer weiteren Viertelstunde sogen sich die Pflaster an Daumen und Zeigefinger mit Blut voll. Der leichte Druck, den sie auf die Feder ausübte, reichte aus, um die Wunden rund ums Nagelbett wieder zu öffnen. Plötzlich stand jemand bei ihr und nahm ihr das Tageslicht. Professor Tofty betrachtete sie. Mit mildem Gesichtsausdruck nahm er ihr die Feder aus der Hand und legte sie auf den Tisch.

„Sie gehen besser zu Madam Pomfrey“, empfahl er. „Ich werde vermerken, dass Sie aufgrund Ihrer physischen Einschränkungen die Prüfungen zu einem späteren Zeitpunkt nachholen werden.“ Professor Tofty hatte sich kurzgehalten, um die anderen Schüler nicht unnötig abzulenken. Resignierend packte Ginny ihre Sachen ein und verließ die große Halle, um den Krankenflügel aufzusuchen.

Draco blickte sie fragend an, so dass Ginny ihre rechte Hand in die Höhe hielt. Die blutigen Pflaster zeigten den Grund ihres Besuchs. „Wie es aussieht“, begann sie entmutigt, „werden wir beide die Prüfungen zusammen nachholen. Man hat mich eben rausgeschmissen.“
„Ich glaube kaum“, hörte man Severus Stimme von Gegenüber, „dass man die Fürsorge eines Prüfers als 'Rausschmiss' bezeichnen kann.“
„Sie haben Recht, Professor Snape. Meine Äußerung war unpassend. Trotzdem hätte ich gern mit allen anderen zusammen ... Ach, ist schon gut.“
Mit der gesunden Hand zeigte Draco auf den Stuhl neben seinem Bett. „Setz dich doch, Ginny. Kannst mir etwas Gesellschaft leisten.“
Sie verstand, dass ihm langweilig war und wollte für Abwechslung sorgen. „Wie geht’s dem Arm?“
„Heute schon viel besser. Ich hoffe, dass morgen nichts mehr übrig ist.“
Während sie auf Poppy wartete, erzählte sie: „Ich habe mich vorhin mit unserem Team unterhalten. Sie haben Angst, dass sie mit dem Ausfall von uns beiden das letzte Spiel verlieren werden.“
„Werden sie nicht!“, widersprach Draco energisch. „Unsere beiden Ersatzspieler sind genauso klasse. Unser Team hat auch ohne uns die gleichen Chancen. Das musst du ihnen klarmachen! Wenn sie zweifeln, dann ist das ein Schritt in Richtung Niederlage.“
Severus hörte nur einzelne Wörter des Gesprächs und fragte unverhofft: „Über was redet ihr da?“
„Über Quidditch.“ Dracos Antwort löste ein brummendes Geräusch bei Severus aus. Er unterließ es tunlichst, sich an dem Gespräch zu beteiligen, obwohl ihm die Decke auf den Kopf fiel.
Von der kurzen Unterbrechung ließen die beiden sich nicht beirren. Draco versicherte Ginny: „Wenn Slytherin das letzte Spiel gegen Gryffindor gewinnt, dann ist der Pokal unser!“
„Denk dran, dass ich in Gryffindor bin“, erinnerte sie ihn.
„Was denn? Wirst du jetzt parteiisch, wo du die ganze Zeit über ...“
Sie lachte. „Nein, werde ich nicht. Es wäre mal was anderes, wenn diese Mannschaft gewinnt. Ich wünsche es mir sogar. Was wäre ein besserer Beweis für den Zusammenhalt aller vier Häuser als unser Team?“
„Das wäre einzigartig, wenn wir gewinnen würden. Meinst du, das würde in die Geschichte einfließen?“
Ginny nickte. „In die Geschichte Hogwarts' ganz bestimmt.“
Nachdenklich nickte Draco, als er plötzlich eine Idee hatte. „Ginny, du musst das unserem Team genau so erklären! Als historisches Ereignis. Mach ihnen klar, dass es nicht nur ein normaler Häusersieg wäre, sondern etwas Einmaliges, etwas Besonderes. Die Bedeutung hinter einem Sieg ist viel größer, als nur einen Pokal in den Händen zu halten. Motiviere sie! Ich kann hier leider nicht weg und ich befürchte, Madam Pomfrey würde nicht das ganze Team reinlassen, damit wir eine Besprechung abhalten können.“

Kaum hatte Draco von ihr gesprochen, kam sie auch schon. Madam Pomfrey steuerte mit Tupfern und einem Fläschchen in der Hand auf Ginny zu, um ihre Finger zu begutachten. Hinter ihr trat Remus ein, der breit grinsend stehen blieb, um die anwesenden Menschen zu betrachten. Er grüßte Draco und auch Ginny, ging aber zu Severus hinüber.

„Guten Morgen, Severus.“ Skeptisch blickte Severus zu seinem Kollegen, der neben dem Bett Platz nahm. „Wie geht’s?“
„Was wollen Sie hier?“
Remus schnalzte mit der Zunge. „Hatten wir das nicht schon hinter uns?“
„Was?“
„Das Siezen meine ich.“
Severus rollte mit den Augen, doch Remus hatte Recht. „Das war ein Versehen.“
„Und das können wir ruhig beibehalten.“ Noch immer über das ganze Gesicht strahlend überflog Remus mit den Augen den voll bepackten Nachttisch und vermisste etwas „Ah, hat der Schokofrosch geschmeckt?“ Bevor Severus in die Verlegenheit kam, erklären zu müssen, warum Draco den verputzt hatte, nickte er einfach. Ungefragt griff Remus zu der Karte von Sirius und las den Text, lachte dann amüsiert, was Severus nicht kommentierte. „Wie fühlst du dich heute?“
„Warum so aufdringlich?“
Mit einer Hand zeigte Remus auf sich selbst. „Ich? Ich bin doch nicht aufdringlich.“
„Was verschafft mir die ...?“ Severus verstummte, so dass Remus den Rest des Satzes übernahm.
„Die Ehre?“
„Nein“, widersprach Severus nur halbherzig grantig, „mir ist nur so schnell kein anderer Begriff eingefallen.“ Er betrachtete das Gesicht seines Besuchs. Irgendetwas stimmte nicht und es machte ihn rasend, den Grund für Remus' gute Laune nicht zu kennen, also fragte er: „Was grinst du die ganze Zeit wie ein Honigkuchenpferd?“
Das Grinsen wurde – was Severus nicht für möglich gehalten hatte – noch breiter. „Ich weiß ja nicht, ob du schon davon gehört hast, aber gestern ... Sirius war bei mir und hat mir die frohe Botschaft übermittelt ...“
„Meine Güte, komm endlich auf den Punkt!“
„Greyback!“

Bei dem Namen lief selbst Severus ein Schauer über den Rücken. Greyback war gleich nach Voldemort der finsterste Geselle, dem er jemals begegnet war. Eigentlich war Greyback noch schlimmer, denn wo Voldemort auf einen gewissen Stil geachtet hatte, zumindest aber vertraut mit Körperhygiene gewesen war, war der Werwolf schon in seiner menschlichen Gestalt abstoßend. Der Mann war ein Koloss, massig und groß. Was Severus besonders im Gedächtnis geblieben war: er stank. Greyback stank Meilen gegen den Wind nach Blut und Schweiß. Jeder frei lebende Wolf war ein saubereres Tier gewesen als dieser Mann.

„Was ist mit Greyback?“
Remus hatte es doch geschafft, Severus' Neugierde zu wecken. „Er ist geschnappt worden!“
„Nein, wirklich! Das ist fantastisch!“ Diese Nachricht war für Severus ein absolutes Highlight während des trostlosen Aufenthalts im Krankenhausflügel. „Na los, erzähl schon!“

Der Aufforderung kam Remus gern nach. Er erzählte und erzählte, nahm dabei seine Hände zu Hilfe. Mit Schadenfreude in den Augen hörte Severus aufmerksam zu, als die Stelle mit Seidenschnabel kam. Er bemerkte dabei nicht einmal, dass seine Mundwinkel sich von ganz allein nach oben bewegten und auch nicht, dass Ginny und Poppy längst wieder gegangen waren. Jedes einzelne Wort von Remus, jede Geste zog das Band der Freundschaft nur noch fester. Severus war froh, diese Nachricht nicht erst aus den Zeitungen zu erfahren, sondern von einem – das gestand er sich nun ein – Freund.

„So, ich muss dann mal wieder.“ Remus blickte auf seine Uhr. „Meine Freistunde ist gleich vorbei.“
„Ich danke vielmals für die gute Nachricht, Remus.“
Die Verwendung des Vornamens zauberte ein zufriedenes Lächeln auf Remus' Gesicht. „Ich hoffe, du bist bald wieder auf den Beinen.“ Remus erhob sich und griff in seine Tasche. Er legte eine weitere Schokofroschpackung auf Severus' Nachttisch. „Man gönnt sich ja sonst nichts. Bis dann.“

Obwohl Severus Bitterschokolade vorzog, hatte er Appetit auf den Schokofrosch. Es war möglich, dass die Geschichte über Greybacks Festnahme ihn versöhnlich stimmte. Oder dass er das Geschenk eines Freundes mit entsprechendem Respekt behandelt wollte, anstatt es durch das Zimmer zu werfen. Mit der rechten Hand fummelte er den Verschluss der Packung auseinander und klappte den Deckel auf. Der Frosch sprang, bevor Severus ihn greifen konnte.

„Verdammt!“
„Was ist denn los?“, fragte Draco verwundert, sah dann aber noch rechtzeitig den Schokofrosch, wie der von Severus' Bett hüpfte und unbeweglich auf dem Boden liegen blieb. Meist bekam die verzauberte Schokolade nur einen guten Sprung hin.
Draco wollte beschwichtigen. „Ich kauf dir einen neuen, wenn ich hier raus bin.“ Ein missgelauntes Brummen war die Antwort, doch Draco wusste abzulenken. „Wen hast du?“
„Was?“
„Die berühmten Hexen und Zauberer! Wen hast du?“
Mit seinen Fingern fischte Severus die Karte vom Boden der Packung heraus und drehte sie um. Die Karte übte eine hypnotische Wirkung auf ihn aus. Er konnte sein Blick nicht von ihr abwenden. „Die Nummer achtzehn.“
Draco schnaufte. „Als ob ich alle der Karten im Kopf hätte. Wer ist die achtzehn?“
„Hermine.“ Weil Draco zu ihm hinüberstarrte, legte er die Karte auf seinen Tisch. „Hast du es schon mal gespielt?“
„Was? Das Kartenspiel? Nein.“
„Das sollten wir mal in Angriff nehmen. Es ist in gewisser Weise unterhaltsam. Kommt natürlich drauf an, mit wem man spielt.“ Die Erinnerung an sein erstes Spiel kam zurück. Das war der Tag, an dem Harry sich auf den Zauberstab gesetzt hatte.
„In dem Schokofrosch, den du mir vorhin rübergeworfen hast, war die Karte vom Minister.“

Besagter Minister war nicht nur in Form einer Schokofroschkarte in Hogwarts anwesend, sondern höchst persönlich. Nach einer Unterredung mit dem Direktor suchte er seinen Schwiegersohn in spe auf. Er fing Harry noch vor dem Mittagessen in der großen Halle ab.

„Harry, auf ein Wort?“ Arthur deutete mit einer Hand auf den Schulhof, der sich langsam leerte, weil den Schülern der Magen knurrte. Zusammen steuerten sie eine der steinernen Bänke an, auf der sie Platz nahmen. Arthur betrachtete den Hof, atmete tief ein und aus. Die unbekümmerten Jahre der eigenen Schulzeit spiegelte sich in den Augen des Ministers wider. Plötzlich zeigte er mit dem Finger in eine Richtung. „Da hinten in der Ecke“, Arthur ließ die Hand in seinen Schoß fallen, „da habe ich Molly das erste Mal geküsst.“ Harry musste lächeln, als er sich das vorstellte und Arthur tat es ihm gleich. „Das war pure Magie, Harry. Mit nur sechzehn Jahren zu wissen, dass man den Menschen im Arm hält, mit dem man sein Leben verbringen würde.“ Harry wusste nicht, auf was Arthur hinaus wollte, doch er unterbrach ihn nicht, sondern hörte aufmerksam zu. „Ginny und du ... Ihr hattet einen schweren Start, aber am Ende konnte euch nichts aufhalten.“ Arthur drehte sich zu Harry und legte eine Hand auf seine Schulter. „Ich möchte dir danken, Harry.“
„Wofür?“
„Dass du es in die Hand genommen hast, dass du sie befreit hast.“
„Dafür muss mir niemand danken, Arthur.“
„Aber ich möchte! Du kannst dir gar nicht vorstellen, welche Ängste ich ausgestanden habe. Ich war bereit, alles wegzuwerfen, für das ich gearbeitet habe, um meine Tochter zu retten. Nichts war wichtiger. Mir gingen so viele Pläne durch den Kopf. Ich habe mir aus der Mysteriumsabteilung sogar schon einen Zeitumkehrer besorgt, den ich dir gegeben hätte, wenn irgendetwas schiefgelaufen wäre.“

Mit einem Male durchschaute Harry eine Sache, hinter deren Lösung er lange Zeit nicht gekommen war. Aberdeen. Sein zweites Ich. Die Warnung vor dem Feuer im Hotel.

„Arthur?“ Diesmal legte Harry eine Hand auf die Schulter seines Begleiters. „Ich bin davon überzeugt, dass du mir schon einmal einen Zeitumkehrer in die Hand gedrückt hast.“
„Hab ich?“ Von der Nachricht war Arthur überrascht, aber auch amüsiert. „Wann war das?“
„Zu einem Zeitpunkt, den Hermine, Sirius und Severus nicht überlebt haben.“
„Oh“, machte der Minister, der sich nur für einen kurzen Augenblick vorstellte, wie das Leben ohne diese drei Personen verlaufen wäre. Unerwartet lachte Arthur auf. „Da bin ich aber froh, dass ich mich so gut auf mich verlassen kann.“
„Ich habe mich schon die ganze Zeit gefragt, wie mein zukünftiges Ich an diesen Zeitumkehrer gekommen ist. Fragen konnte ich niemanden, weil es verboten ist, sich in die Vergangenheit einzumischen.“
„Ja, das ist es.“
„Aber wer sollte das schon überprüfen?“, winkte Harry ab.
„Die Mysteriumsabteilung.“
Arthur gab die Antwort so selbstsicher und schnell, dass Harry sie nicht anzweifeln wollte, doch er stutzte. „Die prüfen so was?“
„Natürlich! Einige Mitarbeiter der Mysteriumsabteilung sind vor jeglichen Änderungen der Zeit geschützt. Ändert jemand den Ablauf, dann geht das nicht an ihnen vorbei. Nach eigenem Ermessen entscheiden sie, ob die veränderte Zeitlinie beibehalten wird oder ob der Zeitreisende eine Strafe bekommen soll. Ich nehme an, man hat mich nicht angeschwärzt, weil ich Zaubereiminister bin.“

Sofort musste Harry an Sirius denken und wie er ihn in der dritten Klasse befreit hatten. Damals glaubte er, außer Hermine, Albus und ihm würde niemand wissen, dass sie das nur mit Hilfe eines Zeitumkehrers bewerkstelligt hatten, doch offenbar gab es eine Handvoll Menschen in der Mysteriumsabteilung, die davon Kenntnis hatte. Möglicherweise hatte man bei ihm auch ein Auge zugedrückt, weil er Harry Potter war. Das Schicksal eines jeden war mit dem Schicksal aller anderen Menschen verknüpft, so wie Harrys Schicksal mit dem von Voldemort verbunden war.

„Warum ist eigentlich nie jemand zurückgereist und hat Tom Riddle unschädlich gemacht?“
Arthur zog die Augenbrauen hoch. „Ja, das wäre einfach gewesen, nicht wahr? Solche Überlegungen gab es schon häufig. Zurückreisen und sich der 'unangenehmen Sache entledigen'.“ Arthur seufzte. „Es ist eine Sache, den Tod von Menschen mit einer Zeitreise zu verhindern, aber eine ganz andere, wenn man jemanden töten will. Die Herren und Damen von der Mysteriumsabteilung haben ein äußerst ausgeprägtes Rechtsempfinden, das nicht jeder nachvollziehen kann. Bis zu einem gewissen Zeitpunkt hat sich Riddle nichts zu schulden kommen lassen und einen Unschuldigen dürfte man nicht bestrafen, sagten sie. Später, als er seinen ersten Mord begangen hat, war er zwar schuldig, aber bereits viel zu stark. Du warst die einzige Möglichkeit, Riddle zu besiegen.“
„Dann hätte ich doch zurückreisen können und ...“
„Harry, bitte“, Arthur fasste sich an die Schläfen, „ich bekomme schon immer bei Gesprächen mit GeHa Kopfschmerzen, wenn wir das Thema 'Zeitreise' behandeln. Fang du bitte nicht auch noch an.“
„Wer ist GeHa?“
„Ein Mitarbeiter der Mysteriumsabteilung. Ginny hat ihn auch kennen gelernt, als sie ihm die Prophezeiung von Trelawney mitteilte. GeHa kann die Umstände einer Änderung der Zeitlinie wunderbar erklären. Für einen Moment war ich sogar erleuchtet, als er detailliert darlegte, warum man Voldemort nicht mit Hilfe einer Zeitreise vernichten könnte. Ich habe es für einen Augenblick sogar verstanden, wirklich verstanden, aber dieser Moment ist schon lange vorübergezogen. Ich könnte nicht mal mehr die Hälfte von seinen Argumenten wiedergeben. Das ist ein viel zu kompliziertes und komplexes Thema, Harry.“ Arthur blickte in den Himmel, in dem die abgeregneten Wolken aufrissen. „Die Sonne kommt raus.“ Auch Harry hob den Kopf. Strahlenbüschel schossen durch die Lücken der riesigen Wolke hinab auf die Erde. Das normale Lichtphänomen der Atmosphäre wirkte wie einer der mächtigsten und atemberaubendsten Zauber, die es gab. „Ich bin so stolz“, Arthur blickte ihm in die Augen, „dass du mein Schwiegersohn wirst.“
„Und ich bin stolz, in eine so wunderbare Familie einheiraten zu dürfen.“ Harry hatte kaum etwas in seinem Leben ernster gemeint als das. Da der Minister gerade höchst persönlich hier war, wollte Harry natürlich einige Dinge in Erfahrung bringen. „Was hat man jetzt eigentlich mit den Muggeln gemacht, die Hilfe benötigen?“
„Sie werden von Heilern betreut, wenn das notwendig ist und sie bekommen direkte Unterstützung vom Ministerium. Da ist übrigens eine Dame dabei, die dich gern wiedersehen würde. Miss Eleanor Monaghan. Sie möchte dir wohl danken, genauso wie ein Mr. Andersen.“
Harry nickte. Mit den beiden war er gut ausgekommen. „Sag mir, wo ich sie finden kann und ich werde sie besuchen.“
„Das werde ich“, versicherte Arthur.
Einen Moment zögerte Harry, weil er eigentlich nichts mehr damit zu tun haben wollte, aber es interessierte ihn zu sehr, als dass er es unter den Tisch fallen lassen könnte. „Was ist mit Hopkins?“
Arthur spitzte die Lippen, was ein Zeichen dafür war, dass dieser Fall ihm extrem viel Kopfzerbrechen bereitete. „Die Untersuchungen laufen noch. Er ist vorerst im Ministerium und wird von Heilern behandelt. Wie es aussieht, litt er schon als junger Mann unter dieser Erkrankung. Der Tumor ist aber nicht bösartig.“
Harry schnaufte ungläubig. „Aber er hat ihn bösartig gemacht.“
„Da hast du Recht. Die Legilimentik-Untersuchung hat bisher ergeben, dass Hopkins zu dem Zeitpunkt, in dem der Tumor bei ihm eine Paranoia ausgelöst hat, zufällig auf den geschichtlichen Hintergrund seiner Familie aufmerksam geworden ist – auf den Hexenjäger Matthew Hopkins. Das hat Schuld- und Angstgefühle ausgelöst. Die Hänseleien seiner Mitschüler und die zeitgleich auftretenden Kopfschmerzen haben bei ihm den Wahn aufleben lassen, eine Hexe wollte sich an ihm für die Taten seines Vorfahren rächen. Mal sehen, ob unsere Leute die gesamte Hintergrundgeschichte von Hopkins rekonstruieren können. Er sprach von einem Gemälde seines Vorfahren, das mit ihm gesprochen haben soll.“ Harry horchte aufmerksam zu. „Das Gruselige ist, dass die Person auf dem Gemälde in der Erinnerung von Hopkins tatsächlich spricht. Die Lippen bewegen sich! Die Heiler sagen aber, es könnte sich nur um eine sehr lebendige Halluzination handeln. Man sieht per Legilimentik nur das, was derjenige selbst gesehen hat und wenn das Gehirn ihm etwas vorgegaukelt hat, das es nicht gibt ... Das ist der Grund, warum es so gefährlich ist, in die Gedanken einer geistig gestörten Person einzudringen. Die Heiler könnten dabei selbst Schaden nehmen.“
„Hat man das Gemälde schon untersucht?“
„Wir haben es noch nicht gefunden. Es hing in dem Raum, der laut eurer Aussagen von Alejandro Abello gesprengt wurde. Es könnte zerstört sein. Wir suchen nach möglichen Überresten.“ Arthur klopfte ihm zwei Mal auf den Rücken. „Ich muss langsam los. Es wartet eine Menge Arbeit auf mich. Außerdem habe ich einen Termin mit dem anderen Minister.“

Die beiden liefen gemütlich über den Schulhof zurück zum Eingangsbereich, wo Arthur sich von Harry verabschiedete. Mit den ganzen Informationen beschäftigte sich Harry allein. Er wollte Ginny mit seinen Überlegungen nicht belasten, ihr auch nichts von Hopkins erzählen. Sie war noch lange nicht über das hinweg, was sie erlebt hatte. Ein langer Weg stand bevor, um die Ängste zu bewältigen, die eine Entführung mit sich brachten. Ginny zeigte sich momentan ausschließlich von ihrer starken Seite, aber das war nur Fassade. Harry kannte sie gut genug. Er hatte während des Krieges eine Menge über posttraumatische Belastungsstörungen erfahren. Albträume waren nur der Anfang. Schlafstörungen könnten folgen sowie Depressionen, Schreckhaftigkeit oder der Verlust jeglicher Interessen. Sollte Ginny von ihren Erlebnissen eingeholt werden, wäre Harry zur Stelle, würde ihr unter die Arme greifen und sie wieder aufbauen.

Am zweiten Tag von Severus' Krankenhausaufenthalt wuchs Hermine die Arbeit in der Apotheke bereits über den Kopf. Ihr gestriges Gespräch mit Draco ließ auf Abhilfe hoffen. Durch Susan, die sich neben ihrem Beruf im Ministerium auch um Dracos geschäftliche Belange kümmerte, bekam Hermine die Adresse einer jungen Frau, die Arbeit suchte. Sie kontaktierte sie über den Kamin und machte einen Termin für abends.

Bis zum Abend war es noch eine lange Zeit. Es waren eine Menge Eulen gekommen, die schriftliche Bestellungen brachten, aber um die wollte sie sich später kümmern. Erst einmal musste sie das Geschäft öffnen – eine Stunde zu spät, weil sie mit dem Brauen im Rückstand war. Der erste Kunde bemerkte sie im Vorbeigehen und steuerte bereits die Tür an.

„Guten Morgen, Mr. Callidita“, grüßte Hermine.
„Guten Morgen, Miss Granger. Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes geschehen? Ich habe am Samstag das Schild gelesen.“
„Er ist außer Lebensgefahr. Das sah vorgestern noch ganz anders aus.“ Sie marschierte schnurstracks hinter die Theke. „Was kann ich für Sie tun? Wieder Stachelschweinpastillen für den Herrn Papa?“
Der Kunde lächelte breit. „Ganz genau. Und zusätzlich eine Salbe gegen Glieder- und Gelenkschmerzen.“
„Auch für Ihren Vater?“
Mr. Callidita nickte. „Es geht ihm nicht besonders.“ Während Hermine die Ware in ein Gefäß füllte, erzählte ihr Kunde: „Wir haben vor einiger Zeit mit Professor Dumbledore gesprochen. Wir besuchen demnächst das Gemälde unseres Vorfahren. Es wäre möglich, dass Corvinus' Portrait unserer Familie zugeführt wird, weil es sich nicht um ein Direktorenportrait handelt.“
„Das ist großartig! Ich freue mich für Sie. Grüßen Sie Corvinus doch bitte von mir.“
„Wird er sich denn an Sie erinnern?“
Hermine nickte. „Ich denke schon. Wir haben immerhin eine Weile zusammen gewohnt.“
„Zusammen gewohnt?“
„Na ja“, Hermine lachte, „er hing bei mir im Wohnzimmer.“

Der Vormittag verlief zum Glück ruhig. Hermine ging die Bestellungen durch. Nichts davon hatte sie vorrätig. Sie würde die ganze Nacht mit dem Brauen beschäftigt sein. Gegen Mittag schloss sie die Apotheke. Für Severus kaufte sie wieder drei verschiedene Zeitungen. Alle sprachen von dem Mysterium, das die Todesser heimgesucht hatte. Wie es aussah, hatte Arthur eine Pressemitteilung an die Medien geschickt. Ein unglücklicher Umstand hätte dafür gesorgt, dass das Mal der Todesser brennen würde. Eine Zeitschrift wagte zu spekulieren, dass möglicherweise Voldemort doch nicht tot wäre. Natürlich konnte nur der Tagesprophet so einen Unsinn verbreiten. Die anderen beiden Zeitungen – die Muggelpost und die Morgeneule – waren zurückhaltender, stellten dennoch ihre Theorien auf. Eine beinhaltete, dass Harry Potter mit dem Vorfall zu tun haben könnte. Es war kein Geheimnis, dass sich sein Zauberstab dem von Voldemort ähnelte – einen identischen Kern aufwies. In der Muggelpost wurde der Vorfall genauer beschrieben. Ein Blick auf das Ende des Artikels brachte Aufklärung. Luna hatte ihn geschrieben. Wo sie die Zeit dafür hergenommen hatte war Hermine ein Rätsel.

Ihr abendlicher Besuch bei Severus brachte die Erkenntnis, dass Draco viel früher fit war als sein Patenonkel. Die Wunde war bei dem Blonden so gut verheilt, dass ein leichtes Verband ausreichte, damit die winzige, noch offene Stelle mit einer Salbe heilen würde. Bei Severus würde es länger dauern. Noch drei Tage. Innerlich seufzte Hermine, aber sie freute sich, Severus wenigstens am Wochenende wieder wohlauf zu wissen. Von Draco wusste sie, dass auch Lucius noch länger mit seiner Wunde zu kämpfen haben würde.

Später am Abend bekam Hermine Besuch. Es war die junge Frau, die Susan ihr vermittelt hatte. Susan hatte gebeten, die Bewerberin mit Samthandschuhen anzufassen. Während des Krieges hätte sie ein scheußliches Einzelschicksal durchstehen müssen.

„Miss Granger?“ Die blauen Augen der jungen Frau strahlten eisige Kälte aus, doch trotzdem erkannte Hermine sie. Eine ehemalige Mitschülerin.
Sie ergriff die Hand ihres Gastes. „Mrs. Greengrass?“
„Nein, Miss“, verbesserte sie höflich, wenn auch verbissen.
„Kommen Sie doch bitte rein.“

Die Küche sollte für gemütliche Atmosphäre sorgen, doch die junge Frau wies angebotene Getränke und Knabbereien zurück. Hermine ließ sich davon nicht stören, nahm sich selbst einen Tee.

„Wir kennen uns aus der Schule“, stellte Hermine als Tatsache fest. Bei den ZAG-Prüfungen wurde Daphne wegen des Nachnamens direkt nach Hermine aufgerufen.
„'Kennen' wäre ein wenig übertrieben.“
Über diese ablehnende Haltung war Hermine verwundert. Immerhin war es Miss Greengrass, die einen Job wollte. „Was nicht ist, kann ja noch werden.“ Hermine lächelte, doch ihr Gegenüber blieb ernst, so dass Hermines gute Laune gedämpft wurde. Verlegen blätterte sie in den Unterlagen, die Susan ihr geschickt hatte. „Sie haben noch nie gearbeitet?“
„Ich hatte es nie nötig.“
„Warum wollen Sie jetzt arbeiten?“
„Von dem Geld meines Vaters will ich nicht leben.“
„Ist er tot?“ Hermine biss sich auf die Zunge. Das waren – zumindest in der Muggelwelt – Fragen, die nichts bei einem Vorstellungsgespräch zu suchen hatten.
„Er ist vor knapp zwei Jahren inhaftiert worden.“
Hermine nahm sich fest vor, nichts Persönliches mehr zu fragen, auch wenn diese Antwort sie neugierig gemacht hatte. „Ich suche jemanden für den Verkaufsraum, der auch die Buchführung übernimmt. Inwiefern würden Sie sich das zutrauen?“
„Ich bin sehr gut im Kopfrechnen, kann gewissenhaft mit Geld umgehen. Wenn Sie mir erklären, wo welche Produkte stehen, werde ich keine Probleme haben, diese Dinge auch an den Mann zu bringen. Wie Sie meinen ZAGs entnehmen können, hatte ich in Zaubertränken immer ein Ohnegleichen. Ich weiß also, was ich da verkaufe.“
Hermine nickte zufrieden, studierte nochmals das Pergament in ihren Händen. „Sie haben keine Ausbildung?“ Miss Greengrass schüttelte den Kopf. „Aber Sie haben angegeben, dass Sie für buchhalterische Aufgaben geeignet sind.“
„Meine Mutter hat früher die Finanzen unserer Familie verwaltet. Nach ihrem Tod“, ihre Augen wurden starr, als müsste sie sich zwingen, sich unter Kontrolle zu halten, „wurde ich gezwungen, ihre Rolle einzunehmen und zwar ausnahmslos.“

Irgendetwas an dieser Aussage löste großes Unbehagen bei Hermine aus. Die Worte „gezwungen“ und „ausnahmslos“ hatten einen bitteren Beigeschmack, besonders wenn die Tatsache mit einbezogen wurde, dass Mr. Greengrass wegen eines Vergehens in Askaban hockte. Hermine hoffte, dass ihr Bauchgefühl sie täuschen würde. Sie blickte auf. Die stechend blauen Augen, vor allem aber der gelassene Blick von ihrem Gegenüber machten ihr klar, dass sie mit ihrer Ahnung richtig lag.

„Das heißt ...“ Hermine schluckte.
„Das heißt“, wiederholte der Gast, „dass ich Haushaltsbücher führte, in denen mehr Galleonen verzeichnet waren als sie in einem mittelständischen Unternehmen fließen. Einnahmen, Ausgaben, Bilanzen. Ich bin mit allem bestens vertraut.“
„Dann würde ich sagen 'Willkommen an Bord!'. Wir machen einen Vertrag für ein halbes Jahr. Später werden wir sehen, ob wir beide zufrieden sind und ob wir was Festes daraus machen möchten.“
„Das ist akzeptabel.“

Daphne war etwas zu förmlich, dachte Hermine. Nicht ein einziges Mal hatte die junge Frau gelächelt. Die Zukunft würde zeigen, wie die Kunden auf die Verkäuferin reagierten.

„Wir brauen hier auch den Wolfsbanntrank, was natürlich bedeutet, dass wir mit Menschen zu tun haben, die von diesem Fluch betroffen sind. Ich möchte, dass diese Damen und Herren genauso freundlich behandelt werden wie alle anderen auch.“
„Und darauf machen Sie mich extra aufmerksam, weil ich in der Schule hier und da abfällige Bemerkungen über Mischwesen und Personen gemacht habe, die nicht reinblütig waren?“
Über diese Frage war Hermine erstaunt, dennoch behielt sie die Ruhe und antwortete ehrlich: „Ja, genau deshalb.“
Das erste Lächeln. Miss Greengrass schätzte Ehrlichkeit. „Keine Sorge, Miss Granger. Ich habe erfahren, dass Reinblütigkeit nichts Erstrebenswertes ist, genauso wenig wie alte Ansichten, die auf Vorurteilen beruhen.“
„Da wir das geklärt haben: Wann können Sie anfangen?“, wollte Hermine noch wissen.
„Morgen früh, wenn Sie den heutigen Abend damit verbringen würden, mir den Verkaufsraum und die Produkte zu zeigen.“

Den Vorschlag nahm Hermine herzlich gern an. Die junge Frau besaß eine außergewöhnlich gute Auffassungsgabe. Hermine musste nie etwas zweimal erklären. Wenn Daphne Fragen hatte, stellte sie diese sofort. Mit ihr, das wusste Hermine, würde der Verkauf ganz von allein gehen.

„Ach ja, eine Sache noch“, druckste Hermine herum. „Ab dem ersten Juli werde ich einen Geschäftspartner haben. Er wird hier vorher schon ein- und ausgehen. Es ist ...“
„Professor Snape, ja. Draco hat mir davon erzählt.“
„Kennen Sie Draco eigentlich gut?“
Daphne schüttelte den Kopf. „Eher flüchtig. In einer Tageszeitung habe ich seine Anzeige gelesen.“
Sie waren am letzten Regal angelangt und gingen die Gläser und Dosen durch. Danach fiel Hermine nichts mehr ein, was als Information für den ersten Arbeitstag wichtig wäre und nutzte den Moment, um sich zu verabschieden. „Dann bis morgen um kurz vor neun. Wenn Sie Fragen haben, können Sie mich jederzeit im Labor finden, denn da werde ich jetzt hingehen und die Nacht durchbrauen.“
Verblüffung stand in Daphnes Gesicht geschrieben. „Die ganze Nacht? So viel zu tun?“
„Ja, leider. Oder auch gut für uns, dass wir so viele Aufträge haben, wie man es nimmt.“
„Ich“, Daphne schaute auf ihre Uhr, „könnte Ihnen helfen, die Zutaten vorzubereiten.“ Brauen durfte sie nicht, denn sie besaß keinen Meister in Zaubertränken.
Hilfsbereit war sie auch noch, dachte Hermine, die ihre neue Angestellte ganz plötzlich mochte. „Danke, das wäre wirklich eine große Hilfe.“

Drei Tage vergingen. Drei Tage, in denen Hermine Severus regelmäßig mittags und abends besuchte. Drei Tage, an denen Hermine mit der Verkäuferin zusammenarbeitet und alles funktionierte wunderbar. Keine Streitereien, keine Missverständnisse, keine Beschwerden von Kunden. Daphne hatte manchmal eine verletzend ehrliche Art an sich und sagte freiheraus, wenn ihr was nicht gefiel. Andererseits war das besser, als um den heißen Brei herumzureden. Hermine schaffte gerade so, alle Brauaufträge in der entsprechenden Zeit zu erledigen, was sie abends in ihren Knochen spürte. Die Verkäuferin kam selten ins Labor. Es war ein Segen, dass sie so selbstständig arbeitete. Nur wenn es um präzise Dinge ging, wie beispielsweise um gewünschte Rabatte beim Kauf mehrerer Produkte, wollte sie erst die Zustimmung der Chefin einholen.

Erst an dem Tag, an dem Poppy Severus entlassen wollte, gestand ihm Hermine, warum sie überhaupt die Zeit gehabt hatte, ihn regelmäßig zu besuchen.

„Ich hab mit Draco einmal wegen einer Angestellten gesprochen. Susan hat mich mit einer Dame bekannt gemacht und ...“
„Du hast jemanden eingestellt, ohne mich zu fragen?“, rügte Severus sie, noch bevor sie ihre Tat gestanden hatte.
„Sei nicht so! Du bist erst nächsten Monat offiziell in der Apotheke. Ich brauchte dringend Hilfe, auch wenn es nur sechs Tage ohne dich waren!“
„Jetzt bin ich wieder voll einsatzfähig.“ Severus schwang die Beine aus dem Bett und betrachtete den frischen Verband an seinem linken Unterarm. „Du kannst sie morgen rauswerfen.“
Hermine fielen beinahe die Augen aus dem Kopf. „Wie bitte?“
„Ich sagte ...“
„Ich hab es schon gehört, was du gesagt hast, aber das werde ich nicht tun!“
„Du wirst sie rauswerfen!“
„Ich habe einen Vertrag mit ihr. Sechs Monate! Ich denke, zum Weihnachtsgeschäft können wir sie sehr gut brauchen und dann werden wir sehen, ob wir sie danach weiter beschäftigen möchten.“
„Weihnachtsgeschäft?“ Er hüpfte vom Bett, achtete dabei nicht darauf, dass er nur ein weißes Nachthemd trug. „Wir führen eine Apotheke! Was sollten wir schon vom Weihnachtsgeschäft haben? Es sei denn, ein paar Herren würden es wagen, ihrer Gattin eine Faltencreme zu schenken.“ Er schnaufte. „Wirklich eine nette Geste, der Gemahlin zu Weihnachten durch die Blume zu sagen 'Du wirst alt! Hier, klatsch dir das gefälligst ins Gesicht!'.“
Händeringend suchte Hermine nach einem anderen Beispiel. „Gripsschärfungstränke könnte man doch verschenken.“
Severus verstellte seine Stimme und ahmte einen fiktiven Vater nach, als er spottete: „Fröhliche Weihnachten, mein Sohn. So blöd wie du bist, kannst du den sicher gut gebrauchen!“
„Meine Güte, du bist wirklich wieder wohlauf, nicht wahr?“ Hermine verließ sein Bett und stellte die Wandschirme rund um Severus, damit der sich anziehen konnte. Trotzdem beendeten sie ihre Unterhaltung nicht. „Sieh sie dir doch erst einmal an.“
„Soll ich ihr vielleicht in den Mund schauen?“, hörte man leicht gedämpft hinter der Abschirmung. „Wir sind doch nicht auf einem Sklavenmarkt.“
„Du sollst dir ihre Arbeit ansehen, verdammt nochmal.“
„Dann drück dich deutlicher aus. Und nein, ich werde mir ihre Arbeit nicht ansehen. Du feuerst sie!“
„Okay“, stimmte sie wütend zu. „Aber dann mach dich darauf gefasst, dass die Buchhaltung komplett an dir hängen bleibt!“
Ein langer Finger schob den Stoff eines Wandschirm beiseite, so dass sie die Hälfte seines Gesichts sehen konnte. „Ich hasse Buchführung!“
„Fein, das ist aber nicht mein Problem. Ich mache sie jedenfalls nicht!“
Sein Finger verschwand. Man hörte Stoff rascheln, bevor er eine Hälfte des Wandschirms komplett zur Seite schob. Er trug bereits seine schwarzen Hosen, aber noch immer das Nachthemd darüber. „Macht sie etwa die Buchführung?“, fragte er skeptisch.
„Ja, und zwar besser und schneller als wir. Sie hat jahrelang die Finanzen des Familienvermögens verwaltet. Glaub mir, die Zahlen, mit denen sie bei uns umgeht, sind Peanuts.“
„Familienvermögen?“ Er kniff ein Auge mehr zu als das andere. „Wer ist sie? Ich kenne all die reichen Spinner der magischen Gesellschaft.“ Er blickte an Hermine vorbei. Mit einem Schmunzeln auf den Lippen behauptete er: „Da kommt gerade einer von ihnen.“ Hermine drehte sich um und sah Harry. Er erblickte sie im gleichen Moment, lächelte breit und winkte dabei wie irre. „Wink zurück!“, forderte Severus, was Hermine auch tat, aber nicht ohne zu fragen, warum. „Weil ich so etwas nicht mache.“

Schon war der Wandschirm wieder zugezogen, damit er sich weiter ankleiden konnte. Hermine war von Harry abgelenkt.

„Na, Hermine“, er war bei ihr angekommen, „mit der Apotheke alles paletti?“
„Ja, ich habe jemanden eingestellt, der ...“
Hinter dem Wandschirm hört man ein alternatives Ende des Satzes: „Der morgen gekündigt wird!“
„Hallo Severus!“, grüßte Harry, obwohl er ihn nicht sehen konnte.
„Verdammt!“ Severus sog Luft durch die Zähne, dann stöhnte er.
In Alarmbereitschaft fragte Harry: „Alles okay da drinnen?“
Auch Hermine sorgte sich. „Severus?“

Vorsichtig spähte sie durch eine der Lücken. Severus saß auf dem Bett, hatte sein Hemd übergezogen, aber die Knopfleiste noch nicht geschlossen. Langsam zog sie den Wandschirm weg. Severus hielt sich den linken Unterarm. Seine Augen waren geschlossen, das Gesicht verzogen.

„Was ist?“, fragte sie besorgt. Als er die rechte Hand wegnahm, sah man einen kleinen Blutfleck, der durch den frischen Verband sickerte. „Poppy hat doch gesagt, du sollst den Arm nicht überstrapazieren.“
„Überstrapazieren? Ich habe mich nur angezogen!“
„Dann geht das eben noch nicht alleine.“ Wie von selbst ergriff Hermine die unteren Knöpfe des Hemdes, um sie zu schließen.
Harrys Blick war auf die Narbe gefallen, die er unter Severus' Rippen ausmachen konnte. „Woher ist die?“
Gleichzeitig blickten Hermine und Severus ihn an, so dass er nochmals auf die Narbe schaute und sich über die eigenen Rippen strich, damit deutlich sein würde, was er meinte. Severus Hand ging wie von selbst an die alte Wunde. „Januar 1980, Bellatrix Lestrange.“
„Bellatrix? Aber warum?“
„Sie fand Gefallen daran, die anderen manchmal mit einem Messer zu attackieren, um ihnen danach unter die Nase zu reiben, sie müssten immer und überall auf der Hut sein.“
Harry war fassungslos. „Die Frau war völlig durchgedreht! Was hast du gemacht?“
„Ich hab ihr die Hand gebrochen, mit dem sie das Messer gehalten hat und ihr nahe gelegt, sie sollte in Zukunft immer und überall auf der Hut sein. Danach hatte ich meine Ruhe.“
Mit einem Zeigefinger deutete Harry auf die alte Brandwunde am Bauch. „Und das?“
„Das möchtest du nicht wissen“, winkte Severus ab. Hermine war gerade dabei, auch diese Stelle zu bedecken, in dem sie das Hemd Knopf für Knopf schloss.
„Ich würde nicht fragen, wenn ich es nicht wissen wollte“, versicherte Harry. „Sieht wie eine Brandwunde aus.“
„Gut erkannt.“
„Und?“
Severus rollte mit den Augen. „Neugierde ist keine Tugend, aber du lässt ja eh nicht locker.“ Er seufzte. „November 1994, Neville Longbottom.“
„Neville? Wie ist das passiert?“
„Zaubertränkeunfall beim Nachsitzen.“
Harry machte große Augen. „Er musste mal nachsitzen?“ In seinen Erinnerungen fand er nichts, was das bestätigen könnte, aber er wusste auch nicht alles. „Weiß Neville von der Wunde?“
„Nein, und das muss er auch nicht wissen. Der Junge war eine Katastrophe! Er musste einen Kessel nur schräg ansehen und schon begann der zu schmelzen.“
Endlich war Hermine mit dem Hemd fertig, nur noch eine Sache war zu regeln. „Ähm, kannst du es dir selbst in die Hose stecken?“
„Ich“, Severus schluckte, „werde es versuchen.“ Die rechte Hand gehorchte einwandfrei, aber die linke, mit der er den Hosenbund hielt, die wollte nicht so wie er wollte. Kaum krümmte er die Finger, durchfuhr ihn ein Schmerz im Unterarm.
Harry war so freundlich anzubieten: „Darf ich helfen?“
„Nein!“, kam schroff zurück.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
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Rest von Kapitel 207

Einigermaßen hatte Severus das Hemd in die Hose befördert, auch wenn es etwas zerrupft aussah, aber unter der Weste und dem Gehrock würde es niemand sehen. Die Weste war die nächste Hürde, aber nur eine kleine. Sie hatte wesentlich weniger Knöpfe und war im Nu angezogen. Nachdem Hermine ihm in den Gehrock geholfen hatte und ihr Blick auf die vielen Knöpfte fiel, stöhnte sie auf.

Sie begann mit dem ersten Knopf. „Können wir das in Zukunft nicht einschränken? Das ist ja grauenvoll.“ Auf ihren unüberlegten Kommentar ging weder Harry noch Severus ein. „Es sind ja nicht nur die“, sie zählte schnell die Knöpfe an der Vorderseite, „zehn Stück hier, sondern auch noch die an den Ärmeln. Das sind nochmal jeweils neun.“ Harry grinste nur in sich hinein, während Severus in eine Duldungsstarre verfallen war, damit die Situation so schnell wie möglich vorübergehen würde. „Weißt du, wie viele Knöpfe ich an meinen Sachen habe?“, fragte sie, ohne eine Antwort zu erwarten, denn sie lüftete das Geheimnis gleich im Anschluss. „Nur einen! Und der ist an meiner Hose.“
„Steht da zufällig 'Aus' drauf?“, stichelte Severus.
„Sei nett zu mir, sonst kannst du dir jemand anderen suchen, der diese Aufgabe übernimmt.“ Mit einem Ärmel war sie fertig und wechselte zum verletzten Arm. Hermine zögerte. „Wird das nicht ein wenig eng werden? Ich meine, wegen der Wunde.“
„Es wird schon gehen.“
Beim Anblick der vielen Knöpfe stellte sich Harry eine Frage. „Gibt es dafür keinen Zauberspruch?“
„Keine Ahnung“, erwiderte Hermine. „Schneider kennen vielleicht einen. Ich werde mich jedenfalls nicht erkundigen, denn ich brauche so einen Spruch nicht bei nur einen Knopf.“ Auch der Ärmel war endlich geschlossen. „So, fertig.“
„Ähm, Hermine“, sie blickte zu Harry hinüber, der auf Severus' Hosenbeine zeigte. „Da sind noch welche.“ Sie warf Severus einen vorgetäuscht grimmigen Blick zu, bevor sie in die Knie ging, um auch diese Knöpfe zu schließen. Man hörte ein Gemurmel von ihr wie „Wozu sind die gut?“ und „Die machen gar keinen Sinn!“. Harry und Severus tauschten einen Blick aus, gefolgt von einem hämischen Grinsen.

Hermine musste nach der Mittagspause zurück zur Apotheke, aber Harry blieb noch bei Severus und begleitete ihn zu seinen Räumlichkeiten in den Kerkern.

Die Ruhe im Wohnzimmer war Severus unheimlich. „Hat Hermine meinen Hund?“
„Nein, der ist bei mir. Wollen wir ihn holen? Dann können wir etwas spazieren gehen.“

Ein wenig frische Luft und Bewegung würde ihm gut tun. Severus musste wieder zu Kräften kommen. Wie nur sechs Tage Bettlägerigkeit an den Muskeln zehren konnte war wirklich beängstigend. Die Beine waren zittrig, der Gang unsicher. Severus kam schnell aus der Puste. Auf dem Weg zu Hagrids Hütte war Harry so zuvorkommend und legte einen Stopp ein, ohne Severus' geschwächte Kondition anzusprechen. Ein großer Findling diente den beiden als Sitzgelegenheit. Die ganze Zeit über hatte Harry alle Fragen beantwortet, die Severus zu dem Vorfall mit Hopkins hatte. Der ehemalige Spion war sehr neugierig und stellte detaillierte Fragen, auf die andere nicht einmal gekommen wären. Man konnte heraushören, dass Severus den „Besuch“ bei Hopkins guthieß.

„Das war richtig von dir, dass du es selbst in die Hand genommen hast.“ Andere hatten Bedenken geäußert, dass Harry mit der DA die Sache selbst regeln wollte, doch nicht Severus. Er hätte das Gleiche getan, da war sich Harry sicher. Sein älterer Kollege war, wenn er Remus' Worten Glauben schenken durfte – und das konnte er –, sofort in die Kerker gestürmt, um sich für eine Auseinandersetzung mit Hopkins zu wappnen. Wäre nicht der erste Teil der Prophezeiung dazwischengekommen, hätte Severus an der Seite der DA gekämpft, ohne dass man ihn darum hätte bitten müssen. Severus schaute neben sich, sah Harry direkt in die Augen. Die Ernsthaftigkeit war mit ein wenig Reue durchtränkt, als Severus anfügte: „Man darf nicht warten, bis der Feind kommt. Man muss“, er schluckte, wandte seinen Blick ab, „zu ihm gehen.“
'So wie er es damals getan hat', dachte Harry. Plötzlich nickte Severus drei Mal, als hätte er die Gedanken gehört. Einen Moment lang beobachtete Harry das Spiel des Hundes, bevor er das Thema wechselte und den Ratschlag gab: „Ihr solltet die Verkäuferin behalten, zumindest für das halbe Jahr. Sie wäre eine Entlastung, denn, na ja“, Harry spielte verlegen mit seinem Ärmel, „Hermine hat noch eine große Aufgabe vor sich.“ Der Trank für Severus zog einiges an Arbeit nach sich: der Blumenkasten, die besondere Art der Pflanzenzucht und am Ende der Brauvorgang. „Hermine braucht dafür etwas Luft.“
Severus verstand das, aber trotzdem war ihm der Gedanke zuwider. „Es ist nur ...“, er suchte nach Worten. „Ich kann es nicht leiden, wenn sich plötzlich neue Personen in meinem Umfeld aufhalten und ich nichts dagegen unternehmen kann. Es war schon immer grauenvoll, wenn jedes Jahr ein neuer Kollege für Verteidigung eingestellt wurde.“
Harry grinste. „Du kannst Veränderung nicht ausstehen, oder?“
„Nein, kann ich nicht.“
„Aber das Leben ist nun einmal so. Ich stelle es mir langweilig vor, wenn es irgendwann stagniert, wenn nichts Neues oder Unerwartetes mehr passieren würde.“ Von der Seite hörte er ein zurückweisendes Murren, woraufhin Harry ein Beispiel gab. „Oder hättest du vor ein paar Jahren mal geglaubt, dass du mit mir hier sitzen und über das Leben philosophieren könntest?“
Ein Schnaufen war die erste Antwort. „Zum Philosophieren fehlt noch einiges.“
„Du weißt genau, was ich meine. Immerhin duzen wir uns. Das hätte nicht einmal ich für möglich gehalten. Halte dir die Veränderungen in deinem Leben einfach mal in einem stillen Moment vor Augen und denk darüber nach, was im Nachhinein willkommen ist und was nicht. Dann wirst du sehen, was ich meine.“
„Sie hat sie einfach eingestellt“, murmelte Severus kaum hörbar.
„Was?“
Er blickte Harry direkt an und wiederholte: „Sie hat sie einfach eingestellt. Eine Verkäuferin. Ohne mich zu fragen!“
„Was hättest du denn geantwortet, hätte Hermine gefragt?“
„Ich hätte natürlich 'Nein!' gesagt, was denn sonst?“
Mit viel Mühe hielt Harry ein Stöhnen zurück. „Lass es doch einfach auf dich zukommen. Du musst mit ihr ja nicht gleich Brüderschaft trinken, aber ...“
„Das fehlte noch“, unterbrach Severus.
„Aber du könntest es locker angehen. Ihr seid nicht die Ersten, die jemanden einstellen. Fred und George hatten auch Meinungsverschiedenheiten, als es um Verity ging. Wie ich von Hermine gehört habe, müsst ihr euch zu zweit ziemlich ins Zeug legen, um die vielen Kunden zufriedenzustellen. Die Apotheke hat eine super Lage, eine Menge Laufkunden. Das hättet ihr auf die Dauer sowieso nicht allein bewältigt. Mein Leben hat sich auch anders entwickelt als geplant.“
„Wieso?“, fragte Severus erstaunt, auch ein wenig wütend. „Es lief bei dir doch alles nach Plan. Du hast Voldemort ins Jenseits befördert, hast einen tollen Job, wirst heiraten ...“
„Ich hatte eigentlich vor, langsam wieder mit Ginny zusammenzukommen, zu heiraten und dann mit ihr über Kinder nachzudenken.“
„Oh“, machte Severus. Die Reihenfolge war ein wenig durcheinandergeraten. Das Kind kam vor der Hochzeit und es war auch nicht von Harry.
„Ich bin trotzdem zufrieden, wie alles gekommen ist. Sehr zufrieden sogar. Natürlich war das am Anfang ein bisschen komisch. Ich wusste eine Weile nicht genau, wo ich stehe, aber jetzt ...“ Harry atmete tief durch, lächelte glücklich. „Du kommst zur Hochzeit, oder?“
„Natürlich!“, versicherte Severus mit einem Schmunzeln. „Du weißt doch, wie das ist: Sehen und gesehen werden. Das werde ich mir doch nicht entgehen ...“ Abrupt hielt Severus inne. Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf. „Ich muss mir festliche Kleidung besorgen!“
„Es sind ja noch knapp drei Wochen Zeit“, beruhigte ihn Harry.

Einen Moment lang überlegte er, ob er Severus in sein heimliches Vorhaben einweihen wollte. Ob er ihn um Hilfe bitten sollte, aber er nahm vorerst davon Abstand. Die letzten beiden Tage hatte er zusammen mit Wobbel damit verbracht, Alchemie-Bücher zu wälzen. Er war sogar fündig geworden, aber den Dreh hatte er noch nicht raus. Er entschied sich trotzdem dafür, noch niemandem etwas von seiner Idee zu erzählen, sondern es allein zu versuchen.

Während Severus sich draußen bereits die Beine vertreten konnte, war Lucius gerade erst dabei, die letzte Visite über sich ergehen zu lassen. Erst danach würde man entscheiden, ob er nachhause durfte oder nicht. Narzissa war mit Charles zu Besuch, wartete aber während der Visite im Flur. Sie beobachtete die Menschen, die sich hier aufhielten: andere Besucher, die Schwestern, ein paar Pfleger. Schwester Marie war die Aktivste. Wie eine Biene surrte sie von einem Zimmer ins nächste, hatte für Kollegen, Patienten und Besucher immer ein Lächeln auf den Lippen. Narzissas Kopf fuhr herum, als sich die Tür zum Zimmer ihres Mannes öffnete und Professor Puddle heraustrat.

„Sie können wieder rein, Mrs. Malfoy. Meine Kollegen werden die Visite zu Ende führen und haben nichts dagegen, wenn Sie anwesend sind.“ Er betrachtete den Jungen in ihrem Arm und wollte den Kopf tätscheln, doch Charles verhielt sich abweisend, drückte seinen Kopf in Großmutters Halsbeuge.
„Er ist ein wenig schüchtern“, erklärte sie Charles Abneigung.
„Das kommt vor.“ Der Professor wandte sich um und erspähte Marie. „Schwester Marie? Ich möchte mit Ihnen reden. Bitte kommen Sie doch in mein Büro.“ Eine Erwiderung hörte Narzissa nicht mehr, denn sie ging bereits zu Lucius und den zwei Heilern hinein.

Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend folgte Marie ihrem Professor ins protzig eingerichtete Büro. Er bot ihr mit einer Geste seiner Hand den Stuhl vor dem Schreibtisch an. Hinter ihm an der Wand hingen die Urkunden, die er vom Ministerium für seine verschiedenen Abschlüsse bekommen hatte.

„Können Sie sich denken, warum ich mit Ihnen sprechen möchte?“, fragte er, ohne sie dabei anzusehen. Stattdessen hielt er sich eine Akte vors Gesicht.
„Nein, Sir.“ Oder doch?
„Es geht um Ihr Verhalten während des Vorfalls mit Mr. Malfoy. Sie wissen, dass Sie die Pflicht gehabt hätten, kompetente Mitarbeiter über den Notfall zu informieren, anstatt die Sache selbst in die Hand zu nehmen.“
Sie hatte geahnt, dass man ihr das irgendwann vorwerfen würde. „Wie Sie schon erwähnten, Sir, handelte es sich um einen Notfall.“
„Ja, und zwar ein Notfall, um den sich ein Heiler hätte kümmern müssen.“ Wütend warf er die Mappe auf den Tisch. Es war die Akte Malfoy. „Sie haben Ihre Befugnisse weit überschritten, Miss Amabilis.“
Wenn er sie nicht mehr Schwester Marie nannte, dann war die Situation ernst. „Professor Puddle, es wäre keine Zeit gewesen, erst jemanden zu holen. Es war Wochenende! Wir waren nicht voll besetzt.“
„Es war keine Zeit? Wollen Sie damit sagen, Sie hätten unberechtigterweise eine Diagnose gestellt und entschieden, selbst handeln zu müssen?“
„Mr. Malfoy hatte große Schmerzen, Sir. Ich musste etwas tun.“
„Sie sind aber keine Heilerin!“, blaffte er sie an. „Sie haben sich besonders in Notsituationen an das Fachpersonal zu richten, haben Sie verstanden?“ Sie nickte verschüchtert. „Stattdessen greifen Sie zu Heilmitteln, die nicht nur extrem teuer sind, sondern deren Anwendung nicht in Ihrem Aufgabenbereich enthalten ist. Wissen Sie eigentlich, welches Vermögen Sie in Mr. Malfoys Wunde gekippt haben?“
Langsam wurde Marie wütend. Sie fühlte sich missverstanden. „Etwas anderes hat aber nicht geholfen!“
„Aber es ist nicht Ihre Aufgabe herauszufinden, was in so einer Situation helfen könnte! Sie haben eigenmächtig gehandelt, Miss Amabilis, und das kann ich nicht dulden!“
„Mr. Malfoy hätte es nicht überlebt, wenn ich mich erst auf die Suche nach einem Heiler gemacht hätte. Seine Wunde fraß sich durch den ganzen Arm“, verteidigte sie ihr Handeln.
„Sie machen schon wieder eine Diagnose?“ Professor Puddle beugte sich über seinen Schreibtisch, stützte sich mit den Fäusten auf der Oberfläche ab. „Sie setzen sich über die Regeln dieses Krankenhauses hinweg. Sie übernehmen Aufgaben, denen Sie schlichtweg nicht gewachsen sind. Wenn Sie das hier“, er deutete auf die Urkunden an der Wand, „vorweisen könnten – auch nur eine davon –, dann würde ich die Sache anders sehen. Sie sind aber eine Krankenschwester und keine Heilerin, Miss Amabilis. Ihre Aufgabe ist es, den Anweisungen der Heiler zu folgen, nicht aber nach eigenem Ermessen zu handeln! Wissen Sie, was mich am meisten ärgert? Dass Sie einfach nicht einsichtig sind!“
„Ich kann die Tatsachen doch nicht leugnen! Mr. Malfoy wäre gestorben, hätte ich nicht ...“
„Jetzt reicht es mir! Sie sind unbelehrbar, Miss Amabilis. Aufgrund Ihrer festgefahrenen Einstellung sehe ich mich gezwungen, Sie mit sofortiger Wirkung zu kündigen!“
Marie schoss aus ihrem Stuhl heraus. „Das können Sie doch nicht machen!“
„Ich kann und ich habe! Meine Entscheidung wurde von der Personalabteilung längst geprüft und bestätigt.“
„Aber ...“
Er fuhr ihr über den Mund. „Kein 'Aber' mehr. Sie sind ein schlechtes Beispiel für Ihre Kollegen. Wir dürfen nicht zulassen, dass Ihre Taten auch noch hochgelobt werden und Ihre Kollegen sich ermutigt fühlen, ebenfalls ihre Kompetenzen zu überschreiten.“
„Ich“, Marie zitterte, „soll ein schlechtes Beispiel sein? Dass ich nicht lache!“
„Was wäre denn geschehen, hätte Ihre 'Behandlung' nicht angeschlagen oder sogar die Lage verschlimmert?“
„Seit wann verschlimmern Phönixtränen etwas? Ich habe alles über sie gelesen und ...“
Wieder unterbrach Puddle sie. „Nur weil sie autodidaktisch hinzugelernt haben, heißt das noch lange nicht, dass Sie sich mit der Lektüre auch entsprechende Fähigkeiten angeeignet haben. Sie haben sich nun einmal an die Regeln dieses Krankenhauses zu halten. Es ist Ihnen als Schwester nicht gestattet, nach Gutdünken Behandlungen durchzuführen, die nicht explizit von einem Heiler angeordnet wurden. Sie haben Folge zu leisten, aber Sie widersetzen sich noch immer, sehen Ihren Fehler nicht einmal ein.“
Mit geballten Fäusten schrie Marie: „Weil es kein Fehler war!“
„Genug! Geben Sie die Schwesterntracht ab und verlassen Sie das Krankenhaus.“
„Ich ...“
„Raus! Oder soll ich das Sicherheitspersonal rufen und Sie hinauswerfen lassen?“

Vor Wut zitterte Marie am ganzen Körper, doch kein Wort kam mehr über ihre Lippen. Auf den Hacken drehte sie sich, stürmte zur Tür und riss sie auf. Als sie das Gesicht von ihrem Kollegen Mike sah, der sie mitleidig anblickte, wurde ihr klar, dass er gelauscht haben musste. Die Tür schloss sie leise hinter sich. Der Professor sollte nicht die Genugtuung haben, sie noch wegen des Türenknalles zurechtweisen zu können. Einen Moment lang stand sie bei Mike. Ihr Mund öffnete sich, schloss sich wieder. Sie konnte nichts sagen. Der Schrecken war zu groß, die Wut fast nicht zu bändigen.

„Marie?“, fragte er vorsichtig.
Ihre Lippen bebten. „Machs gut, Mike.“ Nach diesen Worten verschwand sie in den Raum hinter dem Schwesternzimmer, um sich umzuziehen.

Bei Lucius war die letzte Visite der Heiler noch damit beschäftigt, seine Wunde zu inspizieren. Es kam ihm so vor, als würde er nur aus Unterarm bestehen. Niemand blickte ihm auch nur einmal in die Augen, stattdessen gafften sie die Verletzung an.

„Die neue Haut ist noch ganz weiß“, erklärte der älterer Heiler dem jüngeren – möglicherweise war der jüngere ein Herr, der noch lernte. „Ich vermute, dass sie noch nachdunkeln wird, wenn auch nicht viel, denn die Haut von dem Patienten ist im Grunde schon sehr hell.“
Lucius versuchte sich zu erinnern, ob diese Herren ihn überhaupt gegrüßt hatten, nachdem sie eingetreten waren. Er wollte verneinen, denn er konnte sich nicht daran erinnern.
Der jüngere von beiden fragte: „Wird man diese Verletzung noch mit Phönixtränen behandeln müssen?“
„Ich denke nicht.“ Der Heiler zeigte auf eine bestimmte Stelle. „Sehen Sie hier? Das ist das Muskelgewebe, dass sich bereits vollständig gebildet hat. Die Haut wird mit anderen Mitteln zur Regeneration angeregt werden können. Der Körper des Patienten ist ansonsten gesund. Mit Komplikationen muss man nicht rechnen.“ Der ältere Heiler kritzelte etwas in seine Akten, während Lucius gelangweilt auf dem Bett saß und wartete. „Mr. Malfoy?“
Lucius' Kopf schoss herum. „Oh, ich habe Besuch. Ich habe Sie gar nicht bemerkt“, spottete er.
Der Heiler kniff die Lippen zusammen, bevor er von oben herab sagte: „Sie können guten Gewissens entlassen werden. Die Schwester wird Ihnen noch eine Salbe aufschreiben, die Sie in jeder Apotheke kaufen können. Dreimal täglich auftragen und die Wunde wird in spätestens zwei Wochen nicht mehr zu sehen sein. Achten Sie darauf, dass der Arm beim Baden nicht mit dem Wasser in Berührung kommt. Auch sollen Sie den Arm schonen. Sie werden bemerkt haben, dass Sie Schmerzen haben, wenn Sie Druck auf Ihre Finger ausüben. Ihre Gattin“, der Heiler schaute zu Narzissa, die sich die ganze Zeit über still verhalten hatte, „könnte Ihnen vielleicht bei einigen alltäglichen Dingen behilflich sein.“
Lucius schwang sich aus dem Bett. „Dann seien Sie jetzt so freundlich und lassen Sie mich allein, damit ich mich ankleiden kann.“

Der jüngere Heiler trug eine Salbe auf die Wunde auf und verband den Unterarm sorgfältig, bevor sie das Krankenzimmer verließen. Nachdem die beiden die Tür geschlossen hatten, atmete Lucius tief durch. Er konnte Heiler nicht ausstehen. Aus dem Schrank nahm er die frische Kleidung heraus, die Narzissa ihm für den heutigen Tag gebracht hatte. Die Unterhose war im Nu unter dem Krankenhaushemd angezogen, die Beinkleider ebenfalls.

„Soll ich nicht lieber den Wandschirm aufstellen?“, fragte Narzissa vorsorglich.
Lucius sah sie an, schaute dann zu Gregory hinüber, der den Blick höflicherweise aufs Fenster gerichtet hatte. Die Wunde bei seinem Zimmergenossen war schneller verheilt als bei ihm selbst. Das wusste Lucius von der Visite, die er mitgehört hatte. Trotzdem musste der junge Mann noch einige Tage hier bleiben, um die Komplikationen aufgrund der langen Zeit der Bewusstlosigkeit behandeln zu lassen. Manche der inneren Organe wollte noch nicht einwandfrei arbeiten, außerdem hatte Gregory Probleme mit der Motorik. Die Muskeln mussten langsam aufgebaut werden. „Nein, kein Wandschirm. Das kostet nur Zeit“, Lucius suchte den Eingang seines Seidenhemds, „und ich möchte nicht länger hier bleiben als notwendig.“ Als das Hemd zurechtgelegt war, zog er die Krankenhausbekleidung aus und streifte sich das kostbare Hemd über. „Ah, das fühlt sich schon besser an.“ An einem warmen Sommertag kühle Seide auf der Haut zu haben war wie ein Symbol für Freiheit. Seine Hände gingen zu den Knöpfen und erst jetzt bemerkte er, was die Heiler gemeint hatten. Allein schon das Zusammenführen von Daumen und Zeigefinger ließ die Sehnen im Unterarm tanzen – und schmerzen. Er sog Luft durch die Zähne ein.
Sofort war Narzissa bei ihm. „Komm, lass mich dir helfen.“ Sie setzte Charles auf dem Bett, der dort mit dem bereitgelegten Gehrock seines Großvaters spielte. Narzissa übernahm die Knopfleiste am Hemd. Lucius genoss es heimlich, wenn ihre Finger zufällig seine Haut streiften, bis er bemerkte, dass diese Berührungen keineswegs zufällig waren. Ein keckes Lächeln zierte ihr Antlitz, als sie zu ihm aufblickte.

Fertig angezogen. Bereit zum Gehen. Die Höflichkeit verlangte es, dass er sich von seinem Zimmergenossen verabschiedete. Lucius trat an Gregorys Bett heran und hielt ihm die Hand entgegen.

„Auf Wiedersehen, Mr. Goyle. Ich wünsche Ihnen weiterhin eine gute Besserung.“
Irritiert von dem vorbildlichen Verhalten schüttelte Gregory die Hand. „Danke, Mr. Malfoy. Ihnen wünsche ich auch eine gute Besserung. Auf Wiedersehen.“

Den Gehstock musste er diesmal mit der rechten Hand halten, weil die linke nicht ohne Schmerzen greifen konnte. Zusammen mit seiner Frau, die den Enkelsohn trug, ging er hinaus auf den Flur. Einige Pfleger und Schwestern hatten die Köpfe zusammengesteckt. Irgendetwas hatte sie aufgewühlt. Spannung lag in der Luft. Lucius spürte so etwas. Schwester Marie war nicht bei ihren Kollegen, doch kaum hatte Lucius an sie gedacht, öffnete sich eine Tür. Mit einer großen Tasche in der Hand und einer Kiste unter dem Arm betrat sie den Flur. Sofort fiel Lucius auf, dass etwas nicht stimmte. Er kannte die Uhrzeiten, in denen der Schichtwechsel stattfand. Es gab keinen Grund für Marie, hier in ziviler Kleidung herumzulaufen, es sei denn, ihr wäre unwohl. Die Kiste, die sie trug, ließ ihn Schlimmes ahnen. Auf der Stelle war er bei ihr und hielt sie auf. Der Bereich um ihre Augen herum war geschwollen.

„Marie? Was ist denn nur passiert?“
Sie blieb stehen, vermied den direkten Blickkontakt. „Ach, ich möchte Sie damit nicht langweilen.“
„Nun raus mit der Sprache.“
Hinter sich hörte Lucius plötzlich die Stimme von Professor Puddle, der die Schwestern und Pfleger rügte. „Haben Sie denn nichts zu arbeiten?“ Die Traube löste sich auf, so dass der Professor seinen Weg fortsetzte und an Lucius und Marie vorbeikam. „Sie sind ja immer noch hier. Verlassen Sie das Krankenhaus.“
Lucius war einen Moment irritiert, weil er glaubte, die Worte galten ihm. Mit einem Male kam die Gewissheit. Schockiert blickte er Marie an. „Sie wurden gekündigt?“ Sie brachte nur fertig zu nicken. „Aber warum?“

Erinnerungen an den Tag, an dem das dunkle Zeichen an seinem Arm zum letzten Mal brannte, stiegen in Lucius auf. Marie und Mike waren bei ihm gewesen. In Gedanken hörte er Pfleger Mike sagen „Marie, das darfst du nicht! Dafür wird man dich rausschmeißen!“.

„Wegen mir?“, fragte Lucius eher sich selbst. Marie erwiderte nichts. Ihrer Meinung nach war nicht er daran schuld.
„Miss Amabilis“, mahnte Professor Puddle aus einiger Entfernung, „ich kann noch immer das Sicherheitspersonal rufen, die Sie hinausbegleiten ...“
Lucius platzte der Kragen. „Halten Sie Ihren Mund! Wie reden Sie denn mit meinem Besuch?“
Professor Puddle traute seinen Ohren nicht. „Wie bitte?“
„Miss Amabilis ist eine gute Freundin des Hauses Malfoy.“ Er warf Puddle seinen fiesesten Blick zu und murmelte gefährlich leise: „Sie haben nicht einmal die geringste Ahnung, was es bedeutet, mich zu verärgern, oder?“ An Professor Puddles Gesichtsausdruck sah Lucius bestätigt, dass selbst eine plumpe Drohung noch immer Wunder wirkte, wenn sie aus seinem Munde kam. Puddle wurde bleich. Der Professor setzte nach kurzem Zögern seinen Weg fort und ließ Marie in Ruhe. „Kommen Sie, Marie. Meine Frau und ich begleiten Sie hinaus.“

Der Weg nach draußen kam Marie so unwirklich vor, als würde sie nur einen Film sehen. Ihr letzter Arbeitstag. Die Malfoys hatten sie in die Mitte genommen und die Kiste hinterherschweben lassen. Vor dem Gebäude nahmen sie auf einer abgelegenen Bank unter einem Baum Platz. Noch immer war Marie zu schockiert, um etwas zu sagen.

„Marie?“ Lucius zeigte auf Narzissa. „Ich weiß nicht, ob Sie sich schon kennen. Meine Gattin Narzissa.“ Er lächelte, als er anfügte: „Und mein Enkel Charles Erasmus.“
Marie fand ihre Stimme wieder und grüßte Narzissa mit der Hand. „Wir haben uns kurz über den Kamin gesprochen.“ Sie hatte ihr Bescheid gegeben, dass Lucius nach ihr gefragt hatte. Der Junge auf dem Schoß spielte mit den Schnürsenkeln seines Schuhs. „Hallo, mein Kleiner“, grüßte Marie und berührte seine Hand, was dem Jungen ein fröhliches Glucksen entlockte.
„Marie“, Lucius blickte ihr in die Augen, „habe ich das richtig verstanden? Man hat Sie gekündigt, weil Sie mich behandelt haben?“
„Woher wissen Sie das?“
„Ich kann Informationen durchaus miteinander kombinieren“, winkte er ab. „Also ist es wahr.“
Marie nickte. „Ich habe keinen Job mehr.“
„Ich denke, wir beide kennen jemanden, der das Krankenhaus verklagen könnte, damit Sie wieder hier arbeiten können“, schlug Lucius vor.
„Sie meinen Mr. Duvall?“, vermutete sie. Er nickte, doch Marie schüttelte den Kopf. „Nein, ich möchte nach dem, was passiert ist, nicht mehr im Mungos arbeiten. Das Arbeitsklima wäre vergiftet, würde ich meine Anstellung einklagen.“
An dem Gespräch beteiligte sich nun auch Narzissa. „Das Mungos ist nicht die Welt. Es gibt andere Krankenhäuser.“
„Ja“, sagte Marie niedergeschlagen. Neue Arbeitskollegen, neue Heiler; von vorn beginnen.
Lucius klang sehr entschlossen, als er forderte: „Marie, geben Sie mir Ihre Adresse.“
„Wozu?“ Obwohl sie gefragt hatte, suchte sie sich bereits einen Zettel aus der Kiste, um die Adresse niederzuschreiben.
„Mein Sohn könnte Ihnen weiterhelfen. Er vermittelt zwischen Arbeitnehmer und -geber. Bestimmt hat er auch ein Krankenhaus an der Hand.“
Sie reichte ihm den Zettel, auf den er einen Blick warf. „Winkelgasse? Ist es dort nicht etwas teuer?“
„Ich habe die Wohnung von meinen Eltern geschenkt bekommen. Sie gehört mir.“
Den Zettel steckte Lucius in seine Innentasche, bevor er anbot: „Gehen wir doch zusammen etwas essen.“
„Das ist nett von Ihnen, aber ich möchte im Moment lieber nachhause.“ Sie war deprimiert und wollte sich ausweinen. Ihr Cousin und dessen Familie müssten für sie ein offenes Ohr haben, denn ihren Eltern wollte sie nicht mit ihren Sorgen auf den Geist gehen.
„Ich verstehe das nur zu gut, Marie.“ Er stand auf und reichte ihr galant die Hand. „Nehmen Sie es sich nicht so zu Herzen. Es kann nur besser kommen.“
„Ihr Wort in Merlins Ohr.“ An Narzissa gewandt sagte sie verabschiedend: „Es war schön, Sie beide“, der Blick fiel kurz auf Charles, „kennen gelernt zu haben.“
„Ich bin ein wenig verlegen“, gestand Narzissa, „ich weiß nicht, wie ich Sie ansprechen soll. Ihren Nachnamen kenne ich nicht.“ Lucius hatte sie nur als Marie vorgestellt.
Lucius klärte die Angelegenheit. „Miss Amabilis ist der Name. Du musst aber wissen, meine Gute, dass wir uns das letzte Mal eine persönlichere Anrede gestattet haben.“
„Wenn das so ist“, Herzlichkeit flammte in Narzissas Gesicht auf, als sie Marie anblickte, „dann biete ich Ihnen das Gleiche an.“
Das Angebot wurde dankend angenommen. Marie verabschiedete sich von den Malfoys. Narzissa blickte ihr einen Moment hinterher, bevor sie von ihrem Mann wissen wollte: „Draco hat Kontakte zu Krankenhäusern?“
„Nein, hat er nicht“, gab Lucius zu, „aber ich habe auch nicht vor, ihr nur eine neue Anstellung zu verschaffen. Sie verdient mehr als das.“
„Darf ich auch fragen, war du vorhast oder ist es eine 'Sache zwischen euch'?“ Narzissa kräuselte die Nase, was Lucius verriet, dass sie ein wenig verärgert war.
„Eifersüchtig?“, stichelte er mit frecher Miene.
„Gibt es einen Grund dafür?“
Zärtlich legte er den gesunden Arm um ihre Taille. „Nein, meine Liebste, den gibt es nicht.“ Ein Kuss sollte seine Aussage untermalen.

Wie auch die Malfoys war Marie nun auf dem Nachhauseweg. Die Winkelgasse war so kurz vor den Schulferien gut besucht. Viele besorgten sich noch etwas für den ersehnten Urlaub. Das Geld für neue Kleidung oder Bücher saß bei den Besuchern der Einkaufsstraße locker. Marie würde sich in Zukunft stark einschränken müssen, um ihre Ausgaben bezahlen zu können. Ein neuer Job musste her und zwar schnell. Und zwar noch bevor ihre Eltern erfahren würden, dass sie auf der Suche war. Schon seit langer Zeit versuchten sie, ihre Tochter nach Bulgarien zu holen, weil ihr Vater dort gut verdiente, aber sie wollte in London bleiben, zumindest aber in Großbritannien.

Irgendjemand war in Eile und rempelte Marie im Vorbeigehen an. Die Kiste fiel zu Boden. Der persönliche Inhalt verteilte sich auf dem Kopfsteinpflaster. Einige Passanten schauten zu ihr hinüber, dann schnell wieder weg. Niemand half ihr, keiner entschuldigte sich. Vielleicht sollte sie doch nach Bulgarien ziehen?

„Darf ich Ihnen hel...?“ Als die Frau aufblickte, hielt Sid inne. Es war Marie. Ein Sonnenschein. „Miss Amabilis!“ Erleichterung, Freude, Zuversicht. Das alles spiegelte sich in seinem Gesicht wider, als er ihr half, ihr Hab und Gut auf ganz altmodische Weise aufzulesen, nämlich mit den Händen. Nur so konnte er dicht neben ihr knien, konnte auffällig unauffällig ihre Hand berühren, als sie zur gleichen Zeit nach dem kleinen Teddy griffen, den ein zufriedener Patient ihr einmal geschenkt hatte. Sid berührte sie zaghaft am Oberarm und half ihr auf. Es war ihr anzusehen, dass sie sich schlecht fühlte. Nach dem Grund fragte er nicht, dafür war er zu zurückhaltend. Die Stimme seines eigenen Gewissens klang sehr nach der von Sirius Black, der kontinuierlich wiederholte „Lad sie zum Essen ein!“. Die Stimme war so laut, als würde Sirius, mit dem er sich in ein paar Minuten treffen wollte, hinter ihm stehen.
„Vielen Dank, Mr. Duvall.“ Nicht ihre Worte, sondern ihr ehrliches Lächeln, dass die schlechte Laune verdrängte, ließ Sids Herz Purzelbäume schlagen.
„DarfichSiezumEsseneinladen?“, fragte er so schnell, dass die einzelnen Silben der Worte nicht voneinander zu trennen waren.
„Entschuldigen Sie bitte, was sagten Sie eben?“
Zu schnell, dachte Sid. Er ging die Sache viel zu schnell an. „Ich ...“ Er griff nach der Kiste. „Darf ich Sie nachhause begleiten.“ 'Nein!', schalt er sich in Gedanken selbst. Das war noch schlimmer als die übereilte Einladung zum Essen. Er musste dringend einen Gang zurückschalten, aber es fiel ihm schwer. Dass er sie hier überhaupt getroffen hatte, war ein gut gemeinter Wink vom Schicksal. Auf keinen Fall durfte er einen schlechten Eindruck hinterlassen, egal wie sehr die Stimme von Sirius ihn dazu ermutigen wollte, aus der Hüfte zu schießen.
„Ja, gern.“ Sie hielt ihn nicht für aufdringlich. Merlin sei Dank.
„Prima!“ Sid strahlte über das ganze Gesicht, als sie ihren Weg Seite an Seite fortführten, geradezu gemütlich schlenderten. „Ich wusste gar nicht, dass Sie hier wohnen.“
„Schon immer. Die meiste Zeit war ich“, sie stockte, „im Mungos.“ Marie presste ihre Lippen zu einer schmalen Linie, damit sie nicht zittern würden.
„Haben Sie momentan Urlaub?“ Während er fragte, fiel sein Blick auf den Inhalt der Kiste und er wünschte sich mit einem Mal, mehr Feingefühl an den Tag gelegt zu haben. Eine ähnliche Kiste hatte er selbst getragen, als er das Ministerium verließ. Kleine Habseligkeiten, die seinen Schreibtisch geziert hatten. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Petrificus Totalus. Abrupt blieb er stehen. „Miss Amabilis?“
„Ich bin nicht mehr im Mungos beschäftigt!“, sagte sie ein wenig lauter als gewollt. Auch das folgende Schluchzen konnte sie nicht unterdrücken. Beschämt über ihren Gefühlsausbruch wandte sie den Kopf und starrte in das Schaufenster von Eeylops Eulenkaufhaus.
Aus der Tasche seines Umhang fischte Sid ein sauberes Stofftaschentuch heraus, das er ihr reichte. „Hier, bitte.“
„Danke.“ Marie trocknete die Tränen, noch bevor sie fließen konnten. Sie fing sich schnell wieder, weil die Wut über Puddle erneut in ihr aufstieg. Ein unheilvolles Beben war in ihrer Stimme zu vernehmen. „Man hat mir gekündigt!“
„Wie bitte?“ Sid war empört. „Warum das?“
„Weil ich einem Patienten das Leben rettete, aber man stürzt sich lieber auf die Tatsache, dass ich meine Kompetenzen überschritten habe. Das habe ich, ich gebe es zu, aber es war notwendig!“
In Sids Kopf ratterte das Uhrwerk und er war sich sicher, man konnte es in der gesamten Winkelgasse hören. Dann hatte er eine Lösung gefunden. „Es gibt eine Möglichkeit, die Sache vors Ministerium zu bringen. Sie könnten Ihre Stellung zurückfordern. Ich finde bestimmt eine ...“
„Das ist komisch“, unterbrach Marie mit viel ruhigerer Stimme. „Das habe ich vor nicht einmal einer halben Stunde schon gehört.“
„Was gehört?“
„Dass Sie mir meinen Job zurückklagen könnten.“
Sid hob eine Augenbraue. „Ach, tatsächlich? Mein Ruf scheint mir vorauszueilen. Wer hat das gesagt?“
„Lucius.“
Die Nennung des Vornamens traf ihn härter als erwartet. „Lucius?“, fragte er nach. Es schwang die Frage mit, warum sie nicht von „Mr. Malfoy“ sprach.
„Er war derjenige, der ... Ach, ich erzähle Ihnen das später.“ Sie holte tief Luft. „Wollten Sie mich nicht nachhause begleiten?“

Keiner von beiden bemerkte, dass Sirius sich ganz in der Nähe aufhielt und die beiden beobachtete. Eigentlich wollte er sich in fünf Minuten mit Sid treffen, um Einzelheiten in den Gesetzesänderung einzubringen. Das musste Sids Herzensdame sein, dachte er. Die Beschreibung, die Sid ihm von der Krankenschwester gegeben hatte, stimmte mit dieser Dame überein. Irgendwo her kannte Sirius die Frau sogar. Er spitzte die Lippen und überlegte, kratzte sich dabei am Kopf. Als seine Finger über eine winzige Unebenheit auf der Kopfhaut fuhren, fiel es ihm plötzlich wieder ein. Das war die Schwester, die sich in Hogwarts um die Wunde an seinem Kopf gekümmert hatte. „Wie hieß sie noch?“, murmelte Sirius zu sich selbst. Es war egal, wie die Frau hieß. Nicht egal war, dass Sid wegen des heutigen Termins mit ihm die junge Dame mit Sicherheit allein lassen würde. Der stets präzise arbeitende Ex-Ministeriumsangestellte würde der schönsten Frau der Welt einen Korb geben, nur um pünktlich zur Arbeit zu erscheinen. Das durfte er nicht zulassen. Sirius entschloss sich dazu, zu improvisieren. Er näherte sich den beiden vorsichtig. Sid stand mit dem Rücken zu ihm. Für einen Moment lungerte Sirius an dem Schaufenster von Eeylops Eulenkaufhaus herum und lauschte.

„Darf ich Sie noch zu einer Tasse Tee einladen?“, hörte Sirius die junge Frau fragen. Sid schwieg zunächst, druckste dann herum. Sein Termin mit Sirius stand ihm im Weg.
„Sag 'Ja!', du Idiot!“, flüsterte Sirius.
In diesem Moment hörte Sid wieder seine innere Stimme, die ihm riet, die Einladung anzunehmen. Es könnte aber auch gewesen sein, dass er tatsächlich das Flüstern von Sirius gehört hatte. „Ich ...“ Sid konnte nicht zusagen.
Sirius seufzte, schüttelte den Kopf. Sein Freund würde es nie auf die Reihe bekommen, da war er sich sicher. Er benötigte einen Schubs in die richtige Richtung. Nur deshalb drehte Sirius sich vom Schaufenster weg und tat so, als würde er Sid und die Krankenschwester erst jetzt erkennen. „Hey, Sid!“ Der Gerufene drehte sich abrupt um, war verlegen. Einen Augenaufschlag später stand Sirius bei Sid und grüßte ihn mit einem Schulterklopfen. „Sid, gut dass ich dich treffe.“ Ganz nach dem gedanklichen Drehbuch blickte Sirius nun zu der Dame hinüber. „Guten Tag, Miss ...?“
„Das ist Miss Amabilis. Ich habe Sie während der Arbeit mit Mr. Malfoy kennen gelernt.“ Ein Hinweis von Sid, dass es sich um die Krankenschwester handelte.
„Guten Tag, Miss Amabilis.“ Sirius schüttelte ihre Hand, klopfte sich innerlich selbst auf die Schulter, weil er sich nicht getäuscht hatte. Diese Frau verkörperte tatsächlich die Dame, von der Sid so schwärmte. Die Bekanntmachung war abgehakt, jetzt folgte der nächste Punkt. „Sid, ich muss für heute leider absagen!“
„Aber ...“
Auf keinen Fall durfte Sid zu Wort kommen, so dass Sirius ihm frech über den Mund fuhr. „Wir treffen uns morgen wie üblich. Wir sehen uns.“ Freudestrahlend nickte Sirius der Dame zu. „Es war schön, Ihre Bekanntschaft zu machen, Miss Amabilis.“
Sirius ging, doch zwei Schritte später wandte er sich nochmals an Sid, um dafür zu sorgen, dass der den Tag auch tatsächlich mit Miss Amabilis verbringen würde. „Ach, ich kann heute auch nicht zum Essen kommen. Du weißt schon. 17 Uhr ...“ Verdammt, welche Restaurants gab es hier in der Winkelgasse? Die Einkaufstüte eines Passanten half ihm auf die Sprünge, denn auf ihr stand der Name einer Gaststätte. „Trattoria Alessio. Ich habe dort einen Tisch für uns beide reserviert. Nimm doch einfach Miss Amabilis anstatt meiner Wenigkeit mit.“ Sirius verschwand in der Menschenmenge und ließ seinen Freund mit offen stehendem Mund zurück.
Marie lebte auf. „Das Restaurant ist ganz in meiner Nähe.“ Eine Hand legte sie auf seinen Oberarm. „Gehen wir doch erst zu mir und trinken einen Kaffee, bevor wir essen gehen.“
„Ähm ...“
„Kommen Sie schon!“ Sie hakte sich bei ihm unter und führte ihn zu sich nachhause.

Sirius hingegen fragte einige Passanten in der Winkelgasse, wo sich die Trattoria Alessio befinden würde. Eine ältere Dame konnte ihm weiterhelfen. Im Nu war er in dem Restaurant und griff sich einen Kellner, den er in eine Ecke drängte.

„Ich muss für heute einen Tisch reservieren, 17 Uhr!“
„Sir“, der Kellner fühlte sich durch Sirius' Aufdringlichkeit unbehaglich. „Sie müssen nicht vorbestellen. Um diese Uhrzeit ist immer noch ein Tisch frei.“
„Aber ich muss reservieren, sonst geht das alles nicht auf.“
„Sir?“ Der Kellner runzelte die Stirn.
Sirius seufzte. „Tun Sie mir den Gefallen und reservieren Sie einfach einen Tisch auf die Namen Black und Duvall.“
„Ich sagte doch schon, dass nicht vorbestellt werden ...“
„Mann!“, Sirius klang genervt. Er zückte seinen Geldbeutel. „Wie viel wollen Sie, damit Sie einfach das tun, was ich von Ihnen verlange?“ In diesem Moment ging ein älterer Gast an den beiden vorüber und schaute sie schockiert an, woran sich Sirius nicht störte. „Zwei Galleonen? Fünf?“
Echauffiert schüttelte der Kellner den Kopf. „Sie brauchen mir nichts zu geben, Sir.“
„Dann reservieren Sie für zwei Personen zu 17 Uhr?“ Schnell fügte er noch hinzu: „Auch wenn es nicht notwendig ist, das habe ich mittlerweile begriffen. Wenn Mr. Duvall hier auftaucht, dann gestalten Sie ihm und seiner bezaubernden Begleitung bitte einen angenehmen Abend.“ Sirius drückte dem Kellner fünf Galleonen in die Hand, die der nur widerwillig nahm.
„Wie soll ich denn diesen Mr. Duvall erkennen?“
„Ach, das ist leicht. Schwarze Haare, blaue Augen und in Begleitung einer dunkelhaarigen Schönheit.“
Dem Kellner reichte das nicht aus. Momentan saßen zwei Herren in der Stube, auf die diese Beschreibung ebenfalls zutraf. „Das ist nicht sehr präzise.“
„An einer Sache erkennen Sie Mr. Duvall ganz sicher.“ Sirius grinste. „Er ist steif wie ein Brett! Den können Sie gar nicht übersehen.“
Der Kellner schnaufte wegen Sirius' amüsierter Art. „Von mir aus.“ Der Kellner legte sich einen Zettel zurecht und schrieb etwas drauf. „Mr. Black und Mr. Duvall zu 17 Uhr.“
„Gut so, gut!“ Als Sirius sich im Raum umschaute, erspähte er einen angemessenen Tisch, den er genommen hätte, wenn er mit Anne hier essen gehen würde. „Den da hinten vielleicht? Sieht gemütlich aus.“
„Schon reserviert. Ich weiß, es geht mich nichts an, aber darf ich trotzdem erfahren, um was es sich dreht?“
„Das ist das erste Rendezvous der beiden, das ich“, Sirius schlug zweimal stolz auf seine Brust, „gerade eben eingefädelt habe! Ich habe erzählt, ich hätte reserviert, deswegen sollte der Punkt auch stimmen.“
„Ich würde meinen“, der Kellner schmunzelte, „dass ein Freund wie Sie Gold wert wäre.“
Sirius rümpfte die Nase, grinste jedoch. „Andere behaupten das Gegenteil.“ Dem Kellner hielt er die Hand hin. „Ich danken Ihnen vielmals für Ihre Kooperation.“
„Gern geschehen, Mr. Black.“

Dass Sirius alles geplant hatte, davon wusste Sid natürlich nichts. Mit einer Tasse Kaffee in der Hand beäugte er den Vogelkäfig, in dem Marie vier fröhlich trällernde Wellensittiche hielt. Ihre Wohnung war klein, vielleicht deswegen auch so gemütlich. Sid fühlte sich wohl, fühlte sich in ihrer Nähe wohl.

„Sie arbeiten eng mit Mr. Black zusammen?“
Sid drehte sich um, damit er ihr während des Gesprächs in die Augen sehen konnte. „Ja, wir arbeiten noch immer an den Gesetzesänderungen. Es gab jetzt kurzfristig einige Neuerungen bezüglich der Muggel, die wir aufnehmen müssen.“
„So? Noch mehr Schutz für die Muggel?“ Sie saß auf dem Sofa und klopfte mit einer auf den freien Platz neben sich, so dass er sich zu ihr setzte.
„Mehr Schutz für Muggel, das ist richtig. Wir wollen, dass Muggel nicht mehr einfach ihrer Erinnerungen beraubt werden, wenn etwas Magisches in ihrer Umgebung geschehen ist. Es wird ein wenig kompliziert sein, das umzusetzen und es soll individuell entschieden werden. Die Ideen müssen wir nur noch ausarbeiten.“
„Hört sich schwierig an.“
Sid nickte. „Das ist es. Wie soll man Muggeln helfen, wenn wir nichts von ihrem Unglück wissen?“
Für einen Moment rührte Marie ihren Kaffee und dachte dabei nach. „Kommt ganz drauf an, wie man es anpackt. Man könnte in wichtigen Muggelämtern Zauberer oder Squibs einschleusen. Wenn einem Muggel etwas seltsames passiert, wo geht der wohl zuerst hin?“ Aufgrund ihrer Frage zuckte Sid mit den Schultern. „Na, zur Polizei natürlich! Es müsste doch möglich sein, dass unsere Welt Zugang zu den Informationsdatenbanken der Polizei bekommen könnte oder auch zu anderen Einrichtungen wie Psychiatrien, wo einige bestimmt landen, wenn sie seltsame Geschichten über Hexen erzählen. Nicht zu vergessen sind Krankenhäuser, Sozialberatungsstellen, Jugendämter und ... Warum sehen Sie mich so an, Mr. Duvall?“
„Sie haben ganz wundervolle“, er blickte ihr tief in die Augen, „Vorschläge!“
Marie gab vor, enttäuscht zu sein. „Für einen Moment dachte ich doch wirklich ...“ Sie seufzte, blickte dabei auf die Uhr. „Es ist kurz vor fünf. Wir sollten gehen.“

Pünktlich zu 17 Uhr betraten Sid und Marie die Trattoria Alessio. Er schaute sich unsicher um. Das Restaurant war noch nicht gut besucht. Marie hatte sich wieder bei ihm untergehakt und wartete geduldig.

„Ich mag das Restaurant. Kommen Sie öfters her?“, wollte sie wissen.
Sid schüttelte den Kopf. „Ist mein erstes Mal.“
Wie aus dem Nichts stand plötzlich ein breit lächelnder Kellner vor den beiden. „Ah, Mr. Duvall. Heute ohne Mr. Black? Dafür aber mit einer wirklich charmanten jungen Dame. Darf ich Sie an Ihren Stammtisch führen?“

Auf Sids blassen Wangen breiteten sich zwei rote Stellen aus, während Marie dezent hinter vorgehaltener Hand grinste. Der Tisch in der Ecke war ruhig und gemütlich. Höflich half Sid ihr aus der leichten Sommerjacke heraus, bevor sie Platz nahmen. Den peinlichen Moment wollte er mit Marie noch klären, denn als Lügner durfte er nicht dastehen. Den beiden wurden die Menükarten gereicht, Getränke wurden bestellt.

Als der Kellner die zwei endlich allein ließ, räusperte sich Sid. „Marie? Ich glaube, ich muss da etwas erläutern.“
„Ich weiß schon“, beteuerte sie mit einem Lächeln. „Mr. Black hat das organisiert. Liege ich damit richtig?“
Erleichtert atmete er aus. „Ich befürchte ja. Er hat mich vollkommen überrumpelt.“
Sie spielte verträumt mit den Blättern einer Rose, die in einer kleine Vase auf dem Tisch stand. „Ich frage mich nur, warum er das getan hat. Vielleicht haben Sie so oft von der 'flotten Biene aus dem Mungos' erzählt, dass Mr. Black dachte, es wäre für Sie endlich mal an der Zeit, engeren Kontakt zu mir zu knüpfen?“
Schockiert blickte er sie an. „Ich schwöre, ich habe Sie niemals so bezeichnet!“
„Nicht? Dann muss ich mich wohl noch mehr anstrengen.“

Er fragte sich gerade, ob er richtig gehört hatte, da zwinkerte sie ihm zu. Erleichtert über ihre ungezwungene Art gab er sich einen Ruck. Mit einer Hand auf dem Tisch näherte er sich ihr – so langsam, dass sie jederzeit ihre Hand wegziehen könnte, doch sie rührte sie nicht von der Stelle. Ihre Augen verließen seine Hand kein einziges Mal und als er schon dicht bei ihr war, da kam sie ihm entgegen. Mit ihren Fingern betasteten sie sich zaghaft, zeigten dem anderen mit wenig Kontakt, wie groß der Wunsch nach mehr Nähe war.

„Ich habe im Ministerium nach Ihnen gefragt“, gestand sie flüsternd.
„Da hat man Ihnen sehr wahrscheinlich eine Absage erteilt.“
Sie nickte. „Man sagte nur, Sie wären nicht mehr angestellt. Ich habe mich schon gefragt, wie ich Sie finden könnte und dann“, ihre Wangen wurden rot, „standen Sie heute plötzlich vor mir.“
„Ich muss gestehen, dass ich ähnliche Überlegungen hatte. Mr. Black ermutigte mich, Sie im Mungos zu besuchen, Ihnen wenigstens zu schreiben.“
„Warum haben Sie nicht?“ Sie umfasste seine Hand.
„Weil ich nicht gedacht hätte, dass ...“ Schüchtern blickte er auf die Vase.
„Dass Sie mir etwas bedeuten könnten? Hatten Sie so einen schlechten Eindruck von unseren Gesprächen?“
„Nein!“, widersprach er vehement. „Es ist nur ...“
Ermutigend strich sie ihm über den Handrücken. „Einfach raus damit.“
„Ich kann solche Dinge nicht korrekt deuten.“ Ihr fragender Gesichtsausdruck zeigte ihm, das sie auf eine verständliche Erklärung wartete. „Ich habe kein Gefühl für Andeutungen, Zweideutigkeiten oder nette Gesten. Es ist gut möglich, dass ich ein freundliches Entgegenkommen nicht einmal erkenne, wenn es mir ins Gesicht schlägt. Ich habe in dieser Hinsicht einfach nicht genügend ... Praxis. In der Regel“, seine Stimme wurde immer leiser, „mag man mich nicht besonders.“

Marie verstand. Sid hatte ihr einmal von seinen Kollegen erzählt und dass die ihn und seine pedantische Art zu Arbeiten nicht ausstehen konnten. Wegen dieser Erfahrungen musste Sid den Eindruck erhalten haben, es wäre normal, nicht gemocht zu werden.

Was Marie jetzt sagte, kam von Herzen. „Ich mag Sie.“
Diese drei Worte bewirkten Unglaubliches. Sids Magen kribbelte wohlig, sein Herz schlug höher. Das zufriedene Lächeln würde er tagelang nicht mehr unterlassen können, aber das interessierte ihn nicht. Es fühlte sich richtig an und jeder durfte das wissen, selbst der Kellner, der gerade die Getränke brachte.

„Haben Sie schon gewählt?“, fragte der Herr mit weißer Schürze.
Beide hatten nicht einmal einen Blick in die Menükarte geworfen, so dass Sid bat: „Können Sie uns etwas empfehlen?“

Natürlich konnte der italienische Kellner mit irischem Akzent etwas empfehlen. Ein Drei-Gänge-Menü, das nicht nur köstlich, sondern auch erschwinglich war. Aber nicht das Essen oder das romantische Kerzenlicht machte den Abend für Sid so unvergesslich. Es war die Tatsache, dass Marie ihn mochte.

Spät abends führte Sid ohne jeden Hintergedanken Marie zu seinem Haus. Der Fidelius sollte für sie in Zukunft kein Hindernis darstellen, ihn zu besuchen, deshalb wollte er sie einweihen. Ihr Weg führte an der Apotheke vorbei, in der nur unten noch ein Fenster erleuchtet war.

Hermine braute alleine an einem Heiltrank gegen Furunkel, damit sie Mr. Calliditas Vater etwas anderes als Stachelschweinpastillen anbieten konnte. Vielleicht würde der Trank besser helfen, denn er war von stärkerer Wirkung, der Brauvorgang leider auch viel gefährlicher. Das Gröbste war längst erledigt. Plötzlich hörte sie eine der oberen Dielen knacken. Mitten beim Rühren stoppte sie ihre Bewegungen. Angst überkam sie. Es knarrte nochmals.

„Severus?“ Jemand kam langsam die Stufen hinunter. Gleich darauf lugte Severus vorsichtig ins Labor. „Hallo Severus!“ Den Trank stellte sie auf kleine Flamme, bevor sie schnell die Hände wusch, um ihn zu begrüßen. Ihr fiel auf, dass er sich aufmerksam umschaute. In Windeseile war sie bei ihm, ergriff ihn freudig an den Oberarmen. „Wie geht es dir heute?“
„Es geht mir gut,danke der Nachfrage.“
Sie konnte sich nicht zurückhalten und fiel ihm um den Hals. Erschrocken packte er sie an den Schultern und drückte sie von sich weg, blickte hinter sich zur Tür. Irritiert von seinem Verhalten fragte sie. „Suchst du was Bestimmtes?“
„Ist sie hier?“
„Die Verkäuferin? Nein, es ist schon halb sieben. Sie ist pünktlich gegangen.“ Aufgrund ihrer Antwort verflog seine Spannung. Die Schultern senkten sich ein wenig, er atmete erleichtert aus. Es wäre ihm unangenehm gewesen, hätte eine fremde Frau ihn in dieser Pose mit Hermine gesehen. Solche innigen Gesten gingen niemanden etwas an.
Sein Blick fiel auf den Kessel. „Noch zu tun?“
„Müsste jeden Moment fertig ...“ Ein Wecker schellte. „Fertig!“ Feuer aus, Deckel drauf und bis morgen ziehen lassen. Die Arbeit für Hermine war für heute erledigt. „Lass uns hoch gehen“, schlug sie gut gelaunt vor. Sie freute sich sehr, dass Severus wieder bei ihr war, vor allem aber, dass es ihm gut ging.

Im Wohnzimmer bekam Severus sofort Besuch von dem Kniesel, der sich auf seinen Schoß legte, nachdem er sich gesetzt hatte.

„Mich hat heute mein Nachfolger besucht, sonst wäre ich schon früher hier gewesen“, erklärte Severus, kraulte dabei Fellini an den Ohren.
„Und wer ist es nun? Ich hörte da etwas von Mr. Popovich.“
„Genau der. Er wollte noch Tipps von mir haben, ein paar gute Ratschläge. Ich denke, er wird mich zufriedenstellend ersetzen.“
Hermine hatte neben ihm Platz genommen. „Dich kann man gar nicht ersetzen, Severus.“
„Die Schüler sind sicherlich anderer Meinung.“ Fellini wanderte zu Hermine hinüber und setzte sich auf ihre Beine.
„Soll ich dir mal was verraten?“ Sie lehnte sich so weit zu ihm, dass er ihren Atem spürte, bevor sie ihr Geheimnis preisgab. „Der Blumenkasten ist fertig! Neville und Luna haben ihn fertig gebaut. Ist das zu fassen?“ Sie strahlte. „Als ich ihn neulich besuchte, um weiterzumachen, da präsentierte er mir den fertigen Kasten. Die Baupläne habe ich das letzte Mal nämlich bei ihm vergessen.“ Hermine zog beide Beine auf die Couch, weshalb der Kater kurz seinen Protest herausmiaute, doch er fand gleich wieder eine Stelle, auf die er sich legen konnte. Einen Arm schlängelte Hermine hinter Severus' Schultern. „Im Moment mischt Neville den Dünger unter die Erde, je nachdem, wie viel die Pflanzen benötigen. Sie sollen doch alle zur gleichen Zeit reif zur Ernte sein.“ Durch die offene Tür fiel ihr Blick auf zwei Kisten, die im Flur standen. „Was ist denn das?“
Severus folgte ihrem Blick. „Das sind einige Habseligkeiten, die ich schon mitgebracht habe. Ich war ein wenig erstaunt, wie wenig ich besitze. Andererseits auch erleichtert, denn das erspart einen aufwändigen Umzug.“
Hermine war ebenfalls erstaunt. „Der Besitz von 44 Jahren passt unmöglich in zwei Kisten!“ Ihr war entfallen, dass Todesser vor etlichen Jahren das Haus in Spinner's End dem Erdboden gleichgemacht haben.
„Mein Eigentum besteht zu einem großen Teil aus Trankzutaten und die befinden sich noch in Hogwarts.“
„Dein persönlicher Vorratsraum?“
„Richtig. Ich werde mir Möbel besorgen müssen oder Albus' Angebot annehmen, welche vom Dachboden zu nehmen.“
„Ich habe mir auch was vom Dachboden genommen. Da stehen eine Menge schöner Schränke und Tische herum.“ Ihr Magen knurrte leise, doch Severus hörte es, so dass sie anbot: „Ich habe in der Küche noch was zu essen. Möchtest du etwas?“ Weil er sie skeptisch anblickte, versicherte sie: „Ich habe nicht gekocht. Die Hauselfen haben mir vorhin etwas in die Hand gedrückt, bevor ich gegangen bin.“
„Ich nehme gern eine Kleinigkeit.“

Als Hermine in der Küche etwas zurechtmachte, nutzte Severus den Moment, um eine der Kisten mit einem Aufrufezauber zu sich zu holen. Er vertrieb sich die Zeit und musterte die Gegenstände, die er vorhin eingepackt hatte. Persönliche Notizen, Berichte über Forschungsarbeiten, eine Flasche Goldlackwasser von Minerva, ein Räuchermännchen aus dem Besitz seiner Mutter. Unter all den Dingen, gut verpackt in einer extra Kiste, befand sich der goldene Zankapfel, den Narzissa ihm geschenkt hatte. Bei Gelegenheit würde er Lucius damit aufziehen, dass er nun in Besitz eines Stückes aus dessen ehemaliger Sammlung war. Am Boden der Kiste lag ein Fotoalbum, das Severus herauskramte und aufschlug. Lily und Alice auf dem Rücken von Karussellpferden, die sich auf und ab bewegten. Die kontinuierliche Bewegung war hypnotisierend, schleuderte ihn zurück in alte Zeiten. Er bemerkte auch nicht, dass Hermine zwei Teller auf dem Tisch abstellte. Erst als sie sich dicht zu ihm setzte, da wurde er aus seinen Gedanken gerissen. Ertappt schlug er das Album zu. Obwohl es lächerlich war, kam in ihm das Gefühl der Untreue auf, weil er hier bei Hermine war und sich Bilder von Lily anschaute.

„Nein, sieh sie dir ruhig an.“ Hermine legte ihre Hand auf seine, um den Deckel wieder aufzuschlagen. Auch sie blickte eine Weile auf das erste Foto, das die Freude der abgelichteten Personen perfekt eingefangen hatte. Hermine blätterte ein Bild weiter. Ein Ordenstreffen. Lily versuchte, mit Mandarinen zu jonglieren, versagte aber vor lauter Lachen. Neugierig blätterte sie weiter, dachte dabei an die viele Mühe, die in diesem Album steckte. Harry hatte alle möglichen Personen nach Fotos von seiner Mutter gefragt, um dieses Geschenk für Severus zusammenzustellen.
„Das hier“, er zeigte auf einem Bild, auf dem Lily mit einer Feder in der Hand an einem Schreibtisch saß, „ist bei ihr Zuhause.“ Im Hintergrund sah Hermine zwei Poster an der Wand, eines von den Beatles, eines von The Who. Severus begann schwer zu atmen, blätterte dennoch weiter.
„Warst du mal bei ihr Zuhause?“
„Ja.“ Die Antwort war kaum zu vernehmen.

Severus betrachtete nicht nur Bilder, das war Hermine klar geworden. Er sah nicht nur ein fotografiertes Zimmer, sondern den Stuhl, auf dem er vielleicht einmal gesessen hatte, die Poster, an die er sich noch erinnerte, die vielen Bücher. Er war mal dort gewesen. Natürlich wirkte dieses Foto auf ihn ganz anders als auf Hermine, die keinen persönlichen Bezug zu den Örtlichkeiten hatte. Als sie in der Mitte des Album angekommen waren, schloss Severus es.

Er rügte sich selbst, als er behauptete: „Es ist nicht richtig, mir diese Bilder anzusehen.“ Das Album legte er auf den Tisch. Er vermied es, ihr in die Augen zu schauen.
„Daran ist nichts falsch. Du kannst es dir so oft ansehen, wie du möchtest.“ Und in Erinnerungen schwelgen, fügte gekränkt sie in Gedanken hinzu. Man konnte die Toten nicht ruhen lassen, wenn sie einen nicht in Ruhe ließen. „Sie ist ein Teil deines Lebens.“ Ihrem Herz entwich ein Seufzer. „Ich wünschte nur, es wäre noch Platz.“ Endlich sah er sie an, blinzelte fragend, woraufhin sie eine Hand in die Mitte seiner Brust legte. Zaghaft und schüchtern, weil es ihr so viel bedeutete, dass er das wusste, gestand sie: „Ich wünschte, da wäre noch Platz für mich.“

Als Sprachwerkzeug eines jeden Menschen war der Mund bekannt, doch wenn der schwieg, obwohl das Innerste sich mitteilen wollte, dann musste man auf die Augen achten. Sie konnten sprechen, erzählen, sich auf eine wundersame Weise mitteilen und schlummernde Sehnsüchte offenbaren. Severus' Augen überschütteten sie mit Botschaften, deren Herkunft tief verborgene Orte waren, die mit keinem Wort beschrieben werden konnten. Solche Botschaften berührten direkt die Seele des anderen. Klarheit war etwas Einzigartiges, wenn man sie erfahren durfte und Hermine erlebte gerade so einen bedeutungsvollen Moment. Seine rechte Hand legte sich auf die ihre, drückte sie an sein Herz, während die andere über ihre Schulter wanderte. Langsam beugte er sich vor, zog sie gleichzeitig zu sich. Sie ließ es geschehen, war gefangen von dem Begehr, das sich in seinen Augen verbarg. Ein Zögern seinerseits. Er stoppte die Annäherung. Die aufkommenden Zweifel zerschlug Hermine, indem sie den Weg, den er für sie vorgesehen hatte, allein fortsetzte. Sie näherte sich aus freien Stücken, ohne dass er sie mit einem Druck auf ihrer Schulter dazu ermutigten musste. Ihre Bereitschaft gab ihm die letzte Bestätigung. Langsam, ohne jede Hast, neigte Severus sich zu ihr hinunter. Die Spitze seiner Nase streifte ihre Wange, bevor seine Lippen die empfindsame Haut neben ihrem Mundwinkel fanden. Ein leichter Druck, ein kurzes Verweilen, ein Austausch von Wärme und Zuneigung.

Je flüchtiger ein Kuss, desto süßer mundete er. Sie hatte ihren festen Platz und der war genau dort, wo er ihre Hand an seinen Körper presste. Anstatt ihr einen zweiten Kuss zu schenken, umarmte er sie Wange an Wange. Eine Entschuldigung dafür, dass er nicht mehr geben konnte, weil so wenig in ihm war. Für Hermine war nur von Belang, dass sie von dem Wenigen bereits ein Teil war.
Three Characters in Search of an Exit - eine Satire mit Harry, Hermine und Severus
~ Muggelchen.net ~

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